Auf der Suche nach den lustigen Momenten – „Faust“ am Westfälischen Landestheater

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Ein leidender Faust, ein lauernder Mephisto: Bülent Özdil (links) und Guido Thurk bei den Proben (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Bunt, wie Andy Warhol es einst malte, beherrscht ein riesiges Portrait das Bühnenbild: Johann Wolfgang von Goethe, Schöpfer des „Faust“, deutsche Dichterikone. Auch die Figuren des Stücks, bunt gekleidet in farbenfroher Kulisse, haben optisch ihre Individualität verloren und somit einen gewissen Ikonencharakter angenommen. Und im Spiegel sieht Gretchen späterhin statt ihres Gesichts eine Warhol-Marilyn, Inbegriff der Pop-Ikone.

Wir sollen, ahnt man früh, bar allen Beiwerks so etwas wie die Essenz des Stoffs erleben. Knappe zwei Stunden braucht Gert Becker (Regie) für seine „Faust“-Inszenierung am Westfälischen Landestheater. Das ist knapp bemessen, da darf nicht gebummelt werden. Positiver Effekt für das Publikum, das sei schon hier verraten: Langweilig wird diese Inszenierung zu keiner Minute.

Spruchweisheiten

In Castrop-Rauxel redet das faustische Personal noch getreulich in des Dichters Versen, nur hier und da wird mal ein aktuelles Halbsätzchen eingestreut. Doch da der Text passagenweise rigoros zusammengestrichen wurde, klingt das häufig wie die plumpe Reihung abgenutzter Spruchweisheiten. Goethe wurde halt gern zitiert. Einige Szenen fehlen ganz, etwa die in Auerbachs Keller. Doch Becker, ist zu lesen, wollte sich ganz auf Teufelspakt und Gretchen-Tragödie fokussieren und „die komischen Momente“ auf die Bühne bringen, die er im Stück in reicher Zahl erkennt. Das ist ein ehrgeiziges Unterfangen, das dem Stoff möglicherweise nicht ganz gerecht wird.

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Proben, Ensembleszene (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Zum Teil aber schon: Mephisto, stets auf der Suche nach waidwunder Seelen-Beute, verführt den unglücklichen Intellektuellen Faust nach Strich und Faden, und es ist ein großes Vergnügen, ihm bei der Arbeit zuzusehen. Guido Thurk, im roten Anzug, brilliert in der Rolle des Teuflischen, verwirrt mit Schmeicheleien und entwaffnender Ehrlichkeit, ist heimliche Hauptfigur dieses Theaterabends, auch wenn er der Versuchung widersteht, die ebenfalls untadelig aufspielenden Bülent Özdil (Faust) und Samira Hempel (Gretchen) „an die Wand zu spielen“. Der Mephisto ist eben eine sehr dankbare Rolle, wie es seit Gustaf Gründgens viele weitere Schauspielkünstler gezeigt haben.

Gretchens Schicksal ist nicht komisch

Etwas problematischer, um auf die „komischen Momente des Stücks“ zurückzukommen, ist sicher das Schicksal Gretchens. Faust verführt sie, schwängert sie, lässt sie dann sitzen und bestätigt so, Mephisto hin oder her, das Motto „Männer sind Schweine“. Dass Gretchen, deren ehrliche Schlichtheit Faust zunächst betörte und die er gern „mein Kind“ nannte, in der Folge zur verzweifelten Kindsmörderin wird, ist nachvollziehbar und beim besten Willen kein komischer Moment. Auch wenn man, was Becker hier offenbar versucht, den „Faust“ als so etwas wie eine Abfolge von Ereignis-Ikonen liest, wird dieser tragische Handlungsstrang nicht lustiger. Doch mag das Publikum dies diskutieren; die klare Erzählstruktur der Inszenierung lädt dazu ein.

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Vom Teufel geritten – Faust (Bülent Özdil) und Mephisto (Guido Thurk) (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Elke Königs schnörkellose Bühne, deren gedämpfter Apricot-Farbton die bunten Kostüme der Mitwirkenden sehr schön hervortreten lässt, ist erkennbar eine für das Tourneetheater, schnell auf Lastwagen verpackt und schnell aufgebaut. Die häufigen Auf- und Abtritte der Personen erfolgen durch zwei große, elektrisch angetriebene Schiebetüren in der Kulissenhinterwand, und wie dort mit geringstem Aufwand, mit farbigem Licht und etwas Nebel im besten Sinne Stimmung geschaffen wird, beeindruckt; vielleicht allerdings hätte es dem Fluss des Spiels zumal nach der Pause gutgetan, die Zahl der Personenwechsel etwas zu reduzieren.

