Die feine Art des Speisens: Vincent Moissonniers Ratgeber „Der Käse kommt vor dem Dessert“

Das literarische amuse gueule, also das geschmacksanregende Vorwort stammt vom Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, einem sinnenfrohen Genießer. Autor des Haupttextes ist indes der aus Frankreich stammende Küchenchef Vincent Moissonnier. Er hat sich seit langer Zeit mit seinem Spitzenrestaurant in der vermeintlich „französischsten“ deutschen Stadt niedergelassen, in Köln. Das Prädikat ist anfechtbar, aber egal.

In frankophilen Zusammenhängen, so weiß man, wird seit jeher am edelsten gespeist. Auch die zugehörigen Benimmregeln sind ursprünglich aus der höfischen Kultur Frankreichs hervorgegangen. Just um die heute wünschenswerten Varianten und Nuancen geht es im vorliegenden Buch „Der Käse kommt vor dem Dessert“. Untertitel: „Goldene Regeln für den Restaurantbesuch – von Dresscode bis Trinkgeld“.

Sind wir etwa wieder in Zeiten angelangt, in denen förmlicher Benimm abermals eine größere Rolle spielt? Mit mehr oder weniger wohligem Gruseln erinnern sich die Älteren unter uns an bestens parodierbare Publikationen wie „Der gute Ton in allen Lebenslagen“. Doch wahrscheinlich brauchen wir ja dringlich solche Gegenkräfte zur oftmals waltenden Rüpelhaftigkeit; wenn auch nicht mehr so steifleinen wie ehedem.

Köln mit französischen Akzenten

Argwöhnische Menschen mögen „kölschen Klüngel“ dahinter wittern, andere die kuschelige Vertrautheit zu schätzen wissen: Vorwortgeber Ortheil ist gebürtiger und überzeugter Kölner. Moissonnier betreibt just dort sein Gourmet-Restaurant, in dem gewiss auch Ortheil gelegentlich zu dinieren pflegt. Ko-Autor des Buches ist Joachim Frank, seines Zeichens Mitglied der Chefredaktion beim Kölner Stadtanzeiger, der wiederum im Dumont-Verlag erscheint. Kein Wunder also, dass dieses Buch im Dumont-Buchverlag herauskommt. Man ahnt: Hier herrscht gesteigerte Kölschigkeit mit französischem Akzent, mithin nicht nach lässiger Art der ortsüblichen Köbes-Gastronomie.

Moissonnier will uns einerseits die Furcht vor allzu rigiden Verhaltensregeln nehmen, es gehe vornehmlich darum, ein Gefühl für Stil zu entwickeln. Eine seiner Grundregeln lautet: Hauptsache, dass alle Beteiligten sich wohlfühlen. Dennoch häuft er im Laufe des Buches viele, viele Empfehlungen an, die sich denn doch zum dicht geflochtenen Regelwerk summieren. Was da alles zu beachten ist!

Sind Smoking und Frack vorhanden?

Wann verschickt man die Einladungskarte, was sollte draufstehen, wie wird zu- oder abgesagt, welcher Dresscode soll jeweils gelten (hoffentlich haben alle Herren zur Not wenigstens einen Smoking und einen Frack parat, es wird hier quasi vorausgesetzt), wie verhält es sich mit der Sitzordnung, wie schaut der perfekt gedeckte Tisch aus, wie die Speisen- und Getränkefolge, wann und wo darf zwischendurch geraucht werden, wie wird diskret reklamiert, wie am besten bezahlt und ein Trinkgeld gegeben, wie genau wird das auch nicht ganz unkomplizierte Begrüßungs- und Abschiedsritual absolviert? Und so weiter, und so fort. Puh!

Die Benutzung der Servietten (selbstverständlich aus Stoff, keine – so wörtlich – „gottverdammten Papierservietten“) möge als kleines Beispiel dienen. Zitat:

„Zum Essen legen Sie die Serviette einmal quer gefaltet auf Ihre Beine, die offene Seite zu Ihnen gewandt, und putzen sich die Lippen immer mit der Innenseite ab. Wenn Sie die Serviette danach zurücklegen, bleibt die Außenseite sauber und man sieht die Flecken nicht. Denken Sie auch daran, während des Essens jedes Mal die Serviette zu benutzen, bevor Sie etwas trinken. Fettränder vom Essen am Glas sehen einfach scheußlich aus. (…) Am Ende des Essens landet die Serviette bitte nicht auf dem Teller. Das ist eine Katastrophe…“

Mit Gläsern anstoßen oder nicht

Man hat ja schon von schlimmeren Katastrophen gehört, aber sei’s drum. Auch nationale Unterschiede der Esskultur geraten hin und wieder in den Blick. Die englische und US-amerikanische Angewohnheit etwa, die Linke aufs Knie zu legen, während die Rechte nur noch mit der Gabel operiert; die deutsche Sitte, mit den Trinkgläsern anzustoßen, die in Frankreich unbekannt ist; die angeblich vorwiegend niederländische Neigung, sich am Buffet für ganze Tage zu versorgen… Moissonnier wird es wohl wissen, er hat Gäste aus praktisch allen Ländern dieser Erde bewirtet. Freilich wohl kaum aus unteren Schichten der Gesellschaft.

Der Buchtitel bezieht sich natürlich aufs Finale der Speisenfolge. Der alte Merksatz, demzufolge „Käse den Magen schließt“, sei unsinnig, befindet Moissonnier. Stets gehöre das Dessert ans Ende eines stilvollen Essens. Dazu gibt es einleuchtende Begründungen.

Butter nicht streichen, sondern heben

Zuweilen geht es allerdings arg ins Detail. Wird etwa Brot auf einem Vorspeisenteller kredenzt, so sollen wir die Butter um Himmels Willen nicht schnöde aufstreichen, sondern mit dem Messerchen als hauchdünne Schicht aufs Brot heben. Tja. Wer solche Feinheiten nicht befolgt, steht in diesem Kontext ganz schön belämmert da. Vor einem Besuch im „Moissonnier“ zu Köln (oder vergleichbar ambitionierten Etablissements) sollte man tunlichst dieses Buch gelesen haben, sonst tuschelt eventuell das Personal – oder es erscheint gar der Maître persönlich am Tisch, was in besonders peinlichen Fällen geschehen sein soll.

Einzelheiten muten übertrieben penibel an. Dass jedoch gewisse Grundformen gewahrt und gepflegt werden, ist keinesfalls nur hochnäsiger Unsinn im bourgeoisen Sinne. Insofern haben wir hier doch einen kundigen Ratgeber aus wahrlich berufenem Munde. Muss auch nicht jeder Satz beherzigt werden, so eben doch der Geist und das stilistische Empfinden.

Vincent Moissonnier / Joachim Frank: „Der Käse kommt vor dem Dessert.“ Mit einem Geleitwort von Hanns-Josef Ortheil und Illustrationen von Nishant Choksi. Dumont. 160 Seiten, 20 Euro.

 




Béla Réthy: Zum Schluss ein paar kleine Lektionen

Fußballreprter Béla Réthy im April 2018 bei einer Pressekonferenz. (Wikimedia Commons, © Olaf Kosinsky / http://www.kosinsky.eu / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Staatsaffäre höchsten Ranges: Ein deutscher Fernseh-Fußball-Reporter hört auf. Nach Jahrzehnten. Im ZDF. Béla Réthy. Ach, du meine Güte!

