Auch ohne Bundesinstitut: Essen will Maßstäbe in der Fotokultur setzen

Sein Nachlass kommt nach Essen: Fotograf Michael Schmidt (1945-2014), hier in seiner Ausstellung „Waffenruhe“ im Essener Museum Folkwang, aufgenommen am 9. Februar 1988. (© Marga Kingler/Fotoarchiv Ruhr Museum)

Essen als d i e deutsche Fotografie-Stadt? Nun ja, es ist kompliziert. Nach politischem Willen, insbesondere auf Bundesebene, wird das noch zu gründende Deutsche Fotoinstitut eben nicht in der Ruhrstadt, sondern in Düsseldorf angesiedelt. Doch just heute ging man in Essen an die Öffentlichkeit, um kundzutun, dass man auch so gehörige Pflöcke einschlagen kann: Das hochkarätige Archiv Michael Schmidt, Nachlass eines prägenden Fotografen des 20. Jahrhunderts, kommt im Herbst aus Berlin dauerhaft in die Fotografische Sammlung des Museums Folkwang.

Da erhob sich im Verlauf der Pressekonferenz gar die Frage, ob Düsseldorf angesichts solcher Entwicklungen vielleicht nur noch die zweite Geige spielen werde. Nun aber mal halb lang! Folkwang-Museumschef Peter Gorschlüter legt jedenfalls Wert auf die Feststellung, dass die Essener mit dem künftigen Bundesinstitut und anderen fotografischen Einrichtungen einvernehmlich kooperieren wollen – und das in guter föderalistischer Tradition. Gorschlüter gehört zur Gründungskommission des Deutschen Fotoinstituts und vertritt von daher nicht ausschließlich Essener Interessen, sondern nimmt eine übergeordnete Perspektive ein. Er mag sich nicht einmal andeutungsweise zu Äußerungen über den vormaligen Konkurrenten Düsseldorf verleiten lassen.

Neuer Verein bündelt kulturelle Anstrengungen

Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen fasste es so: Die Stadt habe sich „redlich und engagiert“ um den Standort des Fotoinstituts bemüht. In der nun einmal gefällten Entscheidung für Düsseldorf sehe er keinen Fehlschlag. Überdies sei kaum eine deutsche Region seit Erfindung der Fotografie gründlicher ins Bild gesetzt worden als das Ruhrgebiet. Man könnte anfügen: Das Revier ist ja auch nicht so furchtbar weit von der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf entfernt.

Unterdessen hat sich in Essen ein Zusammenschluss gewichtiger Institutionen formiert, der hier Anstrengungen zur fotografischen Kultur bündeln soll. Das Ruhr Museum auf Zeche Zollverein zählt ebenso zum erlesenen Kreis wie das Historische Archiv Krupp, die Folkwang Universität der Künste und eben das Museum Folkwang. Neuerdings (genauer: seit 31. Januar) agieren sie zusammen als gemeinnütziger Verein mit Sitz im markanten SANAA-Gebäude auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein. Auch dieses „Zentrum für Fotografie Essen“ ist ein Statement.

Bedeutsamer Nachlass kommt von Berlin nach Essen

Vor diesem Hintergrund darf die bevorstehende Überführung des Archivs Michael Schmidt als bedeutsames Signal gelten. Der Fotograf, der von 1945 bis 2014 gelebt hat, hatte schon sehr früh und fortan recht häufig Ausstellungen in Essen, wo er – in der Tradition eines Otto Steinert – zeitweise auch eine Lehrtätigkeit ausgeübt hat. Zentraler Ort seines bildnerischen Schaffens war allerdings Berlin, wo in Kreuzberg nach und nach ein bestens aufgearbeitetes Archiv seiner Werke entstanden ist. Folkwang-Direktor Gorschlüter über den wertvollen Nachlass: „Wir übernehmen also keine Bananenkisten.“

Schon jetzt hat man im Depot eine spezielle Ebene vorbereitet, auf der das Archiv Platz finden wird. Das Schmidt-Konvolut kommt als Dauerleihgabe nach Essen – vorläufig bis zum 31. Dezember 2039, sodann mit Verlängerungs-Option bis 2045, wenn sich Michael Schmidts Geburtstag zum 100. Mal jährt. Auch danach sind Vertrags-Verlängerungen möglich. Zur Bedeutung des Werks nur diese Stichworte: Nach schwierigen Anfängen brachte es Michael Schmidt zu einer internationalen Fotokunst-Laufbahn, die bis hin zu einer großen Retrospektive im Museum of Modern Art (MoMa) in New York führte. Zu seinen bekanntesten Schülern gehört Andreas Gursky.

