Erschütternde Anthologie: „Zuflucht in Deutschland“ versammelt Texte verfolgter Autoren aus aller Welt

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen), über ein Buch mit Texten verfolgter Autorinnen und Autoren aus vielen Ländern:

Das PEN-Zentrum Deutschland ist das einzige von etwa 140 PEN-Zentren weltweit, das ein „Writers-in-Exile“-Programm hat. Acht verfolgte, mit dem Tode bedrohte Schriftsteller, die nicht selten Gefängnisstrafen mit Einzeln- oder Dunkelhaft hinter sich haben, bekommen für ein oder zwei Jahre ein Stipendium, das heißt eine Wohnung und Geld zum Leben. Das sind die Fakten. Doch Anschaulichkeit stellt sich erst ein, wenn man Texte dieser Autoren liest.

Der ehemalige PEN-Präsident Josef Haslinger und die „Writers-in-Exile“-Beauftragte Franziska Sperr haben nun das verdienstvolle Unternehmen gestartet und eine Anthologie mit Texten von zwanzig dieser verfolgten Autoren herausgegeben. Autoren aus vielen Ländern vereinigt dieser Band, aus Tschetschenien, Kuba, Kolumbien, Kamerun, Syrien, der Türkei, Tunesien, Vietnam usw.

So vielfältig die Länder, so vielfältig auch die Texte. Berichtende Beiträge stehen neben Gedichten, Erzählungen und Romanauszügen. Der Aufbau ist immer gleich. Zuerst werden Autorin oder Autor vorgestellt, werden Ausbildung, literarische Schwerpunkte, Erfolge genannt und dann, unausweichlich, ihre Konflikte mit den Autokraten in ihren jeweiligen Ländern, die sie letztlich zur Flucht veranlassten.

Bei jedem neuen Autor ertappt sich der Leser, obwohl er es längst besser weiß, beim Gedanken, dass solche literarische Leistung nun wirklich kein Grund für Verfolgung, sondern für Anerkennung, ja Stolz sein müsste. Aber nach Veröffentlichung irgendeines kritischen Textes folgen stets die gleichen Reaktionen: Beschimpfungen, Verfolgung, Gefängnis, Morddrohungen.

Dass die Tschetschenin Maynat Kurbanova nach kritischer Berichterstattung über den Krieg in ihrem Land 2003 geflohen ist, war eine richtige Entscheidung. Kurz nach ihrer Flucht wurde nämlich ihre Kollegin Anna Politkowskaja brutal ermordet. Beide hatten sich in ihren Texten nicht an die gewünschte russische Lesart über den Krieg gehalten.

Maynat kam mit ihrer kleinen Tochter nach München und es macht betroffen, ihren Bericht über die Ankunft und das schrittweise Einleben in einer völlig fremden Welt nachzulesen. „Hier in meiner kleinen Geborgenheit“ heißt der Erzählbericht, den Maynat auf Deutsch geschrieben hat, so weit hat sie sich inzwischen eingelebt. Aber der Bericht selbst zeigt, wie mühevoll dieser Prozess abgelaufen ist. Darf sie das, was sie da unternommen hat, ihrem Kind zumuten, fragt sie sich. Wie soll das Kind verstehen, dass es über Nacht getrennt ist von den Großeltern, von allen Freunden und Verwandten? Gerade das Kind hilft ihr aber beim Einleben, wobei die kleine Tochter schnellere Fortschritte macht als ihre Mutter. Ein Bericht, der ebenso bedrückend wie beglückend ist.

Najet Adouani kommt aus Tunesien, nach neuer Lesart ein sicheres Herkunftsland, weshalb es schwierig geworden ist, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern. Aber Najet kann nicht zurück in ihre Heimat, in der sie die jetzige Regierung wohl nicht verfolgen würde, doch sie steht wegen des modernen Frauenbildes, das sie in ihren Gedichten und anderen Texten vertritt, auf den Todeslisten der Salafisten. Ihr Leben wäre in höchstem Maße bedroht, müsste sie zurückkehren. Najet berichtet von einem ihrer Erlebnisse im Süden Tunesiens. Da hat sie in einem Dorf von ihrem modernen Frauenbild geredet und viel Zustimmung vor allem von den Frauen erfahren, bis plötzlich ein Mann rief: „Dreckige Kommunistin, gottlose.“ Sofort wendeten sich die Frauen, die sie gerade noch beklatscht hatten, von ihr ab und bespuckten sie.

