Bereichernder Abend: Werke der Komponistin Lili Boulanger bei der Ruhrtriennale in Gladbeck

Die Bochumer Symphoniker mit Florian Helgath (Mitte) am Pult nach dem Konzert in der Maschinenhalle Zweckel. (Foto: Werner Häußner)

Wie war das mit komponierenden Frauen? Die Klagen über die Abwesenheit ihrer Werke klingen schon seit Jahren durch die gendersensiblen Räume, aber die Programme der etablierten Sinfonieorchester öffnen sich viel zu zaghaft, selbst wenn dirigierende Frauen am Pult walten – von den Opernhäusern ganz zu schweigen.

Dass ein beliebtes Argument, es gebe eben nicht ausreichend qualitätvolle Werke, so nicht gilt, demonstrierte ein Konzert der Ruhrtriennale in der weiträumigen Maschinenhalle der schon 1963 stillgelegten Zeche Zweckel in Gladbeck.

In dem seit 1988 denkmalgeschützten Industriebau mit seinen ungewöhnlich sorgfältig ausgeführten Baudetails – erwähnenswert ist zum Beispiel eine elegante eiserne Jugendstiltreppe – gestalteten das Chorwerk Ruhr und die Bochumer Symphoniker drei Konzerte mit einem Programm, das mit geistlicher Musik von Lili Boulanger überraschte. Das Motto „Schwerkraft und Gnade“ stammt aus einer 1948 erschienenen Textsammlung der Philosophin Simone Weil. Sie verwendet die beiden Begriffe als Metaphern: Die Schwere zwinge den Menschen in seinem Tun in eine ständige Abwärtsspirale, gegen die nur die Gnade das Licht der Erkenntnis und Hoffnung setzen könne.

Lili Boulanger auf einem Foto von 1912.

Lili Boulanger ist die jüngere Schwester der als Komponistin wie als Pädagogin bekannt gewordenen, 1979 mit 92 Jahren gestorbenen Nadia Boulanger. Lili war kein langes Wirken vergönnt. 1893 geboren, starb sie bereits mit 24 Jahren 1918 an Tuberkulose. In den elf Jahren, die ihr zum Komponieren vergönnt waren, gewann sie nicht nur als erste Frau 19jährig den Prix de Rome, sondern vollendete auch rund 50 Werke – die letzten diktierte sie ihrer Schwester Nadia, da sie selbst zu schwach zum Schreiben war.

Die beiden großen Vertonungen der Psalmen 129 und 130 entstanden mitten im Ersten Weltkrieg und wurden erst 1921 uraufgeführt. Es sind Klagelieder von tiefem Ernst, aber geprägt von Hoffnung und Zuversicht. Am deutlichsten jedoch formuliert ein altes buddhistisches Gebet – „vieille prière bouddhique“ – die Hoffnung auf Erlösung: „Möge alles, was atmet … den Schmerz überwindend und Glückseligkeit erlangend, sich frei bewegen, ein jeder auf dem Weg, der ihm bestimmt ist“, heißt es in jeder der vier Strophen.

Boulanger öffnet einen universal gedachten Raum in ihrer Musik, wenn sie die Spannung zwischen der Tiefe und der Höhe im Tonraum, im Timbre der Instrumente und in den Chorstimmen weit aufspreizt, den Grundton einer erhabenen Lyrik jedoch erst mit einer gewaltigen Fortissimo-Steigerung am Ende verlässt. Eröffnet wird diese Entwicklung in der dritten Strophe, die Timo Schabel ins blitzende Licht seines Tenors rückt.

Die Maschinenhalle der ehemaligen Zeche Zweckel in Gladbeck. (Foto: Werner Häußner)

Beim Chorwerk Ruhr unter seinem Leiter Florian Helgath begeistern ein weiteres Mal der reine und wandlungsfähige Klang, die sensible Artikulation, die freien, in der Höhe wie im Piano unverfärbten Frauenstimmen. Der Chor hat keine Probleme mit der tonalen, aber herb aufgerauten Harmonik Boulangers; er hält im Forte problemlos den Bläsern der Bochumer Symphoniker stand; er formuliert die dramatische Klage im Psalm 129 ebenso überzeugend wie die komplexen Klangmischungen des Psalms 130 und die ätherischen Vokalisen der hohen Stimmen im prière bouddhique.