Kein Ankauf, sondern großzügige Dauerleihgabe

Wie Peter Gorschlüter erläuterte, handelt es sich nicht um einen Ankauf, sondern um eine großzügige Überlassung durch die „Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt“, eine Einrichtung des finanzkräftigen Sparkassen- und Giroverbandes. Mit der Übergabe ans Museum Folkwang gelangt der Nachlass in öffentliche Obhut. Weitere Vergünstigung: Das Copyright an den Fotografien geht für die Dauer der Leihgabe ans Essener Museum über, kann also womöglich lukrativ genutzt werden. Außerdem stellt die Stadt Essen in diesem und wohl auch im nächsten Jahr je rund 250000 Euro bereit, um die Übernahme zu begleiten.

Schmidts Nachlass umfasst u. a. 107 Ordner mit Negativen, etwa 2000 Prints mit Werkcharakter sowie rund 20000 Kontakt-, Arbeits- und Testabzüge. Hinzu kommen umfangreiche Fachbibliotheken. Künftig wird all das für Forschungsarbeiten an der Folkwang Universität der Künste zur Verfügung stehen. Gut denkbar, dass der Bestand eine Art Magnetwirkung ausüben und weitere Sammlungen nach sich ziehen wird.




Luzifers Tanz und Traum – Mit Stockhausen-Erstaufführung beginnt am 29. Oktober das Festival „NOW!“ in Essen

Seit seiner Gründung im Jahr 2011 hat das Essener Festival „NOW!“ die Liebhaber zeitgenössischer Musik mit faszinierenden Programmen verwöhnt. Die Eröffnung in diesem Jahr verspricht jedoch ein außergewöhnliches Ereignis. Am 29. Oktober erklingen in der Philharmonie „Luzifers Tanz“ und „Luzifers Traum“ aus Karlheinz Stockhausens monumentalem Sieben-Tage-Musiktheater-Zyklus „LICHT“.

Präsentation des Programms des Festivals „NOW!“ in der Philharmonie Essen. Abgebildet sind: (v.l.) Christof Schläger (Installationskünstler), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Dr. Ingomar Lorch (Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Hein Mulders (Intendant Philharmonie Essen), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leiterin Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste) (Foto: TUP)

Zu dem spektakulären musikalisch-szenischen Projekt aus Stockhausens „SAMSTAG aus LICHT“ hat die Philharmonie in zweijähriger Vorbereitung alle fünf Musikhochschulen in Nordrhein-Westfalen für eine Kooperation gewonnen, die auch in die Studienarbeit der Hochschulen integriert ist. Anders – so „NOW!“-Kurator und Folkwang-Professor Günter Steinke – wäre der immense Aufwand nicht zu stemmen gewesen: Für die deutsche Erstaufführung von „Luzifers Tanz“ in der originalen Fassung für Harmonieorchester werden 70 Bläser und 10 Schlagzeuger benötigt.

Das von Stockhausen erdachte szenische Konzept kann im Alfried Krupp Saal optimal umgesetzt werden: Die Musiker werden auf der Empore in Gruppen verteilt und symbolisieren bei entsprechender Ausleuchtung mit ihrem Spiel und mit Bewegungen die Fratze Luzifers, lassen etwa die Augenbrauen, die Nase oder das Kinn „tanzen“. Philharmonie-Intendant Hein Mulders, der sein letztes „NOW!“-Festival bei einer Pressekonferenz präsentierte, sagt mit Recht: „Das hört man einmal, das kommt nicht wieder.“

Uraufführungen und moderne Klassiker

Nicht so schnell wiederkommen dürften auch die Programm-Kombinationen unter dem Motto „Mikrokosmos – Makrokosmos“ und die Anwesenheit prominenter Komponisten wie Nikolaus A. Huber, Helmut Lachenmann oder Rebecca Saunders, die 2019 den Ernst von Siemens Musikpreis erhielt – einer der weltweit wichtigsten Auszeichnungen auf diesem Gebiet. Elf Uraufführungen und zwei deutsche Erstaufführungen werden in den 20 Veranstaltungen zwischen 29. Oktober und 7. November erklingen.

