„Der montierte Mensch“ – eine vorzügliche Folkwang-Ausstellung fragt nach Individuum und Masse in der Kunst

Fernand Léger Le Mécanicien, 1920 Öl auf Leinwand, 116 × 88,8 cm National Gallery of Canada, Ottawa © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: NGC

Fernand Léger: „Le Mécanicien“, 1920. Öl auf Leinwand. National Gallery of Canada, Ottawa / © VG Bild-Kunst, Bonn 2019. Foto: NGC

Wenige Jahre nach der Jahrhundertwende – der Wende in das 20. Jahrhundert hinein – begann die Kunst, schüchtern zunächst, mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit die konstruktiven Gegebenheiten der Welt abzufragen, die Baupläne von Natur und Technik, die Funktionalität von Gesellschaft und Individuum. Das war eigentlich erstaunlich, denn jenseits der Kunst war die Welt des 19. Jahrhunderts ja längst im Industriezeitalter angekommen.

Nur ein Schönheitsfleck

Zum einen gab es bahnbrechende Erfindungen am laufenden Band, zum anderen kapitalistische Exzesse der Ausbeutung und der Anhäufung von Reichtum in einem bis dahin unvorstellbaren Maß. Doch die Maler schwelgten in Spätromantik, blickten auf liebliche Flußauen und schroffe Felslandschaften, und bestenfalls war ganz im Hintergrund, der rauchende Schornstein verriet es, eine kleine Fabrik zu erahnen, zu nicht mehr nütze als dazu, dem schwelgerischen Duktus einen süßen Schönheitsfleck zu verpassen. Die Moderne zeigte erstes Leben, gewiß; doch in den Akademien berauschte man sich an mythologischen Stoffen, betrieb Heldenverehrung. Das deutsche Bürgertum pflegte den Luisenkult, haßte die Franzosen (nicht aber ihren Wein…) und hörte Wagner dazu. Ist ja alles bekannt.

Orlan: Le Baiser de l’artiste. Le distributeur automatique ou presque! n°2, 1977 (2009) Silbergelatine auf Diasec, 55 × 110 cm Erworben 2009, entre Pompidou, Paris (Bild: Museum Folkwang,  VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / ADAGP Foto: bpk / CNAC-MNAM / Georges Meguerditchian)

Zu Beginn Krupp

Der industriellen Wirklichkeit näherte sich die Kunst schließlich mit unübersehbarer Ambivalenz. Heinrich Kleys Gemälde „Tiegelstahlabguß bei Krupp“ zum Beispiel, entstanden 1909, schwankt mit seiner altmeisterlichen Lichtbalance etwas unschlüssig zwischen dramatischer Überhöhung, Bewunderung für die moderne Technik und dokumentarischer Beschreibung der Arbeitssituation, die die vielen Einzelnen entindividualisiert, sie gleich Soldaten unbedingtem Gehorsam unterwirft, weil sonst das Werk nicht gelingen würde.

Im großen Saal

Mit Kleys Bild beginnt der (ganz vorzügliche) Katalog zur Ausstellung „Der montierte Mensch“, die jetzt bis 15. März 2020 im Essener Folkwang-Museum zu sehen ist. Mehr als 200 Werke von 124 Künstlern beiderlei Geschlechts haben die Kuratorinnen Anna Fricke und Nadine Engel für diese eindrucksvolle Präsentation im großen Ausstellungssaal des schönen, zweckmäßigen Chipperfield-Baus zusammengetragen, Leihgaben und Eigenbestand. Der Gefahr allzu großer Beliebigkeit, die das Thema in sich birgt, sind sie mit konzeptioneller Strenge begegnet. Doch natürlich hat die Ordnung Grenzen, denn auf dem riesigen Themenfeld von Konstruktion, Dekonstruktion und Destruktion, wo irgendwo sicherlich auch der nicht allzu geläufige Begriff „montierter Mensch“ seine sinnhafte Verortung findet, haben die Dinge sich nicht nur linear entwickelt. Der Begriff „Der montierte Mensch“ stammt übrigens von dem Kulturwissenschaftler Bernd Stiegler.

Roy Lichtenstein; Study for Preparedness, 1968, Öl und Magna auf Leinwand, 142,5 × 255 cm, Museum Ludwig, Köln (Bild: Museum Folkwang, Estate of Roy Lichtenstein / VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: Rheinisches Bildarchiv, rba_d039366)

Zusammenhänge

Wenn auch nicht alles mit allem, so hängt doch vieles mit vielem, vielfältig zudem, zusammen. So lassen sich die fotografierten Bewegungsstudien Eadweard Muybridges, die 1887 noch vor der Erfindung des Kinos entstanden und die Zerlegung von Bewegung in viele Einzelschritte vorwegnahmen, durchaus sinnhaft in Zusammenhang bringen mit den Arbeiten Trevor Paglens. Der hat, beispielsweise für das ausgestellte, erschreckende Bild „Vampire (Corpus: Monster of Capitalism) Adversarially Evolved Hallucination“ (2017) den Computer nach der Evaluation menschlicher Statements zum Thema Vampire Algorithmen schreiben lassen, die in einem bildgebenden Programm zu eben jenem geplotteten Bild führten. Und wenn auch die Leistung des Computers uns Respekt abnötigt, so ist es mit seiner Künstlichen Intelligenz doch nicht weit her, denn im Kern reproduzierte er nur, was Menschen vorher äußerten. Muybridge verstand sich übrigens als Forscher, während Paglens Arbeit heutzutage problemlos als Kunst akzeptiert wird. Aber beide zerlegten und montierten.

