„Der montierte Mensch“ – eine vorzügliche Folkwang-Ausstellung fragt nach Individuum und Masse in der Kunst

Fernand Léger Le Mécanicien, 1920 Öl auf Leinwand, 116 × 88,8 cm National Gallery of Canada, Ottawa © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: NGC

Fernand Léger: „Le Mécanicien“, 1920. Öl auf Leinwand. National Gallery of Canada, Ottawa / © VG Bild-Kunst, Bonn 2019. Foto: NGC

Wenige Jahre nach der Jahrhundertwende – der Wende in das 20. Jahrhundert hinein – begann die Kunst, schüchtern zunächst, mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit die konstruktiven Gegebenheiten der Welt abzufragen, die Baupläne von Natur und Technik, die Funktionalität von Gesellschaft und Individuum. Das war eigentlich erstaunlich, denn jenseits der Kunst war die Welt des 19. Jahrhunderts ja längst im Industriezeitalter angekommen.

Nur ein Schönheitsfleck

Zum einen gab es bahnbrechende Erfindungen am laufenden Band, zum anderen kapitalistische Exzesse der Ausbeutung und der Anhäufung von Reichtum in einem bis dahin unvorstellbaren Maß. Doch die Maler schwelgten in Spätromantik, blickten auf liebliche Flußauen und schroffe Felslandschaften, und bestenfalls war ganz im Hintergrund, der rauchende Schornstein verriet es, eine kleine Fabrik zu erahnen, zu nicht mehr nütze als dazu, dem schwelgerischen Duktus einen süßen Schönheitsfleck zu verpassen. Die Moderne zeigte erstes Leben, gewiß; doch in den Akademien berauschte man sich an mythologischen Stoffen, betrieb Heldenverehrung. Das deutsche Bürgertum pflegte den Luisenkult, haßte die Franzosen (nicht aber ihren Wein…) und hörte Wagner dazu. Ist ja alles bekannt.

Orlan: Le Baiser de l’artiste. Le distributeur automatique ou presque! n°2, 1977 (2009) Silbergelatine auf Diasec, 55 × 110 cm Erworben 2009, entre Pompidou, Paris (Bild: Museum Folkwang,  VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / ADAGP Foto: bpk / CNAC-MNAM / Georges Meguerditchian)

Zu Beginn Krupp

Der industriellen Wirklichkeit näherte sich die Kunst schließlich mit unübersehbarer Ambivalenz. Heinrich Kleys Gemälde „Tiegelstahlabguß bei Krupp“ zum Beispiel, entstanden 1909, schwankt mit seiner altmeisterlichen Lichtbalance etwas unschlüssig zwischen dramatischer Überhöhung, Bewunderung für die moderne Technik und dokumentarischer Beschreibung der Arbeitssituation, die die vielen Einzelnen entindividualisiert, sie gleich Soldaten unbedingtem Gehorsam unterwirft, weil sonst das Werk nicht gelingen würde.

Im großen Saal

Mit Kleys Bild beginnt der (ganz vorzügliche) Katalog zur Ausstellung „Der montierte Mensch“, die jetzt bis 15. März 2020 im Essener Folkwang-Museum zu sehen ist. Mehr als 200 Werke von 124 Künstlern beiderlei Geschlechts haben die Kuratorinnen Anna Fricke und Nadine Engel für diese eindrucksvolle Präsentation im großen Ausstellungssaal des schönen, zweckmäßigen Chipperfield-Baus zusammengetragen, Leihgaben und Eigenbestand. Der Gefahr allzu großer Beliebigkeit, die das Thema in sich birgt, sind sie mit konzeptioneller Strenge begegnet. Doch natürlich hat die Ordnung Grenzen, denn auf dem riesigen Themenfeld von Konstruktion, Dekonstruktion und Destruktion, wo irgendwo sicherlich auch der nicht allzu geläufige Begriff „montierter Mensch“ seine sinnhafte Verortung findet, haben die Dinge sich nicht nur linear entwickelt. Der Begriff „Der montierte Mensch“ stammt übrigens von dem Kulturwissenschaftler Bernd Stiegler.

Roy Lichtenstein; Study for Preparedness, 1968, Öl und Magna auf Leinwand, 142,5 × 255 cm, Museum Ludwig, Köln (Bild: Museum Folkwang, Estate of Roy Lichtenstein / VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: Rheinisches Bildarchiv, rba_d039366)

Zusammenhänge

Wenn auch nicht alles mit allem, so hängt doch vieles mit vielem, vielfältig zudem, zusammen. So lassen sich die fotografierten Bewegungsstudien Eadweard Muybridges, die 1887 noch vor der Erfindung des Kinos entstanden und die Zerlegung von Bewegung in viele Einzelschritte vorwegnahmen, durchaus sinnhaft in Zusammenhang bringen mit den Arbeiten Trevor Paglens. Der hat, beispielsweise für das ausgestellte, erschreckende Bild „Vampire (Corpus: Monster of Capitalism) Adversarially Evolved Hallucination“ (2017) den Computer nach der Evaluation menschlicher Statements zum Thema Vampire Algorithmen schreiben lassen, die in einem bildgebenden Programm zu eben jenem geplotteten Bild führten. Und wenn auch die Leistung des Computers uns Respekt abnötigt, so ist es mit seiner Künstlichen Intelligenz doch nicht weit her, denn im Kern reproduzierte er nur, was Menschen vorher äußerten. Muybridge verstand sich übrigens als Forscher, während Paglens Arbeit heutzutage problemlos als Kunst akzeptiert wird. Aber beide zerlegten und montierten.

Fortunato Depero: Motociclista (solido in velocità), 1927, Öl auf Leinwand, 117 x 163,5 cm, Privatsammlung (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Vittorio Calore (Milano Italy))

Der Erste Weltkrieg

Streift man durch die reizvoll heterogene Essener Schau, drängt sich allerdings der Eindruck auf, daß Zerlegung und Zerstörung weitaus mehr Platz beanspruchen als ein anschließendes „Montieren“. Vor allem die traumatisierenden Destruktionserfahrungen des 1. Weltkriegs veränderten die Kunst grundlegend und unwiderruflich. In einem Dreierzyklus (zweimal Kohle, einmal Öl) aus „Die Schlacht“ (1916/17), „Vorstoß“ (1916/17) und „Der Krieg“ (1914) löst beispielsweise Otto Dix die Ordnung der Welt in wilde, entmenschlichte Strukturen auf. Während die Kompositionen der ersten beiden Bilder noch kraftvoll einem Ziel entgegenzustreben scheinen, ist das letzte nur pures Chaos. Details erkennt man noch, Köpfe, Zahnräder, Schlote, Blitze, doch jeglicher funktionale Zusammenhang ist dahin. Viele Künstler teilten Dix’ Blick auf diese gänzlich entzauberte Welt.

Bettina von Arnim: Close Cycle Man, 1969, Öl auf Leinwand, 138 × 112 cm, Städel Museum Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Städel Museum – ARTOTHEK)

Kleine Püppchen

Zurück zur Montage. Dem Ausstellungstitel im Wortsinn am nächsten sind wohl Zeichnungen von Rodtschenko, Malewitsch, Kandinsky, El Lissitzky und einigen anderen, die in einer kurzen Aufbruchphase der Kunst nach dem 1. Weltkrieg – in Rußland zumal – ernsthaft, doch auch spielerisch aus Menschen mechanische Funktionsgebilde machten, kleine Püppchen, um zu kreativen Weiterungen zu gelangen.. Es ist eine etwas spröde Kunst, aber auch eine ohne Ballast, nüchtern forschend, unbestechlich. Genannt sei hier neben der Herren ausdrücklich auch Ella Bergmann-Michel, deren rätselhaft-konstruktive Gebilde „sans titre“ sind und von 1923 stammen.

Bellings Köpfe

Natürlich (ist man fast geneigt zu sagen) fehlen Rudolf Bellings maschinengleiche aufpolierte Bronzemenschenköpfe (1923) nicht, auch René Magritte ist mit Menschen in surrealen Wundern („L’âge des merveilles“, 1926) vertreten. Und Fernand Léger natürlich, der seine Figuren aus prallwurstigen Einzelteilen (es widerstrebt, Gliedmaßen zu schreiben) zusammensetzte. Auch sein „Mechaniker“ von 1920 ist so entstanden, doch trotz der klobigen Anmutung in Sonderheit der Arme und der Hand vermittelt er nicht nur Kompetenz und Gelassenheit, sondern sogar Eleganz. Ein montierter Mensch, nun gut, aber auch einer, der gepflegt daherkommt (Oberlippenbärtchen, die Haare gescheitelt) und, Zigarette in der Hand, zu genießen weiß. Im Hintergrund des Bildes ahnt man Maschinenteile, und offenbar läuft die Maschine von ganz allein. Doch die Augen zeigen: der Mechaniker muß wachsam sein. Légers Bild ist das Logo der Essener Ausstellung.

Willi Baumeister: Maschinenmensch mit Schraubenwindung II, 1929 – 1930, Öl auf Leinwand, 81 × 65 cm, Staatsgalerie Stuttgart, erworben 1968 (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: bpk / Staatsgalerie Stuttgart)

Die Futuristen jubelten

Aber Léger war – in seinen Werken – ja auch eine Frohnatur, meistens jedenfalls. Viele andere Künstler begegneten der Technik mit Skepsis und Unverständnis, empfanden sie als bedrohlich. Eine Ausnahme bildeten die italienischen Futuristen. Sie bejubelten den Fortschritt, fanden Autos, Motorräder und Flugzeuge toll, liebten Wettrennen und Rekorde. Leider geizt die Essener Schau ein wenig mit Futuristen, gerade einmal Fortunato Deperos „Motociclista (solido in velocitá)“ von 1927 oder Giacomo Ballas „Automobile in Corsa“ (1913) fallen ins Auge, und die sind in ihrer dekorativen Auffassung des Themas nicht sehr typisch.

Unverstellten Futurismo gibt es eher auf Plakaten wie Romano di Massas „Circuito di Milano“ (nach 1924) und Lucio Vennas „Ammortizzatori Excelsior“ (1925) zu sehen, letzteres eine eindrucksvolle graphische Symbiose von Zahnrad und Einzelmensch. Russische Plakate aus jener Zeit, sie hängen gleich nebenan, frönen hingegen dem Kult der Entindividualisierung in der (revolutionären) Masse. Man ahnt die wahnhafte Vorstellung, Menschen und Gesellschaften könnten nach Idealbildern erschaffen werden.

Rudolf Belling: Skulptur 23, 1923, Messing, 41,5 × 22,5 × 21 cm, Museum Folkwang, Essen (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Jens Nober)

Viele Arbeiten von Frauen

Walter Drexel montierte aus wenigen entlarvenden Strichen Hitler und Mussolini, Fotomontagen John Heartfields sind natürlich vertreten, ebenso Willi Baumeisters „Maschinen-Komposition“ (1921) und „Maschinenmensch“ (1929/30). Einige Fotos, zumal von marschierenden Soldaten und Sportlern, hätte man wohl auch weglassen können, da wird es sehr allgemein, franst die Ausstellung thematisch aus.

In guter Erinnerung hingegen bleiben zeitgenössische Arbeiten wie die eigentümlich anthropomorphen Skulpturen von Katja Novitskova (Mamaroo (Smoldering Brain, Groth Potential)“ und „Mamaroo (Violent Origins)“, beide von 2019 – auch deshalb, weil sie sich so schön pumpend, „hervorbringend“ bewegen. Anderes, was für Bewegung geschaffen war, steht still, insbesondere zwei Tinguely-Maschinen. Zu alt und zu gebrechlich seien sie, sagt das Kuratorium, aber schade ist es doch. Unverständlicherweise steht auch Rebecca Horns „Überströmer“ (1970) still. Dabei weiß gerade diese Künstlerin, man erinnere sich nur an ihre letzte Ausstellung im Duisburger Lehmbruck-Museum, sehr wohl, wie Kunst sich in Bewegung bringen läßt.

Gruselige Maschinengestalten

Man freut sich, Malerei von Maria Lassnig zu sehen („Warlord II“ von 1996, „Innenansicht/Röntgenselbst I von 1987, „Harte und weiche Maschine/Kleine Sciencefiction“ von 1988), doch wesentlich näher am Thema sind sicherlich Bettina von Arnims gruselige Maschinengestalten, Zwitterwesen aus Rohren und Tuben (vor Rohren, zwischen Rohren) mit menschlicher Anmutung. Und so könnte man fortfahren, Namen zu nennen und Werke zu beschreiben, doch das würde bald schon langweilig und soll deshalb jetzt ein Ende finden.

Das beste Haus für große Ausstellungen

Viel Kunst gibt es also im Folkwang-Museum zu sehen, über hundert Jahre alt oder auch ganz frisch, vielfältig aufeinander bezogen. Die thematische Klammer, wie gesagt, läuft hier und da Gefahr zu brechen, doch das mindert den Reiz dieser opulenten Ausstellung nicht. Von allen Museen im Ruhrgebiet ist das Essener Folkwang fraglos am besten dafür geeignet, große Ausstellungen mit vielen Kunstwerken prominent zu präsentieren. „Der montierte Mensch“ beweist es.

  • „Der montierte Mensch“
  • Folkwang-Museum, Essen, Museumsplatz 1
  • Bis 15. März 2020
  • Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do + Fr 10-20 Uhr, Mo geschlossen
  • Eintritt 8,00 EUR
  • Katalog 384 Seiten, 227 Abbildungen 38,90 EUR im Museum, 65,00 EUR im Handel
  • www.museum-folkwang.de



Von der Kunst der Übergänge: Festival NOW! in Essen mit 15 Uraufführungen und einem faszinierenden Analog-Synthesizer

„Dieses Werk ist der Schlüssel zu meiner ganzen Entwicklung … Es erklärt, wie alles später so kommen musste“, schreibt Arnold Schönberg über seine „Gurre-Lieder“, die am 24. und 25. Oktober in der Philharmonie Essen erklingen.

Foto: Projektpartner des Festivals NOW! (von links): Hein Mulders (Intendant der Philharmonie Essen), Dr. Thomas Kempf (Vorstand Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leitung Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Prof Dirk Reith (Folkwang Universität der Künste), Ann-Charlotte Günzel (PACT Zollverein), Prof. Thomas Neuhaus (Folkwang Universität der Künste). Foto: TuP

Foto: Projektpartner des Festivals NOW! (von links): Hein Mulders (Intendant der Philharmonie Essen), Dr. Thomas Kempf (Vorstand Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leitung Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Prof Dirk Reith (Folkwang Universität der Künste), Ann-Charlotte Günzel (PACT Zollverein), Prof. Thomas Neuhaus (Folkwang Universität der Künste). Foto: TuP

Entstanden zwischen 1900 und 1911, ist in dem riesigen Werk der Übergang vom spätromantischen zur modernen Stil in Schönbergs Komponieren zu verfolgen. Ein passender Auftakt also für das Festival NOW! für neue Musik, das am Donnerstag mit Schönbergs epochalem Werk eröffnet wird. Bis 3. November geht das Festival in 25 Veranstaltungen unter dem Motto „Transit“ den vielfältigen Formen des Übergangs in der Musik nach.

Torsten Kerl singt in den Gurre-Liedern in der Philharmonie Essen. Foto: Bettina Stoess.

Torsten Kerl singt in den Gurre-Liedern in der Philharmonie Essen. Foto: Bettina Stoess.

Die Gurre-Lieder erklingen in den beiden Symphoniekonzerten mit den Essener Philharmonikern unter Leitung von Tomáš Netopil. Der WDR Rundfunkchor, der Opernchor des Aalto-Theaters und der Philharmonische Chor Essen stellen die Sängerinnen und Sänger für den kolossalen Klangapparat aus drei vierstimmigen Männerchören und einem achtstimmigen gemischten Chor. Unter den fünf Solisten ist der Tenor Torsten Kerl, der in Gelsenkirchen geboren ist und dort seine internationale Karriere begonnen hat.

Das mittlerweile neunte Festival NOW! hat sich zu einem Schwerpunkt für zeitgenössische Musik in Nordrhein-Westfalen entwickelt und vereint als Projekt inzwischen die Philharmonie Essen mit Partnern wie der Stiftung Zollverein, PACT Zollverein, den Landesmusikrat NRW und vor allem die Folkwang Universität der Künste. Diese bringt sich mit ungewöhnlichen Veranstaltungen ein und zeigt zum Beispiel, wie sich Komponieren – und damit die Musik – auch durch die zur Verfügung stehenden technischen Mittel verändert. So ist der Transit von der Analog- zur Digitaltechnik ein Thema, das an einem „Synthesizer-Wochenende“ auf PACT Zollverein vom 25. bis 27. Oktober in Live-Aufführungen, einem Gesprächskonzert und einem Workshop sinnlich erfahrbar wird.

So sieht ein Star aus: Einer der größten noch funktionierenden Analog-Synthesizer der Welt kommt beim Festival NOW! zum Einsatz. Foto: TuP Essen/privat

So sieht ein Star aus: Einer der größten noch funktionierenden Analog-Synthesizer der Welt kommt beim Festival NOW! zum Einsatz. Foto: TuP Essen/privat

Eine Rolle spielt dabei auch der legendäre analoge Groß-Synthesizer Synlab, der in den siebziger Jahren in Kooperation mit Dirk Reith von der Folkwang Hochschule entwickelt wurde. Die Anlage, eine der größten noch funktionierenden analogen Synthesizer der Welt, wird extra in aufwändiger Arbeit auf der Bühne von PACT Zollverein aufgestellt. Dort beginnt das NOW!-Programm am Freitag, 25. Oktober, 20 Uhr mit der Uraufführung mehrerer Stücke von Dirk Reith, Florian Zwißler und Oxana Omelchuk. Zu erleben ist „Funktion Blau“ von Gottfried Michael Koenig, dem 1926 geborenen „Großvater der elektronischen Musik“, der zehn Jahre lang am Studio für Elektronische Musik des NWDR u. a. mit Karlheinz Stockhausen gearbeitet hat. Von dem 1966 in Essen geborenen Achim Bornhöft, Leiter des Studios für Elektronische Musik am Mozarteum Salzburg, gibt es ein 1991 entstandenes Stück, das dem Konzert den Titel gibt: „Artificial Clichés“.