Im WM-Halbfinale Frankreich – Marokko (2:0) hat er seine letzte Messe gelesen. Gottlob gemeinsam mit dem vor nicht allzu langer Zeit emeritierten Ex-Fußballstürmer Sandro Wagner. Der kennt sich nämlich verdammt gut aus und weiß es auch zu kommunizieren. Herrlich, wie dieser Jungspund dem Beinahe-Rentner Béla Réthy auf dessen alte Tage noch ein paar kleine Lektionen erteilt hat, die dieser viel früher hätte gebrauchen können.

Vielleicht wäre Réthy einem ungleich sympathischer gewesen, wenn er einen anderen Job ausgeübt hätte. Synchronsprecher beispielsweise. Mit dieser Kettenraucher-Reibeisen-Stimme. Es hat nicht sollen sein (auch so ein üblicher Reporter-Spruch).

Wie zu lesen war, bekannte sich Béla Réthy bis zum Schluss zur „präsenten Prosa“, sprich: Er wollte spontan reden und mochte sich angeblich nicht groß vorbereiten – anders als der weitaus jüngere, furchtbar eingebildete WC Fuss, der sich auch in den sozialen Netzwerken umtut, bevor er kommentiert. Ungefähr so: „Spieler XY stellt seinen Kumpanen bei Instagram Buchstabenrätsel, schauen Sie mal rein. Es ist lustig.“

Nun ja, Béla Réthy hat sich ebenfalls vorbereitet. Aber eben nach Art seiner Generation. Eher so mit Karteikarten. Old school also. Unvergessen, wie er einst am Mikro das Aussehen eines Spielers mit einer Klobürste verglichen hat. Jetzt bedauert er derlei verbale Eskapaden.

Gerade heute, wo er Spielernamen hätte verwechseln dürfen, hat er es (offenbar) nicht so getan wie sonst. Schön aber, wie er in Katar über die Marokkaner gesagt hat: „Sie sind vielfach hier in Europa geboren.“ Is‘ klar, Béla. Schwamm drüber.

Unvergessliche Brüllwitz-Dialoge auch heute:

Réthy: „Sie (die Franzosen) sind ja auch Weltmeister…“
Wagner: „Du doch auch, oder?“
Réthy: „Noch nicht.“

Vielleicht ja jetzt. Parallel zur Rente. Wie alle, die das Berufsleben weitgehend hinter sich haben. Lauter Weltmeister.

Beide tippten übrigens auf Frankreich als neuerlichen Titelkandidaten. Messi hin, Messi her. Wir werden sehen.

Geradezu rührend Réthys Altersmilde: „Wir verteilen hier keine gelben Karten.“ Stimmt auffallend. Dafür sind tatsächlich andere Leute zuständig.

Schließlich dann doch noch der Köpper ins Klischee. Da die arabische Welt massiv beteiligt war, musste noch der Kracher von „1001 Nacht“ rausgehauen werden. Ehrensache. In diesen Kreisen. Neulich hat noch ein erbarmungswürdiger Kollege zu den Argentiniern „Dann Gute Nacht, Gauchos“ gesagt. Wie einst Heribert Faßbender. Aber 2022. Ich glaube, es war einer von „Magenta TV“ („Mehr WM geht nicht.“). Da sehnt man sich im Voraus fast schon nach Béla Réthy zurück.

Und was ist jetzt mit hundsgemeinen Facebook-Gruppen wie „Béla Réthy gefällt mir nicht“? Nun, irgendwen werden sie schon als Nachfolger(in) finden.

Nicht, dass uns am Ende doch noch seine Stimmlage fehlen wird…




Standardsituationen und schwindende Gewissheiten – eine kurze, weitgehend schmerzlose Bilanz zur Fußball-WM

Meine kleine Ballsammlung (Foto: BB)

Unsere kleine Ballsammlung (Foto: Bernd Berke)

Na gut, äh! Irgend eine Bilanz zur Fußball-WM muss man jetzt wohl ziehen. Sei’s drum. Wir haken das mal eben Punkt für Punkt ab. Bei Nummer 22 (naturellement 2 x 11) ist dann aber Sense. Versprochen.