Fortunato Depero: Motociclista (solido in velocità), 1927, Öl auf Leinwand, 117 x 163,5 cm, Privatsammlung (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Vittorio Calore (Milano Italy))

Der Erste Weltkrieg

Streift man durch die reizvoll heterogene Essener Schau, drängt sich allerdings der Eindruck auf, daß Zerlegung und Zerstörung weitaus mehr Platz beanspruchen als ein anschließendes „Montieren“. Vor allem die traumatisierenden Destruktionserfahrungen des 1. Weltkriegs veränderten die Kunst grundlegend und unwiderruflich. In einem Dreierzyklus (zweimal Kohle, einmal Öl) aus „Die Schlacht“ (1916/17), „Vorstoß“ (1916/17) und „Der Krieg“ (1914) löst beispielsweise Otto Dix die Ordnung der Welt in wilde, entmenschlichte Strukturen auf. Während die Kompositionen der ersten beiden Bilder noch kraftvoll einem Ziel entgegenzustreben scheinen, ist das letzte nur pures Chaos. Details erkennt man noch, Köpfe, Zahnräder, Schlote, Blitze, doch jeglicher funktionale Zusammenhang ist dahin. Viele Künstler teilten Dix’ Blick auf diese gänzlich entzauberte Welt.

Bettina von Arnim: Close Cycle Man, 1969, Öl auf Leinwand, 138 × 112 cm, Städel Museum Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Städel Museum – ARTOTHEK)

Kleine Püppchen

Zurück zur Montage. Dem Ausstellungstitel im Wortsinn am nächsten sind wohl Zeichnungen von Rodtschenko, Malewitsch, Kandinsky, El Lissitzky und einigen anderen, die in einer kurzen Aufbruchphase der Kunst nach dem 1. Weltkrieg – in Rußland zumal – ernsthaft, doch auch spielerisch aus Menschen mechanische Funktionsgebilde machten, kleine Püppchen, um zu kreativen Weiterungen zu gelangen.. Es ist eine etwas spröde Kunst, aber auch eine ohne Ballast, nüchtern forschend, unbestechlich. Genannt sei hier neben der Herren ausdrücklich auch Ella Bergmann-Michel, deren rätselhaft-konstruktive Gebilde „sans titre“ sind und von 1923 stammen.

Bellings Köpfe

Natürlich (ist man fast geneigt zu sagen) fehlen Rudolf Bellings maschinengleiche aufpolierte Bronzemenschenköpfe (1923) nicht, auch René Magritte ist mit Menschen in surrealen Wundern („L’âge des merveilles“, 1926) vertreten. Und Fernand Léger natürlich, der seine Figuren aus prallwurstigen Einzelteilen (es widerstrebt, Gliedmaßen zu schreiben) zusammensetzte. Auch sein „Mechaniker“ von 1920 ist so entstanden, doch trotz der klobigen Anmutung in Sonderheit der Arme und der Hand vermittelt er nicht nur Kompetenz und Gelassenheit, sondern sogar Eleganz. Ein montierter Mensch, nun gut, aber auch einer, der gepflegt daherkommt (Oberlippenbärtchen, die Haare gescheitelt) und, Zigarette in der Hand, zu genießen weiß. Im Hintergrund des Bildes ahnt man Maschinenteile, und offenbar läuft die Maschine von ganz allein. Doch die Augen zeigen: der Mechaniker muß wachsam sein. Légers Bild ist das Logo der Essener Ausstellung.

Willi Baumeister: Maschinenmensch mit Schraubenwindung II, 1929 – 1930, Öl auf Leinwand, 81 × 65 cm, Staatsgalerie Stuttgart, erworben 1968 (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: bpk / Staatsgalerie Stuttgart)

Die Futuristen jubelten

Aber Léger war – in seinen Werken – ja auch eine Frohnatur, meistens jedenfalls. Viele andere Künstler begegneten der Technik mit Skepsis und Unverständnis, empfanden sie als bedrohlich. Eine Ausnahme bildeten die italienischen Futuristen. Sie bejubelten den Fortschritt, fanden Autos, Motorräder und Flugzeuge toll, liebten Wettrennen und Rekorde. Leider geizt die Essener Schau ein wenig mit Futuristen, gerade einmal Fortunato Deperos „Motociclista (solido in velocitá)“ von 1927 oder Giacomo Ballas „Automobile in Corsa“ (1913) fallen ins Auge, und die sind in ihrer dekorativen Auffassung des Themas nicht sehr typisch.

Unverstellten Futurismo gibt es eher auf Plakaten wie Romano di Massas „Circuito di Milano“ (nach 1924) und Lucio Vennas „Ammortizzatori Excelsior“ (1925) zu sehen, letzteres eine eindrucksvolle graphische Symbiose von Zahnrad und Einzelmensch. Russische Plakate aus jener Zeit, sie hängen gleich nebenan, frönen hingegen dem Kult der Entindividualisierung in der (revolutionären) Masse. Man ahnt die wahnhafte Vorstellung, Menschen und Gesellschaften könnten nach Idealbildern erschaffen werden.

Rudolf Belling: Skulptur 23, 1923, Messing, 41,5 × 22,5 × 21 cm, Museum Folkwang, Essen (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Jens Nober)

Viele Arbeiten von Frauen

Walter Drexel montierte aus wenigen entlarvenden Strichen Hitler und Mussolini, Fotomontagen John Heartfields sind natürlich vertreten, ebenso Willi Baumeisters „Maschinen-Komposition“ (1921) und „Maschinenmensch“ (1929/30). Einige Fotos, zumal von marschierenden Soldaten und Sportlern, hätte man wohl auch weglassen können, da wird es sehr allgemein, franst die Ausstellung thematisch aus.

In guter Erinnerung hingegen bleiben zeitgenössische Arbeiten wie die eigentümlich anthropomorphen Skulpturen von Katja Novitskova (Mamaroo (Smoldering Brain, Groth Potential)“ und „Mamaroo (Violent Origins)“, beide von 2019 – auch deshalb, weil sie sich so schön pumpend, „hervorbringend“ bewegen. Anderes, was für Bewegung geschaffen war, steht still, insbesondere zwei Tinguely-Maschinen. Zu alt und zu gebrechlich seien sie, sagt das Kuratorium, aber schade ist es doch. Unverständlicherweise steht auch Rebecca Horns „Überströmer“ (1970) still. Dabei weiß gerade diese Künstlerin, man erinnere sich nur an ihre letzte Ausstellung im Duisburger Lehmbruck-Museum, sehr wohl, wie Kunst sich in Bewegung bringen läßt.

