So fern und doch so nahe: Philippe Jaroussky und Marie-Nicole Lemieux in der Philharmonie Essen

Venedig war die Opern-Hauptstadt des 17. Jahrhunderts. Sechs Theater rivalisierten um die Gunst des Publikums. Einer der führenden Komponisten für die unterhaltungssüchtigen Venezianer war Francesco Cavalli. Seine Opern wurden damals erwartet wie heute etwa der neueste Hit der „Toten Hosen“. Auf das Publikum wirkt diese Musik wieder faszinierend, nachdem sie 300 Jahre lang vergessen, ja verschmäht war. Künstler wie der Falsettist Philippe Jaroussky und sein Barock-Ensemble „Artaserse“ füllen Säle. Dem Reiz des künstlichen Klangs der Stimme, dem Farbenreichtum der alten Instrumente widersteht man nicht: Der volle Saal der Essener Philharmonie spricht dafür – selbst wenn ein Konzert der Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“ an einem sonnigen Sommermorgen reichlich deplaziert wirkt.

Jaroussky ist derzeit mit der Altistin Marie-Nicole Lemieux auf Tour. Mit ihr hat er im Mai mit einer Aufnahme von Vivaldis „Orlando Furioso“ den Preis der Deutschen Schallplattenkritik gewonnen. Gerade kam er von einem umjubelten Auftritt bei den Händelfestspielen in Halle, vorher sang er in Händels „Giulio Cesare“ in Salzburg. 2013 plant er ein Sabbatjahr, wird also in nächster Zeit – nicht nur in der Region – live nicht zu hören sein.

In Arien und Szenen aus Opern Cavallis zeigt Jaroussky eine vollere Stimme als früher, gefestigt im Klang, nach wie vor sicher in den Auszierungen. Der jungenhafte Charme von früher weicht allmählich, nicht aber die Aura des Besonderen. Sie lässt vergessen, dass Jarousskys weiße Stimmfarbe eigentlich besser in die ältere geistliche oder Kammermusik passt, ideal etwa zu Giacomo Carissimis „Rimanti in Pace“.

Der Franzose ist ein Phänomen: Kein anderer hat das Falsett so perfekt aufgebaut, bildet so klare, seidig schimmernde Töne, jagt seine Stimme so präzis über wahnwitzige Koloraturenketten hinweg. Wir wissen, dass der faszinierende Stimmklang der Kastraten nicht mehr einholbar ist, und es gibt überzeugende Gründe, viele für sie geschriebenen Opern-Partien heute mit Frauen zu besetzen: Resonanzen, Stütze und Farbenreichtum dürften dem klanglichen Ideal des entstehenden Belcanto näher kommen. Aber den Eindruck der reinen Kunst, der die Natur vollkommen zu gehorchen hat, vermittelt sich unserer Gegenwart eher durch das Singen hochspezialisierter Vokal-Akrobaten wie die „Countertenöre“. In den vergangenen dreißig Jahren hat sich deren Technik wesentlich weiterentwickelt: Mit den mühevoll intonierenden, unsicher sitzenden Stimmchen von einst haben sie kaum etwas gemein.

Jaroussky sticht unter ihnen durch seine Originalität und seine virtuos-fragile Stimme heraus. Ich halte ihn nicht für einen besonders geeigneten Opernsänger: Die weißliche, unter dramatisierendem Druck zum Grellen und Quietschigen neigende Stimme hat wenig musikalische Farben; ihr spitzer Ton wirkt nicht selten hysterisch, wo er kraftvoll und geflutet sein müsste. Das war in einem Duett aus Monteverdis „Incoronazione di Poppea“ deutlich vernehmbar, noch mehr in dem anzüglich-heiteren Zwiegesang zwischen Nymphe und Satyr aus Cavallis heute wieder wohlbekannter Oper „La Calisto“.

In Benedetto Ferraris Liebes-Belehrung „Amanti, io vi so dire“ zeigt sich das musikdramatische Geschick dieses venezianischen Komponisten und Impresario, aber auch die beschränkten Möglichkeiten seines Interpreten: Den Gegensatz zwischen „balordo“ und „Dio“ kann Jaroussky vokal nicht herausarbeiten; damit geht die pikante Aussage verloren, dass Amor eben ein Trottel statt ein Gott wäre, gingen alle so besonnen mit der Liebe um wie das singende Ich.

