Chancen am Borsigplatz: Der soziale Ertrag des Bierbrauens und andere Aktionen

Bei „Public Residence: Die Chance“, einem künstlerischen Experiment in der Dortmunder Nordstadt, ging es um kulturelle Teilhabe und soziale Kreativität. Das Projekt endete im Mai, soll aber nachwirken. Gastautorin Isabelle Reiff, selbst Mitglied im eingetragenen Verein „Borsig11“, zieht eine Bilanz aus Veranstaltersicht:

„Das ist zynisch, dass Sie das hier machen!“ So begann ein längeres Streitgespräch, das der Künstler Frank Bölter mit einem Politiker der Linken auf dem Kleinen Borsigplatz führte. Anlass dazu bot eine eigenwillige Kunstaktion im Rahmen von „Public Residence: Die Chance“. Das Projekt basiert auf einer Kunstwährung, die an die Quartiersbewohner ausgegeben wird und echte Euros wert ist. Der Geldwert kann sich aber nur in einem gemeinschaftlichen Projekt entfalten.

Diese Bedingung hatten vorher die geldgebende Montag Stiftung und der austragende Verein „Borsig11“ gesetzt. Frank Bölter war also darauf angewiesen, bei den Nachbarn ganz verschiedener Façon und Herkunft den gemeinsamen Nenner zu finden. Und welcher war es dann? Die Liebe zum Bier!

Resultat einer speziellen Kunstaktion unter Anleitung von Frank Bölter: Selbstgebrautes vom Borsigplatz. (Foto: Frank Bölter)

Resultat einer speziellen Kunstaktion unter Anleitung von Frank Bölter: Selbstgebrautes vom Borsigplatz. (Foto: Frank Bölter)

Selber Bier zu brauen ist im Fahrwasser der US-amerikanischen Craft-Beer-Bewegung regelrecht zu uns herübergeschwappt: Immer mehr Menschen fangen hierzulande an, in ihrer Freizeit Bier zu brauen – in der Garage, im Kabuff oder Gartenhaus. Frank Bölter veranstaltete diese Arbeit open air im öffentlichen Raum und zwar an einem Lieblings-Treffpunkt höchst passionierter Biertrinker.

„Hinter jedem einzelnen, der hier den ganzen Tag rumsitzt und säuft, stecken Suchtkrankenakten, kaputte Familiengeschichten, gescheiterte Laufbahnen und Offenbarungseide. Und jetzt kommen Sie und wollen denen zeigen, wie man selber Bier braut!“, beschwerte sich der Lokalpolitiker, während Bölter damit zu tun hatte, Kastanien-Blätter aus dem Sud zu fischen, weil es an diesem Tag wieder so stürmte.

Während der Politiker sich echauffierte, als sei sonst niemand zugegen, mischten an dem Stunden währenden Brauvorgang nicht nur Leute mit, die den Kleinen Borsigplatz zu ihrer zweiten Heimat erkoren haben. Auch Nachbarn, eine angehende Diplom-Braumeisterin und Neugierige rebelten, schroteten und rührten.

Später tauchte noch Kurti auf: Im Knast habe er siebeneinhalb Jahre lang selbst immer Bier gebraut. Das Rezept könne er beim nächsten Mal mitbringen. Gerhard hatte in weiser Voraussicht Malzmyrrhe dabei. Er rühmte sich einer Zusatzausbildung zum Biersommelier. Peter packte nach Ablass des Suds wortlos den übriggebliebenen Brauteig ein und kehrte später unverhofft mit daraus gebackenen Brötchen zurück.

Für Bölter war es ein Etappenziel, „Menschen miteinander in Kontakt zu bringen, die sich sonst eher aus dem Weg gehen“. Mehr noch „gewinnt man beim Selberbrauen ein Stück weit die an die Sucht abgegebene Verantwortung für die eigene Person durch die gewonnene Portion Selbstermächtigung zurück“. Den Satz sollte man zwei Mal lesen. Ob der Politiker Orhan dann anders darüber denkt, den „Alkis“ vom Kleinen Borsigplatz das Bierbrauen beizubringen?