Die Professoren Dirk Reith und Thomas Neuhaus (rechts) mit einem Bauelement des Synthesizers Synlab. Foto: Werner Häußner

Die Professoren Dirk Reith und Thomas Neuhaus (rechts) mit einem Bauelement des Synthesizers Synlab. Foto: Werner Häußner

Eine andere Art von Transit wird im RWE Pavillon der Philharmonie demonstriert: Eine Installation mit vier selbstspielenden MIDI-Klavieren lässt neue Werke von Günter Steinke, Michael Edwards, Thomas Neuhaus und Dirk Reith erklingen. Hier spielt der Mensch nicht mehr ein Instrument, sondern das „Medium“ verselbständigt sich: Algorithmen generieren musikalische Sätze und zeigen, wo der Computer bereits in den Bereich der Kreativität vorgedrungen ist, die nur noch weit im Hintergrund des Menschen bedarf. Die Installation ist bereits am Mittwoch, 23. Oktober, 18 Uhr, zu erleben; weitere Termine sind am 24. und 25. Oktober, jeweils 19 Uhr, und am Sonntag, 27. Oktober, 19 Uhr.

Zeitgenössische Musik, die ganz „analog“ mit klassischen Instrumenten aufgeführt wird, kommt nicht zu kurz: Am Samstag, 26. Oktober, 19 Uhr, spielt das Ensemble folkwang modern im RWE Pavillon Musik von Karlheinz Stockhausen, Mark Andre und – als Uraufführungen – zwei Auftragswerke der Philharmonie Essen von Michael Edwards und Tamon Yashima. Das JACK Quartet stellt am Sonntag, 27. Oktober, 11 Uhr, im RWE Pavillon Streichquartette von Helmut Lachenmann, Iannis Xenakis und Luca Francesconi vor. Und am Abend um 19.30 Uhr bringt das WDR Sinfonieorchester unter Sylvain Cambreling Bruno Madernas „Aura“ und Gérard Griseys „L’icône paradoxale – Hommage à Piero della Francesca“ in den Großen Saal der Philharmonie. Im Zentrum des Abends steht das Flötenkonzert von Francesco Filidei, einem 1973 geborenen Italiener und Schüler von Salvatore Sciarrino, von dem erst im September an der Pariser Opéra comique die erste Oper „L’Inondation“ aufgeführt wurde.

Am Dienstag, 29. Oktober, 20 Uhr, wird dann in einem Konzert mit der Pianistin Susanne Achilles die Orgel des Alfried Krupp Saales erstmals computergesteuert erklingen – in drei neuen Interludien von Roman Pfeifer, Florian Zwißler und Jagyeong Ryu. Der Bogen des Programms spannt sich von „Studies for Player Piano“ von Conlon Nancarrow, der Ende des 19. Jahrhunderts an den Anfängen der selbstspielenden Klaviere steht, bis hin zu einem neuen Werk für vier selbstspielende MIDI-Klaviere von Ludger Brümmer.

Das Abschluss-Wochenende gestaltet unter anderem das erstmals am NOW!-Festival beteiligte Folkwang Kammerorchester auf Zeche Zollverein mit der Uraufführung eines Konzerts für Violine und Streichorchester mit Akkordeon von Karin Haußmann, gespielt von Liza Ferschtman, am Freitag, 1. November. Am Samstag, 2. November, bringt das SWR Symphonieorchester zwei brandneue Stücke in die Philharmonie Essen mit, die es im Abschlusskonzert der Donaueschinger Musiktage am 20. Oktober uraufgeführt hatte: „Melancholie“ für chromatische Mundharmonika und Orchester von Saed Haddad und „Elementar Realities“ von Jürg Frey. Am Sonntag, 3. November, spielt dann das Ensemble Modern unter Enno Poppe Musik von Morton Feldman („Coptic Light“), Anton Webern (Variationen für Orchester op. 30) und Matthias Spahlinger („passage/paysage“ für Orchester).

Für die Veranstaltungen des Festivals NOW! gibt es Karten unter Tel.: (0201) 81 22 200 oder www.philharmonie-essen.de. Mit einem Festivalpass zu 55 Euro können alle Veranstaltungen besucht werden. Tickets für Veranstaltungen an der Folkwang Universität der Künste unter Tel.: (0201) 49 03 231.

 




„Aufbruch im Westen“: Schau über die Essener Gartenstadt und die Künstlerkolonie Margarethenhöhe im Ruhr Museum

Blick in die Ausstellung „Aufbruch im Westen". Im einstigen Industrie-Ambiente kommen die Exponate speziell zur Geltung: in der Mitte Joseph Enselings monumentale Bronze-Skulptur „Säerin", links vorne Gustav Dahlers Bildnis der Fotografen-Tochter „Sabine Renger-Patzsch" (um 1929/31). (Ruhr Museum / Foto: Bernd Berke)

Blick in die Ausstellung „Aufbruch im Westen“. Im einstigen Industrie-Ambiente kommen die Exponate speziell zur Geltung: in der Mitte Joseph Enselings Bronze-Skulptur „Die Säerin“, links vorne Gustav Dahlers Bildnis der Fotografen-Tochter Sabine Renger-Patzsch (um 1929/31). (Ruhr Museum / Foto: Bernd Berke)

Solch einen „Aufbruch im Westen“ könnte man wohl auch heute gut gebrauchen. Damals, um 1919, fügte sich eins zum anderen. Maßgebliche Leute in Wirtschaft, Politik und Kunst zogen gleichsam am selben Strang. Geld war (mit gutem Willen auch für kulturelle Zwecke) reichlich vorhanden, das Ruhrgebiet war eine Boom-Region, wie man heute sagen würde. Auch waren die richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und der hieß Essen.

So konnte (schon seit 1909) in vielen Bauabschnitten die famose Essener Gartenstadt Margarethenhöhe entstehen, in der sich ab 1919 nach und nach eine beachtliche Kolonie von Künstlern und Kunsthandwerkern niederließ. Die Nachkriegszeit, zugleich die nach-wilhelminische Ära, verhieß ihnen neue Freiheiten.

Das Ruhr Museum auf dem Gelände der Welterbe-Zeche Zollverein widmet sich jetzt mit der Ausstellung „Aufbruch im Westen“ jener Künstlersiedlung, die seinerzeit weit hinaus wirkte, gerade deshalb in der NS-Zeit schon ab 1933 schnellstens auf Linie gezwungen wurde und nach 1945 leider nur rudimentäre Fortsetzungen erfuhr.

Impression aus der Gartenstadt Margarethenhöhe, um 1912 – mit dem „Schatzgräberbrunnen" von Joseph Enseling. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Anton Meinholz)

Impression aus der Gartenstadt Margarethenhöhe, um 1912 – mit dem „Schatzgräberbrunnen“ von Joseph Enseling. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Anton Meinholz)

„Hagener Impuls“ als Keimzelle

Immerhin lebte der damals entwickelte Folkwang-Gedanke museal und in Form von Ausbildungsstätten weiter; freilich, wie Museumschef Prof. Heinrich Theodor Grütter betont, als Folkwang-Hochschule nicht mehr im urbanen Zentrum der Stadt, sondern in Essen-Werden, draußen im Süden. Trotzdem hält Grütter dafür, dass ohne jene Aufbruchszeiten Essen und das Ruhrgebiet weit weniger Chancen gehabt hätten, 2010 europäische Kulturhauptstadt zu werden. Eine gewagte Hypothese? Oder einfach ein weiter Horizont? Jedenfalls haben in Deutschland allenfalls die Gartenstädte von Dresden (Hellerau) und Darmstadt (Mathildenhöhe) annähernd vergleichbare Bedeutung erlangt.

Die Folkwang-Idee (derzufolge Kunst und Kunsthandwerk als Gesamtkraft das ganze Leben durchziehen sollten) keimte anfänglich nicht in Essen, sondern zuerst in westfälischen Gefilden, genauer: in Hagen, wo der rührige Mäzen Karl Ernst Osthaus etliche hochkarätige Künstler um sich scharte oder zumindest mit ihnen korrespondierte. Von diesem „Hagener Impuls“, der sich sodann zum „Westdeutschen Impuls“ steigerte, handelt ein Prolog der Ausstellung. Nicht nur Osthaus‘ inspirierendes Netzwerk fruchtete Jahre später in Essen und anderen Revierstädten, 1927 ging die gesamte Osthaus-Sammlung nach Essen und bildete den reichen Grundstock des Museums Folkwang. Für Hagen ein unermesslicher Verlust, für Essen ein kaum zu überschätzender Zugewinn.

Krupp-Witwe als kunstsinnige Stifterin

Doch Geist und Ästhetik allein hätten nicht genügt, um die Margarethenhöhe zu gründen und zur Blüte zu führen. Es fehlten noch Geld und Macht. Nach dem Tod des Industrie-Magnaten Friedrich Alfred Krupp – wahrscheinlich durch Selbstmord – leitete seine kunstsinnige Witwe Margarethe (die der Gatte vordem wegen ihrer „Renitenz“ in die geschlossene Abteilung einer Anstalt hatte wegsperren lassen) treuhänderisch den Stahlkonzern. Nach dieser Interimszeit gründete sie am 1. Dezember 1906 eine bestens ausgestattete Stiftung für Wohnungsfürsorge, in deren Gefolge die Essener Gartenstadt entstand – unter der Ägide des Architekten Georg Metzendorf. Eine treibende Kraft bei dem Großprojekt war auch der 1918 bis 1922 amtierende Oberbürgermeister Hans Luther, später (1925/26) Reichskanzler an der Spitze einer kurzlebigen Koalition.

Die kunstsinnige Stifterin: Margarethe Krupp mit ihren Töchtern Bertha und Barbara, um 1895. (© Historisches Archiv Krupp, Essen - Foto: Rainer Rothenberg)

Die kunstsinnige Stifterin: Margarethe Krupp mit ihren Töchtern Bertha und Barbara, um 1895. (© Historisches Archiv Krupp, Essen – Foto: Rainer Rothenberg)

Um 1919 begann Margarethe Krupp, zahlreiche Künstler(innen) in die Siedlung zu holen – zuerst den Grafiker Hermann Kätelhön, der jüngst (beim Abschied von der Steinkohle) wieder als Chronist der Zechenära zu neuen Ehren kam. Ihm ist auch eine ergänzende Ausstellung im erhalten gebliebenen Kleinen Atelierhaus der Mathildenhöhe (6. Mai bis 9. Februar 2020) gewidmet.

Nach und nach gesellten sich Kätelhön in unmittelbarer Nachbarschaft zu: der Bildhauer Will Lammert, die Buchbinderin Frida Schoy, die Goldschmiedin Elisabeth Treskow, der Fotograf Albert Renger-Patzsch (dem die vorherige Ausstellung des Ruhr Museums galt), die Maler Kurt Lewy, Gustav Dahler, Josef Albert Benkert und Philipp Schardt, die Bildhauer Richard Malin und Joseph Enseling sowie einige andere. Enseling, der sich nach 1933 mit den neuen Machthabern einließ, war übrigens nach dem Krieg für ein paar Semester Lehrmeister von Joseph Beuys, bevor der sich Ewald Mataré zuwandte. Ein Kapitel für sich.

Bis ins Detail durchdachte Möblierung

Über 700 Exponate werden aufgeboten, um uns eine Ahnung der einstigen Aura und ihrer Hintergründe zu geben. Die Ausstellung zeichnet nicht nur die architektonische Entwicklung des stadtnahen Geländes nach, sondern vor allem und buchstäblich ganz zentral den künstlerischen Ertrag. Als immer mehr Künstler, Kunsthandwerker und Gewerke Quartier in der Siedlung bezogen, entstanden Atelierhäuser und Werkstätten (etwa für Keramik), in denen gemeinsam gearbeitet werden konnte. Reichlich Aufträge gab’s hier gleichfalls.

Entwurf des Gartenstadt-Architekten Georg Metzendorf: Türgriff der gehobenen Ausführung aus dem Jahr 1921. (© Sammlung Rainer Metzendorf, Mainz - Foto: Rainer Rothenberg)

Entwurf des Gartenstadt-Architekten Georg Metzendorf: Türgriff der gehobenen Ausführung aus dem Jahr 1921. (© Sammlung Rainer Metzendorf, Mainz – Foto: Rainer Rothenberg)

Der Wiener Architekt Bernhard Denkinger hat die Schau gestaltet. Um ein zentrales Rondell (vor allem mit Skulpturen der Margarethenhöhe, z. B. Joseph Enselings „Die Säerin“ sowie Katzen-, Hühner- und Bärendarstellungen) gruppieren sich Themenbereiche wie etwa die Entfaltung der Folkwang-Ideen in Essen oder die Ausstattung und Möblierung der Wohnhäuser auf der Margarethenhöhe. Hier war alles formal durchdacht und sorgsam durchgearbeitet – buchstäblich bis hin zur Türklinke und sogar bis zum Spülkasten der Toilette. In dieser Abteilung bewegt man sich sozusagen im tagtäglichen Innenleben des Themas. Wenigstens kann man es sich einigermaßen vorstellen.

Allen vorhin genannten Künstler(inne)n sind jeweils eigene Seiten-Kabinette oder – wie Denkinger es nennt – „Lauben“ mit prägnanten Beispielen fürs Lebenswerk gewidmet. Populärstes Ausstellungsstück dürfte die Meisterschale des Deutschen Fußballbundes von 1948/49 sein, die von der vormaligen Gartenstadt-Goldschmiedin Elisabeth Treskow geschaffen wurde und 1955 am Ort verblieb, als Rot-Weiss Essen den Titel gewonnen hatte. Lokalgeschichtlich kaum minder bedeutsam ist das prachtvolle „Stahlbuch“ (Gästebuch der Stadt), entworfen und gefertigt von der Buchbinderin Frida Schoy.

Die Meisterschale des Deutschen Fußball-Bundes (Kopie), eine Schöpfung der Goldschmiedin Elisabeth Treskow von 1948/49. (© Rot-Weiss Essen / Foto: Rainer Rothenberg)

Die Meisterschale des Deutschen Fußball-Bundes (Kopie), eine Schöpfung der Goldschmiedin Elisabeth Treskow von 1948/49. (© Rot-Weiss Essen / Foto: Rainer Rothenberg)

Die dunkelste Zeit der Siedlung

Auch die dunkelste Zeit der Siedlung wird nicht übergangen. Gleichsam als „Kehrseite“ der Blütezeit ist sie im hintersten Bereich der Ausstellung zu finden. Da lernt man, wie fürchterlich entschieden die Nazi-Machthaber den freiheitlichen Geist der Margarethenhöhe abgewürgt haben. Auch vereinzelte Hervorbringungen von NS-Kunst, eigentlich nur mit besonderer Umsicht in solcherlei kulturhistorischen Kontexten präsentabel, sind da zu gewärtigen. Dabei erfährt man, dass manche Protagonisten der Margarethenhöhe sich dem Ungeist der „neuen Zeit“ zumindest anbequemt haben, während die Aufrechten gemaßregelt oder drangsaliert und ins Exil getrieben wurden.

Das alles ist umso betrüblicher, als sich doch 1919 und in den frühen Zwanziger Jahren die Künste in vordem ungeahnter, endlich demokratisch verfasster Liberalität hatten entfalten können. Es war manches möglich, was man sich zuvor nur erträumt hatte. Ein veritabler Aufbruch auch in diesem Sinne. 1933 wurde all das zunichte.

In Essen stellt man die Künstlerkolonie nicht zuletzt in größere Zusammenhänge der Moderne – zuvörderst bezieht man sich aufs heuer vor 100 Jahren gegründete Bauhaus; ein Jubiläum, das derzeit ohnehin zahlreiche Ausstellungen nach sich zieht. Wie viele Kreuz- und Querverbindungen es da gibt und wie sehr man andererseits zwischen diversen Strömungen differenzieren sollte, damit könnte man wahrscheinlich ganze Fachtagungen bestreiten.

  • „Aufbruch im Westen“. Die Künstlersiedlung Margarethenhöhe. 8. April 2019 bis 5. Januar 2020. Täglich (Mo-So) 10-18 Uhr.
  • Essen, Ruhr Museum auf Zollverein. Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181. (Navigation zu den Parkplätzen A1 und A2: Fritz-Schupp-Allee).
  • Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €. Katalog im Klartext-Verlag, 304 Seiten, 300 Abbildungen, 29,95 €.
  • Umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Exkursionen, Workshops etc. Infos/Buchungen (Führungen): 0201 / 24681 444. Internet: www.ruhrmuseum.de



Es könnte ruhig ein wenig mehr sein – Museum Folkwang zeigt Werke Lyonel Feiningers aus eigenem Bestand

Lyonel Feininger: „Leuchtbake I“, um 1913 (Bild: Museum Folkwang, Essen © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Einer Ritterburg gleich trutzt der Leuchtturm über feindseligen Felsenmassen, eine von Menschen gefügte Stahlkonstruktion übertrumpft die unwirtliche Natur. Ihr Licht erhellt diffus das aufgewühlte und vom Stein durch die Farbe kaum zu unterscheidende blaue Meer, die Strahlen wirken prismatisch zerlegt, verweigern sich bei ihrer Ausbreitung physikalischen Prinzipien.