Jarousskys Partnerin auf dem Podium, Marie-Nicole Lemieux, kann dagegen mit abgründigem Alt und dramatisch auffahrenden Höhen dem Ideal der Oper eher entsprechen: Einer der ergreifendsten Sehnsuchtsgesänge der alten Oper, Monteverdis Klage der Penelope aus „Il Ritorno d’Ulisse“, gelingt ihr bewegend schön. In Cavallis „La Calisto“-Duett spielt sie gekonnt theatralisch die gewitzte Nymphe, die dem Werben eines kaum erblühten Satyr mit gespielter Unschuld wehrt. Wird die Musik kurznotig, witzig und flink, neigt Lemieux dazu, die Konsonanten zu „spucken“ und die Linie des Gesangs zu vergessen. Das passiert ihr auch in den erregten Momenten in Cavallis großer Szene aus „La Didone“. Doch wenn Hekuba ihre Klagen über das verlorene Troja anstimmt, sammelt sie ihre Stimme und führt sie in prachtvolle Contralto-Tiefen wie in eine locker ansprechende Höhe.

Das Ensemble „Artaserse“ begleitet diese emotional tiefgründige Szene mit den weichen, dunklen Farben der historischen Instrumente. Es nimmt nicht nur durch makelloses Spiel für sich ein, es zeigt auch ein sicheres Gespür im Dienst des Ausdrucks, denn für die meisten der Arien und Szenen des Konzerts notieren die Autographen keine näheren Anweisungen zur Besetzung des Orchesters.

Dass hier Könner am Werke sind, beweisen nicht nur die makellose Intonation und eine uneitle Phrasierung. Sondern auch der kluge, an der Aussage der Texte orientierte Wechsel der Klangfarben und die geschmackssichere Einsatz von Isntrumenten wie den Schalmeien oder der Theorbe – etwa in Barbara Strozzis Lamento „Sul Rodano severo“, einem Beispiel für den außerordentlichen Rang von Werken, die im 17. Jahrhundert von angesehenen Komponistinnen geschaffen wurden. Der Jubel im Saal galt nicht alleine dem exotischen Erlebnis Jaroussky, sondern auch den feinsinnigen Kostbarkeiten aus einer zeitlich fernen, uns aber wieder so wunderbar nahe gerückten musikalischen Welt.




Café zur Sehnsucht – Dortmund zeigt Francesco Cavallis Oper „L’Eliogabalo“

Eliogabalo (Christoph Strehl, M.) lässt sich von den Intriganten Zotico (Hannes Brock) und Lenia (Elzbieta Ardam) beraten. Foto: Jauk

Es war kein Geringerer als Claudio Monteverdi, der den 14jährigen Francesco Cavalli 1616 als Sänger an den Markusdom von Venedig holte. Und dieser junge Eleve wurde im Laufe des Jahrhunderts zum wohl berühmtesten venezianischen Opernkomponisten. „La Calisto“ oder „La Didone“ entpuppten sich als Glanzlichter der Spätrenaissance, mit Wirkung weit über Italien hinaus.

Cavalli hatte indes auch das Glück des Tüchtigen. Denn sein Aufstieg in Venedig ging einher mit einem Boom an Theatergründungen. 1637 eröffnete das Teatro San Cassiano, bald gab es bis zu sieben Spielstätten. Die Gattung Oper, ganz jung noch, gewann an Statur. Und Cavalli war einer ihrer wichtigsten Baumeister. Sein spätes Bühnenwerk allerdings, „L’Eliogabalo“, 1667 entstanden, sollte nicht mehr gefallen. Der Geschmack des Publikums wechselte schnell, das Werk geriet in Vergessenheit.

Es ist den Streitern für die „Historische Aufführungspraxis“ zu danken, dass uns Cavallis Opern erneut ins Bewusstsein gerückt sind. „L’Eliogabalo“ etwa brachte René Jacobs 2004 in Innsbruck heraus. Und nun hat sich das Theater Dortmund des Dreiakters um den dekadenten, lüsternen römischen Imperator Marcus Aurelius Antoninus (Heliogabal) angenommen. Frisch musiziert, in einer wunderbar unaufgeregten, bisweilen komödiantischen Inszenierung.