Es sind wunderbar anschauliche, intime Gedichte, die Najet Adouani zu diesem Buch beisteuert, Gedichte der Erinnerung an ihre Großmutter, über die Heuchelei derer, die sich Revolutionäre nennen, die alles besser machen wollen und doch nur an ihren kleinen, mickrigen Vorteil denken, Gedichte über den Verlust der Heimat.

Ein erschütterndes Gedicht hat auch Enoh Meyomesse aus Kamerun beigetragen. Es handelt von seiner Haft, die nicht einfach nur eine Gefängniszeit war. Enoh wurde monatelang in Einzel- und Dunkelhaft gehalten, er hatte Angst, zu erblinden. Wie man mit ihm umging, schildert sein Gedicht „Ich komme zu dir Deutschland“. Was ihm diese Behandlung einbrachte, war seine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2011: Enoh ist ein sehr bekannter Autor in Kamerun, er trat an gegen den Diktator Paul Biya, der seit 1982 ununterbrochen das Land unterdrückt. Die Rache Biyas war brutal, aber wer Enoh begegnet, kann nur staunen über seine Freundlichkeit und sein fröhliches Wesen trotz all der Leiden. Ein Romanauszug behandelt die Kolonialzeit Kameruns, das mal deutsches Protektorat war.

Bui Thanh Hieu aus Vietnam schildert in seinem Text die Verhöre, denen er als regierungsunabhängiger Blogger ausgesetzt war. Überhaupt gehören Blogger inzwischen zu den meist gefährdeten Autoren in der Welt. Vietnam, denkt der ältere Leser, haben wir nicht für ein Ende des Vietnamkriegs demonstriert, haben wir dafür nicht Wasserwerfer und Gummiknüppel in Kauf genommen? Das Ende des Krieges wurde auch durch die Demonstrationen im Westen vorbereitet. Mit welchem Recht verfolgen Regierungsstellen in Vietnam nun Kritiker und werfen alles über Bord, was ihnen an westlichen Werten mal zugutegekommen ist?

Es ist fesselndes Buch. Es zeigt, welche Schicksale hinter all diesen Namen verfolgter Autoren stehen. Und es beantwortet ganz nebenbei die oft bei uns so oft gestellte (geschmäcklerische) Frage, ob man mit Literatur etwas bewirken kann. Man muss sich das Handeln der Autokraten und Diktatoren dieser Welt ansehen, dann kennt man die Antwort.

„Zuflucht in Deutschland. Texte verfolgter Autoren“. Herausgegeben von Josef Haslinger und Franziska Sperr. Taschenbuch im S. Fischer Verlag, Frankfurt. 288 Seiten. 9,99 Euro.

 

 

 




Unbefriedigende Rückschau – was bleibt am Ende eines Lebens?

Coverdownload S.Fischer Verlag Eine Frau liegt auf dem Sterbebett. Die Stimmen um sie herum blendet sie aus. Sie mag ihre eigenen Stimmen hören, ihre eigenen Bilder sehen. Die Bilder ihres Lebens. Sie braucht zehn Minuten, um siebzig fragmentarische Szenen ihres Lebens vor ihrem geistigen Auge ablaufen zu sehen.

Es werden die letzten zehn Minuten ihres Lebens sein. Die Zeit der Möglichkeiten ist endgültig vorbei. Die Szenen, die sie sieht, sind flüchtige Bestandsaufnahmen von der Kindheit bis ins Alter. Die Autorin Manuela Reichart schreibt in „Zehn Minuten und ein ganzes Leben“ die Rückschau eines erschreckend banalen Frauenlebens. Vielleicht kein Zufall, dass auch der Titel an den eher banalen, aber wirkungsvollen Slogan fürs Blutspenden erinnert.