Alle Künstler während des Public-Residence-Jahres waren (wie vorher schon das Projekt „2-3 Straßen“) vor die schwierige Aufgabe gestellt, Menschen zu mobilisieren, die, was ihre erwerbsmäßigen Beteiligungschancen in dieser Gesellschaft angeht, die Hoffnung mehr oder weniger aufgegeben haben. Dass ihre Väter großteils nur wegen der Arbeit hierher zogen, steht auf einem anderen Blatt. Das Quartier um den Borsigplatz ist heute das mit der höchsten (Langzeit-)Arbeitslosigkeit in Dortmund.

Führung durchs Stadtquartier: Matthias Hecht alias Dr. h. c. Wilfurt Loose (vorn), dahinter (mit roter Kappe) Rolf Dennemann. (Foto: Isabelle Reiff)

Führung durchs Stadtquartier: Matthias Hecht alias Dr. h. c. Wilfurt Loose (vorn), dahinter (mit roter Kappe) Rolf Dennemann. (Foto: Isabelle Reiff)

Geblieben ist das gelernte Malocher-Verständnis von Arbeit: Arbeit kann nicht Spaß machen, ist Frondienst, bei dem ein anderer das Meiste verdient. Bildungslücken, fehlende Sprachkenntnisse, Schicksalsschläge (wozu auch das Wegziehen ganzer Industrien zählt) erschweren die persönliche Neuorientierung. Übrig bleibt das Gefühl, Opfer der Umstände zu sein, eben nicht seines Glückes Schmied.

Tradierte Sozialprogramme verstärken oft noch diese Selbstwahrnehmung. Können künstlerische Ansätze hier neue Perspektiven eröffnen? Auf dieser Überzeugung fußt das Programm der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft aus Bonn. Insgesamt 200.000 Euro hat sie für den Borsigplatz bereitgestellt: Der Betrag bildet die Basis der „Chancen“-Währung, außerdem wurde aus diesem Topf die Arbeit von sieben Künstlern bezahlt.

Sie kamen auf die Idee, Straßen umzubenennen, Gärten anzulegen, ein Repair-Café zu gründen. Es wurde öffentlich gekocht, getanzt, Theater gespielt. Ein bis vor Kurzem noch leer stehendes Ladenlokal ist jetzt ein beliebter Nachbarschafts-Treff (Oesterholz 103). Fortbestehen soll auch das Geschmacksarchiv, bei dem vergessene Rezepte nachgekocht werden, genau so die Jugend-Theatergruppe Kielhornschule. Einige im Quartier bieten jetzt sogar selbst Workshops an – vom Möbelbau aus Paletten bis zum Meditationskurs.

Aber viele machen auch nicht mit; umso mehr Chancen sind übrig geblieben – also Noten mit echtem Geldwert. Jeder Anwohner hat ein Anrecht auf 100 davon. Ungefähr die Hälfte hat ihre Chancen noch gar nicht ergriffen. Das bedeutet, dass viele, die rund um den Borsigplatz leben, immer noch Gelegenheit haben, sich auf etwas zu einigen, was sie in ihrem Stadtteil verwirklichen und dann gemeinsam mit denen ihnen zustehenden Chancen finanzieren wollen.

Ohne sehr viel Kommunikation und Überzeugungsarbeit kann das nicht gelingen. Jetzt müssen andere in die Lücke springen, die die Künstler hinterlassen haben. Einer ist immerhin hier geblieben, weil er seit 15 Jahren in der Oesterholzstraße wohnt: Rolf Dennemann hat als freischaffender Künstler, Autor, Regisseur und Schauspieler (und gelegentlicher Mitarbeiter der „Revierpassagen“) vorher schon Partizipationsprojekte angezettelt, in den Kleingärten in der Nordstadt zum Beispiel, auf dem Hauptfriedhof oder in einem Rentnerwohnblock in Essen. “Bitte kein Wasser runterschütten”, hieß eine der Aktionen.