Wie immer stehen die Novitäten und wichtige Zweitaufführungen von kürzlich erst aus der Taufe gehobenen Stücken in Bezug zu „Klassikern“ der modernen Musik. Zu nennen sind da etwa Luigi Nonos „…sofferte onde serene …“ für Klavier und Tonband (30. Oktober in der Folkwang Universität) und sein letztes Werk „On hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkowskij“ von 1985 (7. November in der Philharmonie). Dann Helmut Lachenmanns frühe Werke „Kontrakadenz“ (30. Oktober in der Philharmonie Essen) und „Allegro sostenuto“ (31. Oktober im RWE Pavillon der Philharmonie). Oder ein zentrales Werk der Zwölftonmusik, Arnold Schönbergs „Variationen für Orchester op. 31“ (30. Oktober in der Philharmonie) und Olivier Messiaens „Chronochromie“ für Orchester (6. November in der Philharmonie).

Die Liste der Ur- und Zweitaufführungen liest sich ebenfalls prominent: In der ersten der drei Veranstaltungen der Folkwang Universität der Künste in der Neuen Aula in Essen-Werden am 30. Oktober, 16 Uhr, erklingt viel elektronische Musik, darunter zum ersten Mal „Seven Rotations of Seven for Three (Triple Doubles) für drei Violen mit oder ohne Live-Elektronik“ des seit 2017 amtierenden Folkwang-Professors für elektronische Komposition, Michael Edwards. Das hr-Sinfonieorchester hat für sein Konzert am 30. Oktober, 18.30 Uhr, zwei Auftragswerke der Philharmonie Essen im Notenkoffer: „NUT I LAC“ des Leiters des Studios für elektroakustische Musik (SeaM) in Weimar, Maximilian Marcoll, und ein neues Werk des 1939 geborenen Bialas-, Nono- und Stockhausen-Schülers Nicolaus A. Huber mit dem ironischen Titel „Lockdown – Basket Music“.

Endoskopie in der Tuba

Der Komponist Simon Steen-Andersen. Foto: Sven Lorenz

Das Trio Catch in der ungewöhnlichen Besetzung Klarinette, Cello und Klavier kommt am 31. Oktober um 16 Uhr in den RWE Pavillon der Essener Philharmonie und spielt zwei erst kürzlich uraufgeführte Werke: „Whirl and Pendulum“ des 1980 in Wien geborenen Matthias Kranebitter und ebenfalls ein Pandemie-Stück, „Fenster – zwölf wundersame Welten im Lockdown“ der Ungarin Judit Varga. Uraufgeführt wird am 31. Oktober, 19 Uhr, ein weiteres Auftragswerk der Philharmonie Essen: Der Tubist Melvyn Poore spielt Simon Steen-Andersens „TRANSIT“, ein „szenisches Konzert“ für Tuba, Ensemble und Live-Endoskopie, bei dem eine Mini-Kamera ins Innere des Instruments eingelassen wird und Bilder überträgt, während die Töne erzeugt werden.

Rebecca Saunders trägt ebenfalls ein neues Werk zum Festival bei: Das Ensemble Modern spielt am 4. November, 20 Uhr in der Philharmonie eine Collage für Musik und Tanz, entwickelt gemeinsam mit der Performerin und Choreographin Frances Chiaverini. Auch dabei spielt ein szenisches Konzept eine Rolle: Die Ensembles, Musiker und Tänzer werden dezentral verteilt und bespielen den gesamten Raum.

