Schuld sind immer die anderen – zweimal jugendliches Schicksal bei den Ruhrfestspielen

Szene aus „The Silence“: Dimitrij Schaad gibt den Autor und Regisseur Falk Richter. (Foto: Gianmarco Bresadola / Schaubühne Berlin / Ruhrfestspiele)

Das Schauspiel-Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele ist, sagen wir mal: vielfältig. Für alle ist was dabei, derzeitige politische Pflichtthemen werden artig abgearbeitet, auch Solistisches ist dazwischen. Doch Begeisterung will sich nicht recht einstellen.

Das hat natürlich wesentlich damit zu tun, daß fast alle Produktionen vorher schon hier und da zu sehen waren, kritisiert, eingeordnet und abgehakt wurden. Warum sollte man genauer noch hinsehen, wenn schon die Kritik abriet? Der Autor dieser Zeilen jedenfalls, der sich oft lieber an alte Theaterzeiten erinnert statt dem Neuen entgegenzufiebern, wähnte sich nur selten in der Notwendigkeit, einmal persönlich reinzuschauen bei den Ruhrfestspielen.

Mit Eidinger und Brecht

Gut, ich war bei Eidinger. Schnell will man sagen, wie wahnsinnig, wie irre er ist, aber das sind Stanzen, die eigentlich gar nichts bedeuten. Wenn stattdessen aber Vokabeln wie „intensiv“ oder „nuancenreich“ ins Spiel kommen ist klar, daß diese blaß und unzulänglich sind. Aber Besseres fällt mir im Moment nicht ein. Eidinger ist eben ein Erlebnis, ganz präsent, dünnhäutig, verletzlich, aber auch verführerisch, schelmisch. Zudem ist er ein Schauspielkünstler mit ausgeprägter Tagesform, ganz genau weiß man nie, was einen erwartet. In Recklinghausen, wo er, mit musikalischer Begleitung, aus Bertolt Brechts „Hauspostille“ las und sang, war er gut beieinander, und mit dem Vortrag von Stücken aus der Dreigroschenoper schuf er Momente beglückender Nähe. Brecht, Dreigroschenoper, das sind Ortsmarken dramatischer Sozialisation. Aber um Lars Eidinger soll es hier eigentlich gar nicht gehen.

Diese unheimliche Ruhe

Gesehen habe ich „The Silence“ von Falk Richter und „Die Wut die bleibt“ nach dem Roman von Mareike Fallwickl. Fangen wir mit Richter an. Sein Stück erlebte die Erstaufführung „in neuer Version“ im November 2023 an der Berliner Schaubühne, eine erste Adresse im Land. Richter, umtriebiger Theatermann, ist unter anderem und insbesondere Leitender Regisseur an den Münchener Kammerspielen. Seine „Silence“ wird als autobiographisches Einpersonenstück gegeben, Dimitrij Schaad schlüpft in des Autoren Rolle; einige Male ist aber auch Herr Richter selbst zu sehen, in Filmeinspielern, wenn er seine alte Mutter befragt. Denn darum geht es: Um die unheilige Ruhe (daher der Titel), die Richter als Heranwachsender bei seinen Eltern fand, um schmerzlich empfundene Kommunikationsverweigerung.

Die Mutter hat viel durchgemacht

Es geht um das Schweigen des Vaters, der sehr spät aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte und sich in seiner Alt-Familie nicht mehr zurechtfand, der pausenlos fremdging (was für ein Wort…), früh starb und von seiner Frau – Falk Richters Mutter – in den Tod gepflegt wurde. Vor allem aber geht es Richter um die Mutter selbst, die aus Westpreußen flüchten mußte, so wie viele andere Flüchtlinge schrecklichste Dinge erlebte, viel zu früh schwanger wurde, die Schule nie beenden konnte, keinen Beruf erlernen konnte, später den sehr viel älteren Ehemann ertragen mußte und die über all das hinweggeht, als wäre es nichts. Der prügelnde Mann durfte nie ein Thema sein, die Homosexualität des Sohns wurde ignoriert, Verleugnung und Totschweigen wurden früh schon Zentralbegriffe in der Beziehung von Mutter und Sohn. Gleichzeitig aber kontrollierte sie ihn, spionierte ihm nach, las Briefe und Tagebuch. Und so weiter.

