Klavier-Festival Ruhr: Mit Bravour in die Sommerpause

Arcadi Volodos bei seinem Konzert im Kulturzentrum Herne. Foto: Peter Wieler

Zum Ende der Sommer-Ausgabe des Klavier-Festivals Ruhr 2021 spielten Arcadi Volodos und Lise de la Salle herausragende und emotional bewegende Konzerte. Gastautor Robert Unger berichtet.

Bereits zum 17. Mal war Arcadi Volodos zu Gast beim Klavier-Festival Ruhr und interpretierte in Herne zu Beginn seines Konzertes die sechs Klavierstücke op. 118 von Johannes Brahms. In diesen gewichtigen Miniaturen zeigt Volodos seine Genialität in einer unaufgeregten, fein ausgeformten und präzisen Spielweise. Auch seine dynamische Finesse entfaltet sich im elegant flanierenden ersten „Intermezzo“. Jeder Ton findet Raum zur Klangentfaltung, die Bass-Linie wird hervorragend ausgeformt.

Im zweiten Teil des Konzertes kann der Pianist seine exzellenten Fähigkeiten in der Interpretation der Sonate A-Dur D 959 von Franz Schubert abermals unter Beweis stellen. Die Sonate, die zu den letzten drei Klaviersonaten des Komponisten gehört und als „klangschönste“ und „pianistischste“ bezeichnet wird, ist eine perfekte Partnerin für Volodos. Schon der Beginn mit seinen dominanten Oktaven in der linken Hand und der fast barocken Rhythmik zeigt ausgesprochen kraftvolles, an Beethoven gemahnendes Profil. Die dritte Wiederholung des Auftaktmotives kleidet Volodos in stilvoll zurückgenommene Virtuosität.

Höhepunkt des Konzertes ist dann ohne Zweifel das Andantino der Sonate. Der düster-fatalistische Charakter des Satzes mit den abrupten Einschlägen wirkt in seiner romantischen Zerrissenheit aus seiner Zeit hinaus weisend. Mit klaren Linien und Feingefühl interpretiert Volodos die Sonate bis zum letzten Ton. Das Publikum erhebt sich zu einem lang anhaltenden Applaus; der Pianist dankt für die Anerkennung mit fünf sehr unterschiedlichen und eindrücklichen Zugaben von Schubert, Brahms, zwei Mal Frederic Mompou und Alexander Skrjabin.

Gedenken an Flutopfer

Dem Intendanten des Festivals, Franz Xaver Ohnesorg, war es ein Anliegen, das Abschlusskonzert am 16. Juli mit Lise de la Salle in der Mercatorhalle in Duisburg nicht ohne Gedenken an die Opfer der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz beginnen zu lassen. Ohnesorg nutzte seine sonst routinemäßige Begrüßung, mit bewegenden Worten den Geschädigten sein Mitgefühl auszusprechen. Lise de la Salle hatte sich entschlossen, ihrem Konzertprogramm Johanns Sebastian Bachs Choral „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“ in der Bearbeitung Ferruccio Busonis voranzustellen. Danach erhob sich das Publikum zum Gedenken still von seinen Plätzen. Solche Momente kann es nur in Live-Konzerten geben; kein Streaming-Angebot vermag einen solchen Akt gemeinsamer Sammlung und bewegend ausgedrückten Mitgefühls hervorzurufen.

Viel mehr als eine „Einspringerin“

Lise de la Salle in der Mercatorhalle Duisburg beim Klavier-Festival Ruhr.
Foto: Peter Wieler

Lise de la Salle, die seit ihrem Debüt 2012 erst zum dritten Mal beim Klavier-Festival Ruhr auftritt, beweist, weit mehr als ein „Ersatz“ für die in den USA auf ihre Visa-Unterlagen wartende Hélène Grimaud zu sein. Viel mehr als bloß eine Einspringerin, überzeugt sie mit einer völlig unprätentiösen, jeglicher Virtuosen-Zelebration abholden, geradezu spirituellen Interpretation der herausfordernden h-Moll-Sonate von Franz Liszt. Den Rahmen setzen spanische und lateinamerikanische Tänze und Charakterstücke von Isaac Albéniz und Alberto Ginastera: Die „Cantos de España“ mit dem als Gitarrenstück berühmt gewordenen „Asturias“ und Ginasteras „Tres Danzas Argentinas“ spielt Lise de la Salle bewundernswert präzis, kristallklar in den an Gitarrentechnik erinnernden Akkordsalven, rhythmisch schmiegsam und mit einer faszinierenden Palette von Anschlagsfarben. Dieser Pianistin möchte man gerne wieder begegnen.