Großartiges Komödiantentum

An den wohl heitersten Teilen dieses Abends hat Vesna Buljevic in der Rolle der Marte ihren nicht geringen Anteil; wie sie, die rüstige Witwe, sich Mephisto an den Hals wirft, dass diesem Angst und bange wird, um im nächsten Moment recht tugendsam die Augen zu senken, das ist großartiges Komödiantentum. Doch auch die anderen gefallen: Thomas Zimmer, Pia Seifert, Thomas Tiberius Meikl und Felix Sommer liefern eine homogene Ensembleleistung ab, mit der sich das Westfälische Landestheater allemal sehen lassen kann.

Reicher, begeisterter Schlussapplaus.

www.westfaelisches-landestheater.de

Weitere Termine:

  • 12.05.2016 19.00h Meinerzhagen Stadthalle
  • 25.10.2016 19.30h Hamm Kurhaus
  • 28.10.2016 11.00h Hattingen Gebläsehalle des Industriemuseums
  • 15.11.2016 20.00h Ratingen Stadttheater
  • 17.11.2016 19.30h Lüdenscheid Kulturhaus
  • 22.11.2016 9.00h Castrop-Rauxel Stadthalle
  • 22.11.2016 13.30h Castrop-Rauxel Stadthalle
  • 25.11.2016 20.00h Wetzlar Stadthalle
  • 13.12.2016 19.00h Iserlohn Parktheater
  • 15.12.2016 19.30h Rheine Stadthalle
  • 26.01.2017 20.00h Recklinghausen Ruhrfestspielhaus
  • 08.02.2017 19.30h Solingen Theater und Konzerthaus
  • 22.05.2017 10.00h Castrop-Rauxel Studio
  • 22.05.2017 14.00h Castrop-Rauxel Studio



Vier Teufel aus dem Luftschacht: Faust I am Düsseldorfer Schauspielhaus

FAUST I, v.l.n.r. Thiemo Schwarz, Konstantin Bühler, Stefan Hunstein, Karin Pfammatter, Katrin Hauptmann,  Jakob Schneider, Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

FAUST I, v.l.n.r.
Thiemo Schwarz, Konstantin Bühler, Stefan Hunstein, Karin Pfammatter, Katrin Hauptmann, Jakob Schneider, Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Die Teufel sind unter uns, sie wohnen in den Wänden. Und dann kommen sie als böse Geister aus den Luftschächten gekrochen und verbreiten Unheil, Gier und Schmerz. Dabei machen sie teuflisch gute Musik (Volker Zander), um uns zu verführen.

Die Teufel, vier an der Zahl, heißen alle Mephisto und sind Goethes Faust I entsprungen, wie ihn Georg Schmidtleitner für das Düsseldorfer Schauspielhaus inszeniert hat. Zwei Stunden ohne Pause dauert Goethes Klassiker hier nur, manches Mal rattert der Text dabei ein wenig schnell an uns vorüber.

Vor allem im Studierzimmer, das Bühnenbildner Harald Thor als einen Betonbunker konzipiert hat, der an die heruntergekommenen Räumlichkeiten einer Massenuni erinnert. Hier sitzt Faust (Stefan Hunstein) am Laptop (derweil der altmodische Nadeldrucker in der Ecke quietschend Papiermüll produziert) und nuschelt fahrig vor sich hin. „Philosophie, Theologie“ – das bringt ihm alles nix mehr, diesem Professor in Zeiten des akademischen Prekariats einer geisteswissenschaftlichen Fakultät im Abseits. Depressiv schwitzt er sein Schlabber-T-Shirt voll, dann krabbelt auch noch Wagner (Konstantin Bühler), übereifrig und mit Nerd-Brille, aus dem Papierstapel hervor und nervt mit schlauem Geschwätz.

Zum Glück sorgt gleich die Teufelsband, bestehend aus zwei Frauen (Karin Pfammatter und Katrin Hauptmann) und zwei Männern (Jakob Schneider und Thiemo Schwarz) für Abwechslung: Im schwarzen Grufti-Outfit versuchen sie Faust zu becircen, doch nachdem er ein Video von Gretchen gesehen hat, können ihm die ganze Walpurgisnacht sowie Auerbachs-Keller gestohlen bleiben und uns im Zuschauerraum auch, denn für uns bleiben davon nur ein paar Zitate. „Besonderer Saft? Hexeneinmaleins? Ach, ja, ach, ja, genau!“

Allerdings wird Fausts Verjüngungskur, um für Gretchen fit zu werden, aufgepeppt mit einem Wagnerschen Vortrag zur Gentechnik und ein wenig Nietzsche, was der Sache eine originelle Note verleiht.