Viele Vorwürfe

Richter nun, und das ist so etwas wie der „Aufhänger“ für seine Recherchen, nimmt an sich wahr, daß er die verleugnenden wie zwanghaft kontrollierenden Verhaltensweisen seiner Mutter zunehmend zu übernehmen scheint, und das will er durch akribisches Aufarbeiten seiner Vergangenheit für sich thematisieren. Es ist viel Vorwurf in den eingespielten Filminterviews, und das eine oder andere, was der Sohn der Mutter vorwirft, muß sie auch eingestehen. Aber es ist auch ein etwas unredlicher Ton in alledem.

Tröstliche Massenszene im Stück „Die Wut, die bleibt“ vom Schauspiel Hannover. (Foto: Kerstin Schomburg, Staatstheater Hannover, Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Trauma

Neues in einem quasi nachrichtlichen Sinn hat Richter nicht zu erzählen. Krieg, Vertreibung, Kriegs-gefangenschaft usw. haben viele Millionen Menschen traumatisiert, zahlreich sind die Berichte, umfangreich ist die Forschung. Auch das Phänomen der transgenerativen Traumata (also sozusagen die Fortschreibung unbewußter Traumaerfahrung über Generationen hinweg), das Richter zunehmend an sich wahrnimmt, ist wissenschaftlich recht gut beschrieben und untersucht. Lediglich irritiert, daß es hier einen Mann vom Jahrgang 1969 trifft. Die Auseinandersetzung muß dann ja in den 80er, 90er Jahren stattgefunden haben, als alles schon viel freier, toleranter, besprechbarer war als in den muffigen Sechzigern. Jedenfalls nach der eigenen Erinnerung.

Ein bißchen undankbar ist er schon

Nun, das Leben ist kein Ponyhof, sondern eigentlich immer eine Abfolge von Hochs und Tiefs, von schwachen und von starken Phasen, und bevor der Schwadroniermodus sich voll entfaltet, machen wir lieber einen Punkt. Jedenfalls befremdet, wie Richter seinen Eltern und in Sonderheit seiner noch lebenden Mutter alle Defizite vorwirft, die ihm für seinen Lebensweg vorgeblich aufgepackt worden sind. Da wird eine Vollversorgungsmentalität erkennbar, die zu geißeln ist. Warum ist er dieser Frau nicht einfach dankbar dafür, daß er mit ihrer Hilfe wurde, was er ist? Er sollte mit Demut und Respekt vermerken, daß er eben auch einiges abbekommen hat von ihrer Stärke, ihrer Strukturiertheit, ihrer Resilienz.

Verprügelt

Doch für Richter scheint nicht nur die Mutter in der Bringschuld zu sein, sondern die ganze Gesellschaft, die, im Grunde ein etwas fahriger Exkurs innerhalb des Stücks, dem Schwulen die Hilfe verweigert, wenn er zusammengeschlagen wird. Zur erregt erzählten Episode laufen über den Bühnenhintergrund Filmbilder aus einer Eigenheimgegend, wo, so soll man es wohl deuten, die Spießer und die Schwulenfeinde leben. Und man hat den Eindruck, daß es den übrigens hinreißend agierenden Dimitrij Schaad auf der Bühne etwas irritiert, als niemand klatscht, wenn er wütend und wortreich die Leiden der LGBTQ-Menschen beklagt. Für die Recklinghäuser gehört seine Wutrede wohl einfach zum Stück, man fühlt sich nicht sonderlich agitiert. Und denkt sich vielleicht, daß auch Heteros Opfer von Gewalttaten werden, es ist eigentlich mehr eine Frage des Alters als der sexuellen Orientierung.