Hier trifft Kraft auf Kraft, Meer und Fels und Turm und Himmel, fast wähnt man sich in einem Kampfgeschehen, und unklar ist wer siegt. Auch mag man sich fragen, ob der Kampf der Elemente die Landschaft dergestalt zerklüftet hat, wie Lyonel Feininger sie 1913 malte. Oder ob er gleich einem Muskelspiel lediglich die Kräfte zeigen und gleichsam überhöhen wollte, die der rauhen Natur unter glatter Oberfläche innewohnen. Der Konstruktivist – und Lyonel Feiniger gilt als einer ihrer herausragenden Vertreter – ist zwangsläufig eben immer auch ein Dekonstruktivist, besonders dann, wenn Machart und Thema so wunderbar zusammenpassen wie in diesem Bild, das übrigens sehr nüchtern „Leuchtbake I“ heißt und sein Vorbild einst in Swinemünde fand.

Lyonel Feininger: „Gelmeroda IX“, 1926 (Bild: Museum Folkwang, Essen © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Bezug zur Romantik

Fast einen Quadratmeter groß und mit düsteren Ölfarben gemalt zeigt die „Leuchtbake“ viel Nähe zum Expressionismus; in Holz geschnitten und gedruckt ist beim selben Motiv der Grad der Abstraktion größer, und Bezüge zur magischen Romantikwelt eines Caspar David sind beiden Bildern eigen. Jetzt hängen sie beide im Essener Folkwang-Museum nahe beieinander und ermöglichen Vergleiche.

„Bauhaus am Folkwang“ heißt die kleine Ausstellungsreihe anläßlich des 100. Geburtstags des Bauhauses, die mit Lyonel Feininger ihren Anfang macht, um im weiteren Jahresverlauf „Bühnenwelten“ und den Fotografen Lázló Moholy Nagy zu präsentieren.

Feininger wurde 1919 von Walter Gropius als erster Meister an das Weimarer Bauhaus berufen – im selben Jahr übrigens, als das Museum Folkwang, damals noch in Hagen, dem Achtundvierzigjährigen eine erste große Ausstellung ausrichtete.

Überragender Handwerker

Alle drei Folkwang-Ausstellungen speisen sich ausschließlich aus eigenem Bestand, was die Sache leider recht übersichtlich macht. 34 Feininger-Arbeiten sind jetzt ausgestellt, darunter ganze vier Gemälde. Druckgraphik – vor allem Holzschnitt – überwiegt. Angesichts der ungewöhnlich hell gehaltenen Holzschnitte immerhin wird sofort deutlich, daß Feininger auch ein überragender Handwerker war.

Wee Willie Winkie’s World

Nun ist es durchaus beachtlich, wenn ein Museum vier Gemälde Lyonel Feiningers besitzt, aber für eine Ausstellung ist es eher wenig. Nicht viele Kunstinteressierte werden eigens für diese „Kabinettausstellung“ nach Essen reisen. Einmal mehr wäre Kooperation zwischen Museen einzufordern, die Bilder dieses Künstlers besitzen, um eine größere, angemessenere und attraktivere Werkschau auf die Beine zu stellen. Dann könnte man vielleicht auch mal etwas mehr erfahren über den Comic-Zeichner Lyonel Feininger, der ab 1906 für die Chicago Sunday Tribune „Wee Willie Winkie’s World“ und „The Kin-der Kids“ (wirklich mit Bindestrich) zeichnete. In Essen ist nichts davon.

Doch immerhin können sie hier „Gelmeroda IX“ (1926) zeigen, eine Kirche aus Konturen, Helligkeitswerten und prismatisch aufgebrochenen Farben in wechselseitiger Durchdringung, imposantes Ölbild in der meisterlichen Vervollkommnung des Spätwerks. 1948 war das Aquarell „Gelmeroda“ (nicht verwechseln) übrigens der erste Feininger-Ankauf des Folkwang-Museums nach dem Krieg, nachdem die Nazis den alten Feininger-Bestand 1937 als „entartet“ ausgeräumt hatten. Weitere Gemälde sind „Dorf Alt-Salenthin“ (um 1912) und der Kirchturm von Mellingen (1912).

Lyonel Feininger: „Die Eisenbahn-Brücke“, 1919 (Bild: Museum Folkwang, Essen © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Gut konzipiert

Die Ausstellung selbst ist ganz untadelig von Kuratorin Nadine Engel konzipiert worden. Absolut lesenswert sind die Wandtexte in den beiden Ausstellungsräumen, die Lyonel Feininger kompetent in die Kunst- und Künstlerwelt seiner Zeit einsortieren. Große Namen reihen sich, Osthaus, Matisse, Delaunay, Gropius und nicht zuletzt der des Galeristen Herwarth Walden, dessen Berliner Galerie „Der Sturm“ vor dem ersten Weltkrieg ein Kulminationspunkt der modernen Kunst war.

Ein konstruktivistisches „Who is who“, wenn man so sagen darf, war 1924 dann sicherlich die von der Malerin Galka Scheyer vorangetriebene Gründung der Gruppe „Die Blaue Vier“: Paul Klee, Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky und Lyonel Feininger. Respektlos gesprochen war dies allerdings ein Zusammenschluß von Frührentnern, Klee war mit 45 Jahren der mit Abstand jüngste, Jawlensky mit 59 der älteste, gefolgt von Kandinsky (58) und Feininger (53). Der Name war – auch – eine sprachliche Verbeugung vor der Gruppe „Der blaue Reiter“, und es ging den Herren wohl nicht mehr so sehr um künstlerische Selbstfindung. Sie sahen sich, damals in Weimar, eher als Ausstellungsgemeinschaft. Wie hätten sie wohl das Folkwang-Museum bespielt? Zugegeben, eine rein rhetorische Frage.

Der Spaßvogel

Schließen wir beschaulich mit Feininger, dem Spaßvogel, der neben Bergen, Meeren und Kirchen gerne auch Tore in Holz schnitt. Einem solchen Bild hat er unten links eine stadtbekannte Prostituierte hinzugefügt und es mit „Lein-öl-Ein-Finger“ signiert. Einen direkten Zusammenhang zwischen diesen beiden Feststellungen soll es aber nicht geben.

  • „Bauhaus am Folkwang – Lyonel Feininger“
  • Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1
  • Bis 14. April 2019.
  • Geöffnet Di, Mi, Sa, So und Feiertage 10 – 18 Uhr, Do, Fr 10 – 20 Uhr
  • Der Eintritt ist frei
  • In der Bauhaus-Reihe folgen die Ausstellungen
  • „Bühnenwelten“ (28.4. – 8.9.2019)
  • László Moholy-Nagy (20.9. – Dezember 2019)

 




Der Frosch und der Plastikmüll: Ravel-Doppelabend an der Essener Folkwang-Hochschule

Das Rufen nach „Maman“ macht die Welt wieder heil: Die hellblaue Tapete strahlt unversehrt, die Dinge im Zimmer haben wieder ihren Platz gefunden. Zuvor ist das Kind in Maurice Ravels Einakter „L’Enfant et les sortilèges“ jedoch rebellisch ausgerastet: Der Zwang, sich an einem schönen Nachmittag zum Erledigen der Hausaufgaben zu disziplinieren, war einfach zu viel.

Der Regisseur Georg Rootering. Foto (mit freundlicher Genehmigung): www.rootering.com

Der Regisseur Georg Rootering. Foto (mit freundlicher Genehmigung): www.rootering.com

Die Reaktion ist eine Orgie der Aggression, deren Opfer – Sessel, Tapete, Märchenbuch, Katze, Libelle, Eichhörnchen – sich dann aber in einem Alptraum zur Wehr setzen. Erst ein Akt uneigennütziger Hilfe beendet das Toben der „Zauberdinge“.

In seiner Inszenierung an der Folkwang-Universität der Künste in Essen-Werden gibt Georg Rootering der gemeinhin als psychoanalytisches Entwicklungsstück betrachteten Oper einen politischen Akzent: In der Szene im Garten marschiert eine Truppe mit Schutzanzügen auf, die tierischen Freunde eines entzückenden Froschs (Puppe: Yvonne Dicketmüller) haben sich in Plastik verfangen. Die Folgen unserer infantilen Zerstörungslust, darauf weist der Regisseur behutsam hin, werden sich nicht beheben lassen, indem wir nach der Mama rufen.

Figurenreich und fantasievoll

Szene aus Ravels "L'enfant et les sortilèges". Foto: Marie Laforge

Szene aus Ravels „L’enfant et les sortilèges“. Foto: Marie Laforge

Zwischen dem Trotz des Beginns und der Einsicht am Ende entfaltet der international zwischen Athen und Helsinki tätige Regisseur ein fantasievolles, bewegliches Spiel: Die Ausstattung von Lukas Noll und Sabet Regnery ermöglicht rasche Verwandlungen auch ohne Bühnentechnik: Chor und Ballett greifen unsichtbar zu und verschieben angeschrägte Wandelemente, die als Projektionsflächen für Farben und Bilder, aber auch mit schwarzglitzerndem Stoff als atmosphärischer Horizont dienen. Das sorgt für visuelle Abwechslung, fordert aber auch konzentriertes Reagieren – und die Studentinnen und Studenten der Folkwang-Uni bringen die Elemente mit präzisem Timing in Position. Kostüme und Masken (Andrea Köster) betonen das Fantastische, etwa in opulenten, leicht übersteigerten Tierkostümen.

Prickelnder erotischer Spaß: "L’heure espagnole" an der Folkwang-Uni in Essen-Werden. Foto: Marie Laforge

Prickelnder erotischer Spaß: „L’heure espagnole“ an der Folkwang-Uni in Essen-Werden. Foto: Marie Laforge

Die figurenreiche Oper ist für eine Hochschulproduktion wie geschaffen, nicht nur wegen ihrer Kürze. Je nach dem Stadium der Ausbildung bietet sie für Gesangsstudenten herausfordernde oder nicht allzu schwere Partien, braucht auch schauspielerisches Agieren abseits herkömmlicher Opernszenen – etwa in den Darstellung von Gegenständen wie Sessel, Tasse oder Teekanne, bei denen Rootering sich der choreografischen Erfindungskraft von Ivan Strelkin und der Tanzstudenten der Hochschule versichert. So können sich etwa Jung In Ho als Feuer, Emily Dilewski als Prinzessin aus dem zerfledderten Märchenbuch, Nikos Striezel (alternierend mit dem herrlich breakdance-eckigen Ze Yan) als Uhr oder Robin Grunwald als Fauteuil szenisch erproben. Milena Haunhorst ist ein überzeugendes Kind, Alina Grzeschick eine gestrenge Mutter. Junge Sänger in verschiedenen Stadien der Ausbildung zeigen wie Vera Fiselier (Libelle) schönes Timbre und gestaltungsfähiges Material.

Spielfreudig und schwerelos

Xaver Poncette beleuchtet mit dem Orchester aus Studierenden der Folkwang-Hochschule alle Farben von Ravels Musik, das Gestische wie das Atmosphärische, die fein modellierten Soli wie die schwerelosen, impressionistisch anmutenden Klangflächen. Im zweiten Teil des Abends, Ravels „Spanischer Stunde“ spielt er mit den Taktwechseln wie mit den kammermusikalischen Finessen.

In der anspielungsreichen musikalischen Komödie zeigen die Gesangsstudenten animierte Spiellust, so Anna Cho als quirlige Concepcion, Anton Levykin als ihr scheinbar harmlos-spießiger Ehemann Torquemada, Robin Grunwald als maskuliner Ramiro und die beiden Liebhaber Benjamin Hoffmann (Gonzalvo) und Jisu Ahn (Don Inigo).

Weitere Vorstellungen noch am 10. und 12. Dezember, jeweils 19.30 Uhr in der Neuen Aula am Campus Essen-Werden der Folkwang-Universität. Info: www.folkwang-uni.de




Wie eine späte Heimkehr: Essener Ruhr Museum zeigt stilbildende Revier-Fotografien von Albert Renger-Patzsch

Blick in die Ausstellung mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch. (© Ruhr Museum / Foto: Rainer Rothenberg)

Blick in die Ausstellung mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch. (© Ruhr Museum / Foto: Rainer Rothenberg)

Über Jahrzehnte hinweg hat dieser Mann den Blick geprägt, mit dem viele Menschen die Landschaft des Ruhrgebiets wahrgenommen haben: Albert Renger-Patzsch (1897-1966) ist wahrhaftig ein stilbildender Fotograf gewesen. Jetzt widmet ihm das Essener Ruhr Museum auf dem Gelände der Zeche Zollverein eine Ausstellung, die just hierher gehört: „Die Ruhrgebietsfotografien“ waren ab Ende 2016 zunächst in der Münchner Pinakothek der Moderne zu sehen, jetzt ist die Ausstellung – in stark erweiterter Form – gleichsam heimgekehrt.

Renger-Patzsch, sonst vorwiegend als Auftrags-Fotograf unterwegs, hat die Ruhrgebietslandschaften als sein größtes freies Projekt in Angriff genommen. Es sind keine Ansichten eines kurzfristig Zugereisten. Renger-Patzsch war mit dem Revier vertraut. Der Fotograf lebte von Ende 1929 bis zum Oktober 1944 (als sein Haus bei Luftangriffen zerstört wurde) in der Essener Künstlersiedlung Margarethenhöhe.

Schon vor seiner Umsiedlung ins Ruhrgebiet war der gebürtige Würzburger prominent gewesen, insbesondere durch seinen vielbeachteten Bildband „Die Welt ist schön“ von 1928, der mit Pflanzen-, Tier- und vor allem Objektaufnahmen bereits die neusachliche Sicht auf die Welt kultivierte.

Entdeckung der „Zwischenstadt“

Die jetzt in Essen gezeigten Serien seiner Ruhrgebiets-Aufnahmen sind vorwiegend zwischen 1927 und 1935 entstanden. Im Kontrast zwischen noch ländlichen Stadträndern und gewaltig aufkommenden Industrie-Giganten hat er völlig neuartige Räume bzw. Raum(un)ordnungen entdeckt und festgehalten. Viel später hat man für derlei schwer beschreibliches Niemandsland den Begriff „Zwischenstadt“ verwendet.

Und tatsächlich: Seine Bilder von Zechengebäuden und Halden-Landschaften, Vorstadt-Siedlungen und Schrebergärten zeigen ein damals atemberaubend neues Amalgam aus schwindender Natur und ungeheuerlich wachsender Industrie. Das hat es in dieser Form in ganz Deutschland nicht so beispielhaft monumental gegeben, auch in Europa suchten solche Konglomerate ihresgleichen.

„Fotograf der Dinge“ – wertfrei und objektiv?

Als Fotograf im Umkreis der Neuen Sachlichkeit hat sich Renger-Patzsch (ganz anders als etwa Erich Grisar, dem das Ruhr Museum und im Gefolge die Dortmunder Zeche Zollverein zuvor eine Ausstellung gewidmet haben) absolut nicht für Arbeitsbedingungen oder gar für Klassenkämpfe interessiert. Seine Bilder sind denn auch menschenleer, er ist ein „Fotograf der Dinge“.

Wohl erst mit heutigem Blick sieht man die Trostlosigkeit und die argen Verletzungen, die der Landschaft zugefügt wurden. Renger-Patzsch hingegen hat offenkundig noch den bizarrsten Industrie-Wüsteneien ästhetische Valeurs abgewonnen. Auch das macht diese Bilder so scheinbar zeitenthoben und klassisch. Ja, seine Sichtweise mutet weitgehend emotionslos, „objektiv“ und „wertfrei“ an, doch könnte man gegen die letzten beiden Zuschreibungen eine ganze Menge einwenden.

Ruhrgebiet früherer Zeiten

Es ist dies eine Wiederbegegnung mit dem „alten“ Revier, wie es bis in die 1960er Jahre hinein Bestand hatte, insofern liegen die 20er und 30er gar nicht so immens weit zurück. Die Ansammlungen von Schloten zwischen einer kahlen Baumreihe oder direkt hinter einer Arbeitersiedlung im Essener Nordend wirken durchaus imposant, die zuweilen monströsen Halden haben etwas von großer Geste.

Wertungen sind diesen Bildern allerdings fremd, auch die gewiss dürftigen Häuser wirken wie selbstverständlich hingestellt. Und wenn sich ein Zechenturm samt Schornsteinen direkt hinter einem geduckten Fachwerkhaus erhebt oder einige Kühe vor Schlotkulisse stehen, so sind das beileibe keine kritischen Stellungnahmen, sondern: Es ist, wie es ist.

Keine sonderlichen Schwierigkeiten nach 1933

Jedenfalls war sein bildkünstlerisches Werk auch nach 1933 sozusagen „anschlussfähig“, er scheint in der Nazi-Zeit keine sonderlichen Schwierigkeiten gehabt zu haben und konnte sogar für die paramilitärische NS-Organisation Todt tätig werden. Andererseits hatte er lediglich im Winter 1933/34 einen Lehrauftrag an der Essener Folkwang-Schule für Gestaltung. Hat er sich bewusst entzogen?

Ergänzt werden die zentral präsentierten Ruhrgebietslandschaften mit rund 200 weiteren Fotografien von Albert Renger-Patzsch, die sich in einigen Seitenkabinetten gruppieren und ebenfalls mehrheitlich Vintage-Prints, also Originalabzüge sind. Es handelt sich überwiegend um Auftragsarbeiten, entstanden ab den 1920ern bis in die 1960er Jahre, beispielsweise für die Bochumer Edel-Tischlerei Dieckerhoff oder fürs Museum Folkwang, wo Renger-Patzsch seinerzeit ein eigenes Atelier hatte.