Gruselige Maschinengestalten

Man freut sich, Malerei von Maria Lassnig zu sehen („Warlord II“ von 1996, „Innenansicht/Röntgenselbst I von 1987, „Harte und weiche Maschine/Kleine Sciencefiction“ von 1988), doch wesentlich näher am Thema sind sicherlich Bettina von Arnims gruselige Maschinengestalten, Zwitterwesen aus Rohren und Tuben (vor Rohren, zwischen Rohren) mit menschlicher Anmutung. Und so könnte man fortfahren, Namen zu nennen und Werke zu beschreiben, doch das würde bald schon langweilig und soll deshalb jetzt ein Ende finden.

Das beste Haus für große Ausstellungen

Viel Kunst gibt es also im Folkwang-Museum zu sehen, über hundert Jahre alt oder auch ganz frisch, vielfältig aufeinander bezogen. Die thematische Klammer, wie gesagt, läuft hier und da Gefahr zu brechen, doch das mindert den Reiz dieser opulenten Ausstellung nicht. Von allen Museen im Ruhrgebiet ist das Essener Folkwang fraglos am besten dafür geeignet, große Ausstellungen mit vielen Kunstwerken prominent zu präsentieren. „Der montierte Mensch“ beweist es.

  • „Der montierte Mensch“
  • Folkwang-Museum, Essen, Museumsplatz 1
  • Bis 15. März 2020
  • Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do + Fr 10-20 Uhr, Mo geschlossen
  • Eintritt 8,00 EUR
  • Katalog 384 Seiten, 227 Abbildungen 38,90 EUR im Museum, 65,00 EUR im Handel
  • www.museum-folkwang.de



Ein Kapitel Foto-Geschichte: Bilder aus der Sammlung Ernst Scheidegger im Museum Folkwang

Der Blick eines Top-Fotografen: Henri Cartier-Bresson nahm dieses Motiv bei der Feuerbestattung Mahatma Gandhis 1948 auf. © Henri Cartier-Bresson / MagnumPhotos / Agentur Focus.

Der Blick eines Top-Fotografen: Henri Cartier-Bresson nahm dieses Motiv bei der Feuerbestattung Mahatma Gandhis 1948 auf. © Henri Cartier-Bresson / MagnumPhotos / Agentur Focus.

Das Folkwang Museum Essen zeigt seit heute eine Ausstellung mit rund 60 Fotografien aus der Sammlung des Zürcher Fotografen Ernst Scheidegger. Sie stammen aus einem Ankauf, den das Museum mit Unterstützung der Krupp-Jubiläums-Stiftung in diesem Jahr tätigen konnte. Anlass ist der 90. Geburtstag des Bildjournalisten und Künstlerfotografen am Samstag, 30. November.

Das Konvolut von Fotos, das nun zum großen Teil in der Sonderausstellung im Folkwang Museum zu sehen ist, stammt aus einer Schachtel, die Scheidegger jahrzehntelang verwahrt hatte. Darin sammelte er lose Abzüge, die er als junger Fotograf mit berühmten Kollegen tauschte. So erhielt er Bilder von Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Ernst Haas oder David Seymour. Im Januar 2013 öffnete er die Schachtel mit den Bildern seiner Freunde für Tobia Bezzola, den Direktor des Folkwang Museums. Zu den 86 angekauften Fotografien schenkte Scheidegger dem Folkwang Museum noch 25 eigene Bilder aus Burma.

Die wertvollen Vintage-Prints entstanden damals als Tauschobjekte unter Freunden – daher rührt auch der Titel der Ausstellung: „Bilder unter Freunden“. Unter ihnen finden sich Ikonen der Fotogeschichte wie Capas umstrittenes Bild „Fallender Soldat“, aber auch Reportagefotos etwa aus dem Japanisch-Chinesischen Krieg. Werner Bischof, Ernst Haas oder George Rodger spannen mit ihren Arbeiten ein weites Panorama der frühen Nachkriegsfotografie, etwa mit Aufnahmen aus dem Sudan oder dem Wien der vierziger Jahre. Von Henri Cartier-Bresson hängt unter anderem eine bestechend eingefangene Szene von der Verbrennung des Leichnams von Mahatma Gandhi 1948 in der Schau.

Sogar ein Motiv aus Essen ist unter den Bildern: Entstanden 1951, zeigt es einen Arbeiter an einer Mauer mit einer politischen Parole. Im Titel wird vermerkt, der Mann sei Mitglied einer Nazi-Jugendorganisation gewesen. Die Fotos sind teils im Pressebildformat 18×24, teils in größeren Formaten für Ausstellungszwecke abgezogen. Die Präsentation versteckt den Werkstattcharakter der ausgezeichnet erhaltenen Abzüge nicht hinter Passepartouts, sondern zeigt die Bilder in ihrem ursprünglichen Zustand, manche mit breiten unbelichteten Randstreifen.

Vielseitig tätiger Fotokünstler

EIn Foto von Ernst Scheidegger selbst, aufgenommen bei einem Initiationsfest in Burma. Es gehört zu den 25 Bildern, die der Fotograf dem Folkwang Museum Essen schenkte. © Fondation Ernst Scheidegger Archiv

EIn Foto von Ernst Scheidegger selbst, aufgenommen bei einem Initiationsfest in Burma. Es gehört zu den 25 Bildern, die der Fotograf dem Folkwang Museum Essen schenkte. © Fondation Ernst Scheidegger Archiv

Der aus Rorschach am Bodensee stammende Scheidegger hat ein Kapitel Fotogeschichte geschrieben. Einem Studium der Fotografie bei Hans Finsler an der Kunstgewerbeschule Zürich folgten Assistenzen bei Werner Bischof und Max Bill. Zwischen 1949 und 1952 verantwortete Scheidegger im Rahmen des Marshallplanes fünf internationale Foto-Ausstellungen. Vielfältig waren die Bereiche, in denen Scheidegger tätig war: Er fotografierte für die Agentur Magnum Photos, war 1959/60 Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, verantwortete als Bildredakteur von 1960 bis 1988 die Wochenendbeilage der Neuen Zürcher Zeitung, für die er rund 200 Bildreportagen erstellte. Außerdem war Scheidegger auch als freier Filmregisseur, Verleger und Galerist tätig.