  1. Gratulation dem Weltmeister Frankreich. Es war – nehmt alles nur in Allem – tatsächlich das beste, in allen Mannschaftsteilen ausgewogene Team. Und der pfeilschnelle, erst 19-jährige Kylian Mbappé war vielleicht d e r Spieler dieser WM. Was aus dem noch werden kann! (Übrigens muss man den Nachnamen wirklich nicht „Emm-Bappeee“ aussprechen, wie das gewisse Experten im deutschen Fernsehen tun. Anlautendes M geht auch bruchlos mit nachfolgendem B).
  2. Um ein Haar wäre es zum Finale zweier kleiner Länder gekommen, Belgien und Kroatien. Ganz so, als sei die Zeit der „Großen“ vorbei. Kroatien war ein starker Finalteilnehmer, in der Anfangsphase zweifach entscheidend (?) vom Schiri benachteiligt.
  3. Die Engländer können neuerdings Torwart. Und sie können Elfmeterschießen. Und auch noch die ziemlich effektive „Buswarteschlange“ bei Ecken oder Freistößen. Sie haben mit dem alten Kick & Rush nichts mehr zu schaffen. Auch scheint es ihnen nicht zu schaden, dass so viele Leute aus anderen Ländern in der Premier League spielen. Da schau her, die wohligen alten Gewissheiten sind dahin. Dass die Engländer mit ihrem Trainer und eleganten Westenträger Gareth Southgate zudem einen vorbildlichen Gentleman aufgeboten haben, entspricht hingegen den althergebrachten Vorstellungen.
  4. Die These, dass der Fußball den Zustand einer ganzen Nation widerspiegele, mag füglich bezweifelt werden. Es lassen sich immer Argumente dafür, aber auch dagegen aufführen. So schlimm kann es um England nach dem Brexit eigentlich nicht stehen, wenn man die Leistung der „Three Lions“ zum Maßstab nimmt.
  5. Sportlich war es ein recht mittelmäßiges Turnier mit nur wenigen, wirklich packenden Partien. Viele magere 1:0-Ergebnisse, etliche Quälereien bis in Verlängerungen und ins Elferschießen hinein. Einige Abwehr-Bollwerke bis zum Abwinken. Entscheidungen oft nicht durch kreatives Spiel, sondern durch „Standardsituationen“ mit ruhendem Ball.
  6. So genannte Superstars nützen offenkundig überhaupt nichts, wenn nicht etwas hinzu kommt. Nach und nach durften Messi, Ronaldo und Neymar mit ihren Teams vorzeitig nach Hause fliegen. Der Satz, Fußball sei halt ein Mannschaftssport, taugt nicht nur fürs Phrasenschwein. Er hat was für sich.
  7. Sorry, aber: Nach dem frühen Ausscheiden habe ich (und haben wohl viele) die deutsche Mannschaft kaum vermisst. Man konnte auch mit den Konter-Königen aus Belgien oder mit sonstwem fiebern. Die Belgier haben sogar dieselben Flaggenfarben, wenn auch anders angeordnet. Das deutsche „Aus“ hatte auch sein Gutes: Auf diese Weise blieb Kanzlerin Merkel ein Tribünen- oder Kabinenbesuch erspart.
  8. Das ewige, überaus gestenreiche und zuweilen aggressive Reklamieren beim Schiri geht einem nur noch auf den Geist. Und das unsägliche „Markieren“ von Fouls (mit Neymars vielfacher Platzrolle als wahnwitzigem Tiefpunkt) sollte viel härter bestraft werden; ebenso wie die wild gestikulierende Forderung nach der gelben oder roten Karte für den Gegenspieler. Übrigens: Findige Leute haben ermittelt, dass Neymar während seiner Turnier-Auftritte rund 14 Minuten auf den Plätzen gelegen bzw. sich dort gewälzt hat. Scheint sein Hobby zu sein.
  9. Die deutschen TV-Kommentatoren bei ARD und ZDF waren zu allermeist nicht WM-tauglich. Hier sollte man grundlegende Reformen anstreben und vielleicht je zwei Sprecher(innen) bzw. ehemalige Spieler mit wachem Geist im möglichst munteren und uneitlen Dialog einsetzen. Nein, auch Claudia Neumann war nicht besser als ihre männlichen Kollegen. Aber auch nicht schlechter. Die endlosen Experten-„Analysen“ vor und nach den Spielen tue ich mir sowieso gar nicht mehr an. Ihr etwa?
  10. Immer häufiger beschränken sich die Kommentatoren als Künder des Offensichtlichen auf belanglose Feststellungen wie „gute Bewegung“, „gute Körpersprache“, „guter Laufweg“, „gut aufgepasst“ oder „geblockt“. Dazwischen irrwitzige Statistiken und Boulevard-Gewäsch. Das ist oft ziemlich ärmlich.
  11. Jetzt doch noch mal zur deutschen Mannschaft, die insgesamt aufreizend überheblich aufgetreten ist. Mir ist schleierhaft, warum Löw nicht loslassen mag. Oliver Kahn hat recht: Löw hätte nach dem Finale 2014 aufhören sollen, als er alles erreicht hatte. Noch viel fälliger zum Rücktritt wäre allerdings der ach so smarte Oliver Bierhoff. Er hat zunehmend nur noch aalglattes Marketing im Sinn gehabt. Von seinem Umgang mit der Causa Özil/Gündogan/Erdogan ganz zu schweigen. Erst abwiegeln, nach dem Ausscheiden auf einmal übel nachtreten und Özil für alles haftbar machen wollen. Unmöglich! Und die DFB-Spitzen? Versuchen sich ebenfalls rauszuwinden und wegzuducken. Welch ein Elend!
  12. Nicht unbedingt sympathischer: Auch ein Vielzahl von Salonlinken hat den Fall Özil“ auf die eigenen Mühlen lenken wollen. Erstaunlich, wie sie den Erdogan-Freund mit Pauken und Trompeten verteidigt haben, weil ja angeblich nur teutsche Nationalisten und Rassisten gegen ihn Stellung bezogen haben. So ein Unsinn! Es dürften auch etliche Gegner der Erdogan-Diktatur darunter gewesen sein. Ach so, wie konnte ich es nur vergessen: Es herrscht ja längst Redeverbot in dieser Sache. Es sei denn, man schwinge den politisch korrekten Degen.
  13. Auf verquere Art links gestrickt sind auch die blödsinnigen Versuche, die Migrantenquote abermals auf die Qualität des Fußballs anzuwenden. Nach der Formel „Je mehr Migranten in der Mannschaft, umso besser der Fußball“ predigen manche quasi einen auf links gekrempelten Rassismus. Es ist letzten Endes nur die spiegelbildliche Umkehr dessen, was rechts gestrickte Typen blöken: „Zu viele Ausländer im Team…“
  14. Das Getue um den Videobeweis hat nicht nur in der Bundesliga genervt, sondern auch bei dieser WM. Ungefähr jeder vierte Torjubel wird im Keim erstickt und infrage gestellt. Ständig fordern Spieler, die sich benachteiligt fühlen, mit der notorischen Rechteck-Geste die Videoprobe ein. Mag sein, dass der eine oder andere grobe Fehler korrigiert wird. Doch ob es insgesamt „objektiver“ zugeht, darf bezweifelt werden.
  15. Wirklich gerecht wird es erst im Jenseits sein. Das wird ein sonderbares Ding, wenn Begegnungen vor den versammelten himmlischen Heerscharen völlig ohne Fehler und Fouls vonstatten gehen. Klingt ganz schön langweilig, nicht wahr?
  16. Eins wollen wir nicht vergessen: Es war eine WM ohne terroristische Bedrohung oder gar einen Anschlag. Dazu darf man sogar Vladimir Putin gratulieren. Ansonsten aber…
  17. Wenn wir schon beim „lupenreinen Demokraten“ Putin sind: Ex-Kanzler Gerhard Schröder hat sich unterdessen mit beiden Potentaten getroffen: Putin und Erdogan, bei dem er im staatlichen Auftrag als „besonderer Freund“ aufkreuzte. Auf seine alten Tage wird der Mann zusehends zur peinlichen Hofschranze. Ich kann mich an keinen Kanzler erinnern, der mir im Nachhinein widerlicher gewesen wäre.
  18. Man fragt sich, was aus all den Arenen in der russischen Provinz werden soll. Werden die sündhaft teuren Bauten jemals wieder auch nur annähernd gefüllt sein? Selbst zur WM sind ja schon etliche Plätze leer geblieben. Verrückt genug: Inzwischen verpflanzen die Russen schon ganze Vereine in die Diaspora. Ein Oligarch muss „seinen“ Erfolgsclub aus St. Petersburg nach Sotschi umtopfen. Was die Fans wohl dazu sagen? Man stelle sich vor, Bayern München würde seine Heimspiele nur noch in Erfurt oder Osnabrück austragen.
  19. Gibt es jemanden, der sich auf die nächste WM 2022 in Quatar/Katar freut? Müsste man dafür nicht ein Wort wie Vorzorn statt Vorfreude verwenden?
  20. Und danach? Sollen 2026 die USA und Mexiko ein WM-Turnier gemeinsam mit Kanada ausrichten. Schon allein das würde gegen die Mauer sprechen, die Donald T. an der Grenze zu Mexiko errichten will. Aber 2026 ist der Kerl eh schon längst ein irres Nebenkapitel der Geschichte.
  21. Freuen wir uns vorerst auf den Wiederbeginn der Bundesliga. Und auf die nächste Europameisterschaft 2020. Diese WM war ja am Schluss auch schon ein rein europäischer Wettbewerb.
  22. Zugabe: Entscheidend is aufm Platz!

 




Französische Literatur aus Sicht eines ihrer besten Kenner – Hanns Grössels Essays und Kritiken

Wer sich für Literatur aus Frankreich interessiert und nicht mehr ganz jung ist, wird in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen, aber auch in verschiedenen Büchern dem Namen Hanns Grössel begegnet sein; als Übersetzerangabe oder als Verfasser von Vor- oder Nachworten.

In den 1970er-Jahren beispielsweise trug Grössel wesentlich zur Wahrnehmung des Surrealismus in Deutschland bei. Und er machte das Lesepublikum auf Raymond Roussel aufmerksam, von dem er zwei Werke übersetzte und über den er eine Monographie in der Edition text+kritik herausgegeben hat.

Eine repräsentative Auswahl der Essays und Kritiken des im Sommer 2012 im Alter von 80 Jahren verstorbenen Literaturkritikers und Übersetzers, der 30 Jahre als Rundfunkredakteur beim WDR tätig war, konnte zur Buchmesse im vorigen Herbst dank der Initiative der Kunststiftung NRW in einem sorgfältig edierten Band im Lilienfeld Verlag erscheinen.

Spektrum von Stendhal bis Modiano

Zeitlich reicht das Spektrum der versammelten Texte von Stendhal bis Patrick Modiano. Neben den kanonisierten großen Namen der Moderne wie Victor Hugo, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant, Charles Baudelaire, Emile Zola, Marcel Proust gibt es dabei auch weniger Bekannte wie José-Maria de Heredia oder Charles-Louis Philippe zu entdecken.