Dennemann ist nicht der gefällige Typ, so einer „will auch nicht andere um Chancen anbetteln“. Dafür weiß er, wie das Quartier am Borsigplatz tickt. Er hat die Veränderungen, denen es unterworfen ist, über viele Jahre beobachtet. Und er kennt die wichtigen Protagonisten im Viertel. Ein klarer Vorteil gegenüber den kurzfristig zugezogenen Künstlern. Und so kommt die von Dennemann initiierte Stadtteilführung „Borsig-VIPs“ so gut an, das man ihm unaufgefordert Chancen zusteckt. Er hat sich dafür aber auch die stadtbekannte Annette Kritzler ins Boot geholt und Matthias Hecht, der alias Dr. h.c. Wilfurt Loose den Quartiersforscher zum Allerbesten gibt. Dennemann ist daher weiter auf „Spurensuche“, sammelt Geschichten und Erinnerungen von Anwohnern und deckt en passant die geheimen Berühmtheiten im Viertel auf.

Wenn die stadtbekannte Kritzler diese ehrenvollen Namen bei ihrer Führung sonor verortet und Loose das auch noch akademisch untermauert, kommt man kaum umhin, zu glauben, dass die östliche Nordstadt in Wirklichkeit voller öffentlichkeitsscheuer Stars steckt. Wahrscheinlich sind sogar noch längst nicht alle aufgespürt. Drum: Wer ungeahnte Anekdoten, verschollene Dokumente oder sonstige Quartiersgeheimnisse auf Lager hat, sollte Dennemann was erzählen. – Vielleicht ist der Borsigplatz in ein paar Jahren – weit über seine Bedeutung für den BVB hinaus – ein Stadtteil mit vielen Mythen und Legenden.




Chancen am Borsigplatz: Partizipative Kunst im Dortmunder Ghetto

Künstlerin Angela Ljiljanic  wohnt für ein Jahr am Dortmunder Borsigplatz und wundert sich...

Künstlerin Angela Ljiljanic wohnt für ein Jahr am Dortmunder Borsigplatz und wundert sich… Foto: Michael Scheer

Eine Stiftung gibt 200.000 Euro für ein Kunstprojekt am Dortmunder Borsigplatz. Die Hälfte wird in ein Spielgeld namens „Chancen“ eingetauscht und den Bewohnern geschenkt. Sie können damit ausschließlich in Kunst-Projekte zum Mitmachen investieren. Dazu leben vier Künstler ein Jahr lang im Viertel. Kann das gut gehen?

Frau Reinhold ist 85 Jahre alt. Sie hat eine Vorliebe für Gartenzwerge und den BVB, sie hegt und pflegt ihren Garten, sie mahlt Chilipulver aus Paprika, und wenn ein Hund an dem liebevoll bepflanztem Baum-Beet vor ihrem Erdgeschoss-Fenster sein Geschäft verrichtet, bittet sie den Hundebesitzer freundlich bis resolut, den Kot zu entfernen.

Um zu verstehen, wie Frau Reinhold Teil eines hoch dotierten Kunstprojekts wurde, muss man ein wenig ausholen. Die Geschichte hat zu tun mit Küchenkräutern und dem Konzeptkünstler Jochen Gerz, mit der Stiftung eines reichen Bauunternehmers und der Idee einer jungen Künstlerin. Im Zentrum der Geschichte: der Borsigplatz.

Der Borsigplatz in der Dortmunder Nordstadt hat viele Gesichter: Er ist der bekannteste Kreisverkehr in Dortmund. Ein Baudenkmal. Ein Ghetto. Die Wiege des BVB und der Ort, an dem noch immer die großen Siege gefeiert werden. Ein Platz, den früher 25.000 Arbeiter täglich passierten, um zur nahe gelegenen Westfalenhütte zu gelangen  – und heute der Dortmunder Bezirk mit der höchsten Arbeitslosigkeit. Ein Platz, an dem nach und nach alle dicht machten: Sparkasse und Deutsche Bank, Edeka und Aldi – und das, obwohl 10.000 Bewohner im Viertel leben. Sie stammen aus 132 Nationen. Etwa jeder Vierte ist arbeitslos – die Quote im Bezirk ist doppelt so hoch wie im Rest der Stadt.