Ernst Scheideggers Archiv umfasst rund 80.000 Negative und 50.000 Diapositive, dazu Filme über Künstler und Reisereportagen. Seit 2011 pflegt die „Stiftung Ernst-Scheidegger-Archiv“ den von der Neuen Zürcher übernommenen Archivbestand, inventarisiert und digitalisiert die Bilder. 2013 erschien im Verlag Scheidegger & Spiess eine Neuausgabe des Buchs „Alberto Giacometti. Spuren einer Freundschaft“ mit rund 30 bisher unveröffentlichten Farbfotografien. Scheidegger hatte Giacometti schon als junger Mann kennengelernt und 1964 bis 1966 einen preisgekrönten Film über den Künstler gedreht.

Die Ausstellung „Bilder unter Freunden – die Sammlung Ernst Scheidegger“ im Folkwang Museum Essen wird bis 16. Februar 2014 gezeigt. An den vier Adventswochenenden ist der Eintritt in das Museum frei. Geöffnet ist das Folkwang an diesen Tagen von 10 bis 18 Uhr.




Zu den Ufern der Freiheit – Ausstellungen über Künstlergruppe „Die Brücke“ in Essen und anderswo

Von Bernd Berke

Essen. So wirken sich Gedenktage aus: Die Gründung der expressionistischen Künstlergruppe „Die Brücke“ jährt sich heuer zum 100. Mal. Deshalb holen viele, viele Museen ihre entsprechenden Bestände ans Licht.

In unseren Breiten sind es derzeit schon Münster und Duisburg, die ihren „Brücke“-Eigenbesitz zeigen. In Essen verhält es sich nun freilich anders. Die „Brücke“-Werke (von Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde und Karl Schmidt-Rottluff), die jetzt in Essen zu sehen sind, könnten tatsächlich dem Folkwang-Museum gehören. Doch man hat sie vom Frankfurter „Städel“ ausleihen müssen.

Die folgenreiche Vorgeschichte: Der 1867 in Essen geborene Chemiker Carl Hagemann wurde um 1910 zum passionierten Kunstsammler. Besonders enge Kontakte pflegte er mit dem „Brücke“-Künstler Ernst Ludwig Kirchner. Auch mit dem damaligen Folkwang-Direktor Ernst Gosebruch (im Amt 1906-1933) war Hagemann befreundet. Es schien beschlossene Sache, dass das Essener Haus einst die Sammlung Hagemann erhalten würde.

Frankfurter Städel-Direktor rettete die Sammlung Hagemann

Doch dann kamen die Nazis. die auch die „Brücke“-Bilder als „entartete Kunst“ verfemten und missliebige Museumsdirektoren zur Kündigung zwangen. In Essen wurde es für einen Sammler wie Hagemann vollends unerträglich. Er zog nach Frankfürt und begegnete dort gottlob dem standhaften „Städel“-Chef Ernst Holzinger. Der lagerte moderne Städel-Schätze mitsamt dem Hagemann-Besitz insgeheim in Kisten und rettete sie so vor Beschlagnahme und späteren Kriegswirren…

Nun also kehren Teile des Hagemann-Konvoluts auf Zeit nach Essen zurück. Noch nie hat sich das Frankfurter „Städel“-Institut bei der Ausleihe derart großzügig gezeigt. Andere Leihgeber, darunter das Dortmunder Ostwall-Museum, traten mit sinnvollen Ergänzungen hinzu.

Es ist trotzdem keine Schau, die ganz neue Horizonte aufreißt. Wie denn auch? Mit der „Brücke“ glauben sich viele Kunstfreunde einigermaßen auszukennen. Allerdings werden die „Brücke“-Künstler vorwiegend als Gruppe wahrgenommen, gar nicht so sehr als Einzelpersönlichkeiten. Vielleicht ist dies ein „Auftrag“, den solche Ausstellungen mit sich bringen: Mehr zwischen den Künstlern zu differenzieren, neben allen Gemeinsamkeiten auch Unterschiede zu bemerken. Auch und gerade im Überschwang eines Gedenkjahres.

Historischer Verlust für Essen wird spürbar

Fabelhafte Kunststücke finden sich hier, die den historisehen Verlust für Essen recht schmerzlich spüren lassen. Immer wieder gibt es beim Rundgang flammende Momente: Das exzessive Aufblühen der Farben rund um Karl Schmidt-Rottluffs „Turm im Park“ (1910); der sinnlich verwegene Schwung des Tanzpaares in Ernst Ludwig Kirchners „Varieté“ (1910); der freimutige Reigen natürlicher Nacktheit (Erich Heckels „Badende im Waldteich“, 1910). Sie strebten zu den Ufern der Freiheit, sei’s im Leben, sei’s auf der Leinwand.

Interessant auch einige Seitenlinien der „Brücke“-Schau (E. W. Nay, André Derain). Und dann Emil Nolde! Von ihm sieht man ein ungeheuerlich aufgewühltes „Herbstmeer“ (1910), Sinnbild eines Seelenzustandes,, unsicherer menschlicher Existenz überhaupt. Zudem hat Nolde einen leuchtenden „Christus in der Unterwelt“ (1911) imaginiert, der die Mühseligen und Beladenen zu sich ruft. Vor solchen Bildern kann man gläubig werden – oder bleiben.

• Essen: Künstler der „Brücke“ in der Sammlung Hagemann. Bis zum 15. Mai im Folkwang-Museum (Goethestraße). Geöffnet Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Eintritt 8 Euro, Katalog 16,80 Euro,.

• Münster: Westfälisches Landesmuseum (Domplatz). Bis 1. Mai. Di-So 10-18 Uhr.

• Duisburg: Lehmbruck-Museum (Düsseldorfer Str.). Bis 31. Juli. Di-Sa 11-17,So 10-18 Uhr.

 




Im Drahtgeflecht steckt der Protest – Arbeiten des Spaniers Manuel Rivera im Museum Folkwang

Von Bernd Berke

Essen. Die entscheidende Idee für seine Kunst kam dem Spanier Manuel Rivera in einer ganz alltäglichen Situation: beim Blick in ein Schaufenster.