Florian Helgath. (Foto: Ruhrtriennale/Christian Palm)

Die Bochumer Symphoniker werden in allen Gruppen erheblich gefordert; Lili Boulanger legt das harmonisch avantgardistische Geschehen ins Orchester und fordert, ob in dunklen Pianissimo-Clustern oder in wuchtigem Blech, in gläsern reibenden Streicherharmonien oder in fahlen Farben der Holzbläser, spieltechnisch Außerordentliches. Dies gilt auch für Francis Poulencs „Stabat Mater“, das wie zwei schlichte a-cappella-Kompositionen Igor Strawinskys – „Ave Maria“ und „Pater Noster“ – zwischen den Stücken Boulangers deren Modernität bestätigt. Die Bochumer und das Chorwerk Ruhr lassen die typischen, samtenen Disharmonien hören, die an Poulencs „Dialogues des Carmélites“ erinnern, setzen kräftige Akzente und gestalten die Betrachtung der schmerzhaften Mutter Gottes mit angemessener Dramatik. Ein durch und durch bereichernder Abend.




Selbsterlösung ins Ungewisse: Claus Guth inszeniert in Frankfurt Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“

Maria Bengtsson als Blanche in der Frankfurter Neuinszenierung von Francis Poulencs „Dialogues des Carmelites“. Foto: Barbara Aumüller

Als letzte Neuinszenierung in dieser so hoffnungsvoll verkündeten und so bitter ausgefallenen Pandemie-Spielzeit hat die Oper Frankfurt Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ angesetzt.

Intendant Bernd Loebe vertraut die aus zutiefst katholischem Urgrund erwachsenen „Gespräche der Karmeliterinnen“ mit Claus Guth einem Regisseur an, bei dem man sich, was immer er auch in die Hand nimmt, einer schlüssigen, zumindest aber auf hohem Niveau diskutierbaren Lösung sicher sein kann. In Frankfurt und im Falle der als Märtyrerinnen sterbenden Nonnen bleibt es bei der Diskussion.

Guth beginnt mit einem Bild: Martina Segnas abstrahierter Raum ist dunkel; ein Kubus mit geometrisch gegliederten und durchbrochenen Wänden erscheint ahnungsvoll im Hintergrund, in einem trüben Lichtband stehen gespenstische Schattengestalten. Poulencs Chormotette „Timor et tremor“ greift vor auf das Thema. Eine einsame Frau auf der Bühne wird zum musikalischen Beginn der Oper aus einer Pyramide gleich gekleideter Frauen herausgeschält: alle in Weiß und Gelb, als paraphrasierten die Kostüme Anna Sofie Tumas die Kirchenfarben Weiß und Gold. „Furcht und Schrecken kamen über mich“: Der Frauenchor setzt das Thema der Angst, den bestimmenden cantus firmus dieser Inszenierung.

Das ist nicht unberechtigt. Denn der emphatische, aber unorthodoxe Katholik Poulenc hat aus dem historische Stoff der Märtyrerinnen von Compiègne, wie ihn Gertrud von Le Fort in einer Novelle und Georges Bernanos in einem Filmdrehbuch adaptiert haben, keine katholische Erbauungsoper gemacht. Blanche de la Force, die einsame junge Frau, trägt die Stärke im Namen, flieht aber in die Stille des Klosters, streckt sich auf einem Podium mit der leuchtenden lateinischen Inschrift „Silentium“ aus. Ihre Angst ist nicht einfach die Angst eines Kindes vor Schreckgespenstern. Sie steckt tief: Ihr Bruder beschreibt sie als „Frost im Herzen eines Baumes“. Eine existenzielle Angst, die Blanche zur Vertreterin des Menschen schlechthin macht. Denn wer hat es nie erlebt, das namenlose Erschrecken vor dem Nichts, vor dem Fall in einen Abgrund, in dem nur noch bewusstloses Dunkel herrscht, in dem sich jeder Sinn und jeder Verstand auflöst?