Ausblick auf den Herbst

In einem Video zur ersten Halbzeit des Klavier-Festivals auf dessen Webseite zeigt sich Franz Xaver Ohnesorg dankbar für die großzügige Unterstützung der Sponsoren sowie die Treue und den Zuspruch des Publikums. Mit einer Auslastung von 80 Prozent unter Berücksichtigung der jeweils aktuellen Hygieneregeln kann der Intendant ohne Frage zufrieden sein. Dennoch kommt die Frage auf, warum es nicht gelungen ist, mehr Konzertbesucher zu aktivieren? Ist der meist kurzfristige Vorverkauf schuld? Empfinden die Menschen die Hygieneregeln als zu einschränkend? Fehlt ein unbeschwertes Gemeinschaftserlebnis? Oder befürchten die früheren Konzertbesucher angesichts der Meldungen über eine sich anbahnende vierte Welle gesundheitliche Risiken? Dazu wird es noch einiger sorgfältiger Analysen bedürfen.

Ohnesorg jedenfalls schaut mit professioneller Zuversicht auf die am 3. September startende Herbstausgabe des Klavier-Festivals. Er hat es wieder geschafft, ein umfangreiches, hochkarätiges, aber auch mit 15 Debüts besetztes Programm zusammenzustellen. Für das Festival, das normalerweise von Mai bis Juli seine Spielzeit hat, wird es wohl dennoch nicht einfach, sich gegen die Fülle von Premieren und Eröffnungskonzerten durchzusetzen, die im September alle gleichzeitig um das musikliebende Publikum buhlen werden.

Zum Auftaktwochenende vom 3. bis 5. September erwartet das Publikum drei exquisit besetzte Konzerte: mit den Brüdern Lucas und Arthur Jussen in Mülheim/Ruhr, mit Anne-Sophie Mutter, Lambert Orkis (Klavier) und Pablo Ferrández (Cello) in Essen und ein Abend, bei dem Sir András Schiff in der Philharmonie Essen ein erst zu Konzertbeginn verkündetes Überraschungsprogramm spielt. 35 Konzerte sollen bis Dezember 2021 wieder im gesamten Ruhrgebiet und darüber hinaus das Publikum in seinen Bann ziehen.

Er wird anlässlich seines 90. Geburtstags durch eine Reihe von Konzerten geehrt: Alfred Brendel, geschätzter Mentor vieler heute weltberühmter Pianisten. Foto: KFR/Mark Wohlrab

Weitere Höhepunkte sind sicherlich die Konzerte anlässlich des 90. Geburtstages von Alfred Brendel mit Pianisten, denen Brendel als Mentor verbunden ist – so Pierre-Laurent Aimard, Kit Armstrong, Imogen Cooper, Francesco Piemontesi und Anne Queffélec. Wieder dabei sind Meisterpianisten wie Marc-André Hamelin, Krystian Zimerman und Jos van Immerseel. Unter den fünfzehn Debütanten finden sich junge Talente wie die von Evgeny Kissin benannte Stipendiatin des Klavier-Festivals Ruhr 2020, Eva Gevorgyan, den Gewinner des Brüsseler Wettbewerbs „Reine Elisabeth“ 2021, Jonathan Fournel oder die Schülerin des legendären Dmitri Bashkirov, Pallavi Mahidhara. In der Jazz-Line kommt endlich der Stipendiat des Jahres 2020, der chinesische Jazz-Pianist, A Bu, zu seinem pandemiebedingt verspäteten Debüt.

Ab sofort können sich Interessierte auf www.klavierfestival.de Ihr Vorkaufsrecht für zahlreiche Konzerte sichern. Der eigentliche Ticketverkauf beginnt am Donnerstag, 19. August.




Die Sinnlichkeit der Moderne – ein Konzert ehrt den Triennale-Begründer Gerard Mortier

Große Geste: Sylvain Cambreling dirigiert das Klangforum Wien. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Große Geste: Sylvain Cambreling dirigiert das Klangforum Wien. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Johan Simons, der neue Intendant der Triennale, weiß, wem er zu Dank verpflichtet ist. Dem „Freund und Vorbild“ Gerard Mortier, der, nicht zu vergessen, auch entscheidender Wegbereiter war.