Rebecca Saunders, Siemens Musikpreiträgerin des Jahres 2019. Foto: Astrid Ackermann

Das JugendZupfOrchester NRW unter Eva Caspari hat am 1. November, 17 Uhr gleich vier neue Werke im Programm seines Konzerts im RWE Pavillon. Sie stammen von Andrea Tarrodi, Christopher Grafschmidt, Lutz Werner Hesse und Mike Marshall. Beinahe eine Uraufführung ist „Tableaux“ für Orchester von Beat Furrer, das kurz zuvor in Donaueschingen vorgestellt wird und am 6. November, 20 Uhr im Konzert des SWR Symphonieorchesters in der Philharmonie erklingt. Weitere Uraufführungen tragen Hèctor Parra und Ying Wang bei.

Maschinen musizieren auf Zollverein

Der Klangkünstler Christof Schläger mit seinen Schiffshörnern in der Maschinenhalle auf Zeche Teuthoburgia in Herne, in der er seine Werkstatt hat.
Foto: Gregor Schläger.

Im Zentrum des Programms auf Zollverein stehen die spektakulären Klangerzeuger-Neuerfindungen des Komponisten, Klang- und Installationskünstlers Christof Schläger. Der Erfinder und Ingenieur hat in seiner Maschinenhalle in Herne mechanisch-akustische Instrumente geschaffen, von denen er 62 in drei Aufführungen im Salzlager der Kokerei Zollverein am 5., 6. und 7. November präsentiert. „Reconnected“ ist der Titel des Konzerts für „musikalische Maschinen“. Das Publikum sitzt und – im Idealfall – bewegt sich dabei nicht in einem extra Raum für Zuhörer, sondern zwischen den Maschinen und fängt die Eindrücke eines überraschenden Kosmos aus transformierten Alltagsgeräuschen, neuen Klangzusammenhängen und technischen Rhythmen auf.

Das Festival wird in bewährter Weise getragen von der Philharmonie Essen, der Folkwang Universität der Künste und der Stiftung Zollverein und vom Landesmusikrat NRW, der Kunststiftung NRW und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung gefördert. Einzeltickets (17 Euro) gibt es unter www.theater-essen.de und telefonisch unter (0201) 81 22 200. Mit dem NOW!-Festivalpass (25 Euro) sind für alle Veranstaltungen vergünstigte Karten zu jeweils 6,60 Euro erhältlich. Die ermäßigten Tickets lasen sich nur telefonisch oder beim TicketCenter (II. Hagen, 45127 Essen) erwerben. Der Vorverkauf beginnt am 14. Oktober.

Info: www.theater-essen.de




10 Jahre Festival NOW! für neue Musik: Aufbruch in andere Klangwelten – jäh durch Corona gebremst

Ab Montag, 2. November 2020, fallen – wegen der aktuellen Corona-Lage –sämtliche Veranstaltungen des Festivals NOW! aus. Der folgende Vorbericht kann leider nur noch den vorherigen Stand der Planungen wiedergeben.

Ausgerechnet in diesem Jahr, in dem die Corona-Pandemie das Reisen so gut wie unmöglich macht, hatte sich das Festival NOW! in Essen vorgenommen, musikalisch „von fremden Ländern und Menschen“ zu erzählen.

Wird beim Festival NOW! in einigen Konzerten gewürdigt: Komponistin Unsuk Chin. Foto: Eric Richmond/ArenaPAL

Hein Mulders, Intendant der Philharmonie mit seiner rechten Hand Marie Babette Nierenz und Folkwang-Professor Günter Steinke planten um, luden Künstler ein, die nicht in ihren fernen Heimatländern festsitzen, aber dennoch Klänge ihrer Herkunfts- oder ihrer Sehnsuchtsländer mitbringen. Das Ergebnis laut Planung: 16 Veranstaltungen zwischen 29. Oktober und 8. November, 22 Uraufführungen und ein Programm, so bunt wie die Farbschnipsel auf dem Cover des Begleithefts. Alles unter der Voraussetzung, dass der Kulturbereich nicht wieder einem Lockdown unterworfen werden würde. Dies ist aber jetzt der Fall.