Der Star des Abends aber ist Gretchen. Seltsam, denn als sie so hinterwäldlerisch im Rüschenkleidchen und komischer Mädchenfrisur die Bühne betritt, denkt man erst mal „Ach nee, so ein Trampel“. Doch Katharina Lütten interpretiert die Rolle ganz eigenartig und vielschichtig: naiv, aber gleichzeitig nüchtern-geradeaus, linkisch und doch klug. Warum fällt sie überhaupt auf den Idioten herein, das pragmatische Bauernmädchen? Wahrscheinlich, weil sie noch nie in ihrem jungen Leben irgendjemand beachtet hat.

Das ist psychologisch glaubwürdig und macht den verhexten Faust im Grunde austauschbar. So leidet Gretchen nicht so sehr daran, von ihm verlassen worden zu sein, sondern wider den eigenen Menschenverstand in den sozialen, moralischen und existenziellen Abgrund zu sinken. Wahnsinn und Tod im Kerker erträgt sie als logische Konsequenz und Flucht mit Heinrich ist keine Option mehr. Der geht dann mit der Teufelsband auf Tour.

Ich habe nachgezählt, es war jetzt mein fünfter Faust. Zum tieferen Textverständnis hat er nur teilweise beigetragen, aber ich fand ihn ganz unterhaltsam – also, wenn man weiß, worum es geht, reicht die Light-Version für zwischendurch. Frohe Weihnachten!

Karten und Termine: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




„Hier bin ich! Hier darf ich!“ – Wie Robert Wilson und Grönemeyer „Faust“ verjuxen

Während das Publikum noch Platz nimmt, wabern schon wilde Rock-Rhythmen und Folk-Balladen durch den Saal. Auf der Bühne posieren aufgekratzte Mimen, trällern ein Liedchen, wirbeln munter durcheinander.

Sie suchen sich und ihre Rolle, wollen auffallen und gefallen, denn „ihr wisst, auf deutschen Bühnen / probiert ein jeder, was er mag“. Goethes „Vorspiel auf dem Theater“ als chaotische Casting-Show und „Faust I und II“, die deutscheste aller deutschen Theater-Tiefbohrungen als munteres Musical. Das kann ja heiter werden.

Konfrontation: Faust (Fabian Stromberger, li.) und Mephisto (Christopher Nell). (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Konfrontation: Faust (Fabian Stromberger, li.) und Mephisto (Christopher Nell). (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Wird es auch. Denn der Theater-Regisseur, Möbel-Bauer und Licht-Designer Robert Wilson bolzt gut gelaunt und frei von jedes Gedankens Blässe im Berliner Ensemble die absolute Kurzversion eines überdimensional langen Textes auf die Bühne. Wofür Dichterfürst Goethe 500 Druckseiten und über 12.000 Verse benötigte und was in der legendären Expo-2000-Inszenierung von Peter Stein 14 Stunden dauerte: Bei Bob Wilson fliegt Goethes Mysterien-Ritt – vom Himmel über die Erde in die Hölle – in knappen vier Stunden dahin.

Dramaturgin Jutta Ferbers hat ganze Arbeit geleistet und mit der Axt alles weggeholzt, was nicht in Gesang und Tanz umgedeutet werden kann. Was es auf sich hat mit dem Gelehrten, der sich mit dem Teufel einlässt, warum Leidenschaft und Verstand, Genie und Wahnsinn, Versuchung und Verfehlung miteinander ringen: alles einerlei. Wer Goethes „Faust“ nicht kennt, wird ihn hier nicht finden.

Dafür aber (und das mutet paradox an, hatte doch BE-Intendant Claus Peymann jüngst wieder heftig gegen „Event“-Kultur polemisiert) bescheren Regisseur Wilson und Musiker Herbert Grönemeyer dem unterhaltungswilligen Publikum einen äußerst kurzweiligen Szenen-Reigen, bei dem deutscher Rock und kerniger Chorgesang einen faustischen Pakt eingehen und alle laut jubilieren: „Hier bin ich! Hier darf ich! Hier bin ich Mensch! Hier darf ich´s sein!“: Yeah! That´s Great! Gimme Five!