Sodann sind natürlich Geheimtipps vertreten, Autoren, die selten eine große Leserschaft erreichten, deren Werke aber immer wieder, oftmals von kleineren, engagierten Verlagen neu aufgelegt werden. Als Beispiele könnte Marcel Schwob genannt werden, dessen Reisebriefe aus der Südsee im vorigen Herbst im Elfenbein Verlag erstmals in deutscher Übersetzung erschienen sind.

Zu nennen wären auch Joris-Karl Huysmans und Emmanuel Bove, von denen jeweils ein schöner Band für dieses Jahr im Lilienfeld Verlag angekündigt ist. Oder Saint-Pol-Roux, von dem nach längerer Pause 2013 ein kleineres, aber wichtiges Werk bei Matthes & Seitz erscheinen konnte, Paul Valérys „Cahiers“, oder gar die von Gerd Haffmans herausgegebene 11-bändige Ausgabe der Tagebücher der Brüder Edmond und Jules de Goncourt im Verlag Zweitausendeins.

Diese wenige Beispiele zeigen, dass die Entdeckungen und Wiederbegegnungen keineswegs auf die Jahre zwischen 1966 und 2002 beschränkt bleiben, in denen Grössel die in diesem Band versammelten Essays und Kritiken schrieb.

Kein Sammelsurium, sondern Komposition

Dass bei der Vielzahl der besprochenen Autoren aus diesem Band kein Sammelsurium unterschiedlichster Texte wurde, verdanken wir der sorgfältigen Auswahl und Zusammenstellung durch Norbert Wehr, der Grössels Nachlass verwaltet und der den Band ebenso umsichtig und mit Liebe zur Literatur komponiert hat wie jedes Dossier der von ihm seit 40 Jahren herausgegebenen Literaturzeitschrift „Schreibheft“.

Hanns Grössel bietet die besten Voraussetzungen für eine abgerundete Werkschau, er, der ausgezeichnete Kenner, der die von ihm besprochenen Bücher in ihrem literaturgeschichtlichen Zusammenhang berücksichtigt, mit vielfältigen Querverbindungen und Leitmotiven.

So stellt sich beim Lesen des Buchs der Eindruck ein, die ursprünglich an verstreuten Orten erschienenen Beiträge folgten insgeheim dem Prinzip der kommunizierenden Röhren, wovon ein Artikel zu André Breton aus der Süddeutschen Zeitung vom August 1973 handelt, und fügten sich zu einem sprechenden, einem erzählenden Hanns-Grössel-Kosmos zusammen.

Das Nachwort von Norbert Wehr mit persönlichen Erinnerungen an den großen Literatur-Entdecker und Übersetzer verdeutlicht dessen Verdienste, seine gewissenhafte Haltung gegenüber der Literatur und Grössels respektvollen Umgang mit Büchern und Autoren, auch mit denen, die seinem kritischen Blick nicht standhielten.

Schwerpunkte und Vorlieben

Bei aller Vielfalt und Weite seines immensen Schaffens lassen sich gut die Schwerpunkte und Vorlieben des Literaturmenschen Grössel erkennen. Der streitbare Georges Bataille gehört dazu, mit dem sich die Auseinandersetzung nach wie vor lohnt – sei es mit seinem ökonomischen Konzept der Verausgabung, sei es mit seiner Perspektive auf die wilde Kindheit, sei es mit den Provokationen in seinem „obszönen Werk“ (unter diesem Etikett sind 1972 im Rowohlt Verlag fünf seiner wesentlichen Texte erschienen).

Ähnlich bekannt für Grenzüberschreitungen und Tabubrüche dürfte Henri Michaux sein, der sich früh „großen Zerreißproben“ unter dem Einfluss von Meskalin und LSD ausgesetzt hatte – nebenbei bemerkt: ein faszinierender Zeichner. Von ihm ist in dem Band das Werk Eckpfosten besprochen.

Innenansichten einiger Außenseiter

Unter den Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts sind es besonders Nathalie Sarraute und Marguerite Yourcenar, denen sich Grössels besondere Aufmerksamkeit zuwendet. An den von Yourcenar gewählten Sammeltitel zu ihrer dreibändigen autobiographischen Familiengeschichte, Das Labyrinth der Welt, lehnt sich der Titel des vorliegenden Bands an.

Zu Victor Segalen hat der Auswahlband glücklicherweise einen Text erstmals nach dem ungekürzten Manuskript veröffentlichen können, während in der Wochenzeitung Die Zeit im August 1983 eine gekürzte Fassung erschienen war. Dieser außergewöhnliche Schriftsteller, Arzt, Ethnologe ist plausibel in einem Kapitel vertreten, das „Außenseiter. Fünf Innenansichten“ benannt ist und außer ihm Raymond Roussel, Michel Leiris, Max Jacob und Paul Léautaud umfasst. Letzterer wird unter zwei verschiedenen Rubriken besprochen; seine Kriegstagebücher in dem Kapitel „Paris unter Besatzung“.

Keine Narrenfreiheit für Kollaborateure und Antisemiten

Die deutsche Besatzung, die Vichy-Regierung, französische Kollaborateure und auch die Résistance bilden für Grössel einen besonderen Forschungsgegenstand. Mit nur spärlichen Informationen über die Tätigkeit seines Vaters im besetzten Paris bemühte sich Grössel, wie das Nachwort deutlich macht, durch die Werke von Louis-Ferdinand Céline, Pierre Drieu la Rochelle, Paul Léautaud, Paul Nizan, Jean-Paul Sartre und Léon Werth dem Leben im Paris der Kriegsjahre näher zu kommen.

Grössel bleibt als Kritiker unabhängig und lässt sich durch stilistische Qualität nicht bestechen, wenn es sich um Kollaborateure und erklärte Antisemiten wie Céline oder Drieu la Rochelle handelt. Er möchte das Politische nicht vom Literarischen trennen, davon ausgehend, „dass alle Schriften eines Autors aus demselben Kopf stammen“. Er fährt fort: „Sollte diese Überzeugung dann in den Ruch eines moralischen Rigorismus geraten: besser, wir nehmen das hin, als dass wir unsere Glaubwürdigkeit verlieren, wir, die wir über Literatur schreiben, sie analysieren und werten.“

In die Diskussion um Pierre Drieu la Rochelle, der in seinen 52 Lebensjahren zwischen den politischen Extremen pendelte, der 1931 den später von Louis Malle verfilmten Roman Le feu follet (Das Irrlicht) vorlegte und im März 1945 seiner Verurteilung als Kollaborateur der Nazis durch Selbstmord zuvorkam, schaltet sich Grössel ein und wehrt sich dagegen, „dem Künstler, weil er Künstler ist, ein erhebliches Maß an politischer Narrenfreiheit zu gewähren.“ Er verteidigt sein Berufsethos: „Wenn wir nicht selber Schaden nehmen wollen, müssen wir mit dem Verhätscheln aufhören.“

Was fehlt und was noch kommt

Freilich muss ein auf 540 Seiten begrenzter Band eine Auswahl treffen. Man mag bedauern, dass beispielsweise Grössels Nachwort zu Jules Renards Tagebuchauszügen aus dem Band Ideen, in Tinte getaucht (München 1986) nicht einbezogen wurde. Doch Renard und viele, denen kein eigener Beitrag gewidmet ist, kommen in den Essays zu anderen Autoren durchaus zur Geltung, wie etwa Jean Genet in der Besprechung zu Sartres Buch Saint Genet, Komödiant und Märtyrer (Reinbek 1982). Dankenswerterweise hat die Kunststiftung NRW keine Kosten und Mühen gescheut, dem Band ein umfassendes Personenregister beizufügen.