Keine Politik, kein Christentum

Dass sie beim Eintritt in den Karmel den Namen „Schwester Blanche von der Todesangst Christi“ wählt, hat von daher seinen Sinn: Wir denken an die Nacht am Ölberg, als die Angst Jesus blutigen Schweiß auf die Stirne getrieben hat. An den Verlassens-Schrei am Kreuz. Das Kloster ist für Blanche der Raum des Glaubens, der Kraft, die dem Menschen Sicherheit geben kann. Dass auch dessen Gewissheit brüchig ist, macht der Tod der alten Priorin klar: Jahrzehnte lebte sie eine Existenz in Gebet und Gottsuche. Und nun spürt sie die entsetzliche Einsamkeit des Todes. Alle Zuversicht des Glaubens zerstiebt.

Für Claus Guth spielt wie für eine ganze Reihe von Regisseuren der letzten Jahre der Glaubens-Aspekt der Oper keine Rolle. Christliche Symbolik ist getilgt, Anspielungen auf eine Marienfigur oder ein Jesuskind sind religiös entleerte Chiffren psychischer Fremdbestimmung. Guth achtet auch nicht auf die möglichen politischen Konnotationen der Oper, wie sie etwa Andreas Baesler 2010/11 in Münster herausgearbeitet hat: Figuren wie der Diener Thierry, der die junge Adlige Blanche als riesiger Schatten im Schein einer Kerze zutiefst erschreckt, oder die Schergen der Revolution kommen als Funktionsfiguren unauffällig dunkel gewandet auf die Bühne.

Die Angst Blanches führt Guth auf ein „Urtrauma“ zurück: Ihre Mutter hat kurz vor ihrer Geburt in einem gewalttätigen Volksauflauf einen Schock erlitten und ist an der Frühgeburt gestorben. Die seelischen Last und die vergeblichen Fluchtversuche der jungen Frau macht Guth in eindrücklichen Bildchiffren sichtbar. Hochschwanger schreitet die Mutter stumm durch den Hintergrund, als Todesbotin kreuzt sie beim elenden Sterben der alten Priorin unübersehbar die Szene. Auch in der Mutter aller Gläubigen, Maria in blauem Gewand und goldenen Strahlen, verbirgt sich die alte Marquise de la Force mit ihrer Ancien-Régime-Robe – einen blutbefleckten Säugling im Arm, wie er vorher schon einer Sturzgeburt ähnlich vom Himmel geschwebt war. Bei der Aufhebung des Klosters werden die Funktionäre der Revolution die in einem Lichtband aufgebahrten Kindlein einsammeln und entsorgen – und Blanche lässt das letzte, den „kleinen König“ fallen und in tausend Scherben zerspringen, vielleicht ein erster Hinweis darauf, wie sich ihr Inneres von der Bedrückung der Angst zu lösen beginnt.

Ende einer Selbstfindungsreise

Guth geht so weit, das Kollektiv der Nonnen zu entpersonalisieren und zu einem Spiegel der unbewussten Seelenkräfte Blanches zu machen – etwa, wenn die Tänzerinnen in uniformem Blau in einem weißen Kasten – kein Schauplatz, sondern ein Innenraum – sich synchron bewegen, als wollten sie sich ein Messer in den Leib stoßen (Choreografie: Ramses Sigl). Auslöschungswunsch, Selbstbestrafung, Martyriumsbegehren? Alles spielt in solchen Bildern mit.