Da schwebten Werkzeuge hinter der Glasscheibe, als hätten sie fliegen gelernt. Von außen konnte man überhaupt nicht erkennen, daß sie drinnen an dünnen Drähten aufgehängt waren. Derlei Sinnestäuschung prägt seither die Arbeiten des 1927 in Granada geborenen Künstlers. Auch dem Material Draht hat er sich seitdem verschrieben. Auf seinen Bildobjekten kehrt es in Form von filigranen Geflechten, Verzweigungen und Spannkräften wieder. Das Essener Folkwang-Museum zeigt jetzt 85 Exponate aus den Jahren 1956 bis 1966, die Rivera selbst für seine wichtigste Phase hält.

Damals herrschte in Spanien die Franco-Diktatur. Es war schon ein Wagnis, als sich Rivera im Jahr 1957 mit anderen Künstlern zur maßvoll oppositionellen Gruppe „El Paso“ (Der Schritt) zusammenschloß. Als sie 1958 bei der Biennale in Venedig Furore machten, wollte Franco sie geschickt als Repräsentanten des Landes vereinnahmen, was 1960 zur Spaltung und Auflösung der Gruppe führte.

Verborgene Strukturen vergegenwärtigen

Rivera und andere begriffen seine abstrakten Objekte als widerständige Kunst. Freilich ist es ein Aufbegehren in Andeutungen, keine offene Rebellion, die damals gefährlich gewesen wäre. Die Serie der „Metamorphosen“ setzt nicht nur im Titel das Prinzip des Wandels jedwedem starren System entgegen.

Diese Kunst verlangt keine Andacht, sondern ganz konkrete, körperliche Schritte. Denn wenn man vor diesen Werken still stehen bleibt, bemerkt man nur die pure Oberfläche. Erst durch Bewegung des Betrachters erschließt sich die eigentliche Qualität. Dann beginnen die voreinander gespannten Metallgitter auf den zumeist verwaschenen Farbfeldern ein seltsames Flirren und rätselhafte Licht-Spiegelungen freizusetzen. Die zweite Langzeit-Serie trägt denn auch den Obertitel „Espejos“ (Spiegel).

Man verspürt vor diesen Arbeiten eine unaufhörliche Unruhe, Ungewißheit, Nervosität. Es sind elastische Bilder, Bilder der Veränderung, nicht der Zustände.

„Damals waren es Schreie…“

Die Draht-Verspannungen lassen zudem vage Gedanken an Zwang, Fesselung oder gar Folter aufkommen. Gelegentlich verdichten sich diese Zeichen zu verqueren Knebelstellen und Knotungen unter Verwendung von Stacheldraht. Spanische Ausstellungsbesucher werden damals wohl geahnt haben, worum es ging. Ein mögliches Lehrstück mithin: Auch abstrakte Kunst, die die Dinge nicht direkt zeigt, sondern ihre verborgenen Strukturen vergegenwärtigt, kann Widerstand sein und vielleicht wecken.

Riveras Anfänge weisen ins Informel zurück, er gehörte jedoch nie der heftig-gestischen Fraktion dieser Richtung an. Der widerspenstige Draht verhindert ein spontanes Sich- Ausleben auf der Bildfläche, er will bedachtsam gebogen und geflochten sein.

Leider verfolgt die Essener Schau, für die das Museum dank Sponsor keine Mark bezahlen muß, das Werk nicht bis zur Gegenwart. Was macht Rivera heute? Er selbst sagt, daß er ähnliche Objekte anfertige wie damals. Und doch gebe es einen großen Unterschied: „Damals waren es Schreie. Heute ist es Gesang.“

Manuel Rivera: „Metamorphosen – Espejos“. Museum Folkwang Essen (Goethestraße). Bis 11. September. Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr. Katalog 48 DM.

 




Mit Mathematik zum Mythos – Bilder von Johannes Itten im Essener Folkwang-Museum

Von Bernd Berke

Essen. Eine Komposition in doppelter Hinsicht: Das Bild „Der Bachsänger“ (1916) scheint – wie ein Musikstück des Meisters – aus Akkorden, Intervallen und Kontrapunkten gefügt zu sein; doch es erklingen hier nicht Töne, sondern Farben und Formen. Johannes Itten (1888-1967) hat, wie kaum ein anderer Künstler, seine Mittel systematisch, ja mit geradezu mathematischer Genauigkeit entwickelt.

Bis heute ist Itten vor allem als Kunstlehrer und Theoretiker bekannt. Daß er auch ein passionierter Künstler gewesen sei, will jetzt das Essener Folkwang-Museum mit einer Ausstellung ins Gedächtnis zurückrufen, die sich auf Ittens Jahre in Stuttgart, Wien und am Bauhaus in Weimar (insgesamt: 1913-23) konzentriert.

Nicht nur Gemälde und Zeichnungen sehen, sondern auch zahlreiche Tagebuchseiten und Briefe, aus denen die Genese von Ittens Farb- und Formtheorien ablesbar ist, so daß man sie gleich auf die Bilder beziehen kann. Ittens Beschäftigung mit (auch östlichen) Reiigionen, mit Goethes Farbenlehre oder den Theorien Rudolf Steiners fließt in die Bilder ein. Diese sind zwar keine „gemalten Theorien“, doch ohne den geistigen Hintergrund würde eine entscheidende Dimension fehlen.

Aufgrund seiner Farben- und Formenlehre wollte Itten zu einer „Objektivierung persönlicher Erlebnisse“ gelangen. Die Farb-Form-Mathematik sollte letztlich wieder der Individualität, ja sogar einer neuen Mythologie dienen. Aus solchen Ansätzen erwuchs ein ganzheitlich-lebensreformerisches Konzept, das Itten dem (unter Walter Gropius stärker auf Funktionalität ausgerichteten) Bauhaus entfremdete.

Jede Farbschattierung hat ihren eigenen Ausdruck

Jeder Farbschattierung schrieb Itten eine ganz bestimmte Gefühls- und Ausdrucksqualität zu, das Vokabular abstrakter Formen wurde so gleichsam „sprachfähig“. Durch bewußt konstruierte Strukturen dieser „Sprache“ ergaben sich auch enge Verwandtschaften zur Zwölftonmusik, mit deren Vertretern (Schönberg, Berg und Josef Matthias Hauer) Itten in Wien zusammentraf.