Leserinnen und Lesern, denen Hanns Grössel mehr als Experte für dänische und schwedische Literatur, vor allem als Übersetzer der Lyrik von Inger Christensen und des Literatur-Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer, bekannt ist, können sich auf den zweiten, von Peter Urban-Halle herausgegebenen Band freuen, den der Lilienfeld Verlag für dieses Jahr angekündigt hat. Mit der Zusammenstellung seiner Essays und Kritiken in zwei Bänden wird dem Homme de lettres Hanns Grössel eine verdiente Würdigung zuteil.

Hanns Grössel: Im Labyrinth der Welt. Essays und Kritiken zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr. Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Literatur, Band 9. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. 544 Seiten, 30 €.

Außerdem vom Verlag angekündigt:

Hanns Grössel: Umwege zur Wirklichkeit. Essays und Kritiken zur skandinavischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Peter Urban-Halle. Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Literatur, Band 10. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2018, ca. 450 Seiten, 30 €.




Kein dürres Gedenkdatum: Was mir der Élysée-Vertrag und die deutsch-französische Freundschaft persönlich bedeuten

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Was sehe ich denn da im Gedenktagekalender? Der deutsch-französische (oder auch französisch-deutsche) Élysée-Vertrag jährt sich heute zum 55. Mal? Für mich ist das kein abstraktes Datum aus ferner Vergangenheit. Es ist mit persönlicher Bedeutung angefüllt. Lasst mich kurz davon erzählen.

Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichneten das historische Vertragswerk am 22. Januar 1963. Damit wurde die fürchterliche „Erbfeindschaft“ zwischen beiden Ländern, die in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts so viele Menschenleben kostete, höchst offiziell und feierlich beendet. Und es blieb gottlob keine bloße Symbolik.

Tatsächlich herrscht seit 1945 und erst recht seit 1963 dauerhafter Frieden zwischen diesen beiden Völkern, etwaige Konflikte klärt man zeitnah bei regelmäßigen Konsultationen. Dabei spielt es bisher keine Rolle, welche Regierung jeweils am Ruder ist. Und die europäische Einigung wäre ohne Frankreich und Deutschland nicht so immens vorangeschritten – mancherlei Mängel inbegriffen, von denen wir aber jetzt einmal absehen wollen.

Dortmund verkündete schon 1960 Partnerschaft mit Amiens

Im Gefolge des Vertrages gab es nicht nur zahlreiche Jugendbegegnungen zwischen beiden Ländern, es entstanden auch etliche Städtepartnerschaften. Dortmund war ganz früh mit von der Partie, schon vor dem Élysée-Vertrag. Man knüpfte Verbindungen zu Amiens und proklamierte die Partnerschaft bereits 1960. Just aus Amiens kamen die Kinder, mit denen fortan viele Dortmunder Kinder- und Jugendgruppen einige Wochen der Sommerferien verbrachten. Ich durfte mehrmals dabei sein. Schon kurz nach der Anfangsphase. Welch ein Glück des Beginnens.

Urlaub mit meinen Eltern habe ich so gut wie gar nicht erlebt, höchstens mal ein paar Tage an der holländischen Küste oder in der Eifel. An Fliegen oder gar Fernreisen war noch nicht zu denken, ein eigenes Auto hatten wir damals auch nicht. Statt dessen ging’s – erstmals mit elf Jahren – mit dem Bus auf deutsch-französische Gruppenreisen, zunächst dreimal nach Mollseifen im Sauerland, später nach Rieseberg/Königslutter (Niedersachsen), einmal auch nach Sanary in Süfrankreich und nach Marina di Massa in Italien.

Wie Pfadfinder am Lagerfeuer - die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Nach Pfadfinder-Art am Lagerfeuer: die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Herrliches Gemeinschaftserlebnis

Sauerland klingt für heutige Begriffe vielleicht langweilig, war aber als Gemeinschaftserlebnis wunderbar und teilweise abenteuerlich nach Pfadfinder-Art. Allein die Schnitzeljagden, Budenbauten und Indianerspiele in den Wäldern… Ich will nicht behaupten, dass man davon bis heute zehrt. Aber unvergesslich sind so manche Augenblicke doch. Und es will mir scheinen, als sei dies noch wirkliche Kindheit gewesen.

Leider hatten wir anfangs in der Schule noch keinen Französisch-Unterricht, so dass die Kommunikation überwiegend nonverbal erfolgen musste. Doch wie gut das unter uns Kindern ging! Für Zweifelsfälle waren da ja auch noch ein sprachkundiger „Moniteur“ bzw. eine „Monitrice“ (GruppenleiterIn). Wenn wir zusammen durch die Wälder streiften, hitzige Wettspiele austrugen, miteinander malten oder einander Lieder aus dem jeweiligen Land vorsangen, spielte Sprache eh nur eine Nebenrolle.

Die Jungs aus Frankreich waren galanter

Mit der Zeit bemerkten wir auch Unterschiede, die teilweise den Klischees entsprachen: Gleichaltrige französische Jungs waren einfach „früher dran“ und entschieden frecher, was den galanten Umgang mit Mädchen anbelangte; die französischen Mädchen wiederum hatten – wie soll man sagen – vielfach mehr Geheimnis und schon früh etwas Apartes, Anmutiges. Oder war’s eher das lockende Unbekannte, das einen verwirrte? Allein, dass sie mit so wohlklingenden Lauten sprachen, deren Wortsinn sich einem nicht erschloss. Jedenfalls glaube ich, dass aus der Zeit meine – und nicht nur meine – spätere Vorliebe für französische Filme (Truffaut, Rohmer, Rivette etc.) herrührte. Ja, in jenen Ferienzeiten erfuhren wir vielleicht einen Hauch von Nouvelle Vague…

Ich erinnere mich an jenen Tag, als abends „Teppichtanz“ gespielt wurde, in dessen Verlauf man sich unschuldige Küsschen geben durfte. Doch schon das brachte uns ca. Dreizehnjährige einigermaßen in (bestenfalls halbwegs begriffene) Wallung. Sagte nicht eine Monitrice nach Ende des Spiels zu ihrem Kollegen, das habe uns wohl zu sehr aufgeregt? Was sie wohl gemeint hat? Wenn Adenauer und de Gaulle geahnt hätten, was sie uns da beschert haben… Adenauer hätte vielleicht mit rheinischem Zungenschlag einen seiner Lieblingssätze gesagt: „Meine Herren, die Situation ist da…“

„Hitler – c’est fini…“

Und der Krieg? War anfangs noch keine 20 Jahre her, spielte aber unter uns Kindern praktisch keine Rolle mehr. Alles schmeckte so herrlich nach Neuanfang. Einmal sagte ein kleiner Franzose mit plötzlichem Ernst zu uns: „Hitler (sprich: „Itlère“) – c’est passé, c’est fini!“ Hatten sie ihm zu Hause wohlmeinend aufgetragen, das zu sagen? Egal. Jedenfalls haben wir ihn verstanden und waren wirklich erleichtert.

Diese bedeutsamen kleinen Momente. So unscheinbar, doch noch nach Jahrzehnten präsent.




Bevor wir den Rochen kochen, müssen wir ihn erst einmal haben – meine kurze Affäre mit einem Kochbuch à la française

Franzosen, man weiß es, geben im Schnitt deutlich mehr fürs Essen aus, als der gemeine Deutsche. Das wird wohl auch so bleiben, trotz mancher Gourmet-Modewellen diesseits des Rheins.