Es ist kein außergewöhnliches Leben gewesen, an das die namenlose Protagonistin sich erinnert. Es gab Höhen und Tiefen, aber zumeist nur Höhen und Tiefen, die sie selbst in die Banalität der Ereignisse hinein interpretiert hat. Hauptsächlich erinnert sie sich an Männergeschichten, so gut wie alle gescheitert. Gelegentlich blitzen zwar Erinnerungen aus ihrem frühen Familienleben auf, auch aus der Kindheit ihrer eigenen Kinder, aber in der Relation sind sie selten. Selbst eine der allerersten Szenen aus ihrer Kindergartenzeit ist der Frau nur deshalb erinnerlich, weil eine vierjährige Rivalin ihr den Kindergartenfreund abspenstig machte. Ihre eigenen Kinder haben sie wohl enttäuscht, haben der Mutter nicht die erwartete Anerkennung, den erwarteten Dank erwiesen.

Sie erinnert sich an den Mann, der einstmals sogar mit Selbstmord drohte, wenn sie ihn nicht erhöre. Doch auch dessen Verehrung währte nicht ewig. Er schloß eine Ehe, die nicht auf ihren Stöckelschuhen daherkam, sondern „fest in den Gesundheitsschuhen“ einer bodenständigeren Frau stand. So war auch “er ihr zum Verräter geworden“. Der Mann, den wiederum sie einst bis zum Wahnsinn verehrte, er erzählt beim Wiedersehen von seiner letzten Darmspiegelung. So geht es mit den Männergeschichten munter weiter und gipfelt schließlich in der Erinnerung an unbefriedigende Masturbationsversuche.

Ist es wirklich das, woran man sich am Ende eines Lebens erinnern will? Sind dies wirklich die Ereignisse, die bleiben?

Im Klappentext steht “Es ging ihr immer nur um die Liebe“. War das wirklich so oder ging es ihr nicht vielmehr doch um die verzweifelte Suche nach Anerkennung? „Einen gescheiten Satz sollte jeder zurücklassen“. Das ist ihr dringendster Wunsch. Doch „hat sie ihn gesagt, hat man ihn gehört?“ Manuela Reichart hat mit dieser kurzen Prosa kein Rührstück geschrieben, auch keines, welches an die viel beschworenen wirklich wichtigen Dinge im Leben gemahnt. Vielmehr zeigen ihre kurzen Fragmente, wie erschütternd wenig bleiben kann, wenn man am Ende seines Lebensweges angelangt ist. Als Leser empfindet man es bitter, dass diese Lebensrückschau sich in erster Linie mit der unbefriedigt gebliebenen Suche nach Anerkennung und Respekt beschäftigt. Es scheint wenig Gutes gegeben zu haben, an das die namenlose Frau sich erinnern kann.

Gleichwohl macht dieses Buch nicht traurig. Melancholie ist das äußerste Gefühl, welches die kühl und komprimiert geschriebene Prosa hervorruft. Die Autorin lässt den Szenen selten einen freien erzählerischen Lauf. Sie traut sich durchaus was mit diesem Buch, doch sie traut den Lesern zu wenig zu. Rasch und unbeteiligt analysiert Manuela Reichart lieber selbst. Gerade bei den Erinnerungen an Szenen aus dem Familienleben lässt sie kein Klischee gelten, sie entlarvt und verurteilt unerbittlich.

Am Ende jedes Fragments steht eine lakonische Zusammenfassung, die den Kern drastisch vor Augen führt. Die kurzen, komprimierten Texte bringen dem Leser jedoch nur wenige Einsichten. Vor allem die Männerfixiertheit als Priorität irritiert. Andere Geschichten werden nur angedeutet, obwohl sie eine wohltuende Abwechslung gewesen wären. So erfährt man nur an Rande, dass die Schwester, mit der sie den Anfang teilte, in der Mitte des Lebens unwichtig wurde und jetzt am Sterbebett die wichtigste Bezugsperson ist. Wieso und warum, das erfährt man nicht.

Aber nun – einen wichtigen Satz hinterlässt jeder. Die namenlose Sterbende hinterlässt eine Erkenntnis, die den Leser mit der im Unterton der Unzufriedenheit geschriebenen Rückschau versöhnt:
„Klar ist am Ende nur eins. Man hat in all den Jahren viel zuwenig getanzt.“ Dem werden wohl viele Frauen zustimmen.

Manuela Reichart: „Zehn Minuten und ein ganzes Leben“. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 110 Seiten, €14,99

(Die Autorin: Manuela Reichart lebt als Radio-Moderatorin und Autorin in Berlin. Den Lesern in NRW dürfte sie auch als langjährige Moderatorin von „Gutenbergs Welt“ auf WDR3 bekannt sein).