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders zeigte sich zuvor „überglücklich“, das Fest neuer Klänge in einem so verflixten Jahr feiern zu können, auch wenn im Saal der Philharmonie – Stand vor ein paar Tagen – nur 250 Zuhörer zugelassen sind. Nur durch viele Partner ist es möglich, ein derart vielgestaltiges Ereignis auf die Beine zu stellen: Die Folkwang Universität der Künste und der Landesmusikrat NRW waren schon bei den ab 2007 laufenden Reihe „Entdeckungen“ dabei; seit der Überführung ins Festival NOW! vor nunmehr zehn Jahren sind einige andere dazugekommen, etwa von Anfang an die Kunststiftung NRW, die Stiftung Zollverein, PACT Zollverein und seit 2019 die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.

Das NOW!-Programm lässt ahnen, wie unbeschwert die „neue“ Musik in den letzten Jahrzehnten stilistische Limits und geografische Grenzen übersprungen hat. Längst sind es nicht mehr die Europäer, die sich an „exotischen“ Importen erfreuen, die sie wie weiland Gluck oder Mozart als fröhlich lärmende Janitscharenmusik in den europäischen Kontext zwängten. Längst sind es auch nicht mehr die bildungsbeflissenen Musiker aus dem fernen Osten, die ihre Begeisterung für europäische Kunstmusik in ihre Heimatländer brachten und dort im schlechten Fall imitierten, im besten Fall zu einer Symbiose mit eigenen Traditionen verschmolzen.

Passé sind auch die Zeiten, in denen es genügte, ein Sinfonieorchester mit etwas tempelhaftem Bling-Bling zu garnieren, um „Fremdes“ zu integrieren. Der Wandel, von dem NOW! auch zeugt, reicht tiefer: Menschen bewegen sich in vielfältigen kulturellen Kontexten, in denen sie nicht aufgewachsen sind. Andere sind in zwei Kulturen tief verwurzelt, wieder andere verlassen – manchmal auch unfreiwillig – ihre Heimat und suchen in der Fremde eine neue. Die Lebenssituationen sind so unterschiedlich wie die Herkünfte, Traditionen und Interessen. Und daraus erwächst zur Zeit unglaublich viel Spannendes, ereignen sich Aufbrüche, die das befürchtete „Ende der Musik“ doch ein gutes Stück hinausschieben.

Beispiele aus dem NOW!-Programm: Unsuk Chin, in Korea geboren, dort und bei György Ligeti in Hamburg ausgebildet, lehnt es strikt ab, ihre Musik einem bestimmten Kulturkreis zuzuordnen. Sie beschäftigt sich mit europäischer Moderne und mit Gamelanmusik aus Bali, mit koreanischen Instrumenten und mit mittelalterlichen Kompositionstechniken. „Cosmigimmicks“, ein Stück für Ensemble, 2013 bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik uraufgeführt, spielt im Titel mit diesem universalen Interesse, ironisiert den eigenen Anspruch zu „gimmicks“ und erinnert in seinen fragilen Klängen nach Aussage der Komponistin an Schattentheater, Pantomime oder Puppenspiel. Das Ensemble Musikfabrik bringt das Stück am 30. Oktober um 20 Uhr in der Philharmonie Essen, zusammen mit der Uraufführung von „fragments inside“ der persischen Komponistin Elnaz Seyedi, die ab 2020/21 Composer in Residence für die Bürger:innenOper der Oper Dortmund ist. Maliko Kishinos „Ochres II“ nimmt japanische Traditionen auf; die in Kyoto geborene Komponistin wuchs in einem Tempel auf.

Önder Baloglu. (Foto: Ulrike von Loeper)

Ganz aktuell auf die Corona-Pandemie gehen 24 Miniaturen ein, die am 31. Oktober, 17 Uhr in einem Konzert in der Neuen Aula der Folkwang Universität in Essen-Werden uraufgeführt werden: „Unvoiced Diaries“ des im türkischen Adana geborenen Konzertmeisters der Duisburger Philharmoniker, Önder Baloğlu, sind kaum eine Minute dauernde Stücke für Violine solo von 24 Komponisten, entstanden während der erzwungenen Untätigkeit ab März dieses Jahres. Uraufgeführt werden auch „Khronos“ des Brasilianers Celso Machado, ein Stück für das afrikanisch-brasilianische Berimbau, Gitarre und Elektronik; außerdem Werke von Levin Zimmermann und Po Chien Liu.