Ein Defizit dieser Konzeption ist, dass sie im dritten Akt den Konflikt mit der Revolution und die innere Auseinandersetzung des Konvents mit der Forderung nach dem Martyrium nicht sichtbar stringent einbinden kann. Umso überraschender dann das berühmte Finale, in dem die Schwestern eine nach der anderen zum „Salve Regina“ guillotiniert werden, die Stimmen immer weniger, der Gesang immer dünner wird, bis nur noch Blanche bleibt. Guth inszeniert die Szene als Ende einer „Selbstfindungsreise“: Die Frauen sind alle im gleichen Gelb-Weiß wie Blanche gekleidet, als seien sie Aspekte ihrer selbst. Eine nach der anderen stößt Blanche in eine Grube; das böse Zischen der Guillotine, von Poulenc in die Musik eingeschrieben, ersetzen Schläge des „Schicksals“-Hammers aus Mahlers Sechster Sinfonie. Blanche befreit sich von den Figurationen ihrer Angst; welchen Weg sie – allein und frei – weitergeht, bleibt offen.

Befreiung von den eigenen Schatten: Maria Bengtsson (Blanche de la Force) stößt eine der „Schwestern“ (Mirjam Motzke) in den Abgrund. Foto: Barbara Aumüller

Das ist eine beeindruckend entwickelte Konzeption, aber sie erschöpft sich in einem psychologischen Phänomen: Blanches existenzielle Angst ist auf ein Trauma zugespitzt und mit dieser Pathologisierung gleichzeitig relativiert. Der Sohn, der von den Toten auferstanden ist: In den letzten Worten Blanches bringt Poulenc das Hoffnungsprinzip zur Sprache, das den Nonnen die Kraft zur Selbstbehauptung, zum Widerstand und zum Sterben gibt. Für die Selbsterlösung ins Ungewisse braucht’s das nicht.

Hochkarätiges Sängerensemble

Mit Maria Bengtsson hat die Oper Frankfurt eine geradezu ideale Darstellerin der Blanche gewonnen: Sie strahlt die Mischung aus tiefer Verunsicherung und entschlossener Konsequenz aus, erfüllt die lyrischen Linien mit leuchtend satter Kraft, modelliert den Text deutlich und schwerelos. Elena Zilio hat als sterbende Priorin Madame de Croissy einen großen Moment, wenn sie in unbestechlicher Diktion ihre Verzweiflung hinausröchelt und von sich schreit. Ambur Braid zeichnet Madame Lidoine, die neue Priorin, mit ihrem locker strömenden Sopran als charakterstarke, reflektierte Frau. Claudia Mahnke, als langjähriges Ensemblemitglied der Frankfurter Oper nach der Premiere zur Kammersängerin ernannt, gibt der Mère Marie mit scharfer Bestimmtheit Züge einer innerlich gespaltenen, zum Fanatismus neigenden Persönlichkeit. Florina Ilie trägt in ihrem frischen Sopran die fröhliche Gewissheit und kindliche Weisheit der Sœur Constance.

Die Rollen für die Herren sind in dieser Oper allesamt weniger gewichtig – mit Ausnahme des Bruders von Blanche, dem Chevalier de la Force: Jonathan Abernethy gibt dieser Rolle Profil, wenn er im Gespräch mit seinem Vater (vor allem großstimmig: Davide Damiani) ein erstes Psychogramm seiner Schwester skizziert; auch wenn er vokal sehr bewusst und mit klug detaillierter Diktion das Gespräch mit Blanche im Kloster führt, in dem die Regie in die Kindheit der beiden rückblendet und sie in einer stummen Familienaufstellung agieren lässt.

Corona hat’s verschuldet, dass die volle Pracht der Orchestersprache Poulencs auf ein Musikerensemble von rund 30 Köpfen reduziert werden musste. Der Frankfurter Studienleiter Takeshi Moriuchi hat eine Kammerfassung erstellt, die beim Zuhören überzeugt und wichtige Schlüsselmomente der Partitur nicht schwächt, aber die großen Aufschwünge, die samtene Lasur zärtlicher Intimität, aber auch die kalkuliert gestalteten kühlen Momente nur begrenzt vergegenwärtigt. Den Frankfurter Orchestermusikern ist eine klanglich ambitionierte, aber nicht immer faltenfreie Wiedergabe zu verdanken; ob einige allzu dissonante Bläserstellen tatsächlich so gemeint sind, wäre nur durch einen Blick in Moriuchis Notentext zu entscheiden.