Frau Reinhold wohnt seit 53 Jahren am Borsigplatz, genauer: an der Schlosserstraße, Ecke Dreherstraße. Die Mietwohnung gehörte früher Hoesch, heute der Wohnungsbaugesellschaft Vivawest. Ihr Mann war Lokführer bei Hoesch, auch die beiden Söhne: Hoeschianer. In den vielen Jahren, die sie in der Siedlung lebt, wurde aus dem großen Innenhof Frau Reinholds kleines Paradies, ein Paradies mit Blumenbeeten und Borussia-Gartenzwergen, mit Gartentischen aus Plastik und Kunstblumen darauf, mit Geranien auf den Fensterbänken zum Hof. Der Anblick vor ihrer Haustür wurde dagegen zunehmend unerfreulich. Frau Reinhold sieht Dealer, die das Geld in dicken Bündeln und dicken Autos vor ihrer Haustür zählen. Sie erlebt Menschen, denen es egal ist, ob Müll auf der Straße liegt. Und dann stand da diese Künstlerin vor der Tür: Angela Ljiljanic.

Partizipative Kunst, das ist auch: Partygurken ziehen. Foto: Angela Ljiljanic

Partizipative Kunst, das ist auch: Partygurken ziehen.
Foto: Angela Ljiljanic

Ziel der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft sei es, „mit den Mitteln der Kunst die alltäglichen Lebensverhältnisse von Menschen spürbar und nachhaltig zu verbessern“, heißt es auf der Webseite der Stiftung, die der ehemalige Bauunternehmer Carl Richard Montag ins Leben gerufen hat: „Gemeinsam mit KünstlerInnen und anderen Partnern entwickelt und fördert die Stiftung partizipatorische Kunstprojekte. Sie will damit ganz bewusst in gesellschaftliche Prozesse eingreifen, Impulse zur Verbesserung des sozialen Miteinanders geben und Veränderungsprozesse in Gang setzen.“

Das alles hat Angela Ljiljanic nicht erzählt, als sie vor Frau Reinholds Tür stand. Stattdessen erzählte sie von Petersilie und Pfefferminze: Sie erzählte, dass sie auch am Borsigplatz wohne, ein Jahr lang, und dass sie in dieser Zeit mit den Bewohnern gemeinsam Dinge fürs Viertel tun könne. Zum Beispiel Hochbeete bauen und bepflanzen, um die sich Frau Reinhold und ihre Nachbarn kümmern könnten. Ein Teil der Ernte dürften die Bewohner behalten, die andere Hälfte würde man gemeinsam verwerten, zum Beispiel zu Essig oder Ölen, oder zu einem experimentellen Gebäck.

Die ersten Reaktionen waren ernüchternd. „Die  wollten auf keinen Fall mitmachen“, erzählt Angela Ljiljanic. Man habe lange genug probiert, die Straße sauber zu halten, die Bäume auf dem Gehweg zu bepflanzen, und das habe zu nichts als Frustration geführt. Auf einen Kompromiss ließ sich die Nachbarschaft schließlich ein: Die Hochbeete bekamen Rollen und wurden auch nicht öffentlich, sondern im geschützten Innenhof aufgestellt. Sechs der insgesamt 15 Hochbeete stehen inzwischen im Innenhof bei Frau Reinhold, er gilt als Vorzeige-Hof.

Es gibt auch die anderen Beispiele: Ein mitten auf dem Bürgersteig platzierter Kräuterkasten wird als Aschenbecher missbraucht. Die Aufstellung eines anderen Hochbeetes ließ lange schwelende Missstimmungen unter Nachbarn eskalieren. Ein drittes Beet wird die Künstlerin demnächst abbauen: „Dort kann ich mich gar nicht mehr blicken lassen“, sagt sie und deutet auf ein Beet im Vorgarten ihres Nachbarhauses.