Da schwimmt ja ein Rochen - aber leider in einem holländischen See-Aquarium. Den darf man natürlich nicht mitnehmen. (Foto: Bernd Berke)

Ah, da schwimmt ja ein Rochen – aber in einem holländischen See-Aquarium. Den darf man natürlich nicht mitnehmen. (Foto: Bernd Berke)

Überdies sind unsere Nachbarn immer wieder für exquisite und – nun ja – auch für etwas abgehobene Kochkünste zu haben, worin sie sich wiederum von den Italienern unterscheiden, die sich nicht halb so viel darauf einbilden, was in ihren Töpfen und Pfannen gedeiht – und die auch nicht so ein zuweilen blasiertes Getue darum machen.

Weltweit das „Einfachste“

Drum hätte ich eigentlich misstrauisch sein sollen, als ich jetzt das in der FAZ-Sonntagszeitung heiß empfohlene Kochbuch des französischen Maître Jean-François Mallet bestellt habe. Zwar nennt es sich vollmundig „Simplissime – Das einfachste Kochbuch der Welt“ und verheißt lauter Rezepte mit jeweils höchstens sechs Zutaten, doch diese haben es fürwahr an und in sich.

Um nur mal eben zwei Zutaten zu nennen, wie sie in diesem Buch typisch sind: Für ein angeblich simples Gericht benötigt man Seeteufelbäckchen, für ein anderes nichts Geringeres als Rochenflügel. Alors!

Immerhin: Rochen reimt sich im Deutschen auf Kochen, doch ansonsten geht’s weniger simpel zu. Nach meinem bescheidenen Verständnis handelt es sich bei den genannten Zutaten um nahezu museumswürdige Raritäten. Geht doch mal los und besorgt das im Supermarkt nebenan – oder auch etwas weiter entfernt. Sofern man nicht gerade mitten in einer (möglichst französischen) Metropole lebt und spezialisierte Markthändler kennt, dürfte es schwerfallen. Na gut, mit etwas Sucherei geht es in Hamburg wohl auch.

Fischbäckchen oder Fischstäbchen?

Dabei fängt das Buch im Vorspann so ermutigend an. Man brauche zum Nachkochen nur die folgenden Utensilien, heißt es: fließendes Wasser, Herd, Kühlschrank, Pfanne, Topf, scharfes Messer, Salz, Pfeffer und Olivenöl. Zugegeben, einen Schneebesen und zwei bis elf andere Sachen benötigt man wohl auch noch. Aber dann kann’s angeblich auch schon losgehen.

Doch die weit überwiegende Mehrzahl der Rezepte ist in unseren Breiten nicht alltagstauglich. Das wird schon beim flüchtigen Durchblättern klar. Also habe ich, was ich eigentlich ungern tue (nicht nur wg. der Ökobilanz), das Buch als Retoure auf den postalischen Rückweg gebracht. Vielleicht gar kein Zufall, dass „retour“ ein französisches Wort ist?

Mag ja sein, dass man sich bestimmte Fischbäckchen und dergleichen demnächst via Frischdienst „just in time“ liefern lassen kann (womit sich die Ökobilanz abermals verschlechtern würde), doch darauf möchte ich mich nicht einlassen. Wie bitte, dann sollte ich doch Fischstäbchen essen? Ich bin imstande und tu’s. Sapristi!




Worin sich Frankreich und Sachsen ähnlich sind

Nach dem Urnengang ist vor dem Urnengang. Kaum hat England gewählt, ist Frankreich an der Reihe:

Wenn am kommenden Sonntag das französische Parlament neu gewählt wird, dann könnte es nach derzeitigen Umfragen zu einer satten Mehrheit für die neue Partei „La République En Marche“ (LREM)  des jungen Staatspräsidenten Emmanuel Macron kommen. Das scheint für Europa und Deutschland eine positive Perspektive zu sein, aber die politische und gesellschaftliche Spaltung unseres Nachbarlandes ist unübersehbar.

Schein-Idylle an der Côte d’azur. (Foto: HH Pöpsel)

Auf der Landkarte Frankreichs mit den eingefärbten Ergebnissen der Präsidentschaftswahl in den einzelnen Départements sieht man deutlich eine Ost-West-Grenze: In den Regionen östlich von Paris bis hinunter zum Mittelmeer erreichte der rechte Front National mit Marine Le Pen fast überall die Mehrheit, in den westlichen Landesteilen bis hin zum Atlantik gelang Macron der Sieg.

Besonders hoch fiel der Erfolg des neuen Präsidenten in Paris aus – ausgerechnet dort, wo die meisten Migranten leben. Ebenfalls besonders deutlich siegte seine Kontrahentin Le Pen an der Côte d’azur, in Nizza, Cannes und St. Tropez – dort, wo außer algerischen Arbeitern eher wenige Migranten zuhause sind, wenn man mal von den Popstars wie Bono oder Johnny Depp auf ihren Landgütern oder den zahlreichen britischen Rentnern absieht.

Diese Tendenz sieht man so ähnlich auch in den Neuen Ländern in Deutschlands Osten, in Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg: Wo die wenigsten Flüchtlinge leben, ist der Widerstand der Bevölkerung am größten und der Einfluss rechter Parteien und Bewegungen am stärksten. Vielleicht bringt ja die neue Pro-Europa-Bewegung mit ihren sonntäglichen Kundgebungen etwas Schwung in die Demokratie-Debatte. Aber wie in privaten Beziehungen weiß man, dass Gefühle sehr schwer zu beeinflussen sind.

Übrigens heißt dieser Blog ja Revierpassagen, deshalb noch ein Hinweis auf eine Querverbindung ins Ruhrgebiet: Der neue französische Präsident Macron wurde im kommenden Dezember vor vier Jahrzehnten im schönen Amiens geboren. Das ist seit langer Zeit eine Partnerstadt Dortmunds.




Als Balzac im Zug saß – Heinrich Peuckmann auf den Spuren des ruhmreichen Romanciers

Er war ein Lebemann, ein Draufgänger und zugleich hat er der Nachwelt ein beeindruckendes literarisches Erbe hinterlassen. Die Rede ist von Honoré de Balzac.

Dem französischen Schriftsteller (1799-1850) hat Heinrich Peuckmann sein neues Buch gewidmet. Er greift dazu eine Episode aus der Biographie des bereits zu Lebzeiten populären Romantikers heraus und legt ein pointiertes Portrait des Literaten vor.

peuckmannbalzac

1847 begab sich Balzac auf eine lange Zugfahrt von Paris nach Wierzchowia in der heutigen Ukraine, um dort seine Geliebte, die reiche Großgrundbesitzerin Evelina Hanska, zu besuchen. Sie hatte schon Jahre vorher den Kontakt zu Balzac aufgenommen, doch seine Hoffnung, sie würde ihn nach dem Tod ihres Gatten heiraten, hatten sich (zunächst) nicht erfüllt. Umso mehr hoffte Balzac nun, dass der bevorstehende Aufenthalt endlich zum Ziel führen wurde.

Seine Heimat Paris hatte er aber nicht nur der Liebe wegen Hals über Kopf verlassen, einmal mehr waren seine Geldgeber dem chronisch verschuldeten Balzac auf den Fersen. Sich in damaliger Zeit auf eine Zugreise zu begeben, war für jeden Gast strapaziös, erst recht für einen Mann wie Balzac, den man heute wohl als Workaholic bezeichnen würde. Tag und Nacht arbeitete er an seiner Romanreihe „Menschliche Komödie“ und ruinierte sich nicht zuletzt durch seinen massenhaften Kaffeegenuss die Gesundheit. So litt er unter häufigen Hustenanfällen, die ihn auch auf der mehrwöchigen Reise plagten, wie es Heinrich Peuckmann eindrucksvoll schildert.