Rare Porträtaufnahmen

Hinzu kommen Aufnahmen der Villa Hügel, des Essener Münsters (Domkirche), der Gartenstadt Margarethenhöhe und von markanten Zechenbauten, nicht zuletzt vom jetzigen Ausstellungsort, der Zeche Zollverein – und aus der kriegszerstörten Stadt Essen. Als sein Haus in der Margarethenhöhe zerstört wurde, zog die Familie zum Künstler Hermann Kätelhön nach Wamel (Möhnesee) bei Soest.

Die Ausstellung, gemeinsam kuratiert von Stefanie Grebe (Essen) und Simone Förster (München), hält noch eine weitere Spezialität bereit: Überraschend für den sonst so sehr auf Dinge fixierten Renger-Patzsch, finden sich auch einige Porträtaufnahmen, die zwar gleichfalls von meisterlichem Handwerk und von Kunstfertigkeit zeugen, aber bei weitem nicht so stilbildend sind wie eben seine (Zwischen)stadtlandschaften. Interessant auf jeden Fall einige der Dargestellten: Die Skala reicht vom berühmten Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus (Hagen, 1920) über Großindustrielle wie Hugo Stinnes (Mülheim/Ruhr, 1930) bis zum 1935 porträtierten jungen Juristen bei den Rheinischen Stahlwerken in Essen. Er hieß übrigens Gustav Heinemann und wurde Jahrzehnte später Bundespräsident.

Kölner Galerie und Münchner Stiftung

Nun soll noch geklärt werden, wer all die fotografischen Schätze gesammelt und bewahrt hat. Es waren Ann und Jürgen Wilde, die schon sehr zeitig Fotografie als Kunst betrachtet und präsentiert haben, als die Marktpreise noch nicht verrückt gespielt haben. Bereits 1974 zeigten sie in ihrer Kölner Galerie Ruhrgebietsbilder von Albert Renger-Patzsch, dessen Werk sie auch hernach gepflegt haben. Seit 2010 ist die Stiftung Ann und Jürgen Wilde der Münchner Pinakothek der Moderne angegliedert, womit sich auch der Ort der Erstausstellung erklärt. Im Ruhrgebiet freilich wird man diese Ausstellung ganz anders rezipieren als an der Isar.

Albert Renger-Patzsch: Die Ruhrgebietsfotografien. Essen, Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181 (Navigation: Fritz-Schupp-Allee, 45141 Essen). 8. Oktober 2018 bis 3. Februar 2019. Geöffnet Mo bis So 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 sowie für Studierende unter 25. Katalog (336 Seiten, ca. 200 Schwarzweiß-Abb.) 29,80 €. Weitere Infos: www.ruhrmuseum.de und Tel.: 0201 / 24 681 444.

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Nachbemerkung:

Aus Urheberrechtsgründen mussten die Fotos einzelner Werke zu dieser Ausstellung leider sechs Wochen nach Ende der Schau gelöscht werden. Somit steht jetzt nur noch der Text fast ohne bildliche Anschauung hier – bis auf einen einzige, sehr ungenauen Blick auf Stellwände. Ob wohl auch die Print-Medien Bilder in ihren Online-Auftritten getilgt haben?




Ein Herz für die Sammlung und eine Absage an Blockbuster – Peter Gorschlüter wird neuer Direktor des Folkwang-Museums

Peter Gorschlüter (geb. 1974 in Mainz) wird der neue Direktor des Essener Folkwang-Museums. Bis er kommt, dauert es allerdings noch etwas. Sein Vertrag mit dem Museum für moderne Kunst (MMK) in Frankfurt endet erst Mitte 2018. Gorschlüters anschließender Essener Vertrag soll über acht Jahre laufen, und man darf gespannt sein, ob er es hier so lange aushält.

Peter Gorschlüter wird zum 1. Juli Direktor des Essener Folkwang-Museums.(Foto: rp)

Gorschlüters Vorgänger waren schneller wieder weg; Hubertus Gassner zog es 2006 nach nur vier Jahren in die Hamburger Kunsthalle, Hartwig Fischer, wiewohl erster Chef im neuen Chipperfield-Gebäude, verließ Essen nach sechs Jahren in Richtung Dresden (dann London), Tobia Bezzola wechselte jetzt nach fünf Jahren gen Lugano, um sich dort dem Aufbau des Museo d’arte della Svizzera italiana zu widmen.

Überstürzter Abschied

Zwar war in den letzten Jahren manchmal zu hören, daß es Tobia Bezzola in Essen nicht wirklich gut gefiele, trotzdem kam sein vorzeitiger Abgang etwas überraschend, zumal seine Leistungsbilanz sich sehen lassen kann. Man denke etwa an die Ausstellung des Fotografen Thomas Struth, an die deutschlandweit erste Präsentation der edlen zeitgenössischen Sammlung François Pinaults oder die Lagerfeld-Schau. Auch die Entscheidung der Krupp-Stiftung, fünf Jahre lang freien Eintritt in die Folkwang-Sammlung zu finanzieren, fiel in Bezzolas Amtszeit. Die Absage der Balthus-Ausstellung wegen des vehement erhobenen Pädophilie-Vorwurfs gegen Künstler und Werk im Jahr 2013 wiederum kann sicherlich nicht als Ausdruck persönlichen Scheiterns des Museumsdirektors gesehen werden.

Andrea Bezzolas Ausstellungen hatten Strahlkraft

Bezzola weiß um die Bedeutung großer Veranstaltungen für ein großes Haus, um deren Strahlkraft und Attraktivität. Es muß ja nicht gleich ein „Blockbuster“ sein wie vor 17 Jahren die Turner-Schau. Die wäre heutzutage, ohne potente Sponsoren und angesichts immer höherer Versicherungsprämien, sowieso nicht mehr vorstellbar.

Gorschlüter jedoch hält von Blockbustern wenig, er nennt sie nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen möchte er andere Formen der Museumsarbeit erschließen, die er im Pressegspräch kurz umriß. So strebt er „Interdisziplinäre Ausstellungsformate“ an, die Kunst etwa mit Mode, Musik oder Theater verbinden sollen. Mit „gemeinsamen Themenschwerpunkten“ möchte er unterschiedliche Teile der Sammlung neu präsentieren, „Vergangenheit und Zukunft“ oder „Utopie und Dystopie“ wären vorstellbare Überschriften. Auch zahlreiche Aspekte des Riesenthemas „Großstadt“ böten sich an.

Kooperieren und kartographieren

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt, so Gorschlüter, könnten Kooperationen mit Künstlern aus anderen Disziplinen sein. In Liverpool zum Beispiel, einer seiner früheren Wirkungsstätten, arbeitete der neue Folkwang-Chef mit Carol Ann Duffy zusammen, der Hofdichterin der Queen immerhin.

Die Sammlung möchte Gorschlüter „neu kartographieren“, aufs Neue sozusagen fragen nach den Beziehungen zu anderen Kulturen, zu bisher unberücksichtigten Impulsen. Dies sei ein lohnender Ansatz auch für eine gewachsene Sammlung.

Schließlich geht es Gorschlüter um den Dialog des Museums mit der Stadtgesellschaft. Das Museum solle sich durchaus stärker in Richtung Innenstadt bewegen, gerne auch performativ.

100 Jahre Folkwang – ein trauriger Tag für Hagener

Das konkreteste Projekt der vor ihm liegenden Amtszeit indes ist definitiv für das Jahr 2022 vorgesehen. Da wird das Essener Folkwang-Museum nämlich 100 Jahre alt. „Ich denke daran, das Museum dann in die Stadt zu bringen“, sagt Gorschlüter.

Sollen sie feiern, die Essener, es sei ihnen gegönnt. Weiter östlich im Revier wird das Fest gemischte Gefühle auslösen, markiert es doch den Verlust der einzigartigen Osthaus-Sammlung für die Stadt Hagen. Tröstlich ist da lediglich das Wissen, daß das Essener Folkwang-Museum mit der Osthaus-Sammlung gut umgegangen ist und dies, da sind wir ganz sicher, auch in Zukunft tun wird. Gorschlüter zeigt sich der Osthaus-Tradition bewußt und strebt (auch) deshalb eine enge Kooperation mit dem Fotoarchiv Marburg an, wo im Jahre 1933, was aber kaum einer weiß, das Fotoarchiv von Karl-Ernst-Osthaus verblieb.

Gern auf Augenhöhe mit Ludwig und MoMA

Tja. Um mal kurz persönlich zu werden: Ich hätte nichts gegen einige Ausstellungen, die bundesweit oder auch in den Nachbarländern wahrgenommen würden und Folkwang zumindest zeitweise auf Augenhöhe mit Ludwig in Köln oder Gropius in Berlin brächten (oder MoMA in New York oder Centre Pompidou in Paris usw.).

Es wäre schon sehr schön, wenn man Finanzierungsmöglichkeiten fände, um die eine oder andere große, „wandernde“ Schau nach Essen zu holen; es wäre auch sehr gut für die Wahrnehmung all dessen, was Folkwang überdies zu bieten hat, allem voran natürlich die eigene Sammlung. Die starke Fokussierung der Museumsarbeit auf den Eigenbestand, die in den programmatischen Äußerungen Gorschlüters anklang, kann hingegen zu einem Bedeutungsverlust des Hauses führen.

Kuratoren gesucht

Doch man soll nicht unken. Der neue Mann muß sich noch etwas sortieren für seinen neuen Job, „ein halbes Jahr Findung – die Zeit braucht es“ sagt er selbst. Und dann schauen wir mal.

Wichtig ist natürlich auch, daß bald neue Leute für die beiden anderen Vakanzen im Folkwang-Museum gefunden werden. Nach dem Weggang von Florian Ebner wird ein neuer Kurator für die fotografische Sammlung gesucht, ebenso einer für die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts.




Privatsammler setzen Akzente: Anbau für Duisburger Museum Küppersmühle – Editionen von Gerhard Richter in Essen

„Blau-Gelb-Rot“ von Gerhard Richter (1974), jetzt zu sehen im Essener Folkwang-Museum (Bild: Gerhard Richter, Courtesy Olbricht Collection, Museum Folkwang)

Man mag es beklagen, doch bestreiten läßt es sich kaum: Zunehmend setzen Privatsammler in der bundesrepublikanischen Museumsszene die Akzente, treten als Dauerleihgeber hervor oder bauen sich gleich ein eigenes Museum. Nolens volens kooperieren die staatlichen Häuser, bietet die Zusammenarbeit mit Privaten doch oft die einzige Möglichkeit, jüngere teure Kunst in größerer Menge zu zeigen.

Ganz risikofrei ist das nicht. Von willkürlichen Entscheidungen der privaten Leihgeber war hier und da schon zu hören, die ihre Kunst abholen ließen, wenn sie etwa mit Bau- oder Personalentscheidungen unzufrieden waren.

Auch das Kulturgutschutzgesetz („Lex Grütters“) hat viele Kunstbesitzer davon abgeschreckt, ihre Schätze weiterhin öffentlich zu zeigen, könnte sie doch im Weiteren der Bannstrahl des gesetzlichen Exportverbots treffen. Fürchten sie jedenfalls. Wie auch immer: Gleich an zwei Orten des Reviers, in Duisburg und in Essen, setzen Privatsammler nun deutliche Akzente.

Das Ensemble des MKM Museum Küppersmühle in Duisburg in der Zukunft: Rechts neben dem grauen Betonsilo wird dann der (hier bereits sichtbare) Neubau entstanden sein. (Bild: MKM/Herzog und de Meuron)

Privates Geld für Neubau

Fangen wir in Duisburg an. Von dort kommt es diesmal eher nachrichtlich. Das Museum Küppersmühle,  wohl das bedeutendste private Kunstmuseum im Revier, erhält einen Anbau, erweitert seine Ausstellungsfläche von knapp 3000 auf 5000 Quadratmeter. Die Kosten für den millionenschweren Anbau trägt das Sammlerehepaar Sylvia und Ulrich Ströher, das auch schon den grundlegenden Umbau der wuchtigen Industrieimmobilie im Duisburger Innenhafen, die der Strukturwandel 1972 ihrer ursprünglichen Aufgabe beraubt hatte, bezahlte und seitdem sämtliche Betriebskosten trägt. Aus der umfangreichen Sammlung Ströher stammen die Kunstwerke der Dauerausstellung.

Der Neubau in der Animation. Erhaben gesetzte Ziegelsteine formen in der fensterlosen Fassade das Wort KÜPPERSMÜHLE.  (Bild: MKM/Herzog und de Meuron)

Dezentere Neuplanung

Groß und luftig wirkt das Haus schon heute, auch im Parterre, wo es Wechselausstellungen gibt und derzeit Großformate von David Schnell zu sehen sind. Doch es sollte eben noch einiges an Fläche dazukommen. Erste Pläne für eine Erweiterung datieren aus dem Jahr 1999. Sie sahen vor, auf den bislang funktionslosen Betonsilos einen Ausstellungsraum aufzusetzen. Entfernt erinnerte die Architektur an einen „Hammerkopfturm“, einen Zechenförderturm mit ungewöhnlich symmetrischer Optik – die Zeche Minister Stein in Dortmund beispielsweise hat einen, der als Denkmal erhalten blieb. Eine Stahlkonstruktion wurde zusammengeschweißt, stand Jahre lang neben dem Gebäude, und das Publikum konnte ihr beim Verrosten zuschauen. Die Ausführung der Konstruktion, in anderen Worten, war höchst mangelhaft geraten, dann geriet die Baufirma Gebag in finanzielle Turbulenzen, und 2008 schließlich verabschiedeten sich Bauherrschaft und Architektenbüro von diesem Projekt.

Gleiche Architektursprache

Doch ihren Architekten blieben die Ströhers gewogen. Und deshalb machte sich das renommierte Baseler Büro Herzog und de Meuron, das übrigens jüngst in Berlin den Architektenwettbewerb für das Kulturforum neben der Neuen Nationalgalerie gewonnen hat, nach kurzer Schockstarre an eine Neuplanung. Die ist nun wesentlich dezenter geraten, sieht einen Anbau vor, der die Backsteinoptik der vorhandenen Substanz aufnimmt und sich in das ganze, naturgemäß ein wenig industriell-unordentliche Ensemble völlig integriert. Man wird späterhin Mühe haben, ohne nähere Sachkenntnis den Neubau als solchen zu identifizieren. Die Gebäudeteile „sprechen die gleiche Architektursprache“, wie Pierre de Meuron es bei der Präsentation ausdrückte.

Nochmals Animation: Auf den Betonsilos soll eine Aussichtsplattform entstehen.  (Bild: MKM/Herzog und de Meuron)

Am stärksten heben sich auch zukünftig die Getreidesilos aus grauem Beton hervor. Sie stehen zwischen Alt und Neu, sollen teilentkernt als Übergang fungieren und zudem zukünftig eine Aussichtsplattform erhalten, zu der ein Aufzug hinauffährt. Die Fundamente sind gesetzt, der Grundstein ist gelegt, und Ende 2018 soll der Neubau fertig sein. Das ist mutig geplant, doch Pierre de Meuron zeigt sich zuversichtlich: Gutes Team, gute Leute vor Ort, das sei zu schaffen. Na dann: Hals- und Beinbruch!

„Nebenan“ im Museum Folkwang

In Essen, im wunderbaren großen Raum des Folkwang-Museums, ist nun Kunst von Gerhard Richter zu sehen, genauer gesagt: „Die Editionen“ (Ausstellungstitel). Erwarten könnte man mithin Mappenwerke, Drucke, Serigraphien und Ähnliches. Das alles gibt es natürlich auch, beginnend in den frühen 60er Jahren, doch zeichnet Gerhard Richter eben aus, daß er die Dinge oft nicht so läßt, wie sie zunächst sind; auch die eigenen „Editionen“ nicht.

Gerhard Richters Kerze. Es gibt sie in Essen auch mit Übermalungen zu sehen. (Bild: Gerhard Richter, Courtesy Olbricht Collection, Museum Folkwang)

Da hat es ihm mitunter gefallen, jedes (vervielfältigte) Bild einer Serie individuell mit Farbe nachzuarbeiten, von leichten Akzentuierungen (selten) bis zu flächigen Übermalungen (häufiger). Das macht die Arbeiten eigentlich zu Unikaten und läßt einen einmal mehr nachsinnen über die rätselhafte Kunst dieses Mannes, der auf unterschiedlichsten Wegen immer wieder nach Abbildern, Schemen, Ahnungen sucht, die in der formalen Entfernung vom Gegenstand zu größerer Wahrheit streben.

Man kommt ins Grübeln

Die Kerze fehlt nicht und nicht der Totenschädel, nicht die unscharf verwischten Fotos von Schäferhunden und Düsenjägern, nicht die streng komponierten Farbfelder und Farbschichtungen und nicht die Arbeiten, die nur noch Fläche und Haptik sind. Doch dann begegnet man plötzlich dem schlichten, auf den ersten Blick unspektakulären, nicht nachbearbeiteten Foto, das Richter 2014 von seiner Enkelin Ella machte, und kommt erneut ins Grübeln über den Facettenreichtum in diesem Oeuvre.

„Fuji“, 1996 (Bild: Gerhard Richter, Courtesy Olbricht Collection, Museum Folkwang)

Manches, was Gerhard Richter edierte, war groß, vieles aber auch klein, was zur Folge hat, daß diese bestens bestückte Ausstellung über die Jahrzehnte hinweg sehr viel mehr Positionen formuliert, als es beispielsweise 2012 die Richter-Retrospektive mit ihren vielen Großformaten in der Berliner Nationalgalerie tat, bevor diese für einen mehrjährigen Umbau geschlossen wurde. Wer sich Richter also in seiner Vielschichtigkeit annähern möchte, sollte nach Essen fahren.