Szene mit (v. li.) Alexander Wanat, Joshua Seelenbinder, Nicolaas van Diepen, Marvin Schulze und Christopher Nell. (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Szene mit (v. li.) Alexander Wanat, Joshua Seelenbinder, Nicolaas van Diepen, Marvin Schulze und Christopher Nell. (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Faust gibt es gleich in vierfacher Ausführung, Grete wird verdreifacht, Valentin verdoppelt: Das macht zwar keinen Sinn, wirkt aber irgendwie dynamisch. Da kann man die Text-Happen auch noch kleiner hacken und aufteilen und zudem mehr Akteure punktgenau mit dem Scheinwerfer ausleuchten und aus dem sinnfreien Bühnen-Gemurkse ein geheimnisvolles Gemälde aus Licht und Schatten machen.

Außerdem fällt dann nicht so ins Auge, dass Bob Wilson diesmal vor allem mit Schauspiel-Schülern arbeitet und sich weder für das komplizierte Stück noch für die komplexe Sprache Goethes interessiert.

Einzig Mephisto, gespielt von Christopher Nell, gewinnt Kontur und Farbe: ein androgyner, sanft salbadernder und hinterhältig grinsender Spielleiter, der alle anderen, vielfach geklonten Menschen-Monster durchs Geschehen schubst. Mal greift Mephisto den süffisant singenden Engeln an die Brüste, mal schaut unter dem Gewand eines Bischofs ein riesiger Penis hervor.

Das soll komisch sein, ist aber doch nur bieder. So wie die Musik von Grönemeyer, die schenkelklopfend lustig und selbstironisch sein möchte, aber doch nur mit ein paar wenigen Noten und simplen Melodien auf der Stelle tritt. „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche, / Hier wird´s Ereignis“, singt der „Chorus Mysticus“ zum großen Finale. Besser hätte man die Kritik an der ziellos durchs Faust-Mysterium flatterten Inszenierung nicht formulieren können.

Berliner Ensemble, nächste Vorstellungen am 17., 18., 19., 22. Mai., 14.,15.,16. Juni, Karten unter 030/28 40 81 55.

  • „Faust I und II“ ist die zweite Zusammenarbeit des 1941 geborenen US-amerikanischen Regisseurs, Architekten und Licht-Designers Robert „Bob“ Wilson mit dem 1956 geborenen deutschen Musiker und Schauspieler Herbert Grönemeyer.
  • Wilson und Grönemeyer begegneten sich zum ersten Mal 1978 am Schauspielhaus Köln, wo Wilson sein „CIVILwarS“-Projekt inszenierte und Grönemeyer als Schauspieler und Musiker tätig war.
  • Bereits für Bob Wilsons Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena“ (2003 am Berliner Ensemble) schrieb Grönemeyer die Songs.
  • Grönemeyer befindet sich damit in einer Tradition von bekannten Singer-Song-Writern, die für Bob Wilsons Inszenierungen Lieder schrieben: David Byrne („The Forest“, 1988), Tom Waits („The Black Rider“, 1990, „Alice“, 1992, „Woyzeck“, 2000), Lou Reed („POEtry“, 2000, „Lulu“, 2011).



Versöhnung im Sterben: Charles Gounods „Faust“ gelingt am Theater Hagen

Rolf A. Scheider (Méphistophéles) und Marylin Bennett (Marthe). Foto: Klaus Lefebvre

Rolf A. Scheider (Méphistophéles) und Marylin Bennett (Marthe). Foto: Klaus Lefebvre

Charles Gounods „Faust“ stand lange unter Kitschverdacht, vor allem bei literarische Gebildeten in Deutschland: Die Konzentration des komplexen „Faust“-Stoffes auf die Liebestragödie, die Abkunft von einem französischen Boulevard-Stück, der Transfer der musikalischen Diktion aus der „Großen Oper“ und die Spuren der tragischen Frauen Donizettis – all das rückte Gounods Werk in abschätziges Zwielicht, ausgedrückt auch durch den lange gebräuchlichen deutschen Titel „Margarethe“.

Seit einer Generation hat sich die Rezeption gründlich verändert, „Faust“ wird nicht mehr länger unsinnigerweise an Goethe gemessen, Gounods Musik unvoreingenommen betrachtet und geschätzt. Dafür haben die Regisseure erhebliche Probleme mit den religiösen Bezügen in der Oper des überzeugten Katholiken Gounod. Der Erlösungsschluss als befremdendes Element will nicht zu „aufgeklärten“; transzendenzfreien Deutungsversuchen passen und geht so regelmäßig schief, wird denunziert oder entwertet.

Dabei wird übersehen, wie entscheidend dieses Finale für die Konzeption der Gounod’schen Oper ist. Mephistopheles ist eben ein prinzipieller Gegenspieler des Lebens, kein Spaßmacher und auch kein bloßer Gangster. Und die „Liebestragödie“ wird, spielt man Gounods Oper komplett, zur Apotheose einer Frau, die ihre Selbstbestimmung und ihre Wahrheit auch gegen gesellschaftliche Ächtung und existenzielle Vernichtung behauptet: Sie alleine erkennt im letzten Terzett im Gefängnis – kurz vor der Hinrichtung – den wahren Charakter des Dämons, der selbst Faust in seiner ganzen Tragweite nicht aufgeht.