Balzacs Gedanken kreisen während der Fahrt aber nicht nur um das eigene literarische Schaffen, er ruft sich auch die Begegnungen mit seiner geliebten Evelina in Erinnerung und denkt zudem gern an die vielen anderen Frauengeschichten, die ihn schon als jungen Erwachsenen in die höchsten Adelskreise führten. Die Eindrücke und Erlebnisse in dieser gesellschaftlichen Umgebung hat er in zahlreichen Werken verarbeitet und dabei den Menschen gern mal den Spiegel vorgehalten. Trotzdem oder auch gerade deshalb erreichte er bereits zu Lebzeiten eine hohe Popularität, wie es auch auf der Zugreise deutlich wird. In Peuckmanns Buch trifft Balzac zahlreiche Zeitgenossen, die ihn schätzen und auch ihre Bewunderung zum Ausdruck bringen.

Das Verhältnis zu Dichtern und Denkern seiner Zeit beschäftigt Balzac stets auf Neue. Das belegen die Zwiegespräche mit Victor Hugo oder Heinrich Heine. Nicht immer sind es die großen philosophischen Diskurse über die Zukunft der Welt, manchmal auch ganz praktische Überlegungen. Heine empfiehlt Balzac, doch mehr Theaterstücke zu schreiben. Mit schnell verdientem Geld könne er sich doch von seinen Schuldnern loseisen.

Wenn Balzac sich in Kindheit und Jugend versetzt, kommt er nicht um das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter herum, die ihn nicht leiden konnte und ihn zu einer Amme gab. Mit dieser Entscheidung haderte Balzac wohl bis zum Tod.

Dass Heinrich Peuckmann intensiv für das Buch recherchiert hat, zeigt sich nicht nur an den vielen Details aus dem Leben Balzacs, sondern auch bei der Beschreibung der Zugfahrt in der Pionierzeit der Eisenbahnen. In Köln mussten die Fahrgäste zu Fuß eine Rheinbrücke passieren, um danach ihre Fahrt mit einem anderen Zug fortzusetzen. In Madgeburg stand zur Überquerung der Elbe eine Fähre für die Bahn parat.

Zu Ehren kommt auch ein Begriff, der heute längst in Vergessenheit geraten ist. Der Name Perron für Bahnsteig/Treppe war seinerzeit in aller Munde. Manche Selbstverständlichkeiten in jener Zeit geben zum Schmunzeln Anlass, unter anderem, wenn es Balzac es ertragen muss, dass eine Frau Hühner und Ziege mittransportiert.

Dieses Mal ist es zwar kein Krimi, den Peuckmann vorlegt, dennoch hat das Buch einen Spannungsbogen. Ob Evelina schließlich zur Heirat bereit ist, diese Frage lässt der Autor nicht unbeantwortet.

Heinrich Peuckmann: „Die lange Reise des Herrn Balzac“. Lychatz Verlag, 124 Seiten, 19,95 Euro




Ich habe keine Lust mehr auf Turnier-Fußball

Nein, wenn es so läuft, habe ich keine Lust mehr auf diese großen Turniere des Fußballs.

Da sind wir uns sicherlich weitgehend einig: Bis auf ganz wenige Ausnahmen, war diese monströs aufgeblähte EM eine flächendeckende Enttäuschung. Die Chose mit den Isländern war hübsch, tröstet aber kaum.

Im Moment der Verletzung: Cristiano Ronaldo (Portugal). (ARD-Fernsehbild/Screenshot)

Im Moment der Verletzung: Cristiano Ronaldo (Portugal). (ARD-Fernsehbild/Screenshot)

Und wie schäbig ging es noch im heutigen Finale zu! Als hätten sie’s erst einmal nur darauf angelegt, säbelten die Franzosen gleich Christiano Ronaldo dermaßen ruppig nieder, dass er kurz danach unter Tränen aufgeben musste. Es war leider einer der größten, weil bleibenden Momente dieser Europameisterschaft.

Ich war bislang kein Ronaldo-Fan. Aber heute habe ich wirklich mit ihm gefühlt – und von Stund’ und Sekund’ an gehofft, dass die Portugiesen trotz aller Widrigkeiten gewinnen sollten. Und tatsächlich. Sie haben es geschafft.

Kein Wort mehr über die fortwährende Langeweile in der Vorrunde, die überwiegende Ödnis selbst noch in den allermeisten K.-o.-Partien. Der Zauber dieses Sports kam nur äußerst selten zur Geltung.

Vom Finale bleiben (neben Ronaldo) vielleicht nur die flatternden Motten in Erinnerung. Eine setzte sich, wenn ich’s richtig gesehen habe, für einen Moment sogar auf Ronaldos weinendes Auge. Das hatte denn doch nahezu mythische Qualität. Und dann noch der finale Jubel…

Aber nun mal Hand aufs Herz: Wer freut sich wirklich aufs nächste WM-Turnier 2018 in Russland oder gar auf 2022 in Katar? Da ist von vornherein der Wurm drin, um das Mindeste zu sagen. Die schon im Ansatz spürbare Idiotie der nächsten EM (anno 2020 mit 24 Teams, auszutragen in 13 ! Ländern) steht dem kaum nach.

Jetzt ist man zunächst dankbar für eine fußballfreie Zeit. Durchatmen. Der Kopf muss frei werden.

Es bleiben uns einstweilen oder auch auf längere Dauer wohl nur die nationalen Ligen, meinethalben auch die spanische, die englische und die italienische. Schade, dass die Bundesliga erst am 26. August wieder startet. Aber sei’s drum. Diesmal verspricht selbst die zweite Liga (schon ab 5. August) einige Spannung – mit Clubs wie Stuttgart, Hannover, Kaiserslautern, Nürnberg, St. Pauli, 1860 München usw.

In der Bundesliga interessiert mich beileibe nicht nur der gründlich umgekrempelte BVB; nein, ich möchte auch wissen, wie sich Werder und der HSV schlagen, was die Neulinge RB Leipzig und Freiburg anrichten. Na, zugegeben: Selbst Schalke ist einem nicht völlig schnurz.




Island – das Wort der Stunde

Island ist das Wort und das Land dieser Tage. Fast niemand, der nicht die neueste Mode mitgemacht hätte, jeden Begriff mit einem angehängten „sson“ zu islandisieren.

Islands Kapitän Aron Gunnarsson, abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild.

Islands Kapitän Aron Gunnarsson, heute abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild.

Doch heute haben die sympathischen Nordländer bei der EM eine ehrenwerte 2:5-Packungsson (harrharr) gegen Frankreich kassiert und sind ausgeschieden. Schade, aber sicherlich auch verdient.

Die Zeiten, als das Wünschen – frei nach Peter Handke – noch geholfen hat, sind vorüber. Auch haben die Isländer ihre anfängliche Unbefangenheit verloren. Sie haben sich wohl aufs Gewinnenwollen versteift und sind dabei verkrampft. Es war zu erwarten.

Keine Gazette, die jetzt nicht ein Island-Special in ihre Spalten gerückt hätte. Beliebte Frage: Wie ticken die Wikinger? Naja. Jedenfalls wird man sich vor allem auch daran erinnern, wenn in zehn oder zwanzig Jahren von dieser EM noch einmal kurz die Rede sein sollte. War das nicht dieses Turnier mit den beherzt kickenden Trollen? Das, was bleiben wird, stiften die Geysire. Oder so ähnlich. Huh!