„Strip“, 2013 (Bild: Gerhard Richter, Courtesy Olbricht Collection, Museum Folkwang)

Die Arbeiten übrigens stammen sämtlich aus der Sammlung des Essener Mediziners, Chemikers und Wella-Erben Thomas Olbricht, der dem Folkwang-Museum seit längerem verbunden ist und hier schon mehrere Ausstellungen bestückte. Olbricht kann in aller Bescheidenheit von sich sagen, daß er alle Editionen von Gerhard Richter besitzt.

„Win-Win-Situation“

„173 mitunter mehrteilige Editionen, 33 Unikate, insgesamt über 350 Arbeiten“, teilt das Museum Folkwang mit. Der „Sponsor“ der Veranstaltung könnte aus dem Bekanntenkreis Dagobert Ducks stammen: „Merck Finck Privatbankiers AG“. Und natürlich könnten die ihr Sponsorengeld auch im Geldspeicher lassen und Olbricht seine Bilder im Depot. Doch vom Letztgenannten ist bekannt, daß er sie gerne zeigt. Wenn nun viele Besucher nach Essen kommen, ist das also sicher eine „Win-Win-Situation“.

Übrigens: Kleinere Richter-Ausstellungen gibt es derzeit auch in Köln und Bonn zu sehen.

◾„Gerhard Richter: Die Editionen“, Museum Folkwang, Essen

  • Bis 30. Juli 2017
  • Geöffnet Sa, So, Di, Mi u. feiert. 10 – 18 Uhr, Do und Fr 10 – 20 Uhr
  • Eintritt 8 €
  • Begleitheft mit Abbildungen 6,50 €
  • Die Duisburger Küppersmühle zeigt noch bis 18. Juni „David Schnell – Fenster“
  • Geöffnet Mi 14-18 Uhr, Do – So und Feiertage 11-18 Uhr
  • Eintrittspreise: Wechselausstellungen: 6 €, gesamtes Haus: 9 €



„Herzchen, sieh zu, wie Du klarkommst“ – Tagung zum 100. des Fotografen Otto Steinert

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Otto Steinert in einem Selbstportrait von 1950 (Foto: Museum Folkwang/Nachlaß Otto Steinert)

Die Altersverteilung war auffällig. Eine große Gruppe, vorwiegend männlich, repräsentierte die Generation 60 plus X, teilweise auch plus XX; die andere befand sich im Studentenalter, das Mittelfeld blieb deutlich sparsamer besetzt. Man war an diesem Wochenende zusammengekommen, um sich an Otto Steinert (1915 – 1978) zu erinnern, dessen Geburtstag sich im Juni zum 100. Mal gejährt hatte.

„Arbeit am Bild – Otto Steinert und die Felder des Fotografischen“ war das internationale Symposium in Essen überschrieben, auf dem am 27. und 28. November eine beachtliche Referentenriege mit Vorträgen auf Leben und Werk des Fotografen und Fotolehrers schaute. Außerdem sind Steinert-Arbeiten noch bis zum 28. Februar im Essener Folkwang-Museum unter dem Titel „Otto Steinert. Absolute Gestaltung“ ausgestellt.

„Who is Who“ der Fotoszene

Steinert gilt als bedeutendster Fotolehrer der jungen Bundesrepublik, und das Verzeichnis seiner Studenten und Studentinnen liest sich wie das Who is Who der Szene. Das Seminar-Wochenende im Sanaa-Gebäude auf dem Gelände der Zeche Zollverein war also auch so etwas wie ein Studententreffen, Steinert-Studenten aus den 50er, 60er und 70 er Jahren mit dem Drang zu kollektiver Erinnerung und junge Studis von der Gesamthochschule, die sich für den berühmten Altvorderen interessierten, den sie nie persönlich kennengelernt hatten.

Der große Fotolehrer war nicht leicht zu ertragen

Sensationelle Befunde förderten die Vorträge nicht zu Tage, Steinert-Forschung ist Kärrnerarbeit, wenngleich auch sicherlich ein Feld, auf dem sich noch manche Themen für Magisterarbeiten und Promotionen finden lassen. Viele Vorträge des Symposiums indes hätten ebenso überschrieben sein können wie der von Thilo Koenig aus Zürich: „Herzchen, sieh zu wie Du klarkommst“ zitiert er da den großen Fotolehrer, den zu ertragen alles andere als einfach war.

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Der berühmte „Ein-Fuß-Gänger“ aus dem Jahr 1950 (Foto: Museum Folkwang/Nachlaß Otto Steinert)

Koenig, von Beruf Kunstwissenschaftler, formulierte das natürlich zurückhaltender, seriöser: Es gebe Paradoxien in der Person Steinerts. Unbestritten sei einerseits, daß er es war, der zunächst in Saarbrücken, ab 1959 in Essen der jungen Bundesrepublik die Avantgarde der 20er Jahre wieder in das Bewußtsein rief, ganze Werkgruppen von Moholy-Nagy, Man Ray und vielen anderen präsentierte.

Steinert bewahrte Pioniere wie den bildjournalistisch arbeitenden Dr. Erich Salomon, der 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, vor dem Vergessen, er lenkte das Augenmerk auf die französische Fotografie des 19. Jahrhunderts. Eine seiner ersten Ausstellungen (samt Katalog) widmete sich Hippolyte Bayard (1801-1887), der mit dem von ihm entwickelten Direkt-Positiv-Verfahren auf Papier zu den „Urvätern“ der Fotografie zählt, aber bei weitem nicht so bekannt ist wie Daguerre.

Bei der Arbeit im Schwarzweiß-Labor war Steinert überaus penibel, notierte jeden Eingriff beim Erstellen von Vergrößerungen auf „Waschzetteln“, die an den Negativbögen hingen, so daß eigentlich jeder Abzug, war er durch die zahlreichen Steinertschen Dunkelkammer-Interventionen gegangen, als Unikat gelten mußte. Diese naturwissenschaftliche Präzision, vermutet Koenig, mag mit Steinerts ursprünglichem Arztberuf zu tun haben.

Antipädagogik

Im Umgang mit seinen Studenten war Otto Steinert autoritär, er pflegte ein geradezu militärisches Auftreten, blaffte Menschen – in den Worten des mit ihm befreundeten Historikers Josef Adolf Schmoll genannt Eisenwerth – im „Casinoton“ an. Als fürsorglicher Lehrer verweigerte er sich konsequent, eher pflegte er eine „Antipädagogik“. Der schon erwähnte Titel des Vortrags ist eine Äußerung, die er machte, als ihn eine Studentin nach vernichtender Kritik an ihren Fotos fast flehentlich fragte, wie sie es denn nun anders, besser mache solle. „Herzchen, sieh zu, wie du klarkommst.“

Bilder, die ihm nicht gefielen, zerriß er gleich stapelweise, und den Stempel, auf dem „Scheiße“ stand, besaß er wirklich. Allerdings hat er ihn wohl nicht eingesetzt, höchstens mal zum Spaß. So jedenfalls der aktuelle Stand der Steinert-Forschung. Immerhin befindet sich im Archiv des Essener Folkwang-Museums ein derart abgestempeltes Bild, das dessen Autor aber nicht öffentlich zeigen möchte. Schade, wär doch lustig.

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Bildnis hell – dunkel, übrigens als Fotomontage ausgeflaggt (Foto: Museum Folkwang/Nachlaß Otto Steinert)

Um die jungen Leute Pünktlichkeit und Mores zu lehren, schloß Steinert nach Beginn der Stunde die Klasse ab, und Studenten, die ihm nicht paßten, meldete er einfach im Sekretariat ab. „Ich hab dich abgemeldet,“ lautete dann der Satz, „du studierst hier nicht mehr.“ Natürlich duzte nur er. Für die Studenten war er Herr Professor, darauf legte er großen Wert.

Menschen entwerten

Andererseits: Steinert kochte für seine Studenten und liebte es gesellig. Er brachte Zeitungen mit in den Unterricht und legte Wert auf Informiertheit und so etwas wie „politische Bildung“. Wer da indes durch Unkenntnis auffiel, mußte eventuell ein Referat verfassen, das mit Fotografie nichts zu tun hatte. Eine solche spontane Vergabe von Hausaufgaben kam manchmal auch beim gemeinsamen Essen vor.

Wirklich entspannt kann es da eigentlich nicht zugegangen sein. Eher schon drängt sich der Eindruck auf, daß Steinerts Pädagogik – oder Antipädagogik, auf jeden Fall rabenschwarze Pädagogik – darauf gerichtet war, die jungen Menschen in ihrem Selbstbild zu entwerten und in die Verzweiflung zu treiben, um sie schließlich, wenn sie nicht resignierten und die Brocken hinschmissen, nach seinen Vorstellungen gleichsam neu zu erschaffen.

Eine Fotografie der dramatischen Schwärzen

Und der Fotograf Steinert? Seine Bildauffassung mit ihren vielen tiefen, dramatischen Schwärzen, mit den gleichsam nach innen gewandten Kompositionen und einem eigentümlichen Hang zu Abstraktion und Struktur war für Jahrzehnte prägend. „Erst in den 70er Jahren entwickelt sich eine andere Auffassung, kommen offenere Bilder“, befindet Koenig und nennt in Sonderheit Timm Rautert als einen Fotografen, dessen Werk typisch für diese Wandlung ist.

Möglicherweise korrespondieren Veränderungen im Schaffen Otto Steinerts jedoch auch einfach mit gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, gerade im Ruhrgebiet: Der Strukturwandel war im Gange, stinkige rauchig-rußige Revierkulissen à la Chargesheimer waren nicht mehr gefragt, die strenge formale Ästhetik eines Albert Renger-Patzsch galt bestenfalls als Kunst. Die fotografierte Wirklichkeit war jetzt eher hellgrau und etwas optimistischer – wenngleich man ja doch sagen muß, daß die Dramatik vieler Steinertscher Schwarzweißarbeiten einen mehr packt als die betonte Zurücknahme, die nun in der Fotografie Platz griff.

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Luminogramm I von 1952. Bromsilbergelatine, Vintage Print (Foto: Museum Folkwang/Nachlaß Otto Steinert)

Schweizerische Leichtigkeit

Lichtersetzung hatte Steinert wohl nie sonderlich interessiert, „Licht mache ich in der Dunkelkammer“ soll eine seiner stehenden Wendungen gewesen sein. Doch die Zeit ging über diese Auffassung hinweg. Und nicht nur in der Werbung erinnerte man sich zunehmend an schweizerisches Graphik- und Foto-Design beispielsweise eines Hans Finsler, das nicht durch nationalsozialistisches Pathos geprägt worden war und sich durch Leichtigkeit und Offenheit auszeichnete. Hier, so Koenig, geht die Leserichtung der Bilder nach außen, hell und luftig sind die Fotografien, korrespondieren mit Freiraum und Typographie und bilden so ein informatives neues Ganzes.

Stilistische Kontinuitäten nach 1945

Immer wieder einmal wurde der Vorwurf laut, Steinerts gestalterische Konzepte hätten sich am Monumentalstil der Nazis orientiert. Biographische Daten – 1936 tritt er 21jährig in die NSDAP ein, 1937 meldet er sich zur Wehrmacht und wird Fahnenjunker in einem Sanitätskorps – legen solche Vermutungen nahe, doch halten sie einer Überprüfung nicht recht stand, allein deshalb nicht, weil es einen typischen Nazi-Stil streng genommen nicht gab.

Eher schon sind ästhetische, formale, stilistische Kontinuitäten nach 1945 von Bedeutung, die sich indes auch in den Arbeiten zahlreicher anderer Künstler und Fotografen finden – falls diese nicht ausdrücklich damit brechen. Sieht man allerdings Steinerts frühe experimentelle Arbeiten, Fotogramme und Solarisationen vor allem, dann könnte man hier durchaus auch ein Streben nach Entgegenständlichung vermuten, einen Versuch, es auf fotografischem Feld den abstrakten Expressionisten gleichzutun, die nach dem Krieg in Deutschland West in hohem Ansehen standen.

Formale Zurücknahme jedenfalls gehörte nicht zum Selbstverständnis der von Steinert auch so getauften „Subjektiven Fotografie“. Er bearbeitete seine Themen mit Kamera und Dunkelkammer „bis zum Endsieg“, wie ein Diskussionsteilnehmer es in Essen ausdrückte. Doch die Zeit ist über vieles hinweggegangen. Was früher großes handwerkliches Geschick erforderte, ist heute oft mit wenigen Mausklicks zu bekommen. Und die Fotografie – Stichwort Becher-Schule – gefällt sich mittlerweile in großer Zurücknahme, in geradezu programmatischer Entdramatisierung.

Bleibende Verdienste

Was bleibt: Agenturen wie VISUM oder die Illustrierten der 60er, 70er Jahre, Stern, Geo, Twen, wären ohne Fotografen und Fotografinnen aus der Steinert-Schule kaum denkbar. Viele von ihnen wurden zudem erfolgreiche Hochschullehrer.

Hier einige bekannte Namen von Steinert-Schülern: André Gelpke, Guido Mangold, Harry S. Morgan, Arno Jansen, Bernd Jansen, Heinrich Riebesehl, Dirk Reinartz, Adolf Clemens, Detlef Orlopp, Erich vom Endt, Monika von Boch, Vicente del Amo, Kilian Breier, Harald Boockmann, Ute Eskildsen, Timm Rautert.

  • Ausstellung „Otto Steinert. Absolute Gestaltung“, Museum Folkwang, Museumsplatz 1, 45128 Essen. (Navi: Bismarckstraße 60)
  • Bis  28. Februar 2016. Geöffnet Di+Mi 10 – 18 Uhr, Do+ Fr 10 – 20 Uhr, Sa+ So 10 – 18 Uhr. Mo geschlossen
  • Geöffnet Neujahr, Karfreitag, Ostersonntag, Ostermontag, 1. Mai, Christi Himmelfahrt, Pfingstsonntag, Pfingstmontag, Fronleichnam, Tag der Deutschen Einheit, Allerheiligen, Totensonntag, 26. Dezember, 28. Dezember 2015
  • Geschlossen Rosenmontag, Heiligabend, 25. Dezember, Silvester
  • Besucherinfo Tel. 0201 8845 444
    info@museum-folkwang.essen.de
  • Der Eintritt in die ständige Sammlung im Museum Folkwang ist an allen Öffnungstagen frei. Ermöglicht wird dies durch die Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.
  • Folgende Ausstellungen sind im freien Eintritt inbegriffen:
  • Sammlung Goetz. 12 Monate / 12 Filme (bis 1. Mai 2016)
    Los Carpinteros. Helm/Helmet/Yelmo
    (seit 15. November 2014)
    Otto Steinert. Absolute Gestaltung
    (bis 28. Februar 2016).



Der Drucker der Herzen – Jim Dine schenkt dem Essener Museum Folkwang 230 Werke

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So sieht er aus: Jim Dine in einem Selbstportrait als Pinocchios Meister Geppetto (Lithographie, 2006). (Foto: Museum Folkwang//VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Er ist der Mann mit den Herzchen. Sie haben ihn weltberühmt gemacht, die Lithographien mit den meist farbenfrohen, optimistischen, manchmal auch durchnumerierten Liebes- und Lebenssymbolen. 1970 schuf Jim Dine seine „Dutch Hearts“, und seitdem gingen sie, vieltausendfach gedruckt, um die Welt. Doch das Oeuvre des amerikanischen Künstlers ist natürlich viel, viel größer, wie jetzt eine Ausstellung im Essener Folkwang-Museum zeigt: „Jim Dine – About the Love of Printing“.

Der Titel der Ausstellung sagt es: Jim Dine liebt den Druck, genauer, die Verwendung von unterschiedlichsten Druckverfahren in seinen Arbeiten. Kaltnadelradierung, Siebruck, Holzschnitt, Lithographie sind gängige Techniken, aber einige Verfahren sind so speziell, dass nur Experten sie kennen, den Kartontiefdruck zum Beispiel oder den Glacié-Tranféré-Druck.

Dine druckt nicht selbst, sondern arbeitet mit den, wie er sagt, besten Druckern der Welt zusammen. Und warum? Nun, antwortet ein sichtlich aufgeräumter, mittlerweile 80-jähriger Künstler bei der Präsentation seiner Ausstellung in Essen, wegen der Geselligkeit natürlich. Malen sei eine einsame Beschäftigung, die Zusammenarbeit mit guten Druckern jedoch überaus angenehm. Da könne man mit jemandem reden, alle seien beim Schaffensprozess gleich wichtig, und „Ich mag meine Freunde“. Sagt Jim Dine und scheint dabei ein ganz klein bisschen zu schmunzeln.

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Quasi ein Nachzügler. „Big Wall of Hearts“ von 2002, ein handkolorierter Holzschnitt (Foto: Museum Folkwang/VG Bild-Kunst, Bonn, 2015)

Der künstlerische Nachlass

Daneben hat das Drucken den Vorteil, dass die meisten Arbeiten etwas weniger teuer sind, als es die Originalgemälde eines so berühmten Mannes wären. So konnte Jim Dine großzügig dem Folkwang-Museum 230 Arbeiten aus verschiedenen Schaffensperioden schenken. Sie bilden das Gros der Ausstellung. Doch was soll man davon halten? Hat sich der Künstler am Ende seine Ausstellung im renommierten Haus gekauft?

Das wäre gewiss eine unzulässige Unterstellung. Er sei, sagt Dine, im fortgeschrittenen Alter und wolle sein künstlerisches Erbe ordnen. Im Folkwang-Museum, beim Kurator Tobias Burg und auch beim Chef des Hauses, Tobia Bezzola, wisse er die Arbeiten in guten Händen. Eine Win-Win-Situation mithin.