In Hagen hat die unspektakuläre, sorgfältige Inszenierung von Holger Potocki diese Interpretations-Leerstellen gefüllt. Potocki will das Transzendente nicht eliminieren, geht unbefangen mit christlich-religiösen Symbolen um, macht aber aus „Faust“ weder eine Predigt noch ein Moralstück. Sein „Faust“ ist die Geschichte einer Selbsterkenntnis im Moment des Todes. Das Drama einer Versöhnung eines alten Mannes mit sich selbst.

Sie beginnt in einem Krankenzimmer: Lena Brexendorff schafft einen beziehungsreichen Raum: Der alte Faust (Klaus Klinkmann) liegt, verkabelt und verschlaucht, im Bett. An der Wand ein Kreuz, im Vordergrund das Bild einer idyllischen Landschaft: die geistigen Koordinaten des Stücks, Christentum und Romantik. „Rien“ – das erste Wort Faustens, das „Nichts“, das ihn in diesem Moment erfüllt, kommt aus der Seitenbühne – ein Gedanke, in den sehnsuchtsvollen Klang des Tenors Paul O’Neill gekleidet.

Gounod schreibt kein Stück über die Last des Alters und die Freuden der Jugend, sondern eines über die Qual des Nihilismus angesichts des nahenden Todes. Das gibt dem „Gerettet“ am Ende eine gewichtige Wendung: Nicht nur Marguerite ist aus den Fängen des Bösen gerettet; auch Faust kann ruhig und versöhnt entschlafen. Ostern ereignet sich für Faust im Moment seines Todes.

Zunächst sucht der Todkranke jedoch eine andere Lösung: „Salut, dernière matin“ – der Gruß an den letzten Morgen – signalisiert die Entscheidung zur Selbsttötung. Er reißt sich die Schläuche aus. Die Krankensalbung, von einem Bischof gespendet, verstärkt nur die Zweifel: „Dieser Gott, was soll er mir?“. Mephisto schält sich aus dem Priester, ganz in Rot: die pervertierte Seite der Transzendenz.

Brexendorffs Bühne lässt nicht vergessen, dass der Traum Fausts anhält: Das Bett bleibt präsent, als übergroßes Gestell im Hintergrund, als Spielfläche, am Ende als Gefängnis Marguerites. Ein Zwischenvorhang, der in den Konturen eines Gehirns die Sicht auf die Bühne zulässt, erinnert vielleicht etwas zu plakativ daran, dass wir in der Gedankenwelt Fausts verharren. Die Videos von Volker Köster zeigen Fausts Mienenspiel in Großaufnahme, blenden bei Mephistos Lied vom Goldenen Kalb Kriegsaufnahmen und Aktienkurse ein. Das Kreuz steht in grünem Licht auf dem Kopf.

Die Begegnung von Faust und Marguerite: ein falscher Traum. Die idyllisch-romantische Landschaft des Gemäldes aus dem Krankenzimmer beherrscht nun die Szene. Der Sternenhimmel zur Juwelen-Arie ist ambivalent; er deutet ultimativen Kitsch und letzte Sehnsuchts-Erfüllung an. In der großen Klage der Marguerite wird dann der leere Bilderrahmen in der Szene schweben: Der romantische Traum ist aus.

Kristine Larissa Funkhauser (Siebel) in Charles Gounods "Faust" in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Kristine Larissa Funkhauser (Siebel) in Charles Gounods „Faust“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Potocki lässt auch in der Zeichnung seiner Figuren beziehungsreiche Sorgfalt walten. Valentin ist der Vertreter des gesellschaftlich etablierten Glaubens: Kenneth Mattice zeichnet ihn als pflichtbewusst, überzeugt und kämpferisch, aber auch unbarmherzig, dogmatisch, unversöhnlich, rechthaberisch und auf sexuelle Reinheit fixiert: Gounod wusste offenbar sehr genau, wie die düsteren Seiten des Katholizismus seiner Zeit ausgesehen haben.

Die rührende Tragödie des kindlich liebenden Siebel (Kristine Larissa Funkhauser) beleuchtet Potocki mit viel Emphase: Weihwasser machen seine Hände vom Zauber Mephistos rein, aber gegen die Juwelen – die „Ableger“ des Goldenen Kalbs – sind seine romantischen Blumen machtlos. Aber diesem sauber gescheitelten Jungen mit der Hornbrille gelingt es, seine begehrende Leidenschaft in liebevolle Freundschaft zu wandeln.