Die junge litauische Dirigentin Giedrė Šlekytė für so manche politurfähige Finesse des Klangs verantwortlich zu machen, verbietet sich, weil der Einfluss der Fassung nicht abzuschätzen ist. Anders ist es mit manchen breiten Tempi oder mit unscharfen Akkorden und Akzenten. Šlekytė bleibt auf dem Weg zu einer klanglich aufgerauten, Spaltklänge und geschärfte Modellierung suchenden musikalischen Sprache auf halbem Weg in Richtung Arthur Honegger oder Darius Milhaud stehen. Mag sein, dass dieses Bemühen mit einem vollen Orchester besser gelingt, mag aber auch bedeuten, dass die Möglichkeiten der kleinen Besetzung nicht genügend ausgereizt wurden. Auf jeden Fall bereichert diese Frankfurter Erstaufführung der 1957 uraufgeführten Oper das Repertoire des Hauses um eine wichtige Farbe und stellt in der Lesart von Claus Guth die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Glaube, konsequenter Immanenz und weiterführender Transzendenz wieder neu.

Letzte Vorstellung bereits am 14. Juli; 2021/22 keine Wiederaufnahme geplant: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/dialogues-des-carmelites/

 




Existenzielle Angst und Sicherheit im Glauben: Gelsenkirchen überzeugt mit Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“

Der übermächtige Schatten des Todes: Norigo Ogawa-Yatake als sterbende Priorin in "Dialogues des Carmélites" in Gelsenkirchen. Foto: Karl und Monika Foster

Der übermächtige Schatten des Todes: Norigo Ogawa-Yatake als sterbende Priorin in „Dialogues des Carmélites“ in Gelsenkirchen. Foto: Karl und Monika Foster

Blanche de la Force hat Angst, tief sitzende Angst. Die junge Frau trägt im Namen das Wort Stärke, flieht aber die Welt. Das Kloster sieht sie als Ort der Sicherheit. Aber die alte Priorin, die sie an der Pforte empfängt, lässt keine Illusionen zu. Man könnte Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ leicht für eine katholische Erbauungsoper halten, geprägt von der tiefen Gläubigkeit der Vorlage von Georges Bernanos (nach Gertrud von Le Forts Novelle „Die letzte am Schafott“), aber das würde zu kurz greifen.

Blanche hat nicht einfach Angst vor Schreckgespenstern wie ein Kind, ihre Angst erschöpft sich auch nicht in einem psychologischen Phänomen. Sie steckt tiefer, wie ein „Frost im Herzen eines Baumes“. Eine existenzielle Angst, die Blanche zur Vertreterin des Menschen schlechthin macht. Denn wer hat es nie erlebt, das namenlose Erschrecken vor dem Nichts, vor dem Fall in einen Abgrund, in dem nur noch bewusstloses Dunkel herrscht, in dem sich jeder Sinn und jeder Verstand auflöst?

Dass die Postulantin beim Eintritt in der Karmel den Namen „Schwester Blanche von der Todesangst Christi“ wählt, hat von daher seinen Sinn: Wir denken an die Nacht am Ölberg, als die Angst Jesus blutigen Schweiß auf die Stirne getrieben hat. An den Verlassens-Schrei am Kreuz. Das Kloster ist für Blanche der Raum des Glaubens, der einzigen Kraft, die dem Menschen Sicherheit geben kann. Dass diese Gewissheit nicht absolut ist, macht der Tod der alten Priorin klar: Jahrzehnte lebte sie eine Existenz in Gebet und Gottsuche. Und nun spürt sie die entsetzliche Einsamkeit des Todes. Alle Zuversicht des Glaubens ist zerstoben.

Ben Baur setzt auf konzentrierte, beziehungsreiche Szenen wie die Fußwaschung, die Mère Marie (Almuth Herbst) an der alten Priorin (Norigo Ogawa-Yatake) vollzieht. Foto: Karl und Monika Foster.