Was einem eigentlich zusteht

Vorwurfsvolles Einfordern von Benefits, die einem eigentlich zustehen und die einem von der Gesellschaft, den Müttern, den alten weißen Männern oder wem auch immer vorenthalten werden – so könnte man vielleicht die mentale Grundierung umschreiben, die Richters „The Silence“ ebenso eigen ist wie dem anderen Stück dieses Wochenendes: „Die Wut die bleibt“, Gastspiel des Schauspiels Hannover, uraufgeführt im August 2023 in Salzburg. Stück wie Roman beginnen mit dem suizidalen Balkonsprung Helenes, Mutter dreier Kinder. Es war alles zu viel für sie. Und das Leben geht weiter, nur wie? Eine treu sorgende Nachbarin ist im Spiel, ihr Lover, Helenes Witwer, vor allem aber die 15jährige Tochter, die sich in ihrer schmerzlichen Orientierungslosigkeit einer gewalttätigen Mädchenbande anschließt. Man muß um sie fürchten.

Die Nachbarin und ihr Lover (Foto: Kerstin Schomburg, Staatstheater Hannover, Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Vergewaltiger verprügeln

Der Selbstmord der Mutter wie auch die Unterdrückung der Frau zu allen Zeiten und in nahezu allen Lebenslagen sind der Humus, auf dem die „feministische“ Wut der 15-Jährigen gedeiht. Die Mädchengang verprügelt Männer, die es verdient haben, Gewalttätige, Vergewaltiger. Und wenn auch klar ist, daß diese Form von Selbstjustiz manchmal die Falschen trifft, hat die Inszenierung von Jorinde Dröse viel Freude daran, das Motiv der gesellschaftlichen, allgegenwärtigen Frauenfeindlichkeit breit auszuwalzen. Hier, im ungehemmten Anpassen der Realität an die ideologischen Erfordernisse, ähnelt das Stück ein wenig jenem Richters. Episodisches, wie es der Freitod der Mutter in all seiner Tragik letztlich doch ist, wird absolut gesetzt, unterschiedslos alle Frauen sind benachteiligt und überfordert, großes Unrecht widerfährt ihnen. Immerhin wird mit großer Einsatzfreude eine äußerst anstrengende, weil auf zwei Etagen gelegene Kulisse bespielt, und was in Sonderheit die Mädels von der Gang tänzerisch bringen, nötigt einem dann doch Respekt ab. Gleichwohl: Das hier ist Jugendtheater, mit behutsamer Introduktion eventuell unterrichtstauglich, als Impuls. Dramatisch hingegen blaß.

Kein erkennbares Interesse an Charakteren

Krude Wokeness also, alles in allem? Nein, das ja nun auch wieder nicht. Doch scheint dem Theater, häufig jedenfalls, das Interesse am Individuum verlorenzugehen. Dabei war das doch früher der Markenkern dieser Institution, interessante Charaktere zu erschaffen und mit ihrer Hilfe, ein bißchen jedenfalls, die Welt zu erklären. Auf dem Programm der Ruhrfestspiele steht demnächst „König Lear“ von Shakespeare, eine Regiearbeit Jan Bosses am Hamburger Thalia-Theater. Wolfram Koch spielt die Titelrolle. Das Programmbuch preist „prächtiges Schauspieler:innentheater“ an. Bleiben wir also zuversichtlich.

www.ruhrfestspiele.de




Feilschen und flackern – Doppelpremiere in Bochum: „Minna von Barnhelm“ und „Electronic City“

Von Bernd Berke

Bochum. Doppelter Premieren-Hieb zum Saisonstart am Samstag in Bochum: Karin Beier setzte Lessings Lustspiel „Minna von Barnhelm“ in Szene. Intendant Matthias Hartmann servierte die Uraufführung von Falk Richters Globalisierungs-Stück „Electronic City“. Ein Kontrastprogramm, fürwahr.

Wollte man denn einen kleinsten gemeinsamen Nenner finden, so wär’s wohl dieser: Ökonomischer Druck lastet auf den Menschen mitsamt ihren Liebesregungen (oder dem, was davon bleibt).

Lessing zuerst: Jener Major von Tellheim, schnöde aus dem Militärdienst entlassen, daher zutiefst gekränkt und obendrein verschuldet, weist seine große Liebe Minna von Barnhelm nun von sich. Sein schroffes Ehrgefühl lässt die Verbindung nicht zu. Manche List muss Minna anwenden, um wieder anzubandeln. Geld erweist sich als treibende Kraft.