Mephisto, der Herr der Narren (und der Pfaffen) ist von Rolf A. Scheider als eleganter Verführer, aber auch brutaler Macher charakterisiert. Vor der Madonna knickt er schwächelnd ein – aber er kann die Statue auch in seinem Sinn benutzen: Im dämonischen Theater der Kathedralszene ist sie mit blutrotem Sternenkranz und böse funkelnden Rubinaugen die von Mephisto manipulierte Erscheinung einer strafenden transzendenten Macht, die dann – hart an der Grenze zum Kitsch – im Dampf der Hölle versinkt. Scheider lässt keinen Zweifel, dass dem Teufel diese Welt gehört: Der wieder in seine Jugend zurückversetzte Faust steckt in einem Anzug, der an eine Zwangsjacke erinnert. Er hat keine Wahl: Auf dem Weg zur Rettung muss er das Böse in jeder Konsequenz durchdenken.

Das Bett als Gefängnis: Veronika Haller (Marguerite) und Paul O'Neill (Faust). Foto: Klaus Lefebvre

Das Bett als Gefängnis: Veronika Haller (Marguerite) und Paul O’Neill (Faust). Foto: Klaus Lefebvre

Auch musikalisch überwiegen in Hagen die erfreulichen Aspekte: Steffen Müller-Gabriel weckt immer wieder in dem symphonisch ausgebauten Orchestersatz Gounods das Potenzial des Philharmonischen Orchesters, gestaltet dynamische Bögen, trifft die grelle, plakative Melodik der Mephisto-Ständchen, die untergründige Bosheit der Szene in der Kathedrale mit ihren „Dies Irae“-Drohungen, aber auch die schwärmerische Lyrik der vergeblichen Träume einer reinen, zukunftsfrohen Liebe. Nicht vergessen machen kann er, dass sein Orchester oft zu laut und zu vordergründig bleibt. Ein flexiblerer Umgang mit dem Metrum würde etwa der hymnischen Steigerung in der Finalszene Marguerites mehr Leidenschaft gewähren.

Der Chor von Wolfgang Müller-Salow ist diesmal in den wabernden Frauenstimmen richtig schlecht, muss im Finale aus dem Lautsprecher tönen, was den musikalischen Reiz der Szene zerstört, bringt aber die forschen Gesänge der Studenten konzentriert auf den Punkt.

Mit viel Stilempfinden und einer nahezu souveränen Stimme widmet sich Paul O’Neill der Rolle des Faust: Anfangs etwas gequetscht, singt er sich zunehmend frei, kommt in seiner Arie „Salut, demeure“ zu lyrischer Intensität und meistert die Höhe wunderbar vorbereitet und sicher gebildet. Dass er das Diminuendo nicht bruchlos verwirklicht, ändert nichts an einer großartigen Leistung, die man so auch von heute gesuchten Vertretern dieses Faches nicht so ohne weiteres erwarten darf.

Mit Kenneth Mattice hat sich Hagen einen viel versprechenden Bariton aus den USA verpflichtet: Ein attraktiver Valentin mit feuriger Mittellage und nicht ganz sattelfester, aber ungezwungener Höhe. Ein wenig mehr Eleganz in Tonbildung und Legato – und ein überzeugendes musikalisches Rollenporträt ist fertig. Rolf A. Scheider ist als Méphistophéles auch stimmlich ein direkter Sänger, der machtvolle Töne in den Raum schleudert, gut artikuliert, aber die elegante Bosheit, den heuchlerischen Kavalierston, die subtile Grausamkeit Mephistos differenzierter ausdrücken könnte.

Das bewährte Damenterzett im Ensemble des Hagener Theaters kommt auch in diesem „Faust“ zum Einsatz: Veronika Haller ist eine attraktive, die selbstbewussten Seiten der Figur herausarbeitenden Marguerite, aber ihre harte Tongebung, der Mangel an lyrischer Noblesse und Flexibilität stehen ihrem ambitionierten Rollenporträt immer wieder im Wege. Auch Kristina Larissa Funkhauser hat als Siebel stimmlich nicht ihren besten Tag: sie schluckt das Ende von Phrasen und tut sich schwer mit der geforderten Leichtigkeit und Innigkeit. Marylin Bennett hat als Marthe einen kurzen, aber wirkungsvollen Auftritt. Summa summarum hat das Theater Hagen aber wieder einmal mit einer ehrgeizigen Produktion überzeugt.

