Barock-Show mit erlesenen Spitzen: Cecilia Bartoli widmet dem Kastraten Farinelli in der Philharmonie Essen ein Programm

Cecilia Bartoli, Gianluca Capuano und das Ensemble Les Musiciens du Prince. (Foto: Saad Hamza)

Amüsiert schaut Cecilia Bartoli an sich selbst herab. Auf ihre Beine, die in kniehohen Lederstiefeln stecken, als sei sie ein Musketier. Auf ihr feminin zartes Kleid, das sie vorne hoch gerafft hat, damit der Blick auf eben diese Stiefel frei wird. „Was ist das denn bitteschön für eine verrückte Garderobe?“, scheint ihre selbstironische Grimasse zu fragen. Dann zuckt sie die Achseln, wirft lachend ihre Locken zurück und gönnt ihrem Publikum eine mit rasanten Koloraturen gespickte Zugabe.

Natürlich weiß die temperamentvolle Römerin ganz genau, wie gut diese Aufmachung zu ihrem Programm „Farinelli und seine Zeit“ passt. In der Philharmonie Essen huldigt sie dem wohl berühmtesten aller Kastraten, indem sie mit den Geschlechterrollen spielt und mit Lust an der Kostümierung auf dem Grat zwischen Mann und Frau wandelt.

Zu diesem Zweck verlegt sie ihre Künstlergarderobe auf die Bühne. Barock gewandete Zeremonienmeister schaffen einen großen Schrankkoffer herbei, der Schminktisch und Sichtschutz zugleich ist. Sie lässt das Publikum daran teilhaben, wie sie sich vom knabenhaften Octavian in Cleopatra verwandelt, wie sie sich Perücken aufsetzt und mit flinken Fingern ihre Frisur richtet.

Es ist nicht weniger als eine Show, mit der Cecilia Bartoli und das 2016 von ihr gegründete Barockensemble Les Musiciens du Prince aus Monaco unter der Leitung von Gianluca Capuano derzeit auf Tournee sind. Natürlich dient der Aufwand auch der Werbung für die jüngste CD-Einspielung der Diva. Aber die Präsentation ist zu durchdacht und die Gesangskunst der Bartoli zu groß, um den Abend in eine Varieténummer abgleiten zu lassen. Die Abfolge von Orchesterstücken und Arien ist zu zwei großen Blöcken geformt, die den Zuhörern keine Chance lassen, den Spannungsbogen durch Zwischenapplaus zu zerstören.

Cecilia Bartoli wirbt mit ihrem Farinelli-Programm, das sie nun auch in der Philharmonie Essen präsentierte, für ihre jüngste CD-Einspielung. (Foto: Saad Hamza)

So können sich alle an diesem klug konzipierten Gesamtkunstwerk erfreuen, die Puristen ebenso wie die Fans. Denn musikalisch erweist sich dieser Abend über jeden Zweifel erhaben. Cecilia Bartoli ist im raschen Wechsel barocker Affekte zu Hause wie kaum eine andere. In allen Koloraturgewittern bleibt sie souveräne Herrscherin. Sie besitzt jubelnde Höhen, eine staunenswerte Tiefe, vor allem aber ein hoch entwickeltes Feingefühl, das den Arien aus Farinellis Zeit schier unerschöpfliche Nuancen abgewinnt.

Sie gestaltet Geminiano Giacomellis Arie „Sposa, non mi conosci“ zur großen Klage, lässt die Wogen in Nicola Porporas „Nobil onda“ virtuos aufschäumen, packt in den Jagdklängen von Leonardo Vincis „Cervo in bosco“ mit Vehemenz zu. Das exzellente Orchester, das ihr an lebhafter Gestaltung in keiner Weise nachsteht, unterstreicht die jeweilige Atmosphäre durch Effektinstrumente wie Regenmacher, Windmaschine und Vogelpfeifen.

Antonio Caldaras Arie „Quel buon pastor son io“ wird zu einem der anrührendsten Momente des Abends. Zwischen zartbitterer Melancholie und friedvoller Idylle balancierend, erreicht die Bartoli ein Höchstmaß an Innerlichkeit. Hier wird die Quirlige plötzlich still, breitet die Arme aus, verströmt ihre Seele in Gesang. Das klingt noch lange nach.