Den Touch der Kostümierung könnte man mit „mühsam verborgene Verwahrlosung“ umschreiben. Das Dekor (Bühnenbild: Thomas Dreißigacker) wird beherrscht von einer Wand mit grässlicher Nussbaum-Anmutung und einem schäbig ausgeflockten Bodenbelag. Auch eine tückische Klappcouch und piefige Lampen deuten auf frühe 1960er Jahre hin, deren Mobiliar derzeit wieder als todschick gilt. Sonderlichen Sinn für die Inszenierung gibt dieses Ambiente nicht her, es schmeichelt eher unserem schrägen Zeitgeist.

Altjüngferlicher „letzter Versuch“

Fisch oder Fleisch vermisst man gelegentlich auch in der Darstellung, die sich nur phasenweise zum Lust-Spiel bekennt, aber auch nicht ohne Scherzen ins Land gehen mag. Dem Text bleibt man recht treu, doch wird mit der hie und da gehudelt. Die Bemühungen Minnas (Johanna Gastdorf), den verstockten Tellheim (Michael Wittenborn) zurückzuerobern, wirken wie ein altjüngferlicher „letzter Versuch“.

Von Erotik spüret man kaum einen Hauch: Hier laufen eher zähe Verhandlungen zwecks Interessen-Abgleich. Am Ende wollen die beiden einander in entgegengesetzte Richtungen ziehen – landläufiges Gezerre zwischen den Geschlechtern.

Immerhin werden Tellheims Abgründe erahnbar: Der Kerl will lieber noch tiefer sinken, als sich in der Schuld anderer zu fühlen. Ein hölzerner deutscher Charakter, den es in dunkle Tiefen zieht. Gut, dass es die Nebenstränge gibt: Felix Vörtler als Wachtmeister und Angelika Richter als Minnas Zofe Franziska geben ein köstliches Komödien-Duo ab, Franz Xaver Zach als schmieriger – Hotelwirt trägt zum Vergnügen bei.

Zahlen-Codes und Onanie zum Pornokanal

Harscher Szenenwechsel in die Kammerspiele, wo Matthias Hartmann sattsam elektronisches Gerät aufgebaut hat, das freilich (wie er erläuterte) zuweilen nicht funktioniert. Die „hilfreiche“ Hotline habe man am Samstag auch nicht erreichen können. Dennoch: Man sieht ausgeklügelte Video-Sequenzen und Bilder von Live-Kameras, die leibliche Präsenz der Schauspieler (vorwiegend junge, gut gemixte Truppe) wird fast zur Nebensache. Technisch und logistisch ist’s meisterlich, darstellerisch geht die Sache auch in Ordnung.

Stromzufuhr tut not. Schließlich heißt das Stück „Electronic City“. Geschrieben hat’s Falk Richter, Jahrgang 1969. Im Premierenpublikum saß auch „Superminister“ und High-Tech-Fan Wolfgang Clement, der selbst beruflich mit Globalisierung ringt. Hier bekommt man atemlos aufgesagt, was es damit auf sich hat: In allen Metropolen der Erde sieht’s gleich aus, Manager und Hilfskräfte jetten heimatlos um den Globus, sie denken nur noch in Zahlen-Codes. Ansonsten onanieren sie zum Flimmern des Pornokanals im Hotel, um sich dann sofort wieder Laptop und Handy zuzuwenden. Merke: Simulation und medialer Overkill töten die Seele.

Glimmspuren der Zuneigung

Am Ende aber wollen es die Protagonisten Tom und Joy trotz aller Endzeit noch mal mit den Glimmspuren ihrer Zuneigung versuchen. Doch so, wie diese erloschenen Individuen verwechselbar werden, so auch diese Art des simultan tönenden und flackernden Theaters mit seinen überwiegend chorisch gesprochenen Zustands-Behauptungen, etwas Agitprop-Stakkato und Debatten-Geklingel plus Traumspiel-Fasern. Es bleibt kaum ein Rest von Geheimnis.

Hartmann lässt de sterilen Spuk die vielleicht bestmögliche Aufbereitung angedeihen. Mit diesem Text hält die Inszenierung allemal Schritt, mehr steckt kaum drin.