Ben Baur setzt auf konzentrierte, beziehungsreiche Szenen wie die Fußwaschung, die Mère Marie (Almuth Herbst) an der alten Priorin (Norigo Ogawa-Yatake) vollzieht. Foto: Karl und Monika Foster.

Diese Szene hat Regisseur Ben Baur in seiner Inszenierung der „Dialogues des Carmélites“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen sehr konzentriert, wie einen Spot im Raum, mit äußerster Sparsamkeit der Gesten und Bewegungen, aber mit beklemmender Wirkung gestaltet. Norigo Ogawa-Yatake drückt in diesem letzten Lebensschritt der Priorin Madame de Croissy, der mit einer Fußwaschung beginnt, den dunklen Aufruhr, den schneidenden Schmerz und den Protest gegen die hinfällige Verfasstheit des Menschen mit ihrer Stimme in bewegenden Facetten aus.

In solchen Momenten sind die Personen der Oper ganz bei sich, die „Außenwelt“ ist nur in Schatten wahrnehmbar. Das Volk, die Nonnen, der Diener Thierry (Zhive Kremshovski), der im ersten Bild Blanche erschreckt – sie sind nur riesige Schemen an der Wand. Baurs Bühne ist ein geschlossener Raum. Kalkbleich graue Wände, verblichenes Rokoko, eine – geplünderte? – Bibliothek, deren leere Regale nahelegen, dass die Weisheit der Bücher längst an ihr Ende gelangt ist. In diesem Raum entzündet Blanche beziehungsvoll eine Kerze.

Der Raum bleibt auch für das Kloster unverändert. Baur setzt nur wenige szenische Signale ein – Kerzen und eine Andeutung von Altar, ein Kruzifix, Stühle. Die Gespräche unter den Ordensfrauen, vor allem zwischen Blanche und der frohgemuten Constance, hält Baur frei von aller raumgreifenden Bewegung oder Gestik, reduziert auf wenige, wesentliche Signale. Dongmin Lee gibt der Sœur Constance, als deren Vorbild die heilige Therese von Lisieux gilt, einen Zug kindlichen Wissens, heiterer Beständigkeit und sanfter Selbstgewissheit.

Auf der Suche nach existenzieller Sicherheit

Bele Kumberger als Blanche liefert das fesselnde Porträt einer jungen Frau, die nach einem Ort sucht, der ihrer Existenz Sicherheit und Bedeutung gibt. Ihre lyrisch grundierte, zu müheloser Expansion fähige Stimme kann sie in der verhaltenen Kantilene so sicher führen wie im erregten Staccato, wenn sie sich mit Constances fröhlicher Unbeschwertheit auseinandersetzt. Die Worte sind meist deutlich modelliert, das Timbre kontrolliert geformt. Leuchtende Gewissheit und verschattete Ratlosigkeit gelingen im vokalen Ausdruck. Eine so klug wie intensiv durchgestaltete Figur in einer Rolle, die sich alles andere als von selbst erklärt oder gar spielt.

Auch die anderen Schwestern sind charakterstark dargestellt: Petra Schmidt singt eine Madame Lidoine mit heftigen Akzenten, Almuth Herbst hat als Mère Marie stimmschöne und expressive Momente; Silvia Oelschläger (Mère Jeanne) und Lina Hoffmann (Sœur Mathilde) geben ihren weniger prominenten Rollen dennoch Konturen.

