Coup zur Saison-Eröffnung: Bayreuther Festspielorchester in der Philharmonie Essen

Christine Goerke, Klaus Florian Vogt und – im Hintergrund – Andris Nelsons in der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz)

Dieser Aufbruch hat es in sich: Vierfach geteilte Violinen in ätherischem Pianissimo, vier einzelne Geigen, ein ständig gefordertes An- und Abschwellen des Tones in kleinräumiger Dynamik. Ein auf Richard Wagner spezialisiertes Orchester wie dasjenige der Bayreuther Festspiele sollte mit der fragilen Faktur des „Lohengrin“-Vorspiels versiert umgehen. Sollte.

Tatsächlich tritt die silbrige Klangfläche nicht wie von Ungefähr in den Bereich hörbaren Klangs, sondern beginnt, wie oft in der Wagner-„Provinz“, zu laut, zu körperlich – und auch zu brüchig. Andris Nelsons am Pult mag sich in der Essener Philharmonie noch so sehr bemühen: Der Zug der Dynamik hatte Fahrt aufgenommen und war nicht mehr zu bremsen. Der Einsatz der Bläser: kein Gänsehaut-Moment. Das Hinzutreten der Hörner: ein fast unmerkliches Ausbreiten feinsten Samts. Die Blechbläser: kein Ereignis, es sei denn, man zählt die zögerlich gehaltenen Töne der Posaunen als solches.

Kein Ruhmesblatt für ein Orchester, das sich in Bayreuth ausschließlich der Musik des „Meisters“ widmet. Aber auch des Dirigenten Anteil war nicht eben auf dem Niveau des publizistisch befeuerten Ruhmes: Nelsons Tempo flackert zunächst, die von Angaben zur Dynamik und von teils riesigen Bögen gegliederte Phrasierung wirkt nicht zielgerichtet, ohne innere Spannung. Man hört, was man bei Wagner auf keinen Fall wahrnehmen sollte: wie die Musik „gemacht“ ist. Zauber? Geheimnis, gar Ergriffenheit? Ach wo. Aber dafür einen gellenden Beckenschlag, von einer viel zu massiven Klangwalze nicht vorbereitet. Und am Ende Sentiment in bröselnd langsamer Phrasierung nebst präzis platziertem Huster aus der Galerie mitten hinein ins milde Pianissimo-Licht: Holla, wir sind wieder da!

Magische Momente, sensible Abmischung

Dieses Einstiegs ungeachtet ist das Orchester aus Bayreuth ein hochklassiger Klangkörper und hat Andris Nelsons ein charismatisches Geheimnis, das ihn zu den führenden Dirigenten seiner Generation macht. Und daher konnte es nicht so weitergehen: In den folgenden Highlight-Auszügen aus „Lohengrin“ finden sich die Musiker zusammen; in Vorspiel und Karfreitagszauber aus dem „Parsifal“ gelingen magische Momente, weit aufgespannte Bögen, sensible Abmischung des Klangs. Nelsons bevorzugt ein „modernes“ Wagner-Bild, also keine raunend ungefähr einsetzende Klänge, sondern klare Schnitte; kaum organisch pulsierende Tempi, sondern eher den Kontrast von extrem langsamem Auskosten und verzögerungslosem Fortschreiten. Seltsam aber, dass er aus der Auffächerung des Klangs keinen Zauber gewinnt, dass er beim einen oder anderen Bläser (Trompete!) keinen markanteren Ton einfordert. Dennoch: Diese „Parsifal“-Auszüge waren der Höhepunkt des knapp dreistündigen Konzerts.

Andris Nelsons. (Foto: Sven Lorenz)

Ob es eine gute Idee war, den zweiten Teil mit dem „Walkürenritt“ einzuleiten, mag man bezweifeln. Mit mechanischen Rhythmusfloskeln unterlegt, donnern die Wellen der reitenden Walküren einher, das Blech schlägt mit frohem Grimm Fortissimo-Schneisen in die Phalanx der Streicher, deren stürzend chromatische Skalen im dröhnenden Messing ertrinken. Eine Dramaturgie der Dynamik ist nicht erkennbar: Wo es schon beim ersten Höhepunkt kaum lauter geht, nützt beim zweiten auch die Tuba nichts mehr. Dass Lärm wiederum Lärm erzeugt, ist ein altes Mittel, Beifall zu entfesseln: Die Philharmonie schreit auf, der Applaus brandet, Begeisterung bricht sich Bahn. Nach Subtilitäten wird da nicht mehr gefragt.