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen zur Konzertreihe „Alte Musik bei Kerzenschein“ unter https://www.theater-essen.de/philharmonie/themenreihen-2019-2020/alte-musik-bei-kerzenschein/)




Glanz und Bravour – der Countertenor Philippe Jaroussky im Konzerthaus Dortmund

Philippe Jaroussky: Gesang nicht nur von dieser Welt. Foto: Pascal Rest

Philippe Jaroussky im Konzerthaus Dortmund: Gesang nicht nur von dieser Welt. Foto: Pascal Rest

Ein Ton wie aus dem Nichts. Stark und klar geformt, mit kristallinem Glanz den Raum füllend, balsamisch strömend, um alsbald in allerlei Farben zu schimmern. Solcherart betörender Gesang, den Philippe Jaroussky anstimmt, scheint kaum von dieser Welt zu sein. Nun, immerhin formuliert der französische Countertenor gerade den Dank des Aci an Jupiter für das Geschenk der Unsterblichkeit, in Arienform gegossen von Nicola Porpora. Da darf es schonmal engelsgleich klingen.

Der italienische Komponist gilt als Meister der barocken Opera seria, war Zeitgenosse Vivaldis, zeitweise Konkurrent Händels in London, als es darum ging, die besseren Stücke und virtuosesten Sänger dem Publikum schmackhaft zu machen. Porpora schrieb mehr als 50 Opern, errang aber vor allem als der überragende Gesangslehrer seiner Zeit eminente Bedeutung. Einer seiner berühmtesten Schüler war der Kastrat Farinelli. Ihm schrieb der Komponist – zu beider Ruhm – manche Bravourarie auf den Leib.

Jaroussky hat sich davon einige der effektvollsten, virtuosesten und koloraturreichsten musikalischen Rosinen herausgepickt. Andererseits zelebriert der Counter in Dortmunds Konzerthaus das Verströmen lyrischer Episoden. Es ist ein Abend der großen Gefühle: Überbordende Freude wechselt mit Anflügen von Mitleid, Sehnsucht, unglücklicher Liebe oder stiller Zufriedenheit. Das Schatzkästlein barocker Affekte öffnet sich zu unser aller Erstaunen aufs Schönste.

Dabei wirkt die Körperlichkeit, mit der Jaroussky seine stimmliche Kunst in Szene setzt, wie eine Illustration seelischer Befindlichkeiten. Das mag bisweilen den Manierismus berühren, wie denn auch einige der sanften Melodien das Sentiment streifen. Doch des Sängers Gestaltungskraft, zudem seine traumwandlerische Sicherheit, ohne Brüche zwischen Alt- und Sopranlage zu changieren, lassen den Hang zur Überzeichnung schnell vergessen.

Des Counters Expressivität ist übrigens nicht zu verwechseln mit Verkrampfung oder Anstrengung. Denn alles Technische scheint seiner geläufigen Gurgel kaum Mühe zu bereiten. Nur wenn er sich in die Arie „Wie ein Schiff in mächtigem Sturm“ aus Porporas Oper „Semiramide“ vehement hineinwirft, verhärtet sich die Stimme leicht in der Höhe, klingt ein wenig trocken. Überwiegend aber ist Jaroussky Garant für mitreißenden Schwung und strahlenden Glanz.

Die Ovationen sind ihm sicher, doch am Erfolg des Abends ist auch das 21 Köpfe starke Venice Baroque Orchestra stark beteiligt. Das von Andrea Marcon am Cembalo umsichtig geleitet wird und sich stets im Dienste des Gesangs zurücknimmt, ohne nur beiläufig zu wirken. Das sich andererseits in einigen Instrumentalstücken, etwa in Leonardo Leos Ouvertüre zu „L’Olimpiade“, als zupackend musizierendes Ensemble beweisen kann. Mit rhythmischer Intensität und wunderbar dynamischer Differenzierung. Nur schade, dass manche Solostellen ein wenig verunglücken, etwa in Francesco Geminianis Concerto grosso.

Philippe Jarousskys Plädoyer aber für einen Barockkomponisten, auf den zumeist nur Spezialisten ihr Augenmerk richten, eröffnet dem Publikum eine neue Welt. Und zugleich beweist der Sänger, dass eine Counterstimme nicht übermäßig künstlich wirken muss, bei allem, was sie etwa von einem klassischen Sopran trennt. Dass es vielmehr möglich ist, sie in schönster Natürlichkeit aufschimmern zu lassen. Das eben ist die große Kunst.

 

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst in der WR erschienen.)