Am stärksten freilich beeindruckt Itten, wo er sich bildnerisch von der Theorielast befreit hat. Arbeiten wie die „Komposition aus zwei Formthemen“ (1917) atmen viel Theoriegeist und scheinen doch eher schematisch-experimentelle Durchführungen gedanklicher Vorgaben zu sein. So tauchen theoretisch ermittelte Farbgegensätze in verschiedenen Bildzonen auf, die einander mit einer Art von akribisch-wissenschaftlichem Interesse konstrastiert werden.

Mehr Ausdrucks-„Überschuß“ setzen hingegen Bilder wie „Der rote „Turm“ (1917/18) oder „Die Begegnung“ (1916) frei. Letzteres Bild, entstanden nach dem Tod einer Freundin, beschreibt einen Zustand zwischen Trennung und Festhalten-Wollen. Beispiel für ein sehr persönliches Erleben ist auch das frühe Hauptwerk „Barmherziger Samariter“ (1914/15), in dem Itten zu Beginn des Ersten Weltkriegs seinen Wunsch Gestalt annehmen ließ, den Leidenden beistehen zu können. (Bis 26.2., Katalog: 38 DM.)




An den Rändern von New York – Bilder von Rainer Fetting im Folkwang-Museum

Von Bernd Berke

Wie New York auf Vincent van Gogh gewirkt hätte, ist schwerlich zu ermitteln. Wie aber Rainer Fetting, der sich seit Beginn seiner steilen Karriere (bis in maltechnische Details hinein) mit van Gogh identifiziert, die Weltmetropole wahrnimmt, läßt sich jetzt im Essener Folkwang-Museum nachvollziehen (bis 2. März, Katalog 25 DM).

Fetting (Jahrgang 1949) zog 1981 von Berlin nach New York und begab sich – auch darin seinem großen Vorbild ähnelnd – an die Stätten der Außenseiter, begab sich somit selbst in eine Außenseiterposition. New York mit den Augen des ewig (und niemals richtig) Ankommenden, New York von „ganz außen“, von der Peripherie her gesehen – das ist denn auch die Hauptlinie seiner Bilder seit 1983, die nun erstmals in Europa gezeigt werden.

Die früheste Arbeit, „New York Painter“, zeigt einen mit heftigster Gebärde gemalten, flammend roten Mann, der mit seiner Palette in Eroberer-Haltung antritt. Solch draufgängerische Aggression verflüchtigtsich in der folgenden Zeit. Nicht mitten ins tosende Stadtleben hinein führen die weiteren Bilder, sondern – wie von einer starken Abstoßungskraft dorthin gedrängt – an die äußersten Ränder.

Der „Manhattan Acrobat“ vollführt einen grotesk einsamen Tanz weit vor der Silhouette des Empire State Building. Noch viel weiter hinaus führt der Rückzugsweg, hin zu gottverlassenen Schiffsanlegestellen, wo einst die Einwanderer ins Land kamen. Immer wieder schieben sich die Piers gewaltig in den Vordergrand, als suche der Fremde nach einem Anhaltspunkt und traue sich doch nicht heran. Die Stadt liegt in verschleierter Ferne. Sie gibt nur noch die Kulisse ab für starkfarbige Gefühlsaufwallungen, ist nur noch vager Anlaß für den verselbständigten Malprozeß.

Immer wieder vereinsamte, meist schutzlos nackte Mensehen, dann rätselhaft-düstere Geschehnisse. In einem Farbengewitter aus Rot und Gelb liegt eine entblößte schwarze Figur mit verzerrten GIiedmaßen vor einem Hydranten. Opfer eines Verbrechens? Im finsteren U-Bahn-Schacht steht ein Stuhl, darauf – es ist „Halloween“, also Zeit für Mummenschanz – liegt eine aufgedunsene Maske, eine Art Schweinsgesicht. Eine ähnliche Mischung aus Geheimnis, Bedrohlichkeit und Lächerlichkeit auch auf dem U-Bahn-Bild „Monster in Subway“: Eine Frankenstein-Gestalt, vielleicht aber auch nur ein verirrter Szene-Freak. eilt aus dem Dunkel auf den Betrachter zu.

Fetting, der sich seit seinen Berliner „Mauerbildern“, die die Bewegung der „Neuen Wilden“ mitbegründeten, im Sog New Yorks enorm weiterentwickelt hat, findet eine kraftvoll-expressive Bildsprache für das Gefühlschaos des von der Millionenstadt ausgespieenen Einzelnen.

Sanftere Gegenbilder entstanden auf Jamaika. Freilich, das Stadtthema beflügelt Fetting wohl doch zu reiferer Gestaltung. Die „Jamaican Cow“ (Kuh auf Jamaika) wirkt nämlich wie aus dem Reiseprospekt abgemalt.




Kraftvolle Explosionen auf der Leinwand – Werke von Lovis Corinth im Essener Folkwang-Museum

Von Bernd Berke

Essen. Was hat man Lovis Corinth (1858-1925) nicht schon alles nachgesagt: Der Berliner Kunstwelt seiner Epoche galt er zuvörderst als Impressionist, den NS-Kunstscharfrichtern als „entartet“. Dann, in den 50er Jahren, fand man seine Bilder „zu gegenständlich“, hernach wurde er als „Klassiker“ in luftleere Regionen verbannt. Jetzt will, mit einer Zusammenstellung von 85 Gemälden und 50 Graphiken aus allen Schaffensperioden, das Essener Folkwang-Museum eine Neubewertung des vor 60 Jahren gestorbenen Ostpreußen einleiten.

Chance wie Gefahr, dieses Werk auch jetzt von der Dignität gegenwärtiger Strömungen zeugen zu lassen, liegen nah. Unter dem Blickwinkel der heftigen Figuration unserer Jahre ist man in der Tat schnell geneigt, Corinth als „wildes Kraftgenie“ zum Bürgen und Vorläufer des Jetzt zu erklären.