Leider ging der Balsam, der in „Siegfrieds Rheinfahrt“ zunächst die Ohren zu heilen schien, rasch zur Neige. Nelsons kostet das Motivgeflecht bis zur Neige in seliger – und bisweilen verschleppt phrasierter – Langsamkeit aus, auf Disziplin in der Dynamik achtet er dabei weniger. Die Posaunen kennen bis zum Schlussgesang der Brünnhilde offenbar nur eine Lautstärke; der Trauermarsch aus der „Götterdämmerung“ wälzt sich breit, mit ausladend süffigem Klang dahin, aber ohne die ergreifende Schärfe, die ihm ein Dirigent wie Michael Gielen zu geben verstand. Das ist, wie leider so manches Mal bei Nelsons, üppig-luxuriöses Volumen, adrett hergerichtet, aber ohne tiefere Berührung verströmend.

Entspanntes Singen, leuchtender Klang

Unter solchen Bedingungen hat Christine Goerke kaum eine Chance. Sie versucht, die letzten Worte der Brünnhilde aus der „Götterdämmerung“ entspannt zu singen, sauber zu artikulieren, nicht mit dramatisch überschrieenem Aplomb aufzuladen. Das gelingt ihr, soweit ihr das Orchester eine Chance lässt. Was sie kann, wird sie 2023 im nächsten Bayreuther „Ring“ beweisen; einstweilen bleibt der Eindruck, einen Sopran gehört zu haben, der sich weder durch angestrengt flackerndes Vibrato noch durch gestaute und druckvolle Töne Geltung verschaffen muss.

Zum Star des Abends avanciert Klaus Florian Vogt mit den – im Programm seltsamerweise als „Arien“ betitelten – Auszügen aus „Lohengrin“ und „Parsifal“. Er hat, was die Italiener „squillo“ nennen, die Fähigkeit, den Ton konzentriert und voluminös, aber ohne Kraftmeierei in den Raum zu projizieren. Sein Timbre, das nicht dem geschmäcklerischen Streben nach baritonaler Grundierung entspricht, passt zur transzendentalen Erscheinung des Gralsritters, entspricht auch der Naivität Parsifals. Dabei setzt er in „Höchstes Vertrau’n“ kraftvoll leuchtenden Klang ein, „Glanz und Wonne“ von Lohengrins Herkunft spiegelt er in abgesicherter, strahlender Höhe. Nahe am Wort gestaltet er die Gralserzählung: Das sorgsam gestaltete Piano-Leuchten der Stimme für die himmlische Taube überzeugt ebenso wie die veränderte Farbe des Wortes „Glaube“. Mit „Mein lieber Schwan“ gelingt Vogt ein Musterbeispiel verhalten-wehmutsvollen Singens; der Einsatz der Mezzavoce ist ohne jede Verkünstelung locker und unverfärbt.

Jubel in der Philharmonie. Schon die Begrüßung des Orchesters zu Beginn ist mehr als ein herzliches Willkommen, mehr als die Antwort auf den Ruf der Truppe aus dem „mystischen Abgrund“. Mehr auch als der Dank des nun – trotz Schachbrett-Besetzung – gut gefüllten Hauses, nach eineinhalb Jahren ausgedünnter Reihen, wieder ein Publikums-Feeling zu genießen. Und mehr als eine Anerkennung für den Coup von Intendant Hein Mulders, zur Eröffnung seiner letzten Spielzeit das Bayreuther Orchester – zwischen Köln. Paris und Riga – an die Ruhr geholt zu haben. Man meint, die Erleichterung zu spüren. Und die Freude: Die Strahlen des Klanges vertreiben die Nacht, zernichten der Viren erschlichene Macht.




Bayreuth – Essen und zurück: Die Harfenistin Gabriele Bamberger im Bayreuther Festspielorchester

Sie ist wieder zu Hause. Zwei Monate Bayreuth sind vorbei. Nun probt die Harfenistin
der Essener Philharmoniker für die neue Saison. Gabriele Bamberger hat ihren
Urlaub im Orchester der Festspiele verbracht. Ein Arbeits-Urlaub also? Die
lebhafte Virtuosin der sanften Saiten widerspricht: „Bayreuth ist keine
Anstrengung. Es ist wie Urlaub mit Harfe spielen.“ Seit 1985 ist die gebürtige
Österreicherin – mit wenigen Unterbrechungen – Mitglied des
Festspielorchesters. Nächstes Jahr ist sie zum zwanzigsten Mal dabei. Und freut
sich schon wieder auf die Herausforderung, im berühmten verdeckten Graben fünf
Wagner-Opern hintereinander zu spielen.