"Ave Maria" im drohenden Schatten des aufziehenden Revolutionsmobs. Foto: Karl und Monika Foster

„Ave Maria“ im drohenden Schatten des aufziehenden Revolutionsmobs. Foto: Karl und Monika Foster

Den Raum bricht erst die Revolution auf. Die Wände sind nun offen, bieten keinen Schutz mehr. Die Außenwelt nimmt konkrete Gestalt an: Nach dem warnenden Gespräch mit Blanche wird ihr Bruder (Ibrahim Yesilay) draußen erschlagen und die Leiche weggezerrt. Das Todesurteil für die Schwestern verkündet ein blutüberströmter Scharfrichter. Für das szenisch herausfordernde Ende, den Tod der sechzehn Nonnen auf dem Schafott, findet Baur eine unspektakuläre, gleichwohl eindringliche Lösung, bei der die Kerzen als Lebenslichter eine entscheidende Rolle spielen. Baur verzichtet auch hier auf Naturalismus: Auf der schwarz verhängten Bühne leuchtet nur der Schriftzug Paris 17 juillet 1794 – das historische Datum, an dem die Nonnen des Karmels von Compiègne hingerichtet wurden.

Großer Tag für Chor und Orchester

Auch für Chor und Orchester des Musiktheaters im Revier war die Premiere ein großer Tag: Chordirektor Alexander Eberle hat die Szenen im Kloster, aber auch das bedrohliche Anrollen der revolutionären Massen mit fabelhaftem Gespür für die Raumwirkung einstudiert.

Rasmus Baumann leitet die Neue Philharmonie Westfalen in einer so packenden wie detailgenauen Wiedergabe der farbigen, tonale Grenzbereiche streifenden, zwischen zärtlicher Intimität und wuchtigem Aufschrei pendelnden Musik Poulencs, deren Qualität umso deutlicher wird, je öfter die Oper in den Spielplänen auftaucht. Das ist in den letzten Jahren erfreulich oft der Fall; in dieser Spielzeit stehen die „Dialogues des Carmélites“ noch in Aachen, Hannover – dort inszeniert Dietrich Hilsdorf und dirigiert der ehemalige Gelsenkirchener Kapellmeister Valtteri Rauhalammi – und Nordhausen im Spielplan, auch in Bologna, Caen und Paris wird die tragische Geschichte der Ordensfrauen von Compiègne gezeigt. Und das Musiktheater im Revier hat sich nach Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ erneut der Frage nach der Rolle des Glaubens im gesellschaftlichen Kontext gewidmet und damit auf ganzer Linie überzeugt.




Hochglanz am Klavier: Die gestylten Gebrüder Jussen spielen mit den Essener Philharmonikern Musik von Francis Poulenc

Inszenierter Glamour: Lucas und Arthur Jussen. Foto: Carli Hermes

Inszenierter Glamour: Lucas und Arthur Jussen. Foto: Carli Hermes

Arthur und Lucas Jussen werden zur Zeit mächtig gehypt. Ein wenig freundlich-verspielt, dann wieder lässig cool und mit gewagt dosiertem Sex-Appeal präsentieren sich die Brüder hochglanzumschimmert, um sich in der großen Schar der „Ausnahme“-Pianisten zu profilieren. Auch künstlerisch werden sie mit Marketing-Lorbeeren umkränzt und es werden ihnen Hymnen gesungen, bei denen man nie so genau weiß, welche Sätze aus einer PR-Abteilung kommen.

Die beiden stylishen Jungs scheinen gut in die Gesetze des Musikbetriebs zu passen: Ihr Auftritt in der Essener Philharmonie beim Sechsten Symphoniekonzert der Philharmoniker hatte eben jenen Touch jugendlicher Unbekümmertheit, mit dem man die beiden als dynamische Boys zwischen Teenie- und Erwachsenenalter vermarkten kann.

Sie brachten das d-Moll-Konzert für zwei Klaviere von Francis Poulenc mit, das sie auch auf einer vielgelobten Aufnahme bei ihrem marktmächtigen Plattenlabel eingespielt haben. Nicht gerade eine Wahl, die den Mainstream bedient, und von daher schon neugierig machend. Aber das Publikum wurde ja auch mit dem „Boléro“ zum Ende hin ohrwurmaffin getröstet.

Die Ravel’sche Apotheose des Rhythmus prägt auch den ersten Satz des Poulenc-Konzerts: Das üppig besetzte Schlagwerk trumpft erst einmal auf; seine heftigen Attacken und sein Puls dominieren auch die Exposition der Klaviere. Poulenc führt das melodische Element kaum über Floskeln und Episoden hinaus zu einer geschlosseneren, fassbaren Form.