Zweifellos hat Corinth stets kraftvoll, ja aggressiv wider seine Zeit angemalt. Kampfbereit, sozusagen „auf dem Sprung“ wirkt er auch auf zahlreichen seiner Selbstbildnisse, so 1907 auf dem „Selbstporträt mit Glas“, welch letzteres er dem Betrachter entgegenschleudern zu wollen scheint. Man ahnt: Das ist kein bloßes Gebaren, keine Attitüde, es ist – entschlossene Pinselführung unterstreicht es – Ausdruck wirklicher Seelenenergie.

Auch die Landschaften tragen bei näherem Hinsehen diese Handschrift; sie sind explosive Entäußerungen, Projektionen verschiedener Stimmungslagen – dem Expressionismus darin wohl näher als dem Impressionismus; und sie tendieren („Walchensee. Mondnacht“, 1920) mitunter auch schon zur reinen Farbkomposition.

Fern jeder Akademiehörigkeit wagte sich Corinth auch an verwegen anmutende Themen, so an die Darstellung einer „Königsberger Marzipantorte“ (1924) oder auch an blutrot-rohe Szenen wie „Im Schlachthaus“ (1883) und „Fleischerladen“ (1913).

Mythologische Szenen gar, die der Akademietradition heilig waren, füllte Corinth mit berstendem Alltagsleben. So sind etwa die „Heimkehrenden Bacchantinnen“ (1898) eine derb-komische Zecherschar, und die „Gefangennahme Simsons“ (1907) gemahnt in ihrem unmittelbaren Blick, in ihrer Gewaltsamkeit an Caravaggio.

Einige Spitzenwerke („Ecce Homo“, „Der rote Christus“) fehlen aus konservatorischen oder sonstigen verleihpolitischen Gründen. Man verschmerzt es leicht, sind doch – Museen aus aller Welt zeigten sich großzügig – von Zdenek Felix und seinen Mitarbeitern viele, auch weniger bekannte Spitzenwerke nach Essen geholt worden (Gesamtversicherungswert: 18 Mio. DM).

Der Katalog ist ein Bonbon für sich: Sämtliche (!) Gemälde sind ganzseitig in Farbe wiedergegeben, vier Aufsätze entschlüsseln Aspekte des Werks – und das alles in der Ausstellung für 36 DM, im Buchhandel für 78 DM.

Die Ausstellung dauert bis zum 12. Januar ’86 und ist danach nur noch in München (Hypo-Kunsthalle) zu sehen.




Verblüffende Rundblicke auf das Ruhrgebiet

Von Bernd Berke

Essen. Der normale Blickwinkel des Menschen umfaßt einen Kreisausschnitt von etwa 40 Grad. Um mehr zu sehen, muß man den Kopf bewegen. Wie es wäre, wenn man „augenblicklich“, also ohne Kopfdrehung, über eine vervierfachte Rundumsicht verfügen könnte, das lassen die im Essener Folkwang-Museum ausgestellten „Panoramafotos des Reviers“ ahnen (bis 22. April, Katalog 15 DM).

Der Duisburger Diether Münzberg (39) hat an besonders charakteristischen Flecken des Reviers seine Kamera auf eine drehbare Vorrichtung montiert, die 160 Grad abschwenkt, während der Farbfilm im Kameragehäuse transportiert wird. Der Breitwand-Effekt ist verblüffend. Selbst Gegenden, die man tausendmal gesehen zu haben glaubt, werden zu befremdend künstlichen (Stadt-)Landschaften, obgleich man doch jedes Detail der Realität wiederfindet.

Es enthüllt sich der wahre Kern eines Klischees: das geradezu atemberaubend dichte Beieinander der verschiedensten baulichen und industriellen Geschichts-„Ablagerungen“ im Revier. Rudimente von Landschaft, alte Zechenhäuser, gesichtslose Schnellstraßenschneisen und Supermärkte, die Trinkhalle um die Ecke, Industrie-Silhouetten – all diese strukturlose Vielfalt verdichtet sich zu einem verfremdeten Eindruck dieser Region, der jenseits aller Querelen um das Image des Ruhrgebiets liegt. Das Monströse und das Liebenswerte, das Gespenstische und das Anrührende liegen nämlich dicht, manchmal kaum trennbar beieinander.

Die Panoramabilder haben auch bei der Ruhrkohle AG Eindruck gemacht, die eine Motivauswahl in ihrem ]ahreskalender ’85 abdruckte.




Auf dem Weg in die perfekte Idylle – Ludwig Richter im Folkwang-Museum

Von Bernd Berke

Essen. An Volkstümlichkeit dürfte ihn kaum einer übertreffen: Als Illustrator etlicher Märchen-Schätze ist Ludwig Richter (1803-1884) in nahezu jedem Haushalt gegenwärtig.

84 Exponate, vor allem kleinformatige Zeichnungen und Holzschnitte des Künstlers, der vornehmlich als biedermeierlicher Idylliker gilt, werden jetzt im Graphischen Kabinett des Essener Folkwang-Museums ans (aus konservatorisehen Gründen gedämpfte) Licht geholt. Was kaum jemand weiß: In Essen befindet sich – nach Richters GeburtsStadt Dresden und Ost-Berlin die drittgrößte Anzahl von Zeichnungen des Mannes, dessen Todestag sich im Juni zum 100. Mal gejährt hat.

Nun lernt man hier zwar keinen gänzlich neuen Ludwig Richter kennen. Aber vor allem die frühen Landschafts-Zeichnungen deuten, wiewohl nie sonderlich zugespitzt oder gar „dramatisch“ komponiert, noch nicht unbedingt in die Richtung der späteren, fast fließbandhaften Idyllen-Produktion. Zum Beispiel gelangen Richter auf einer (für Künstler dazumal obligatorischen) Italienreise zwischen 1823 und 1826 einige, mit hartem Bleistift zart modellierte Landschaftsbeobachtungen, die sich vielfach liebevoll den unscheinbaren Details des Naturzusammenhangs widmen.

Mehr und mehr wandte sich Richter dann der Darstellung menschlicher Figuren zu, die zunächst grob und pathetisch gerieten. Mit fortschreitender Übung gewannen sie zwar an Grazie, jedoch nahmen auch schon Stilisierungen und eine gewisse Perfektionsglätte zu. Womit die Beschaulichkeit der Richter’schen Szenen erkauft war, wird schmerzhaft deutlich, wenn man bedenkt, wie wild bewegt der Zeithintergrund war, vor dem sie entstanden: Von der 1848er Revolution und ihren Begleiterscheinungen etwa bemerkt man hier nämlich nicht den leisesten Hauch.