Vorliebe für die Zentralperspektive

Mal bunt, mal schwarzweiß, mal asketisch nüchtern, mal aus Bild und Schriften bunt zusammengefügt – das Werk Jim Dines ist von Vielfalt geprägt. Indes fallen doch Vorlieben auf, etwa für die Zentralperspektive, die den Gegenstand des Bildes stets in dessen Mittelpunkt postiert, sei es ein Kopf, ein Herz oder eine antike Statue. Tauchen mehrere Bildelemente auf, so werden sie nicht auf der Bildfläche verteilt, sondern übereinander gelegt, beispielsweise in „9 Hearts from Nicolaistrasse“ (Digitaldruck mit Kaltnadel, 2009). Manchmal werden mehrere Bilder wie Kacheln montiert, beispielsweise die berühmten sechs Herzchen. Dann hat jedes seine eigene Zentralperspektive.

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Eins von den Bademantelbildern ist „Self-Portrait: The Landscape“ von 1969, eine Lithographie (Foto: Museum Folkwang/VG Bild-Kunst, Bonn, 2015)

Portraits im Bademantel

Früh schon befasste sich Jim Dine mit der plakativen Verbindung von Wort und Bild, etwa in der Lithographie-Serie „Car Crash“ von 1960. Das geschriebene Wort „Crash“ erleidet hier als sichtbares Element den Unfall, eine fast etwas verstörende Doppelung. In den Selbstportraits hingegen, die einen weiteren Schwerpunkt in Dines Werk bilden, ist lediglich dessen Bademantel zu sehen, als Stellvertreter des (nicht) Abgebildeten. Das Individuelle wird dem Betrachter vorenthalten, die erwartete Information nicht gegeben. Es scheint, dass Dine das Spiel mit wechselndem Zuviel und Zuwenig an Information liebt.

Von gediegener konzeptioneller Langeweile scheinen im nächsten Raum auf den ersten Blick die radierten Werkzeugbilder, Pinsel, Zangen, Sägen, Pizzaschneider, zu künden; doch betrachtet man sie länger, beginnen sie ein visuelles Eigenleben zu führen, schieben sich ihre bizarren Formen mit Nachdruck ins Bewusstsein des Betrachters. Dann werden sie fast ein wenig unheimlich, zumal der Künstler Schraffuren über sie legte und ihnen damit eine Aura von Unwirklichkeit gab.

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„The Venus Dances“, ein Holzschnitt von 2005 (Foto: Museum Folkwang/VG Bild-Kunst, Bonn, 2015)

Pinocchio macht alles anders

Antiken Skulpturen, weiblichen zumal, nähert sich Jim Dine mit großen Respekt und gesteht ihnen in seinem Reproduktionen der Serie „Glyptotek“ (Glacé-Transféré-Drucke, 1988) sogar eine echte Plastizität zu. Und dann taucht im nächsten Raum der untadelig gehängten Ausstellung plötzlich Pinocchio auf, ein buntes, quicklebendiges, keck die Augen rollendes und geradezu professionell animiertes Bürschchen, dem die Statuarik anderer Dinescher Motivwelten völlig fremd ist. Ihn habe die Erschaffung eines Menschen durch Menschenhand fasziniert, sagt der Künstler über diese 2006 entstandenen Arbeiten. Und keineswegs zufällig hat er Pinocchios Schöpfer Meister Geppetto seine eigenen Gesichtszüge verpasst. Der Künstler als Welt- und Menscherschaffer: eine schmeichelhafte Vorstellung, vielleicht auch nur ein frommer Wunsch.

Keine Themen mehr

Vor fünf Jahren schließlich, erzählt Jim Dine, sei irgendwie Schluss gewesen. Herzen, Antiken, Bademäntel, Pinocchio, all die Themen seien auserzählt gewesen. So habe er sich entschlossen, weiterzuarbeiten, ohne erneut thematisch zu werden. Die letzten Bilder, teilweise aus diesem Jahr, sind somit gänzlich ungegenständlich, um die anderthalb Quadratmeter groß und sehr farbenfroh. Es sind große Holzschnitte, die Jim Dine nach mehreren Druckvorgängen mit Farbe und unorthodoxen Materialien nachbearbeitet hat. „Holzschnitt mit Elektrowerkzeug-Abrieb“ beispielsweise ist eine Arbeit beschrieben, die einen erstaunlich konkreten Titel trägt: „Die Verpackung eines Sees aus Glas“. Wieder einmal ist die Bild-Text-Schere weit geöffnet; doch das Spiel mit Wörtern und Bildern gehört in Jim Dines Werk ja von Anfang an dazu.

  • „Jim Dine – About the Love of Printing“
  • 275 druckgraphische Arbeiten, eine dreiteilige Skulptur
  • Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1
  • Bis 31. Januar 2016
  • Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do+Fr 10-20 Uhr
  • Eintritt 5 €
  • Katalog (224 Seiten, Leinen) 28 €
  • Besucherbüro Tel. 0201 8845 444
  • www.museum-folkwang.de



Auf irgendeine Art naiv – „Der Schatten der Avantgarde“ im Essener Folkwang-Museum

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„Mädchen im Spiegel“ (1940) von Morris Hirshfield, 102×57 cm groß (Foto: VG Bild-Kunst/Museum Folkwang)

Als er sich 2012 vom Kölner Museum Ludwig verabschiedete, durchwehte ein Hauch von Schwermut die Räume. „Ein Wunsch bleibt immer übrig. Kasper König zieht Bilanz“, war die Ausstellung betitelt, mit der sich der prominente Kurator und bekennende Westfale nach 12 Jahren Leitungstätigkeit verabschiedete. Und das geneigte Publikum fragte sich, wie der Ausstellungstitel denn wohl zu verstehen sei: Bleibt der letzte Wunsch nun ein für alle Mal unerfüllt, oder wird er in den folgenden Jahren noch verwirklicht?

Wie es aussieht, trifft Letzteres zu. Kasper König hat (unter anderem in St. Petersburg) munter weiter kuratiert, hat bei Anke Engelke in der Talkshow gesessen und jetzt im Essener Folkwang-Museum eine Kunstschau realisiert, die doch Fragen aufwirft: „Der Schatten der Avantgarde – Rousseau und die vergessenen Meister“. Eine Ausstellung, von der man auch sagen könnte, daß sie typisch für König ist.

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Dieses „Untitled (Blue Man on Red Object)“ des ehemaligen Sklaven Bill Traylor entstand ca. zwischen 1939 und 1942. (Foto: Mike Jensen/Museum Folkwang)

Wo gehören sie hin?

Natürlich soll nicht verschwiegen sein, daß ein zweiter Kurator mit im Boot sitzt, eine gute Generation jünger als König und aus Dortmund gebürtig: Falk Wolf, der unter anderem auf eine mehrjährige Tätigkeit im Hagener Osthaus-Museum zurückblickt. Die beiden sind für das verantwortlich, was im großen, überaus flexibel gestaltbaren Saal des Folkwang-Museums nun zu sehen ist:

Acht Dschungelbilder des berühmten Zöllners Henri Rousseau, drum herum gruppiert Arbeiten von 12 Künstlerinnen und Künstlern, denen gemein ist, daß sie anders als Rousseau im etablierten Kunstbetrieb so recht keinen Platz zugewiesen bekommen haben: Camille Bombois, Adalbert Trillhaase, William Edmondson, Morris Hirshfield, Martín Ramírez, Séraphine Louis, Alfred Wallis, um einige zu nennen. Den einen oder anderen Namen hat man wohl schon einmal gehört, sicherlich den von André Bauchant, dessen eigentümliche Historienbilder einen der Präsentationsräume füllen.

Erich Bödekers Betonfiguren

Auch ein guter Bekannter aus dem Revier ist in die Auswahl geraten: Erich Bödeker, Bergmann aus Recklinghausen, der Figuren aus Beton schuf und sie anmalte. In Essen stehen Tiere aus einem Zoo, bekannt ist aber vor allem auch seine (in Essen nicht gezeigte) englische Königsfamilie, und Beton wählte Bödeker als Material, weil es ihm am haltbarsten zu sein schien. Da lag er leider falsch, und seine schlicht-feierlichen Gestalten mit ihrer geradlinigen Aura dauerhaft zu erhalten, ist ein großes kuratorisches Problem. Aber dies nur am Rande. Mehr oder weniger sind sie alle Autodidakten, kann das Etikett „naiv“ für ihre Arbeiten verwendet werden, und schließlich ist etlichen eigen, daß sie zeitlebens still vor sich hinbosselten, ohne aktiv den Austausch mit Gleichgesinnten zu suchen, sich gar als Avantgarde zu begreifen.

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Ein Esel des Recklinghäuser Bergmanns und Künstlers Erich Bödeker (Foto: Lothar Schnepf/Kolumba/Museum Folkwang)

Der malende Sklave

Der Tscheche Miroslav Tichý, der leicht bekleidete Frauen in Schwarzweiß fotografierte und dies wohl meistens unbemerkt tat, hat es in die Ausstellung geschafft, gleichermaßen Bill Traylor, 1853 in Benton, Alabama geboren und Sklave auf einer Baumwollplantage. Dort blieb er auch noch lange nach dem offiziellen Ende der Sklaverei. Seine chiffrenhaften, kargen Zeichnungen lassen an Höhlenmalerei denken, lassen dunkle Ahnungen von Gewalt und Unterdrückung aufsteigen und gehören in ihrer diffusen Bedrohlichkeit zu den stärksten Bildern der Ausstellung.

Der 1864 geborene Amerikaner Louis Michel Eilshemius hingegen liebte es, nackte pralle Frauen in freier Natur zu malen, und wenn ihm in einigen dieser Bilder die richtige Perspektive auf groteske Art entgleitet, wenn Köpfe wirken wie schief aufgeklebt, dann könnte man glatt eine Absicht dahinter vermuten. Aber sind „naive“ Maler absichtsvoll naiv? In jedem Fall machen schon die Arbeiten dieser drei Künstler deutlich, daß hier von den Kuratoren gerade nicht das Einende gesucht wurde, sondern die bunte Vielfalt.

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Den hungrigen Löwen, der sich auf eine Antilope wirft, malte Henri Rousseau zwischen 1898 und 1905. Foto: Fondation Beyeler/Robert Bayer/Museum Folkwang)

Räume im Raum

Einen inhaltlichen, formalen Bezug zu Rousseaus schlicht-schöner Weltsicht zu konstruieren, fällt trotzdem bei keinem der zwölf Ausgestellten (plus einigen Referenz-Gemälden von Delaunay, Modersohn-Becker, Picasso uns so fort) schwer. Dies ist zu einem großen Teil dem dritten Mann zu danken, der am Zustandekommen dieser Schau beteiligt war und den zu preisen Kasper König im Termin nicht müde wurde: Hermann Czech, Ausstellungsarchitekt, der auf der riesigen Fläche drei schräg stehende Raumgebilde verteilt hat, die Containern ähneln, das Werk jeweils eines Künstlers, einer Künstlerin präsentieren und die gesamte Schau räumlich sinnhaft strukturieren. Zudem gibt es durch Stellwände abgetrennte Bereiche, und alle so entstandenen Zonen haben einen Blickachsenbezug zu den berühmten Bilder des Meisters Rousseau. Ist wirklich nicht schlecht gemacht.

Kaspar König und Falk Wolf Museum Folkwang 2015 "Im schatten der Avantgarde"

Kaspar König (links) und Falk Wolf kuratierten die Ausstellung „Der Schatten der Avantgarde“ im Essener Folkwang-Museum. (Foto: Jens Nober/Museum Folkwang)

„Kuratorische Ratlosigkeit“

Man muß wohl ein alter Hase im Ausstellungsgeschäft sein, wenn man, wie Kasper König, freimütig von „kuratorischer Ratlosigkeit“ als Konzept spricht. Oder vielleicht eben auch als Nicht-Konzept, was aber auch wieder ein Konzept wäre.

Gefragt hatte man ihn, warum nicht auch Jean Dubuffet mit seiner „Art brut“ in der Ausstellung vertreten sei, oder Kunst von psychisch Kranken, oder „Tribal Art“ aus Asien, Afrika, Ozeanien. Hätte man alles machen können, hat man eben nicht (zumal Dubuffet Rousseau dann möglicherweise die Schau gestohlen hätte).

Sicherlich ist der Titel etwas schönfärberisch; der Begriff Avantgarde geht bei den meisten Gezeigten schlichtweg in Leere, und Meister kann man sie auch nicht alle nennen. In jedem Fall jedoch schafft diese Ausstellung eine Vielzahl von sinnvollen schöpferischen Bezügen, die in Ruhe noch bedacht sein wollen. Und zu Recht wirft sie die Frage auf, warum sich der etablierte Kunst- und Museumsbetrieb bei einigen der gezeigten Künstler mit deren systematischer Einordnung so schwer tut.

Kasper König 2017 in Münster 

Übrigens werden wir Kasper König spätestens im Sommer 2017 in Münster wiederbegegnen. Er arbeitet, wie er sagt, schon intensiv an der alle 10 Jahre stattfindenden Ausstellung „Skulptur.Projekte“ , die er jetzt zum dritten Mal plant.

  • „Der Schatten der Avantgarde – Rousseau und die vergessenen Meister“. Museum Folkwang, Essen, Goethestraße.
  • Bis 10. Januar 2016
  • 96 Gemälde, 65 Grafiken, 21 Fotografien, 2 Installationen, 20 Skulpturen = 204 Kunstwerke auf 1400 Quadratmetern.
  • Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do+Fr 10-20 Uhr.
  • Eintritt 8,00 €
  • Katalog 25,00 €
  • www.museum-folkwang.de



Die besondere Kraft des Körpertheaters – ein sommerliches Festival in Essen

Jos Houben

Die Kunst des Lachens: Jos Houben (Foto: Giovanni Cittadini Cesi)

In Großbritannien ist der Begriff „physical theatre“ eine feste Größe für alles, was sich bewegt, also weder reiner Tanz noch reines Schauspiel ist. Körpertheater – wenn man so will. Die Folkwang-Hochschule ist ein Beispiel für die Lehre dazu. Im Essener Maschinenhaus findet (erst) seit 2012 die „Internationale Plattform Physical Theatre“ statt.

Begründet wurden die Tage internationalen Ausdrucks von Fabian Sattler (Vorstand des Maschinenhauses) und Thomas Stick (Studiengang der Universität Folkwang). Unter dem Titel „Full Spin“ entstand eine Festivalatmosphäre, wie man sie sonst kaum noch kennt. Rund um den Ort der Veranstaltungen konnte man abhängen, KünstlerInnen treffen, mit anderen nach- oder vorbereiten. Alle eingeladenen Gruppen waren vor Ort und teilten ihre Erfahrungen mit dem Publikum, das überwiegend aus jungen Leuten bestand.

Vom 1. bis 5. Juli zeigten Gruppen aus ganz Europa, dass dieses „Genre zwischen den Stühlen“ inzwischen überall eine feste Größe ist. Interdisziplinär, multimedial – so nennen es die meisten Off-Theater noch in ihren Anträgen auf Förderung.

Ganz eigener „Stallgeruch“

Sie sind selten geworden, die Festivals mit einem eigenen „Stallgeruch“. Hier wird nicht der post-akademischen Versuchsanordnung gehuldigt, werden keine Forschungsansätze in Performances umgesetzt, sondern man erlebt pures Körpertheater, das es seit Jahrhunderten gibt und keinen Staub angesetzt hat. Im Gegenteil.

Physical Theatre in Essen

Pia Alena Wagner mit Ensemble (Foto: Mats Südhoff)

Das Gast gebende Institut ist naturgemäß auch vertreten. Nachwuchskünstler aus dem Studiengang Physical Theatre der Folkwang Universität der Künste zeigten zwei 35-Minuten-Stücke. Zum einen sah man einen Versuch, clowneskes Handwerk zu vermitteln, wobei sogar nicht vor der roten Nase zurückgeschreckt wird. Leider war dieses Spiel um einen Popcornautomaten in nostalgischem Kirmeswagenkitsch von einem technischen Fauxpas begleitet, der die agierende Akteurin in verzweifelte Improvisationen trieb. Eine gute Übung, kann an sagen, der Abend bleibt für sie unvergesslich. Am Ende brutschelten dann doch ein paar Maiskörnerchen.

Bewegungen mit Botschaft

Pia Alena Wagner zeigte im Anschluss ihr Stück „GUT“. Das war es auch. Vier Musiker in Bademänteln, auf Sessel flätzend, begleiten eine Text und Performance-Mischung mit der jungen Frau, die mit ihrem Bewegungsrepertoire immer wieder überraschte, die witzig und intelligent daher kam und es gar schaffte, eine Botschaft zu vermitteln: „Was ist gut? Was ist schlecht? Was ist mit der Menschheit los? Warum denke ich öfter darüber nach, ob ich gut aussehe, als darüber, was wohl mit Kindern in einer eingestürzten Textilfabrik geschieht? Aber was bringt es schon, sich zu zerfleischen? Zusammen sind wir stark! Oder geht es wieder nur um mich? Was zu tun ist? Keinen blassen Schimmer.“  Alles wirkte lässig – wie das gesamte Festival.

Was zum Lachen reizt

Ein Highlight war sicherlich die Soloperformance oder Lecture Demontration (oder wie immer man es nennen will) des Belgiers Jos Houben. Er bildet Schauspieler aus und berät Comedy- und Opernensembles, Zirkusschulen, Tanzakademien, Universitäten, Zauberer. Seit 2000 ist er Ausbilder an der »École Jacques Lecoq« Paris. Er zeigt in seiner Show Mittel, die zum Lachen führen, einfach, archaisch, allesamt nicht neu und dennoch verblüffend, als sähe man diese Slapstick oder Situationskomik zum ersten Mal. Erfrischend einfach und mit großer Wirksamkeit zeigt der schlaksige Mann, wie leicht es ist, die Lachmuskeln zu animieren, wenn man es kann, wenn man Menschen beobachtet und eine Bewegungstechnik hat, die die kleinen Unfälle des Lebens zu einer großen Story machen kann.