Der Komponist Mithatcan Öcal. (Foto: privat)

Für sein Konzert am 31. Oktober, 20 Uhr, in der Philharmonie Essen bringt das WDR Sinfonieorchester Köln eine „Klassikerin“ der Neuen Musik mit: Younghi Pagh-Paan und ihr Stück „Lebensbaum III“ von 2015. Die Koreanerin steht für die kreative Verbindung koreanischer Volksmusik mit europäischen kompositorischen Parametern. Außerdem erklingen „Yet“ des 1981 geborenen und 2010 tragisch verstorbenen Franzosen Christophe Bertrand, „Zipangu“ des 1983 in Paris ermordeten Kanadiers und Stockhausen-Schülers Claude Vivier, der asiatische und iranische Musik studiert hatte, und die Mini-Oper „Belt of Sympathies“ des 2019 von der Ernst von Siemens Musikstiftung ausgezeichneten türkischen Komponisten Mithatcan Öcal.

Klang und Bewegung auf PACT Zollverein

Aus Syrien stammt die Komponistin Dima Orsho. (Foto: Martina Novak)

PACT Zollverein beteiligt sich am NOW!-Festival am 1. November mit dem Tanzprojekt „The Waves“ des Choreografen Noé Soulier. Sechs Tänzerinnen und Tänzer und die beiden Perkussionisten des Ictus Ensembles, Tom de Cock und Gerrit Nulens, untersuchen das Beziehungsgeflecht von Geste, Bewegung und Klang. In der Philharmonie Essen geht es am 1. November in den Nahen Osten: Hasti Molavian (Gesang) aus dem Iran und das E-MEX-Ensemble präsentieren unter anderem Werke der syrischen Komponisten Zaid Jabri und Dima Orsho. „Khorovod“, das Stück, das dem Konzert den Titel gibt, stammt von dem in London geborenen Julian Anderson und bezeichnet einen russischen Rundtanz.

Die Musik Afrikas vorzustellen, ist einer der diesmal nicht erfüllbaren Wünsche der Festival-Macher. Nicht nur, weil die Reisemöglichkeiten fehlen, sondern auch weil sich die Musik dieses Kontinents vornehmlich in Pop und Folk äußert. Das Ensemble Modern hätte am 7. November in der Philharmonie Essen seinen 40. Geburtstag mit einem Programm feiern sollen, zu dem ausschließlich Komponistinnen und Komponisten mit afrikanischem Background zu Klang gekommen wären: Daniel Kidane und Hannah Kendall (Großbritannien), Tania León (Kuba), Jessie Cox und Alvin Singleton (USA) sowie Andile Kumalo aus Südafrika.

Weitere Informationen: www.theater-essen.de

 




„Cabaret“ in Essen: Das Ende der Spaßgesellschaft

Jan Pröhl (Conférencier) und die Kit-Kat-Boys and -Girls. Foto: Birgit Hupfeld

Jan Pröhl (Conférencier) und die Kit-Kat-Boys and -Girls. Foto: Birgit Hupfeld

Schon nach wenigen Minuten schaut man erstaunt ins Programmheft: Hier steht wirklich das Schauspiel-Ensemble des Grillo-Theaters auf der Bühne? Keine ausgebildeten Musical-Darsteller? In Essen hat Reinhardt Friese „Cabaret“ einstudiert – und damit einen veritablen Hit gelandet. Der temporeiche Abend ist ein Genuss für Auge und Ohr: beste Unterhaltung, schöne Stimmen, gekonnte Choreografien, klug inszeniert.

Berlin in den 1920er Jahren: Am Vorabend des Nationalsozialismus werden die Nächte durchgefeiert. Es ist eine Zeit, für die der Begriff „Dekadenz“ geprägt wurde: Mitten in der Wirtschaftskrise wird gegen den Niedergang einfach angefeiert. Fett tönt die Tuba im Kit-Kat-Club, schmierig klingt dessen beleibter Conférencier (Jan Pröhl), der mit kaum verhohlener Geilheit die Tanz-Nummern seiner „Kit Kat-Girls and Boys“ ansagt. Was dieser Jan Pröhl mit seinem maskenhaft geschminkten Gesicht, dem angeklatschten Seitenscheitel und in seinem schlecht sitzenden Frack da beim Sprechen mit seiner lüsternen Zunge macht – das ist widerlich und großartig zugleich. Zur Live-Musik der achtköpfigen Kit-Kat-Band lässt er seine Cabaret-Puppen tanzen – allesamt Studierende an der Folkwang Hochschule der Künste.