Mortier, Gründungsintendant des Ruhrgebietsfestivals (2002 bis 2004), hat den Jüngeren von Beginn an ins Regieboot geholt, auch und gerade, wenn es um die Inszenierung der neu erdachten „Kreationen“ ging. 2014 starb Mortier; ihm hat Simons nun das erste Konzert der Triennale gewidmet, mit Werken der Moderne, für die sich der Geehrte zu Lebzeiten stets eingesetzt hatte.

Moderne heißt in diesem Fall Musik des 20. Jahrhunderts, der Bogen spannt sich von Ferruccio Busoni über die Zwölftöner Berg und Webern, hin zu Messiaen und Giacinto Scelsi. Überwiegend kammermusikalisch besetzt, erweist sich dabei das Klangforum Wien als Meister farbenprächtiger Vielseitigkeit. In der Duisburger Gebläsehalle tönt es schroff und geschmeidig, dramatisch und bisweilen auch ein wenig kühl. Denn das Orchester mag das Sinnliche hervorheben, kann indes den analytischen Zugang zu dieser Musik nicht überspielen.

Das liegt nicht zuletzt an den beiden Dirigenten, die im Wechsel am Pult stehen. Sylvain Cambreling und Emilio Pomàrico bringen Klarheit ins Notengeflecht, setzen exakte Akzente. Lineare Verläufe können atmen, rhythmische Passagen sind kraftvolle Kontrapunkte, Klangfelder öffnen sich in aller Transparenz.

Entsprechend gelingt es nur bedingt, sich dem klingenden Geschehen ganz und gar hinzugeben. Am liebsten noch lassen wir uns von den süffig morbiden „Altenberg Liedern“ Alban Bergs umspülen. Rausch und Exaltation, aber auch sanfte Elegie inbegriffen. Zumal die Sopranistin Sarah Wegener mit wunderbar warmer Stimme oder geheimnisvollem Flüsterton die Texte Peter Altenbergs interpretiert. Und wenn sie die höchsten Höhen erklimmt, wähnen wir uns ohnehin ins Sphärische katapultiert.

Nicht minder engagiert: Hier steht Emilio Pomàrico am Pult des Orchesters.  Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Nicht minder engagiert: Hier steht Emilio Pomàrico am Pult des Orchesters. Foto: Marcus Simaitis/Triennale

Anderes wirkt bodenständiger, dafür mutet es fremd an. Was Wunder, wenn etwa Busoni in seiner Studie für Streicher, sechs Bläser und Pauke indianisches Melos einflicht. „Gesang vom Reigen der Geister“ nennt er dies, 1915 komponiert, eine Musik, die zwischen Exotismus, einem Rest Romantik und neuer Sachlichkeit pendelt. Indisches Couleur wiederum lässt Scelsi knapp 60 Jahre später in „Pranam I“ erklingen, in Form einer virtuosen Lautmalerei, die Natalia Pschenitschnikova gekonnt umsetzt, während ein Tonband percussive Akzente liefert, alles eingebettet in große Klangflächen.

Als Meister der Farbe aber erweist sich zum Schluss der große französische Mystiker Olivier Messiaen, dessen Werk Gerard Mortier immer wieder in den Mittelpunkt der Triennale stellte. In den „Couleurs de la Cité Céleste“ will der Komponist nichts weniger als die Farben des Himmels in Klang umsetzen. Mit Flöten, Trompeten, Posaunen und Tuba, mit Xylophonen und Gongs, Glocken und Klavier. Orchester und Dirigent Cambreling loten sorgsam das dynamische Spektrum aus, arbeiten rhythmisch genau. Die Musik mit ihren stilisierten Vogelgesängen und riesenhaften Spreizklängen ist überwältigend. Großer Beifall.




Glühende Eruptionen: Federico Colli debütiert beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund

Mit Federico Colli, dem Sieger der renommierten Leeds International Piano Competition 2012, hat Italien nach längerer Zeit wieder einmal einen jungen Pianisten im Rennen, der alle Chancen hat, an die große Tradition von Arturo Benedetti Michelangeli über Maurizio Pollini und den oft unterschätzten Bruno Canino bis Andrea Lucchesini anzuknüpfen. Colli setzte sich – offenbar in einer knappen Entscheidung – gegen den gleichaltrigen Schweizer Louis Schwizgebel durch, der zumindest einen Teil der Kritiker auf seiner Seite hatte und 2013/14 Stipendiat der Dortmunder Mozart-Gesellschaft sein wird.