Infos: www.theater-hagen.de




Die Poesie und die Kasse – Gespräch mit dem Schauspieler Bruno Ganz zum Angelopoulos-Film und zum „Faust“-Projekt

Von Bernd Berke

Seit seinen Auftritten in Peter Steins großen Schaubühnen-Inszenierungen der 70er Jahre zählt Bruno Ganz (57) zur allerersten Garde der Schauspielkunst. Der Träger des Iffland-Ringes hat auch mit berühmten Filmregisseuren wie Eric Rohmer („Die Marquise von O“), Wim Wenders („Der Himmel über Berlin“) und Volker Schlöndorff gearbeitet. Ab heute ist er in Theo Angelopoulos‘ Film „Die Ewigkeit und ein Tag“ im Kino zu sehen.

Bruno Ganz spielt den ergrauten griechischen Dichter Alexandros, der mit einem albanischen Flüchtlingsjungen durch reale und imaginäre Grenzgebiete streift. Der abschiedsschwere, vorwiegend melancholische Film errang die „Goldene Palme“ in Cannes. Die WR sprach mit Bruno Ganz in Köln.

Eigentlich scheuen Sie Interviews. Jetzt machen Sie Ausnahmen. Sind Sie vom neuen Film besonders überzeugt?

Bruno Ganz: Auf jeden Fall. Vor allem in Relation zu dem, was derzeit sonst so im Kino gezeigt wird. Als ich den fertigen Film in Cannes zum ersten Mal sah, war ich sogar selbst ein wenig gerührt.

Zählt auch die heute so außergewöhnliche Langsamkeit zu den Qualitäten?

Ganz: Für mich ist dieser Erzähl-Rhythmus tief eingebettet und unerläßlich für dieses Thema. Es geht ja um die Grenzen zwischen Leben und Tod, es werden biographische Verluste registriert. Aber der alte Dichter bekommt auch die Möglichkeit, sich dem Kind gegenüber noch einmal zu öffnen und ungeahnte Zuwendung zu erfahren. Auch die wirkliche Grenze wirkt hier metaphorisch, irreal, wie eine Projektion von Angst. Es sind Bilder, die bleiben. Bilder, die ungeahnte Räume und Zeiten öffnen. Das ist Poesie fürs Kino. Daß Angelopoulos solche Sichtweisen“ nicht aus kommerziellen Erwägungen aufgibt, obwohl er wohl dazu gedrängt wird – allein das ist eine enorme Qualität.

Wie verlief denn die Zusammenarbeit am Drehort?“

Ganz: Ungewöhnlich. Angelopoulos mag es nicht, wenn gegessen wird bei den Dreharbeiten. Es gab nicht mal ein Klo. Wir mußten halt in die Büsche gehen. Dazu die Wartezeiten. Zwischendurch wurde mal eine ganze Woche nicht gedreht. Aber ich hatte viele Reclam-Büchlein dabei und habe dann gelesen. Es war asketisch, aber auch dagegen habe ich nichts. Und es war keine Willkür des Regisseurs, ich habe nie das Vertrauen zu ihm verloren. Im Gegenteil.

Hat es ein solcher Film schwerer als vor 20 Jahren?

Ganz: Damals war die Abrechnung an der Kasse nicht so prompt. Jetzt zählt nur noch der Mainstream. Heute bekommen Leute nach einem Mißerfolg Probleme, ihren nächsten Film zu machen. Sachen ausprobieren, auf eine eigene Art und Weise erzählen das ist viel schwerer geworden.

Gehen Sie oft ins Kino?

Ganz: Sehr gezielt. „Titanic“ habe ich nicht gesehen. Aber einen wunderschönen Dokumentarfilm über die Tibeter.

Aber Sie ertragen schlechtes Kino noch eher als schlechtes Theater?

Ganz: Ja. Schlechtes Theater ist mir völlig unerträglich. Es tut körperlich weh. Ich gehe oft vorzeitig ‚raus – ganz leise natürlich. Ich dürfte das eigentlich nicht tun, aber ich halt’s oft nicht mehr aus…

Interessiert es Sie noch, was aus der „Schaubühne“ in Berlin wird, wenn der junge Thomas Ostermeier sie leitet?

Ganz: Na, wir werden ja sehen, was draus wird. Jedenfalls ist jetzt endlich eine Linie erkennbar – nach all dem Herumschwanken in den letzten Jahren. Das ist schon mal gut.

Peter Steins gigantisches „Faust“-Projekt mit Ihnen in der Titelrolle soll zur Expo 2000 in Hannover herauskommen und nicht weniger als sechs Abende umfassen. Wann beginnt die Arbeit?