Angela Ljiljanic fürchtet sich fast vor den Bewohnern, die das Projekt anfangs so begeistert begleitet hatten. „Dieser ganze Borsigplatz – man merkt, hier gibt es einen unterbrochenen Dialog, gescheiterte Beziehungen. Über die Beete habe ich den Dialog neu aufgenommen. An dieser Stelle ist er klar gescheitert, da habe ich verbrannte Erde hinterlassen. Aber das ist das Einzige, was ich tun kann: Dem Ort zeigen, wie er wirklich ist.“ Die Pflanzen zeigen schonungslos, wie es um die Qualität des sozialen Gefüges bestellt ist, ob dort Gemeinschaft wächst und gedeiht, ob sie sich heranziehen und pflegen lässt, oder ob sie verkümmert und verdorrt.

Künstlerin und Nachbarin – das ist das Spannungsfeld, in dem sich Angela Ljiljanic und ihre Kollegen am Borsigplatz bewegen. Sie alle haben sich auf eine Ausschreibung, quasi ein Stipendium beworben, das damit verknüpft ist, ein Jahr lang mietfrei am Borsigplatz zu wohnen, um dort partizipative Kunst zu verwirklichen. Um die Partizipation anzukurbeln und sie in ein ökonomisches Prinzip alternativer Wirtschaft zu verwandeln, wurden „Chancen“ ersonnen, eine Art Anti-Geld, das in zehntausend 10-Chancen-Scheinen ausgegeben wurde und insgesamt tatsächlich 100.000 Euro entspricht. Mit ihren „Chancen“ konnten die Teilnehmer an Angela Ljiljanics Projekt z.B. Kräuter, Erde und Holz für die Hochbeete erwerben.

borsig11_schein100_ansicht

100 Chancen und mehr für jeden Bewohner am Borsigplatz. Foto: Borsig11

Ein Jahr lang mietfrei am Borsigplatz – das gab es schon einmal. Die Idee geht auf Konzeptkünstler Jochen Gerz zurück, der im Kulturhauptstadtjahr 2010 Menschen nach Duisburg, Mülheim und Dortmund einlud. „2-3 Straßen“ hieß das Projekt, es ist eines der nachhaltigen Projekte aus 2010.

„Gerz ist weg. Wir sind noch da“, sagt Guido Meincke, einer der Teilnehmer von damals. Gemeinsam mit Volker Pohlüke, der nach 2010 ebenfalls blieb, gründete er 2011 die „Machbarschaft Borsig11“.  Der Verein versucht, den Geist von „2-3 Straßen“ weiterzutragen. Der Geist, das ist die Auflösung von Kunst in der Gesellschaft. Oder auch: die Herstellung von Gesellschaft. „Man kann die Gesellschaft nutzen, um Kunst zu machen. Jochen Gerz nutzt die Kunst, um Gesellschaft zu machen“, sagt Meincke.

Mit ihrer Idee zu „Public Residence: Die Chance“ setzte sich der Verein „Machbarschaft“ gegen 400 Bewerbungen aus ganz Deutschland durch. So viele Einreichungen gab es auf die Ausschreibung der Montag Stiftung. Es ist eine Idee, die mit den teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern steht und fällt. Gut 80 Bewerbungen  für das Borsigplatz-Stipendium kamen, zwei Künstlerinnen und zwei Künstler wurden ausgewählt. Zwei sind nach knapp fünf Monaten wieder weg, zwei neue rücken nach. Es ist einiges in Bewegung geraten, geplant und ungeplant.

Künstlerin Susanne Bosch kochte mit Anwohnern Ajyar und Apfelmus in einer mobilen Küche mitten auf der Straße, an einem anderen Tag lud sie dazu ein, sich in wandelnde Trash-Skulpturen zu verwandeln: In Schutzanzüge gekleidet ging es einmal um den Borsigplatz, gegenseitig beklebten sich die Teilnehmer mit Müll von der Straße. Die Künstler Henrik Mayer und Martin Keil ließen die Menschen neue Straßennamen ersinnen und hängten alternative Straßenschilder im Viertel auf.