Federico Colli. Foto: Sirio Serugetti

Federico Colli. Foto: Sirio Serugetti

Dass die Hoffnungen auf Colli nicht eitler Public-Relations-Hochglanzschaum sind, konnte der 25jährige aus Brescia mit seinem Debut beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund fulminant beweisen. Beethovens „Appassionata“ op. 57 ist in ihrer stürmischen Unentwegtheit ein geeigneteres Stück für einen jungen Pianisten, sich vorzustellen, als die philosophische Spätsonate Opus 111, die der Franzose Ismael Margain im Harenberg Center gespielt hatte.

Collis zupackender Art kommt Beethovens Allegro- und Presto-Furor ideal entgegen: Sein Sinn für scharfe Kontraste, für einen sprühenden, entschiedenen Anschlag zielen auf Leidenschaft. Seine atemberaubende Konsequenz im Arpeggio-Spiel und seine Aufmerksamkeit für wechselnde Beleuchtungen erschöpfen sich nicht im virtuosen Vorzeigen, sondern dienen der strukturellen Klärung des Werks. Wenn Colli mit Wucht und Kraft die dynamische Skala nach oben öffnet, „meißelt“ er die Akkorde nicht heraus, um glanzvoll zu demonstrieren, was er „drauf“ hat. Sondern er trifft mit ihnen die insistierende Haltung, das Hineinsteigern in die Expression, die „furchtbaren, wilden Ausbrüche“, wie sie Willibald Nagel in seiner Analyse beschrieben hat.

Der Unterschied zur Kraftmeierei russischer Herkunft ist evident: Colli geht es um Erklärung, nicht um Überwältigung. Zwar ist sein Temperament kaum domestiziert, aber er findet den richtigen Moment, um im Sinne der musikalischen Gliederung die Eruption zu beruhigen. Das Magma der Klänge wird nicht mehr herausgeschleudert, sondern fließt: glühend zwar, aber ruhig und gelassen.

Und dann kann Colli etwa den resignativen Beginn der Sonate leicht und verhalten formulieren, auch zu Momenten gesanglicher Intensität finden. Im zweiten Satz verwechselt er das „con moto“ mit einem Entspannungs-Verbot: Der ruhigen Melodik des Andante wäre eine fließend kantable Haltung besser bekommen als Collis mechanistisches Beharren auf dem Rhythmus. Aber man registriert die Absicht: Colli will den hymnischen Frieden als gefährdet erweisen. Die Figurationen sind keine freundliche Dekoration eines frommen Gesangs, sondern das Nachbeben des lodernden Querfeuers, das Beethoven seinem thematischen Material im ersten Satz entgegengejagt hat. Der dritte Satz bringt dann wieder kompromisslose Klarheit, kaltes Feuer, traumhaft sichere Skalen.

Das feine Gespür für Nuancen und Atmosphäre, das die englische Presse dem Sieger von Leeds bescheinigt, ließ sich in Dortmund in Schuberts vier Impromptus op. 142 (D 935) wiederentdecken. Ein wenig Gelassenheit fehlt dem jungen Mann mit dem kecken Halstuch in schillerndem Türkis noch, aber das Liedhafte verzärtelt er nicht, die Kontraste nivelliert er nicht. Colli spielt einen klaren, rhythmisch pointierten, eher intellektuell als emotional phrasierten Schubert: Elegant der Walzer im B-Dur-Impromptus, beeindruckend die choralartige Steigerung am Ende. Und keine Spur vom „heiteren Capriccio“ im „Allegro scherzando“, dem Impromptus Nr. 4 in f-Moll. Sondern zupackender Rhythmus, scharf umgrenzte Akkorde und wilder Staccato-Schwung in der Coda – Beethoven lässt grüßen.

Keine Frage, dass Colli der musikalischen Idee von Ferruccio Busonis Transkription von Siegfrieds Trauermarsch aus Wagners „Götterdämmerung“ gewachsen ist. Und den manuellen Herausforderungen von Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“ ebenso. Die gläserne Präsenz der „Ondine“, die rhythmische Akkuratesse und die grellen Kontraste zwischen Gewalt und Subtilität in „Scarbo“ lassen keinen Zweifel: Von diesem Pianisten wird man noch hören. Ende Juni nimmt er seine erste Solo-CD auf, unter anderem mit der „Appassionata“ und Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“; im Herbst gastiert er in Japan. Im Dezember spielt Colli in Wien Beethovens Zweites Klavierkonzert und am 18. November 2013 debütiert er im Herkulessaal in München: Spätestens dann, so wage ich zu prophezeien, wird die deutsche Musikszene von Federico Colli nachhaltig Notiz nehmen.