Ganz: Wir treffen uns demnächst zum Vorgespräch. Ich will bald anfangen, den Text zu lernen. Dann werde ich zwei Jahre lang nur mit „Faust I und II“ beschäftigt sein. Jeder Akt im Faust II ist ja ein eigenes Stück. Ein solches Projekt wird es wohl nie mehr geben.




Im „Faust“ wird mit der Maus geblättert – Wie sich Goethes Weltendrama auf einer CD-Rom liest

Von Bernd Berke

Heute legen wir ’ne heiße Scheibe auf: Goethes „Faust“. Dabei geht’s nicht etwa um eine neue Punkgruppe, die sich frech den klassischen Namen anmaßt, sondern um Johann Wolfgang höchstselbst. Dessen Weltendrama ist jetzt auf einer silbernen Datenplatte (CD-Rom) erschienen.

Entsprechendes Laufwerk vorausgesetzt, kann man entweder ein Suchprogramm oder den kompletten „Faust I“ mit allen Begleittexten und sonstigen Zutaten auf die Computer-Festplatte holen. Letzteres kostet freilich mit happigen 8 Megabyte fast so viel Speicherplatz wie das gesamte „Windows“-System (Version 3.1), also die kleinen Bildfenster zum Anklicken mit der Maus.

Und was hat man davon? Nun, bestimmt keine gemütliche Lektüre zum Kaminfeuer. Die Seiten erscheinen mit einer gelbgrau melierten „Tapete“ hinterlegt. Hübschhäßlich.

Man blättert mit dem Mauszeiger. Dieser verwandelt sich zwar nicht in eine Faust (haha), wohl aber in ein kleines Händchen, das auf vor- und rückwärts gespitzte Symbol-Dreiecke deutet. Mit der richtigen Hand in einem richtigen Buch geht’s schneller, vom sinnlichen Gefühl beim wirklichen Blättern ganz zu schweigen. Jedenfalls könnte einem angesichts der flimmrigen Texte schon dieses „Faust“-Zitat einfallen: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten…“

Wo der Hund begraben liegt

Aber die Computer-Ausgabe hat mehr zu bieten. Bestimmte Goethe-Sätze kann man z. B. so ansteuern, daß sich Fenster mit punktgenauen Erläuterungen öffnen. Früher hat man in den Fußnoten oder den Erläuterungen am Ende eines Bandes nachgesehen, nun gräbt man eben direkt unter der Text-Oberfläche. Sodann kann man sich, wenn einem der Sinn danach steht, müßige Späße erlauben: zum Beispiel nachsehen, in welcher Zeile zum ersten Mal Gretchen erwähnt wird und wo sie dann wieder auftaucht. Diese Statistik wollten wir immer schon mal aufstellen. Wir haben uns nur nicht getraut.

Außerdem merkt sich das System die zuletzt aufgeschlagene Seite und kniffelt – wie niedlich! – eine virtuelle Büroklammer an den Rand. Apropos Rand: Wo man ehedem vielleicht seine Anmerkungen hingekritzelt hat, kann man nun ein elektronisches Notizkärtchen aufrufen und seine Ergüsse darauf plazieren. Gepriesen sei der Fortschritt!

Noch’n Test: Wo kommt im „Faust“ das Wort „Hund“ vor? Suchfunktion starten – und man erfährt es. Stelle für Stelle. Erster Fundort: Seite 13 mit dem Zitat „Es möchte kein Hund so länger leben.“ Freilich interpretiert das Programm die Tiergattung doch recht eigenwillig und zeigt später ganz stolz „hund-ert“ oder sogar „gesc-h u n d-en“ vor. Liegt also auch da des Pudels Kern?

„Da steh‘ ich nun, ich armer Tor…“

All das hätte man notfalls ohne Computer bewältigt. Doch auf der (übrigens erstaunlich preiswerten) CD-Rom ertönen an einigen Stellen auch noch Schauspielerstimmen, die Textpassagen auf Abruf vorlesen. Und ein paar kleine Bildchen von alten Theaterzetteln, Goethes Handschrift usw. gibt’s obendrein.

So etwas nennt man heutzutage wohl mutimedial. Es könnte aber auch noch Leute geben, die ihr nüchternes Fazit aus dem „Faust“ beziehen: „Da steh‘ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“

Goethe: „Faust I“. CD-Rom im Reclam-Verlag (14,90 DM). In derselben Reihe: Kafka „Die Verwandlung“, Storm „Der Schimmelreiter“, Lessing „Nathan der Weise“, Schiller „Wilhelm Tell“ u. a.