Der Star des Clubs ist Sally Bowles (festes Ensemble-Mitglied Janina Sachau, ein singendes und tanzendes Multitalent). Sie verliebt sich in den erfolglosen amerikanischen Schriftsteller Clifford (Thomas Meczele) und treibt alsbald sein Kind ab. Auch sonst fallen Schatten auf das leichte Leben: Cliffords Zimmer-Wirtin, das spröde Fräulein Schneider (Ingrid Domann) findet ihr Glück mit Obsthändler Schultz (Rezo Tschchikwischwili) und lässt es wieder los, als ihr klar wird, dass ein jüdischer Gatte das Vermietungsgeschäft gefährdet.

Eine Ananas sagt mehr als rote Rosen: Herr Schultz (Rezo Tschchikwischwili) und das Fräulein Schneider (Ingrid Domann). Foto: Birgit Hupfeld

Eine Ananas sagt mehr als rote Rosen: Herr Schultz (Rezo Tschchikwischwili) und das Fräulein Schneider (Ingrid Domann). Foto: Birgit Hupfeld

Regisseur Friese und Bühnenbildner Günter Hellweg verzichten wohltuend auf jegliche ausstatterische Opulenz. Eine Showtreppe aus Glasbausteinen und hunderte Glühlampen am Boden bilden die Bühne, über den Orchestergraben führt ein Steg. Die Spielfläche für das immerhin 15-köpfige Ensemble wird dadurch arg reduziert – trotzdem gelingt es den Darstellern virtuos, die große Show ebenso in Szene zu setzen wie kammerspielartige Szenen.

Wie filmische Überblendungen gehen die Szenen übergangslos ineinander über – Umbauten braucht es nicht, nur ein riesiger Zylinder fährt dann und wann herunter, verdeckt die Showtreppe und wird zur Pension des Fräulein Schneider. Diese fast leere Bühne, dazu die fast komplett in schwarz, weiß und grau gehaltenen Kostüme von Annette Mahlendorf und die Musiker unter Leitung von Hajo Wiesemann lassen das begeisterte Publikum von der ersten Sekunde an atmosphärisch eintauchen.

Janina Sachau als Sally Bowles. Foto: Birgit Hupfeld

Janina Sachau als Sally Bowles. Foto: Birgit Hupfeld

Stephan Brauer ist für die Choreografien verantwortlich. Mit sicherem Blick hat er charakteristische und durchaus anspruchsvolle Elemente aus den Tanz-Nummern aufgegriffen, die vor allem aus dem Musical-Film mit Liza Minelli bekannt wurden, ohne das Ensemble zu überfordern.

Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt, bevor kurz vor der Pause das wirkliche Leben in Gestalt von Nazis in die Blase dringt. Am Umgang mit dem Erstarken der Nazis scheiden sich Geister und Paare. „Berlin ist vorbei“, resümiert Clifford und reist zurück nach Amerika. „Wenn die Nazis kommen, was habe ich dann für eine Wahl?“, fragt Fräulein Schneider rhetorisch. „Das ist gar nichts, das ist ein Lausbubenstreich“, sagt der jüdische Obsthändler.

Sally will ihre Karriere jedenfalls nicht opfern und kehrt nach der Abtreibung auf die Bühne zurück. „Life is a cabaret“ singt sie inbrünstig und mit soulig-warmer Stimme, dreht sich dann erstaunt um – alles ist leer, alle sind weg. „Gute Nacht“, sagt der Conférencier, inzwischen ein Mephisto mit Hitler-Bärtchen. Trommelwirbel. Das Ende der Spaßgesellschaft.

Termine: 19., 26., 31. Dezember. Karten: 0201 / 81 22-200