Die Klaviere machen das Spiel zunächst mit, in der zweiten Satzhälfte aber wirkt es, als seien sie des rhythmischen Impulses müde. Se erheben sich über Pizzicati und Kastagnetten-Echos mit träumerisch in sich versunkenen, manchmal spieluhrenartigen, dann wieder quasi improvisierenden Abschnitten. Arthur und Lucas Jussen nehmen diese Momente kühl-versonnen, mit perlendem Spiel.

Dass ihre Koordination, ihr Einverständnis, ihre innere Verbundenheit makellos ist, zeigen sie spätestens im ausdrücklich mit Mozart verbundenen – sogar das d-Moll Konzert KV 466 zitierenden – Mittelsatz. Sie präsentieren die Melodie ohne romantischen Anflug, genauso distanziert wie Poulenc sie aufgefasst hat. Das Orchester sprengt bald das „klassische“ Maß und macht klar, dass wir uns nicht mehr am Ende des 18. Jahrhunderts befinden.

Im dritten Satz mit seinem Allegro molto und seinen rhythmischen Verspieltheiten zeigen die Brüder an den Flügeln endgültig, was sie können: Tempo, Agogik, Dynamik, Anschlagsfarbe wirken, als würde ein Geist und ein Gefühl in zwei Körpern agieren. Man wird sich auf die nächsten Auftritte der beiden Niederländer freuen dürfen: am 17. April in Münster, am 12. Juni in Hagen, am 17. Juni in der Philharmonie Essen und am 30. Juni in Köln.

Unter dem Dirigat von Jun Märkl eröffneten die Essener Philharmoniker das Debussy-Jahr – zum 100. Todestag des bahnbrechenden Komponisten der Moderne am 25. März – mit „En blanc et noir“, einem frühen Klavierstück, das von dem englischen Komponisten Robin Holloway 2002 für Orchester bearbeitet wurde. In gewisser Weise ein Missverständnis, denn der Neoromantiker Holloway instrumentiert zwar im Sinne früherer Orchesterwerke Debussys, lässt aber den schon im Titel angedeuteten Willen außer Acht, die Farben zu reduzieren.

Im Bezug auf die barocke französische Musik Rameaus und Couperins und mit Verweis auf die „Grisaillemalereien von Velasquez“ ging es Debussy bei dem 1915 im Krieg entstandenen Werk um Transparenz, Klarheit und eine gewissen Härte, wie sie im Schwarz-Weiß-Gegensatz ausgedrückt wird.

Ungeachtet aller raffinierten instrumentalen Details, von den Philharmonikern (Bassklarinette, Harfe, Horn, Trompete) liebevoll nachgezeichnet, ist es fraglich, ob das Stück so wirklich den „spirit of Debussy“ trifft, wie Holloway meint. Zu hören sind delikate und herbe Momente, von Märkl sorgsam herausgearbeitet, die aber dann doch eher an die wagnerischen und „impressionistischen“ Seiten Debussys erinnern.

Ja, die „Images“, die klangliche Malerei und Koloristik, die Debussy anstrebte, ohne sich die Parallelen zur bildenden Kunst allzu sehr anzueignen oder gar dem „Impressionismus“ als Stil zu huldigen – sie sind ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich Kunst-Debatten führen lassen, um zum Kern der Begriffe vorzustoßen. „Ibéria“ stammt aus den „Bildern“ für Orchester und greift – darin Ravels „Boléro“ verwandt – spanische Instrumente und Elemente der Folklore der iberischen Halbinsel auf, überträgt sie aber in ein kunstvolles Idiom, das jeden Gedanken an ein Imitat verbietet.

Die Essener Philharmoniker geben den „Images“ eine plastische Leuchtkraft, in der die Instrumente vom rhythmischen Tamburin bis zur ätherischen Fraktion von Harfe und Celesta brillieren können. Zum Schluss der „Boléro“: vorhersehbare Begeisterung im Publikum.