Wärter im Museum Folkwang oder: Höchste Zeit für eine Frühwarnkultur im Kunstbetrieb

Ausgerechnet in Duisburg, der Stadt nahtlosen Mannesmann-Rohrs, sagte Oberbürgermeister Link im Sommer überraschend das Vorhaben einer begehbaren Röhrenskulptur ab. „Totlast“ hätte das sinistre Werk Gregor Schneiders heißen sollen. Dem OB (link-für-duisburg.de) schwante aber, Duisburg sei nach der Loveparade-Katastrophe „noch nicht reif für ein Kunstwerk, dem Verwirrungs- und Paniksituationen immanent sind und welches mit dem Moment der Orientierungslosigkeit spielt“. Verstörend-anakoluthe Sätze eines Kunstliebhabers und diplomierten Verwaltungswirts, der gern offen über das spricht, worüber er noch nachdenkt.

Blick aufs Musum Folkwang (Foto: Gerd Herholz)

Blick aufs Musum Folkwang (Foto: Gerd Herholz)

Aber vielleicht hat er irgendwie sogar Recht, der Link. Man sollte überhaupt viel mehr Kunst verbieten, zuallererst eben solche, die noch gar nicht zu sehen ist. Das wäre am einfachsten (außer in Duisburg) und man hätte oft das Schlimmste vermieden, bevor es einträte. Nebenan in Essen hinkt man da allerdings etwas hinterher. In der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 existiert leider immer noch real existierende Kunst. Umso wichtiger, dass das Folkwang-Museum jetzt seine Besucher endlich davor warnt, sich solche Kunst näher anzuschauen. Obwohl genau dieses Museum selbst sie ausstellt, im Rahmen seiner Schau „Monet, Gauguin, van Gogh – Inspiration Japan“. (Übrigens soll man „van Choch“ sagen und nicht „van Goch“. Jedenfalls spricht einem das Julia Roberts auf dem Audioguide so vor. Wie auch immer – ich könnte sowieso stundenlang nichts als Julias Hear-Alike hören, ohne mir auch nur ein einziges irritierendes Bild im Folkwang genauer anzusehen. Ich glaube, Sören Link wäre das recht.)

Ganz am Ende der „Inspirations“-Ausstellung findet sich ein kleines Kabinett mit dem schönen Titel: „Die Kunst ist niemals keusch“ – Picasso und der erotische Japonisme. An beiden Zugängen zum Kabinett warnt dann jedoch ein zweisprachiges Hinweisschild: „Einige Kunstwerke können aufgrund ihres erotischen Charakters irritierend wirken. The erotic nature of some works on display here may cause offence.“

Ich jedoch weiß wirklich nicht, was mich mehr offenzt. a) Die Tatsache, dass man im Ernst argwöhnt, heute eher harmlos wirkende Erotika könnten etwa jene über 12-Jährigen kopfscheu machen, die längst auf YouPorn surfen und ihre Nacktbilder online stellen. Oder b) die Gouvernanten-Haltung, die aufscheint hinter der Annahme musealer Sittenwächter, man müsse die Betrachter von Picasso-Radierungen und Japan-Farbholzschnitten schützen vor den mutmaßlichen Nebenwirkungen von Kunst. Mal ehrlich: Hält man den durchschnittlichen Besucher des Museums für psychisch gefährdet oder bloß für doof? IQ gerade über Zimmertemperatur?

Wahrscheinlich. Denn ich Idiot wähnte bis dato, Kunst solle genau dies auch: irritieren, subversiv sein, avantgardistisch, widerständig! In Essen aber taucht man die erotischen Kleinformate ins (durch eine Extra-Raumdecke) leicht abgedunkelte Licht von Raum 12 und hofft wohl, dass keiner sie dort findet. Ist aber nicht so. Gleich zwei gestandene Damen im Ulla-Popken-Übergrößen-Look waren gemeinsam mit mir im halbverschatteten Dark Room des Folkwang. Angesichts altjapanischer Ferkelei von Hokusai, Eishi oder Utamaro spöttelten sie bloß: „Die wussten damals auch schon, wie’s geht, nä?“ Und dann schlenderten sie vollkommen unirritiert weiter, einfach so. Ein Benehmen haben die Leute! Und erst die beiden amüsierten jüngeren Frauen, die um die Ecke bogen, als ich das Kabinettchen gerade verließ: „Hier trifft man die meisten Männer!“ Ich (auflachend): „Ne, ne, zählen Sie mal durch.“ Die Frauen (lachend): „Sorry.“

Warum auch künstlich aufregen. Auf den japanischen Farbholzschnitten sieht man Paare (+ Sonder-Konkubine) rund ums Vögeln – und es scheint ihnen halbwegs Spaß zu machen. Was nun aber mich etwas wundert. Denn die meisten stecken noch in voller Kimono-Montur – nackt nur die wuchtigen Geschlechtslandschaften – und so mancher Beischläfer scheint auch arg verrenkt. Vor allem aber sieht man für die verhältnismäßig kleinen – oder muss man politically correct sagen: vertikal herausgeforderten? – japanischen Menschen sehr prächtige Penisse und pralle Vaginen. Die Vaginen übrigens behaart – das allerdings könnte einen heute in der Tat sehr wundern, so kennt‘s kaum einer der Jüngeren mehr. Fazit: All das im Kleinen großartig, nicht aufdringlich, lebendig halt, voller Saft, Kraft, Farbe und gediegener Komposition.

Die Museumsleitung besteht aber nun einmal öffentlich darauf – hoffentlich nicht bedingt durch eigene Traumata –, präventiv dafür Sorge zu tragen, dass der labile Besucher keinerlei sexuellen Schaden nehme. Deshalb die beiden deutschenglischen Mini-Menetekel an der Wand, die allerdings – fahrlässig genug – auf anderssprachige Besucher keinerlei Rücksicht nehmen.

Und auch sonst werden Folkwangs nicht einmal ihrer eigenen Logik gerecht. Wenn sie schon Beipackzettel wider fahrlässigen Bildkonsum an die Wand pappen, dann bitte radikaler. An der Außenfront des Kunsttempels fehlen deutliche Mahnungen wie „Schauen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu“, oder „Erhöhter Pigmentgenuss in der Schwangerschaft gefährdet Ihr Kind!“ und ergänzend gleich: „Hier finden Sie Hilfe, wenn Sie Museumsbesuche aufgeben wollen. Tel.: …“

Außerdem müsste man jeweils Handicap-bezogene Banderolen direkt auf den Werken anbringen. „Diese Giacometti-Skulptur kann die Gefühle von Magersüchtigen verletzen.“ Auf einem Botero oder bei Stillleben mit Früchtetellern müsste man natürlich ganz anders argumentieren. Egon Schieles „Schwarzhaariges Mädchen mit hochgeschlagenem Rock“ könnte man an sehr geeigneter Stelle so überkleben: „Austherapierte! Überwunden geglaubte Neigungen können durch Anschauen dieses Werkes erneut auftreten“.

Ach, es gäbe noch so viel zu verkleben. Denken Sie nur an all jene, die heute überall bereitstehen, sich jederzeit ihre religiösen Gefühle verletzen  zu lassen. Ich sage nur: Salafisten! Die muss man auf jeden Fall vor Kunst schützen. Etwa vor Max Ernsts „Die Jungfrau züchtigt den Jesusknaben vor drei Zeugen“. Wie wär’s mit folgendem Hinweis: „Die prügelnde Madonna könnte aufgrund ihres gewalttätigen Charakters irritierend wirken. Maria/Maryam steht Ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach im Paradies als von höherer Stelle zertifizierte Jungfrau dennoch weiterhin zur Verfügung.“

Nicht nur im Folkwang-Museum also gäbe es alle Hände voll zu tun für eine politisch korrekte Frühwarnkultur im Kunstbetrieb. Ich persönlich träume darüber hinaus seit einigen Nächten von einer Art cleanem Wohlfühl-Museum – analog zu den staubfreien Produktionsstätten der Mikrochip-Hersteller. Politisch korrekte Kunst im sterilen Reinraum mit milbenfreiem Interieur, völlig irritations- und konfliktfrei. VolxWangAnWang-Museum. Das wär’s. Sogar für Allergiker.




Als Japan den Westen betörte – eine schwelgerische Schau im Museum Folkwang

Es ist mal wieder eine dieser Prunk- und Prachtausstellungen des Essener Folkwang-Museums. Seit das Haus Projekt-Partnerschaften mit dem potenten Sponsor e.on (vormals Ruhrgas) pflegt, gibt es solche Schauen mit schöner Regelmäßigkeit. Praktisch immer sind die üblichen Heroen der Klassischen Moderne mit dabei, deren namentliche Signalwirkung weithin ausstrahlende Events garantiert. Diesmal lautet der Titel: „Monet, Gauguin, van Gogh… Inspiration Japan“.

Kitagawa Utamaro: "Die Kurtisane Kisegawa aus dem Matsubaya". Mehrfarbiger Holzschnitt, (© Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst)

Kitagawa Utamaro: „Die Kurtisane Kisegawa aus dem Matsubaya“. Mehrfarbiger Holzschnitt, (© Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst)

Es geht um Japonismen, also japanische Einflüsse in der französischen Kunst, die damals mit der globalen Kunsthauptstadt Paris den Ton angab. Der Betrachtungszeitraum reicht im Wesentlichen von 1860 bis 1910. Das Thema wird mit 400 Werken (davon 65 Gemälde) in zwölf Kapiteln entfaltet, denen zwölf Räume entsprechen. So weit das dürre Zahlenwerk.

Doch so nüchtern bleibt es wahrlich nicht. Irgendwann erreicht man den Gipfel des Schönheitsempfindens: Grandioser, schwelgerischer Höhepunkt ist jener Raum mit den prächtig in Szene gesetzten Seerosenbildern von Claude Monet, dessen Garten in Giverny (Normandie) nach japanischen Vorbildern und mit japanischen Pflanzen angelegt worden war. Kein Wunder also, dass auch die künstlerische Gestaltung japanisierende Züge trägt, nicht zuletzt die serielle Arbeitsweise rührt von daher.

Claude Monat "Der Seerosenteich" (Öl auf Leinwand, 1899). The Metropolitan Museum of Art, H. O. Havemeyer Collection, Bequest of Mtrs. H. O. Havemeyer, 1929 (© Foto: bpk; The Metropolitan Museum of Art)

Claude Monat „Der Seerosenteich“ (Öl auf Leinwand, 1899). The Metropolitan Museum of Art, H. O. Havemeyer Collection, Bequest of Mtrs. H. O. Havemeyer, 1929 (© Foto: bpk; The Metropolitan Museum of Art)

Japonismen waren damals ein Hauptstrang der Kunstentwicklung. Alle Fluchtlinien des Rundgangs laufen gleichsam auf die Apotheose in Monets Garten zu. Ringsum wird anhand von allerlei japanischen und französischen Kunstwerken erwogen, wie die Einflüsse verlaufen sein könnten. Da begegnet man einigen Bildern wie etwa Vincent van Goghs „Sämann“ oder Gauguins „Frauen aus Arles“, die in Kunstlexika ihren festen Platz haben und auch Besucher aus der Ferne anlocken werden.

Es begann wohl mit der Öffnung und Modernisierung Japans sowie der nachfolgenden Japan-Mode, die ganz Westeuropa erfasste. Schon bald tauchten in französischen Gemälden japanische Kunstgegenstände auf – als betörende Zeichen eines luxuriösen zeitgenössischen Lebensstils, der sich alsbald nicht nur in den Alltag der „besseren Kreise“, sondern auch in die Kunst des Westens einfügte.

Paul Gauguin: "Frauen aus Arles" (Öl auf Jute, 1888). Mr. and Mrs. Lewis Larnes Coburn Memorial Collection, 1934.39, The Art Institute of Chicago (© Foto: The Art Institute of Chicago)

Paul Gauguin: „Frauen aus Arles“ (Öl auf Jute, 1888). Mr. and Mrs. Lewis Larnes Coburn Memorial Collection, 1934.39, The Art Institute of Chicago (© Foto: The Art Institute of Chicago)

Die charakteristischen japanischen Rollbilder, Holzschnitte, Masken, Fächer und Gebrauchsgegenstände (Teebehälter, Lackdosen usw.) zeichnen sich durch eine ganz eigentümliche Ästhetik aus, die durch Fremdheit fasziniert haben muss. Mal galt sie als rein und unverdorben oder auch roh, mal als raffiniert und sublim. Ihre zunächst irritierenden Weltbilder weichen jedenfalls deutlich von der europäischen Zentralperspektive ab. Ein und dasselbe Kunstwerk kann viele Blickpunkte nebeneinander haben. Solche Bilder sind nicht auf dreidimensionale Wirkung aus, sondern bleiben flächenhaft, wobei auch leere Flächen bedeutsam sind. Formen entstehen vielfach durch dekorative Arabesken und Ornamente.

Katsushika Hokusai: "Die große Welle vor der Küste bei Kanagawa" (Mehrfarbiger Holzschnitt, um 1831). Privatsammlung. (© Foto: Museum Folkwang)

Katsushika Hokusai: „Die große Welle vor der Küste bei Kanagawa“ (Mehrfarbiger Holzschnitt, um 1831). Privatsammlung. (© Foto: Museum Folkwang)

Hinzu kommen radikale Bildausschnitte, steile Draufsichten, extreme Bildformate, hohe Horizontlinien, kräftige Umrisse und eine besondere („unnatürliche“) Farbgebung. Das alles ist damals sicherlich den Tendenzen entgegen gekommen, die sich in der Moderne ohnehin abzeichneten und auf den Abschied von realistischer Abbildhaftigkeit hinausliefen. Die Impulse aus Japan dürfte den Prozess beschleunigt und intensiviert haben. Übrigens haben offenbar just jene Künstler die Anregungen am feinsinnigsten aufgegriffen, die niemals in Japan gewesen sind. Die wenigen Beispiele von Reisebildern aus Japan wirken demgegenüber geradezu uninspiriert. Es ging eben um Phantasie, nicht um Sightseeing.

Die Kuratorin Sandra Gianfreda hat sich vielfach auf Bestände des Folkwang-Museums stützen können. Schon Karl Ernst Osthaus, Begründer der anfänglich in Hagen beheimateten Sammlung, hatte erlesene Kunst mit japanischem Einschlag gekauft. Auch die von japanischen Künstlern (darunter z. B. die populären Meister Hokusai und Hiroshige) stammenden Exponate hat man jetzt nicht etwa aus japanischen Museen geliehen, sondern es sind überwiegend Stücke, die sich im Besitz französischer Künstler befanden. Das ist ja auch schon eine wichtige Frage: Wer konnte welche japanischen Arbeiten kennen? Wenn man weiß, wer was gesammelt oder sonstwie rezipiert hat, lassen sich auch die Einflüsse besser dingfest machen.

Edgar Degas: "Orchestermusiker" (Öl auf Leinwand, 1872 - überarbeitet 1874-76). Städtische Galerie, Städel Museum, Frankfurt/Main (© Foto: U. Edlemann / Städel Museum / Artothek)

Edgar Degas: „Orchestermusiker“ (Öl auf Leinwand, 1872 – überarbeitet 1874-76). Städtische Galerie, Städel Museum, Frankfurt/Main (© Foto: U. Edlemann / Städel Museum / Artothek)

Ansonsten besteht Frau Gianfreda darauf, dass es hier nicht etwa um einen kolonialistischen Blick der Europäer gehe („Japan war nie eine Kolonie“), sondern um (wertneutrale?) transkulturelle Vermittlungen. Überhaupt handle die Ausstellung „nicht von Politik, sondern nur von Ästhetik“. Ob man da auf eine Dimension verzichtet, die so manches noch ganz anders erhellen könnte?

Eine etwas schmale These der Schau lautet, dass sich französische Künstler nach und nach Motive und Duktus der japanischen Kunst anverwandelt hätten, bis dies sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen war. Hier beginnt freilich auch schon eine Schwierigkeit. Japanische Anregungen wurden, so scheint es, zuweilen dermaßen verinnerlicht und eigenschöpferisch fortgeführt, dass man sie kaum noch als solche ausmachen kann. Da droht das Thema der Ausstellung beinahe zu verschwimmen. Folglich verzichtet man auch auf direkte Gegenüberstellungen, sondern lässt das Thema teils im Ungefähren durch die Raumfolgen wabern.

Paul Cézanne: "Montagne Sainte-Victoire" (um 1890). Musée d'Orsay, Paris (© Foto: bpk / RMN - Grand Palais / Hervé Lewandowski)

Paul Cézanne: „Montagne Sainte-Victoire“ (um 1890). Musée d’Orsay, Paris (© Foto: bpk / RMN – Grand Palais / Hervé Lewandowski)

Ob und inwiefern sich etwa die luftig-duftigen Balletteusen eines Edgar Degas noch der japanischen Inspiration verdanken, ist wohl nicht ganz leicht zu belegen. Auch leuchtet nicht ohne weiteres ein, dass die Wellenbilder von Gustave Courbet auf Hokusais „Große Welle“ zurückgeführt werden können. Nun gut. In solcher Mehrdeutigkeit mag denn auch ein flirrendes Element der Spannung liegen.