Interessant erscheinen mir einige von Richters Skizzen. In diesen schnell gefertigten Entwürfen blitzt hier und da noch etwas auf, was einem spontaneren und „riskanteren“ Blick auf die Dinge entspricht.

Ludwig Richter, Zeichnungen und Grapik. Museum Folkwang, Essen. 26. August bis 14. Oktober, Katalog 25 DM.




Kunst mit Kopfsalat und Bett – Sammlung FER im Folkwang-Museum

Essen. Auf dem Fußboden liegen Carl Andres „64 Scheiben aus Blei“, grau in grau, unscheinbar. Schräg gegenüber entfalten sich desto auffälliger die Farborgien des „Neuen Wilden“ Peter Bömmels. Bewußt grell hat das FolkwangMuseum in seiner Neuen Galerie solche Gegensätze hervortreten lassen.

Die „Werke aus der Sammlung FER“ – die Abkürzung steht für die Initialen des Tablettenfabrikanten und Kunstsammlers Friedrich Erwin Rentschler – werden hier zum ersten (und für lange Zeit zum letzten) Mal öffentlich gezeigt. Eine ganz seltene Möglichkeit also, etwa 70 beispielhafte Werke der allerjüngsten Kunst aus Europa und den USA zu sehen, die schon bald wieder in der privaten „Versenkung“ verschwinden werden.

Wenn es auch nicht nach jedermanns Geschmack sein dürfte, auf einen Streich mit völlig verschiedenen Kunstrichtungen konfrontiert zu werden, so lassen sich doch exemplarisch einige Grundlinien der Entwicklung vom Beginn der 60er Jahre bis zur Gegenwart verfolgen. 35 Künstler sind vertreten. Vieles ist „vom Feinsten“, was der Kunstmarkt zu bieten hat.

Es beginnt mit Zeichnungen von Joseph Beuys aus den frühen 60er Jahren, geht weiter mit Beispielen der Minimal Art (z.B. vier je einen Kubikmeter große Messingwürfel von Donald Judd) und wird fortgesetzt mit Werken der sogenannten „Arte Povera“, bei der „ärmlich“ anmutende Alltagsmaterialien zu neuen, überraschenden und symbolischen Zusammenhängen verwoben werden – so etwa ein Bettgestell von Jannis Kounellis, aus dem mittels Gaskocher eine Flamme schlägt. Bemerkenswert auch eine Arbeit von Giovanni Anselmo, deren zwei Granitblöcke so locker mit Draht zusammengehalten werden, daß als notdürftige Polsterung ein Kopfsalat dienen muß, weleher nach ein paar Tagen fault und das ganze Objekt auseinanderfallen läßt.




Vergrößertes Schaufenster: Folkwang-Museum mit viel Aufwand erweitert

Von Bernd Berke

Essen. Der Westen ist erneut um eine museale Attraktion reicher. Nachdem Bochum vor Wochenfrist sein vergrößertes Museum eröffnete, Wuppertal sein „Historisches Zentrum“ vorstellte, während seit ein paar Tagen in Köln der Richtkranz über dem gigantisehen Wallraf-Richartz-Neubau schwebt und kurz bevor Dortmund das neue Museum für Kunst- und Kulturgeschichte einweiht, ist jetzt Essen an der Reihe.

Dort eröffnet heute um 16 Uhr Ministerpräsident Johannes Rau den beträchtlichen Erweiterungsbau des Folkwang-Museums. Zahlreiche Stücke aus dem Folkwang-Eigenbesitz können nun zum ersten Mal aus den Magazinen geholt werden, darunter eine wohl einmalige Auswahl von Emil Noldes Werk sowie Arbeiten, die zum Teil seit 40 Jahren nicht mehr öffentlich zu sehen waren. Auch nennenswerte Teile der vielgerühmten fotografischen Sammlung können nun einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden. Neu ist schließlich eine „Städtische Galerie“, in der vor allem junge Kunst aus dem Revier gezeigt werden soll.

Fast der gesamte Komplex, an den sich 1984 noch das im Ausbau befindliche Ruhrland-Museum anschließen wird, wurde neu gestaltet – auch der in mancherlei Hinsieht problematische Folkwang-„Altbau“ (2500 qm Ausstellungsfläche, Neubau 1900 qm) aus den 50er Jahren. Das Konzept, so Hermann Kreidt, Mitglied des Düsseldorfer Architektenteams, laufe nicht auf forcierte „Inszenierung von Kunst“ hinaus. Vielmehr habe man versucht, die bauliche Erneuerung in den Dienst der Kunst zu stellen.

Museumsdirektor Prof. Paul Vogt hat die Sammmlung seines Hauses neu geordnet, und zwar „nicht stur chronologisch, sondern hier und da auch Kontraste zwischen den Epochen betonend“ (Vogt). Im gründlich veränderten Altbau hängen die Gemälde, die zwischen den Jahren 1800 und 1960 entstanden sind. Kaum ein großer Name der Kunstgeschichte, der nicht vertreten wäre. Schwerpunkt, wie eh und je: Expressionismus.

Mit der Schwelle zum Neubautrakt überschreitet man eine Zeitschwelle. Die Kunst entfernt sich vom herkömmlichen Tafelbild, sprengt den traditionellen Rahmen. Vorläufiger Endpunkt: Beispiele für die Kunst der „Neuen Wilden“ (Immendorff, Bömmels) und ihre Rückkehr zur Malerei.

Dank flexibler Stellwände sind jederzeit Umbauten möglich. Prof. Vogts Prinzip: „Wir wollen für alle neuen Kunst-Entwicklungen gewappnet sein.“ Wenn das Essener Museums-Zentrum komplett ist, werden alles in allem 42 Mio. DM verbaut worden sein. 17 Mio. kommen vom Land, 8 Mio. von der Krupp-Stiftung, der „Rest“ von der Stadt Essen.