Wie viele andere Musiker und Sänger bestätigt auch Gabriele Bamberger: In Bayreuth zu
arbeiten, ist etwas Besonderes. Welches Orchester hat schon vier Harfen, in den
„Ring“-Jahren sogar sechs? In einem normalen Orchester sitzen grade mal zwei.
„Wir sind sonst Einzelkämpfer. Aber in Bayreuth entwickelt sich ein tolles
Gruppengefühl.“ Jeder der Orchestermusiker ist motiviert, sein Bestes zu geben.
„Kollegialität ist wichtig“, sagt die Harfenistin, „schließlich verbringen wir
unseren ganzen Urlaub miteinander.“

Was Gabriele Bamberger in Bayreuth fasziniert, ist die Arbeit mit berühmten Dirigenten. Ihr
erster Maestro war 1985 Giuseppe Sinopoli. Unter ihm hat sie gleich im
„Tannhäuser“ gespielt, für die Harfen die anstrengendste Wagner-Oper. „Das
Beste, was ich an musikalischer Gestaltung erlebt habe, war unter Christian
Thielemann“, schwärmt die Musikerin: „Bei ihm sitzt man auf der Stuhlkante.
Aber gleichzeitig ist es ein ganz entspanntes Musizieren.“ Was macht die Arbeit
mit Thielemann so herausragend? „Jeder Dirigent hat seine besondere Art zu
musizieren. Thielemann hört erst mal, was jeder der Musiker ihm anbietet. Passt
das in sein Konzept, nimmt er das Angebot auf. Thielemann ist ständig mit den
Augen bei den Kollegen. Eine kleine Geste, und man weiß, was er will.“

Gerne erinnert sich Gabriele Bamberger aber auch an die Arbeit mit Größen wie Daniel
Barenboim und James Levine. „Das Spielen mit Barenboim war ein wirklich
nachhaltiges Erlebnis. Er hat einfach Charisma, ist eine musikalische
Persönlichkeit.“ Ähnlich ging es ihr mit Levine: „Er saß da, mit dem Handtuch
über der Schulter, hat gestrahlt, badete in der Musik.“ Sein „Parsifal“ sei
zwar langsam gewesen, aber dennoch ungeheuer spannend: „Da war keine Sekunde
Langeweile drin.“ In diesem Jahr hat der Musikerin vor allem die Arbeit mit
Daniele Gatti im „Parsifal“ gefallen. „Er dirigiert so mitreißend und intensiv,
da empfindet man keine Länge. In diesem Jahr passte einfach alles.“ Aber auch
Andris Nelsons großer Bogen bei gleichzeitiger rhythmischer Konturierung im
„Lohengrin“ hat die Harfenistin sehr überzeugt.

In Bayreuth sitzen Musiker im Orchester, mit denen man keine musikalische Basisarbeit mehr
zu leisten hat. Wie alle anderen wurde Gabriele Bamberger auf eine Empfehlung
hin eingeladen. „Im ersten Sommer spielt man sozusagen für die Kollegen“,
erklärt sie. Denn der oder die Neue müssen in den Klangkörper passen. Wer im
nächsten Jahr wieder eingeladen wird, gehört zum Festspielorchester. Bamberger
erinnert sich: „Ich wurde vom Orchestervorstand angerufen und gefragt, ob ich
mitspielen will. Das war Helmut Schützeichel, der in Mannheim Oboe gespielt
hat. Ich war damals Mitglied der Badischen Staatskapelle in Karlsruhe. Später
habe ich erfahren, dass mich mein damaliger Chef Christof Prick empfohlen hat.“
Unter ihm hatte sie am Badischen Staatstheater bereits das ganze gängige
Wagner-Repertoire gespielt.

Begonnen hat Gabriele Bamberger nach dem Studium in Salzburg 1979 in Gelsenkirchen. Dort
spielt ihr Mann heute noch Geige im Orchester. Und passte früher auf die Kinder
auf, wenn seine Frau nach Bayreuth fuhr. Später wurde die Wagner-Stadt zum
gemeinsamen Urlaubsziel. „Die Kinder haben sich in Bayreuth wohl gefühlt, mein
großer Sohn hat im letzten Jahr hier sogar geheiratet. Uns zieht’s immer wieder
hierher.“

Die Erfahrungen im Festspielorchester nimmt die Harfenistin mit in die Heimat.
Aber: Dank der Bayreuther Eindrücke kann Gabriele Bamberger auch ermessen, wie
gut die Essener Philharmoniker unter ihrem Chef Stefan Soltesz geworden sind.
„Nach der Bereicherung in Bayreuth folgt eben keine Ernüchterung in Essen.
Sondern es macht richtig Spaß, wieder zu Hause zu spielen.“ Sie freut sich,
dass Soltesz Wagner ins Repertoire integriert hat: „Er vertraut mir, er weiß,
dass ich die Partien kenne. Das ist ein schönes Gefühl.“ Ihr
Bayreuth-Engagement hat Soltesz „stets unterstützt“ und sich immer sehr
interessiert gezeigt. Dass er die Werke so genau einstudiert und am Abend so
spontan musiziert, hilft ihr auch für ihren Dienst in Bayreuth. „Stefan Soltesz
hat uns ein Bewusstsein für musikalische Qualität beigebracht. Das müssen wir
jetzt an die jüngeren Kollegen weitergeben.“

(Der Artikel ist in kürzerer Form auch in der WAZ Essen erschienen)