Oder Frank Bölter zum Beispiel. Der Künstler hat in der Vergangenheit Bundeswehr-Soldaten und Flüchtlinge dazu gebracht, einen Leopard 3-Panzer aus Papier zu falten. Mit Bewohnern einer Siedlung in Linz baute er eine 24 Meter lange Akropolis aus Papier. In Münster mischte er sich in den Namensstreit um den Hindenburgplatz ein, indem er ein eigenes Straßenschild aufhängte: Frank-Bölter-Weg. „Unkonventionelle Skulpturen, die kommunikativ wirken“, schreibt die Kunstkritik und spricht von einem „humorvoll-poetischen Ansatz“.

Bölter sagt, er zettle Dialoge an. „Ich mache etwas, das stört oder auf etwas hinweist“, sagt er. In Dortmund faltete er mit Kindern ein überdimensioniertes Papierauto und setzte es mitten auf den Borsigplatz. Demnächst will er mit Alkoholikern aus der Nordstadt das „Dortmunder Schwarzbräu“ brauen, ein Schwarzbier. Mitmachen darf nur, wer schon am Morgen einen Pegel von 0,5 Promille nachweisen kann. „Ich bin gespannt, ob überhaupt jemand kommt“, sagt er. Die Aktion solle Alkoholiker darin bestärken, wieder Verantwortung für sich zu übernehmen. „Das ist vielleicht ein etwas frecher therapeutischer Ansatz“, sagt Bölter. Aber es geht nichts ums Bekehren – eher um eine Leichtigkeit. Wer in der Lage ist, den Humor dahinter zu erkennen, hat vielleicht schon den ersten Schritt gemacht.

Fast allen Projekten, die seit Juni dieses Jahres am Borsigplatz entstehen, wohnt diese Radikalität inne. Sie haben kein konkretes Ziel – und zielen doch auf Veränderung. Die Menschen zu packen und ihnen klarzumachen: Das hier ist euer Leben. Macht was daraus!

Ist das naiv? Grenzt das teilweise nicht an Soziale Arbeit? Letzteres weisen alle Beteiligten weit von sich, obwohl Methoden Sozialer Arbeit zweifellos dazu gehören. Frank Bölter wünscht sich, dass die Menschen „anders aus meinen Projekten rausgehen“. Er hat es erlebt: „Einige Teilnehmer früherer Projekte haben sich verliebt, in London hat jemand seinen Broker-Job gekündigt, nachdem er mit mir Schiffe gefaltet hat. Das ist für mich spannender als die üblichen Vertriebswege der Kunst: Ich kann so mehr Einfluss nehmen, als wenn ich ein Gemälde verkaufe.“

In Dortmund allerdings sei über das unmittelbare Tun hinaus bisher nicht viel passiert. „Das hat sicher damit zu, dass die Leute erstmal mit existenziellen Sorgen zu kämpfen haben. Sie lassen sich zwar für Aktionen begeistern, bringen das aber nicht mit Kunst in Verbindung. Für viele ist es eher komisch, auch unsinnig: Sie wollen lieber Euro anstatt der Lokalwährung.“

Where the streets have new names: Ein Projekt der Künstler Henrik Mayer und Martin Keil. Foto: Borsig11

Where the streets have new names: Ein Projekt der Künstler Henrik Mayer und Martin Keil. Foto: Borsig11

Guido Meincke von der „Machbarschaft Borsig11“ setzt Jochen Gerz und sein Prinzip der Ansteckung dagegen: „Der Künstler gibt seine Philosophie vor und macht andere zu Teilnehmern, und die machen wieder andere zu Teilnehmern.“ Daneben stehen und meckern – aus dieser Falle heraus komme man nur durch soziale Kreativität.

Viele kleine und große Chancen warten also am Borsigplatz. Dass sie die die „alltäglichen Lebensverhältnisse von Menschen spürbar und nachhaltig verbessern“, wie es die Montag Stiftung formuliert, ist am Ende ein bisschen viel verlangt.

Frau Reinhold sieht die Sache vermutlich ganz richtig: „Man muss sich hier ganz schön was gefallen lassen. Aber wenn jeder ein bisschen darauf achtet, kann das schon etwas werden, woll.“

(Der Beitrag erschien zuerst in der November-Ausgabe des NRW-Kulturmagazins K.West)