Allerdings gibt es auch etliche entschiedene, sehr frappante Japonismen, seien es eine „Japonaiserie“ von van Gogh, ein zartes Blumenbild von Odilon Redon, Cézannes Ansichten der „Montagne Sainte-Victoire“, hinreißende Plakate von Pierre Bonnard und Toulouse-Lautrec oder die Holzschnitte von Félix Vallotton.

Einen erotischen Nachklang hat die Ausstellung auch noch. Reihenweise hat Pablo Picasso 1968 Erotika im quasi-japanischen Stil hervorgebracht. Da geht es freizügig „zur Sache“. Passende Kapitelüberschrift: „Die Kunst ist niemals keusch“.

„Monet, Gauguin, van Gogh… Inspiration Japan“. 27. September 2014 bis 18. Januar 2015. Geöffnet Di-Do 10-20, Fr 10-22, Sa/So 10-18 Uhr. Eintritt 13 Euro (ermäßigt 8 Euro). Führungen Tel.: 0201/201 8845 444. Katalog 39 Euro. Internet: www.inspiration-japan.de




Die Nabelschau des Karl Lagerfeld im Essener Museum Folkwang

Gerade konnte man die Erfolgsmeldung lesen: Der 50000. Besucher in der Karl-Lagerfeld-Ausstellung im Essener Museum Folkwang wurde gezählt, und das Museum freut sich besonders, dass so viele junge Zuschauer kommen. Im doppelten Sinne kann man sagen: Lagerfeld zieht die Menschen an.

Dabei macht das Thema Anziehen nur einen kleinen Teil der Schau aus. Mit Fotografie fängt es an – großformatig und bunt, und nicht immer hat KL selbst auf den Auslöser gedrückt. Wie es sich für seine Egonummer gehört, sieht man den Meister nicht selten selbst im Bild.

Buchkunst ist das zweite Thema, und da hat Lagerfeld aus den letzten fünf Jahrzehnten so einiges vorzuweisen. Gerade in der Inszenierung literarischer Vorlagen wie Goethes Faust oder Shakespeares Romeo und Julia, umgedeutet als Mode-Erzählung, zeigt sich die Kreativität des deutsch-französischen Selbstdarstellers.

Natürlich muss Mode den dritten Teil der Ausstellung ausmachen, und dazu gehören nicht nur seine Modelle und Fotos für die großen Schauen von Chanel und Fendi in Paris und anderswo, sondern auch die dazu gehörenden Kleider im Original.

Das Museum Folkwang ist ja schon um seiner selbst willen einen Besuch wert. Ob allerdings einem eher zweitrangigen „Künstler“ wie Lagerfeld eine derart umfangreiche Nabelschau gewidmet werden sollte, bezweifle ich persönlich. Manche weibliche Besucherin mag das ja anders sehen.

Fast peinlich wird es am Ende des Rundgangs, wenn KL zusammen mit dem Museum einen Raum inszeniert, in dem die Bücher ausgestellt werden, die er gerade liest, früher einmal gelesen oder in seiner privaten Bibliothek stehen hat.

Fehlt nur noch ein kleiner Altar mit Kerzen und Heiligenbildchen.

Karl Lagerfeld – Parallele Gegensätze. Museum Folkwang Essen, bis 11. Mai, Di-So 10-18 Uhr, Fr 10-22 Uhr. Navi-Adresse: Bismarckstraße 60.
Weitere Infos: http://www.museum-folkwang.de/de/ausstellungen/aktuell/karl-lagerfeld.html




Zwischen Weltgeltung, Utopie und herben Verlusten: Das Hagener Osthaus-Museum spürt seiner Geschichte nach

Hagens Osthaus-Museum nimmt jetzt die eigene Geschichte in den Blick – von den Uranfängen anno 1902 bis heute. Doch man geht dabei nicht streng geordnet vor, sondern gleichsam essayistisch, kursorisch, nach Art von Flanierenden.

Damit macht man aus der Not eine Tugend. Denn weite Teile der ursprünglichen Bestände sind ja nicht mehr zur Hand, so dass in einer bloßen Chronologie arge Lücken klaffen müssten. Bekanntlich sind die hochbedeutenden Kernbestände der Sammlung im Jahr 1922, nach dem Tod des Hagener Mäzens und Museumsgründers Karl Ernst Osthaus (1874-1921), nach Essen gelangt. Sie bildeten dort den reichen Fundus des heutigen Folkwang-Museums. In Essen frohlockten sie über den immensen Zuwachs, denn Osthaus hatte mit den Bilderschätzen (u. a. Renoir, Van Gogh, Cézanne) in Hagen ab 1902 das weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst begründet, und zwar gegen den herrschenden Ungeist der Zeit, in der Kaiser Wilhelm II. die Werke der Franzosen als „Rinnsteinkunst“ bezeichnete.

Die wirtschaftsmächtigen Essener konnten Osthaus’ Erben einfach mehr Geld bieten, als Hagen es vermochte. Auch Gerichtsprozesse ums Kunsterbe fruchteten nichts. Es war ein gigantischer Verlust, im Grunde bis heute nicht völlig zu verschmerzen. Hagen verfiel damals für Jahre in eine Art Schockstarre. Erst 1930 wurde mit dem Rohlfs-Museum wieder nennenswertes Neuland betreten. Doch diesen Künstler wiederum verfemten die Nazis bald darauf als „entartet“. Den Hagenern gingen in der Folgezeit rund 400 Werke von Christian Rohlfs verloren – nicht zuletzt durch Plünderung. Eine Sammlungsgeschichte mit Verlusten und Verwundungen.

Ferdinand Hodler: "Der Auserwählte" (1903, zweite Fassung), Öl auf Leinwand, © Osthaus Museum Hagen.

Ferdinand Hodler: "Der Auserwählte" (1903, zweite Fassung), Öl auf Leinwand, © Osthaus Museum Hagen.

Den zentralen Platz im Entrée der Ausstellung „Der Folkwang Impuls. Das Museum von 1902 bis heute“ nimmt nun Ferdinand Hodlers grandioses Gemälde „Der Auserwählte“ (1903) ein, das gottlob noch zum Hagener Besitz zählt. In diesem Kontext wird noch einmal überdeutlich: Das Werk sollte nie und nimmer verkauft werden dürfen, so sehr steht es für den lebensreformerischen Impuls der Anfangszeit. Zwischenzeitlich hatte es ja Gerüchte gegeben, dass Lokalpolitiker der überschuldeten Stadt Hagen auf einen namhaften Millionenerlös bei britischen Versteigerern spekulierten.

Karl Ernst Osthaus hat keineswegs nur Impressionisten und später Expressionisten gesammelt. Das Hagener Folkwang-Museum hat er sich ungleich vielfältiger vorgestellt. Er war offen auch für außereuropäische Schöpfungen. Von ausgedehnten Reisen, insbesondere in den Orient, hat er zahlreiche Kunstgegenstände mitgebracht, die jetzt großzügig präsentiert werden.

Gebrauchskunst in Handel und Gewerbe sowie Architektur gehörten gleichfalls zu seinen Vorlieben. Überdies hegte der Mann, der durch eine Erbschaft (nach heutigem Wert ca. 30 Millionen Euro, bei relativ moderaten Preisen auf dem Kunstmarkt) unabhängig geworden war, naturwissenschaftliche Interessen. Er besaß eine heute verschollene Kollektion mit Abertausenden von Schmetterlingen und Käfern. Besonders die Farbenpracht der Schmetterlinge hat Osthaus fasziniert. Mit all dem verfolgte er – im Zeichen eines gehörig erweiterten Kunstbegriffs – durchaus pädagogische Absichten. Kunst sollte das ganze Leben ergreifen und die Menschen durch Schönheit veredeln. Welch ein Impuls, welch eine Vision, welch eine Utopie!

Osthaus’ Lebensstationen und seine staunenswert vielfältigen Interessen werden nicht nur mit Kunstwerken, sondern auch anhand von zahlreichen Archivalien (Briefe, Dokumente, Fotos, Plakate etc.) belegt, denn immerhin zählt seit 1963 das Osthaus-Archiv zum Hagener Bestand. Wohl noch nie wurde es für eine Ausstellung derart gründlich ausgewertet wie jetzt durch den emsigen Kurator Christoph Dorsz.

Mit der auf 2300 Quadratmetern in Alt- und Neubau weit ausgreifenden Schau würdigt man zwar zwangsläufig auch die großen Gründungsjahre von 1902 bis 1922, als hier ein veritables Weltmuseum entstand, doch weitet man die Perspektive. Schließlich ist auch in den „restlichen“ 90 Jahren seither weiter gesammelt worden; nicht immer, aber doch wesentlich den frühen Folkwang-Impulsen folgend. Die bringen vor allem die Verpflichtung mit sich, ein waches Augenmerk auf die jeweilige Gegenwartskunst zu haben und dabei auch die örtliche und regionale Szene nicht zu vernachlässigen.

Nach 1945 hat die damalige Osthaus-Chefin Herta Hesse-Frielinghaus die verbliebenen Bestände durch Neuerwerbungen nach Kräften verdichtet. Nun wurden beispielsweise auch Arbeiten der Informel-Künstler, darunter natürlich der Hagener Emil Schumacher, gesammelt. Schritt für Schritt kann man an ausgesuchten Beispielen die Genese des heutigen Eigenbesitzes verfolgen.

Hier kommt einiges am passenden Platze zusammen. Es wird etwas vom Geist des Gründervaters spürbar, je mehr man in die Dokumente eintaucht. Auch Facetten des allgemeinen Zeitgeistes lassen sich erahnen. Und schließlich waltet der Geist des Ortes, vor allem im imposanten Brunnensaal des Museums, dessen historische Zusammenhänge hier gleichfalls beleuchtet werden.

Die Ausstellung ist somit auch eine Selbstvergewisserung des jetzigen Teams um Museumsleiter Tayfun Belgin. Dem Bezug zur lokalen Szene etwa kommt man nach, indem auf Bilder der weltkriegszerstörten Stadt Hagen die Schwarzweiß-Fotos des jungen Hagener Fotokünstlers Andy Spyra folgen. Er hat den Folgen des irakischen Bürgerkriegs für die verbliebenen Christen nachgespürt. Was als thematischer Bruch erscheinen könnte, gehört in Wahrheit hierher. Auch die Dialoge mit den Rändern des Kontinents und mit nicht-europäischer Kunst will man bewusst weiterführen. 2010 war die Türkei an der Reihe, 2013 wird Korea folgen.

Mit dieser Ausstellung begibt sich das Museum auf Spurensuche nach seiner Identität. In Essen (das einige Leihgaben zu den 300 Exponaten beisteuert) hätten sie das wohl nicht in diesem Maße nötig. Aber gerade solche schweifenden Suchbewegungen können ja neue Wege im Gefolge der Traditionen weisen.

„Der Folkwang Impuls. Das Museum 1902 bis heute“. 21. Oktober 2012 bis 13. Januar 2013. Osthaus Museum Hagen. Museumsplatz 3 (Navigation: Hochstraße 73). Geöffnet Di/Mi/Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr. Katalog 19, 90 Euro. Eine Reproduktion der 1912 – also vor 100 Jahren – erschienenen ersten Hagener Folkwang-Katalogbroschüre kostet 4 Euro.
Internet: www.osthausmuseum.de




Rätselvolle Dingwelt ohne Menschen – Bilder von Christian Hellmich in Wuppertal

Wie wäre das wohl, wenn die Dinge sich zeitweise selbständig machen oder wenn sie gänzlich ohne uns existieren würden? Eine uralte Alptraum-Frage, die immer wieder auch die bildende Kunst umtreibt.

Auf den Bildern des Christian Hellmich (Jahrgang 1977), der ursprünglich Comiczeichner hat werden wollen, kommen menschliche Gestalten prinzipiell nicht vor. „Ich will kein leidendes Fleisch malen“, meint er dazu lapidar. In der Wuppertaler Von der Heydt-Kunsthalle hat Hellmich nun seine allererste Einzelausstellung in einem Museum, bestückt mit 35 Groß- und Kleinformaten. Der Künstler, 1998 bis 2004 Essener Folkwang-Student, heute in Berlin lebend, nennt (beträchtlich beschädigte) Ruhrgebiets-„Idyllen“ und trostlos kastenförmige, gründlich missverstandene Adaptionen der Architektur-Moderne als einen anfänglichen Quell seiner Bildphantasien.

Christian Hellmich: Treppe III (2007), Öl auf Leinwand, 151x391cm, Privatsammlung London/Von der Heydt-Museum, Wuppertal. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Christian Hellmich: Treppe III (2007), Öl auf Leinwand, 151x391cm, Privatsammlung London/Von der Heydt-Museum, Wuppertal. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Von Menschenhand geschaffene Objekte also sollen uns in Bann ziehen, irgendwo im Niemandsland zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit angesiedelt. In dieser irritierenden Zwischenwelt kann man die Dinge womöglich neu und anders anschauen. Architektonische Formelemente überwiegen zunächst, doch sie haben keinerlei funktionalen Sinn, sie sind aus ihren Bezügen gerückt oder gar entrückt. Global taugliche Bildtitel wie „Mushroomrock“ oder „The world is mine“ helfen nicht im erklärenden Sinne weiter, sie verstärken das Flirren noch. Neuerdings bevölkern vollends mysteriöse Objekte die Bildräume, die sich auch von der Architektur weit entfernen, ihre Zwecke nicht preisgeben, jedoch mit Selbstgewissheit auftreten.

In „schmutzig“ ausgeführten Randzonen der Bilder finden sich häufig Schleif- und Schabespuren als Zeichen verflossener Zeit. Was wir hier sehen, sind allenfalls Relikte einstigen Bauens und Herstellens, die oft in verwaschenen Verfallsfarben vor sich hin dämmern – bis dann und wann ein greller, beinahe schon aggressiver Kontrast sie gleichsam aufschreckt. All diese Konstrukte haben offenkundig „schon bessere Tage gesehen“, wie man so sagt. Doch vielleicht gibt es ja ein unverhofftes Erwachen aus diesem Schlummern der Dinge. Und was dann? „Wenn ich’s mit Worten erklären könnte, müsste ich’s nicht malen“, so der Künstler. Eine altbewährte Weisheit des Metiers.

Mit den Jahren hat Hellmich ein umfangreiches Fotoarchiv aufgebaut, aus dessen Motivvorrat er schöpfen kann. Auch die reichlich gefüllten Bildspeicher der Kunstgeschichte oder Trivialitäten wie etwa Discounter-Prospekte liefern gelegentlich dingweltliche Anregungen. Damit ist es freilich längst nicht getan. Die Vorlagen durchlaufen beim Malen etliche Wandlungsprozesse, beispielsweise rein gestische Phasen oder geometrische Impulse. Auch spielt der inspirierende Zufall mit hinein. Einzelne Bestandteile oder Module werden zwar der vorfindbaren Realität entnommen, jedoch auf eine Weise collagiert, dass sie jede Alltagslogik abstreifen. Der Betrachter wird hier nicht zum Bescheidwisser. Alles bleibt schrundig offen.

Christian Hellmich: "The World is mine" (2011), Öl auf Leinwand, 64x50 cm, Courtesy Tanja Pol Galerie, München. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Christian Hellmich: "The World is mine" (2011), Öl auf Leinwand, 64x50 cm, Courtesy Tanja Pol Galerie, München. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Museumschef Gerhard Finckh erblickt in solchen Arbeiten Anhaltspunkte dafür, dass eben doch noch nicht alles gesagt und gemalt worden ist, dass es mithin neue Horizonte gibt. Und er kann sich gut vorstellen, dass Hellmichs Museumsdebüt den Beginn einer beachtlichen Laufbahn markiert. Wir werden sehen.

Christian Hellmich. 24. Juni (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 7. Oktober 2012 in der Von der Heydt-Kunsthalle, Wuppertal-Barmen, Geschwister-Scholl-Platz 4-6. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 3 Euro, Katalog 15 Euro. www.von-der-heydt-kunsthalle.de




Schauspielhaus Bochum: Folkwang-Schüler präsentieren sich im „Spiel des Lebens“

 

Theaterrezension in exakt 150 Wörtern, Teil III:

„Spiel des Lebens“, Schauspielhaus Bochum, von Schauspielschülern der Folkwang-Universität der Künste

Text: Lutz Hübner, Uraufführung: 16.3.2012

 

Jeder hat 9 Minuten. Für Zauberei, Rampentricks oder den großen dramatischen Monolog. Für Tragik, Komik, tragische Komik. Und die Frage: Was – verdammt noch mal – wollen die Zuschauer eigentlich im Theater sehen?

Die Abschlussklasse der Folkwang-Universität spielt 2012 keinen Klassiker im Bochumer Schauspielhaus. Sie hat sich vom Star-Dramaturgen Lutz Hübner etwas auf die Leiber schreiben lassen.

 

Über der Bühne tickt die Uhr. Von „1:30:00“ bis zum Nullpunkt. Die Schauspielschüler spielen Schauspielschüler. Sind nervös, neidisch, notorisch übersehen oder auf der Suche nach sich selbst.

Wer sind sie heute? Wer in 20, 30 Jahren? Wer macht den Anfang, wenn das Kollektiv stockt und haspelt?

 

Und dann doch Antworten: Alles, was Theater ausmacht, auf vier Szenen reduziert. Coming of age. Boy meets girl. Who dunnit? Achievement.

Jeder präsentiert sich. Genial.

BÜHNENBILD Showtreppe. Nachbildung der Schauspielhaus-Kantine. Weniger = mehr.

SCHAUSPIELER Zehn. Zwischen herausragend und hinterdenohrennochetwasgrün.

KOSTÜME Charakterisieren die Typen. Karikieren die Klassiker.

TEXT Entlarvend. Humorvoll.

 

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