Die Geschichte über diesen Kaiser, der sich als Jugendlicher noch an die Macht putschte und mit 18 schon seine Mörder fand, hat Cavalli nicht als blutrünstiges Drama vertont, sondern als sorgsam gestaltete Abfolge von Gefühlsschwankungen und seelischen Nöten. Die Personen und Paare, die um den Sonnengleichen tanzen wie Gestirne, schwanken zwischen Liebe und Eifersucht, Loyalität und Abscheu.

Mit der Einführung eines Intrigantenpaars, eines buffonesken darstellerischen Elements also, begründete der Komponist zudem eine Tradition, die sich noch in Richard Strauss’ „Rosenkavalier“ wiederfindet. Als Buffo-Charakter mit philosophischen Anwandlungen ist darüber hinaus die Figur des Dieners Nerbulone zu sehen (den der Bassist Christian Sist herzerfrischend spielt und nuancenreich singt) – ein Typus, der seine Hoch-Zeit vor allem in den Opern Rossinis fand.

Gleichwohl hat Cavalli die kleinen Dramen der Hauptpersonen in den Vordergrund gestellt, die Regisseurin Katharina Thoma eindringlich nachzeichnet. Moderne Kostüme (Irina Bartels) symbolisieren dabei, dass die im Stück verhandelten Themen allgemeingültig sind. Und wenn auf der eigentlich spärlich möblierten Bühne, mit vielen hohen Portalen höfische Größe darstellend, eine Drehtür in eine kärglich bestuhlte Gaststätte führt (Ausstattung: Stefan Hageneier), dann entsteht vor unseren Augen das Café zur großen Sehnsucht.

Liebe und Lamento: Giuliano (Ileana Mateescu, l.) und Eritea (Tamara Weimerich). Foto: Jauk

Es ist in dieser leisen, dennoch berührenden Inszenierung wohl nur konsequent, dass Eliogabalo (markant gesungen von Christoph Strehl) sich nicht wie ein Tier, sondern eher in Don-Giovanni-Manier den Frauen (bisweilen auch den jungen Knaben) zuwendet. Beraten von den Intriganten Lenia/Zotico (Elzbieta Ardam und Hannes Brock als Urkomödianten) setzt er auf List und Tücke. Ein bisschen kläglich wirkt er dabei, alles andere als souverän.

Die Frauen, Eritea (Tamara Weimerich) zunächst, dann auch Flavia Gemmira (Eleonore Marguerre), wanken dennoch zwischen Hingabe an den Herrscher (mit der Aussicht, Kaiserin zu werden) und Treue zu ihren Liebsten. In der Mischung von rezitativischen Ausbrüchen, zweifelndem Lamentoso sowie inniger Liebeserklärung singen beide betörend schön und differenziert, wie auch ihre Partner John Zuckerman (des Kaisers Cousin Alessandro, Flavias Verlobter) und Ileana Mateescu (des Herrschers 1. Prätorianer, mit Eritea verlobt).

Dass selbst eine relativ kleine Rolle wie die der Atilia (unglücklich verliebt in Alessandro) mit Anke Briegel vorzüglich besetzt ist, gibt dem Dortmunder Intendanten, Jens-Daniel Herzog, in einem Punkt schon jetzt recht: Das beinahe durchweg neu verpflichtete Ensemble hat erhebliche Qualität. Die Dortmunder Philharmoniker wiederum, in kammermusikalischer Besetzung, um Cembalo/Organum (Andreas Küppers) und Theorbe/Barockguitarre (Johannes Vogt) klangfarblich bereichert, liefern unter der Leitung des Alte-Musik-Experten Fausto Nardi ein großartiges Beispiel feiner Gestaltung und rhythmischer Frische.

Eine durchweg gelungene Produktion also, deren Premiere aber leider vor halbvollem Haus stattfindet. Schon jetzt dürfte dem neuen Intendanten klar sein, wie viel es zur Publikumsbindung noch bedarf.

Infos zur Aufführung/Termine/Karten:

http://www.theaterdo.de/event.php?evt_id=1314&sid=4c1beb1c05cfcb34a811d02f849ce3de