Es war ja auch ein schöner Traum. Erst haben sie in der EM-Qualifikation die Niederländer heimgeschickt. Dann haben sie bei dieser ansonsten oft so bräsigen EM den Favoritenschreck gegeben. Danke.

David gegen Goliath, das mag man allenthalben. Und ich bin ziemlich sicher: Auf dieses Island können sich insgeheim mancherlei politische Fraktionen einigen. Die Linke mag den Underdog, die Rechte die kernigen „Germanen“. Überschneidungen inbegriffen. So ungefähr. Oha!

Schon jetzt haben sich die Touristenzahlen des ehedem nur recht selten besuchten Eilands immens erhöht. Spätestens im nächsten Jahr dürfte auch so mancher Depp, der bislang nicht einmal die geographische Lage erahnt hat, aus bloßen Gründen des Trends dort einfallen. Arme Isländer. Man möchte schon jetzt um Entschuldigung bitten. Ballermann goes Reykjavik…




Ratlos in Hannover – und überhaupt

Ich möchte kein Politiker sein. Ich möchte kein Polizist sein. Ich möchte kein…

Ist Deutschland ein feiges Land? Das überaus gefährdete Fußballspiel England – Frankreich im Wembley-Stadion wird ausgetragen. Die Begegnung Deutschland – Niederlande in Hannover wird hingegen rund 90 Minuten vor Beginn abgesagt. Aber wer möchte verantwortlich sein, wenn Hinweise auf einen Anschlag vorliegen? Und diese Hinweise müssen schon sehr konkret gewesen sein. Wer weiß.

Screenshot vom Spiel England - Frankreich im Wembley-Stadion.

Screenshot vom Spiel England – Frankreich im Wembley-Stadion.

Bemerkenswerte Einlassung des Bundesinnenministers Thomas de Maizière in seiner Hannoveraner Pressekonferenz: Wollte er alle Journalistenfragen wahrheitsgemäß beantworten, so könnten manche Antworten die Bevölkerung verunsichern…

Was sollen wir nun denken?

Während ich im NDR die Pressekonferenz mit de Maizière, dem niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD) und dem Dortmunder Bundesliga-Chef Reinhard Rauball verfolge, schaue ich im Netz aus den Augenwinkeln auf Szenen der Begegnung in London. Wie nebensächlich der Fußball geworden ist, fast schon ein sinnfreies Gehampel!

Und schon fragt man sich, ob nicht die gesamte Bundesliga gefährdet sein könnte. Und die Premier League. Und die Primera Division. Das alles darf doch nicht wahr sein. Damit wären diverse Geschäftsmodelle bedroht. Und damit ginge es ans Eingemachte des Westens.

Gänsehaut-Bekundungen aller Arten mag ich eigentlich nicht. Aber als Franzosen und Engländer in London gemeinsam die Marseillaise („Aux armes, citoyens, formez vos bataillons“) gesungen haben, war das schon wahrlich „something to be“… Ach, Europa!

Wie ich gerade sehe, läuft im NDR schon wieder ein alter „Tatort“. Na, dann. Kann man ja wohl beruhigt schlafen, oder?




Heute vor 75 Jahren: Hitler kündigte den Angriff auf Frankreich und England an

„Mein Entschluss ist unabänderlich. Ich werde Frankreich und England angreifen zum günstigsten und schnellsten Zeitpunkt.“ Mit diesen Worten kündigte Adolf Hitler heute vor 75 Jahren, am 23. November 1939, in einer Ansprache vor den Oberbefehlshabern der Deutschen Wehrmacht den bevorstehenden sogenannten „Westfeldzug“ an. Der später so bezeichnete „Zweite Weltkrieg“ bekam damit eine ganz neue Dimension.

Auch auf der Avenue des Champs-Elysee marschierte ab 1940 die Deutsche Wehrmacht. (Foto von 2014/Hans H. Pöpsel)

Auch auf der Avenue des Champs-Elysee marschierte ab 1940 die Deutsche Wehrmacht. (Foto von 2014/Hans H. Pöpsel)

Hitler begründete den geplanten Überfall mit dem schon im Osten benutzten Argument: „Die steigende Volkszahl erforderte größeren Lebensraum…Hier muss der Kampf einsetzen.“ Bereíts am 1. September 1939 hatte die Wehrmacht Polen überfallen, und deshalb erklärten dessen Schutzmächte Groß-Britannien und Frankreich zwei Tage später dem Deutschen Reich den Krieg. Weil Hitler von der Überlegenheit der Wehrmacht und der deutschen Rüstungsindustrie überzeugt war, schmiedete er nun seine Angriffspläne in Richtung Frankreich.

Am 10. Mai 1940 begann dann der sogenannte Westfeldzug mit dem militärischen Überfall auf Belgien, Luxenburg und die Niederlande und deren Besetzung. Gut drei Wochen später begann am 5. Juni der Angriff auf Frankreich, das tatsächlich dem schnellen Vorrücken der deutschen Truppen wenig Widerstand leisten konnte.

Bereits am 4. Juni besetzte die Wehrmacht Frankreichs Hauptstadt Paris, aus der sich die noch vorhandenen Teile der französische Armee zuvor zurückgezogen hatten. Am 22. Juni 1940 unterzeichneten in Compiegne die Vertreter des französischen Militärs und der Staatsführung das Waffenstillstandsabkommens – im selben Eisenbahnwaggon, in dem 1918 Deutschland hatte kapitulieren müssen. Die Dritte Französische Republik war damit beendet, Marshall Petain verlegte seine Rest-Regierung nach Vichy.

Gut vier Jahre später, Ende Augsut 1944, begann mit der „Operation Overlord“ die Befreiung von Paris, nachdem bereits im Juni alliierte Truppen in der Normandie gelandet und in den Wochen darauf gegen die Hauptstadt vorgerückt waren. Mit einem Generalstreik in der Stadt und Angriffen der Widerstandskämpfer begann die Befreiungsaktion, die nur deshalb ohne große Schäden und Opfer gelang, weil der deutsche Stadtkommandant Dietrich von Choltitz am 25. August gegen den ausdrücklichen Befehl Hitlers kampflos kapitulierte. Der hatte nämlich verlangt, eher ein „Trümmerfeld“ zu hinterlassen als zu kapitulieren.

So also erlangte Frankreich seine Freiheit zurück, Paris war in doppeltem Sinne gerettet, und die Touristen aus aller Welt können sich auch heute noch an den herausragenden Bauwerken in der Stadt an der Seine erfreuen.




Tanzte man sur oder sous le Pont d’Avignon? – Was aus Hörfehlern entstehen kann

Zumindest in Europa kennt fast jede und jeder das Lied von der Brücke in Avignon, und sei es nur aus dem Vortrag der kleinen Mireille Mathieu. Dort auf der halben Brücke über die Rhône – in Frankreich ist dieser Fluss männlichen Geschlechts (Le Rhône) – wurde angeblich so gern getanzt, nämlich „sur le Pont“. In Wahrheit handelte es sich aber wohl um einen Hörfehler, der sich irgendwann eingeschlichen hat.

Die halbe Brücke von Avignon. (Foto: Hans H. Pöpsel)

Die halbe Brücke von Avignon. (Foto: Hans H. Pöpsel)

Getanzt wurde nämlich ursprünglich unter den Bögen der Brücke, also nicht „sur“, sondern „sous le Pont d’Avignon“. Für die touristische Vermarktung ist das aber gleichgültig – und das Eintrittsgeld zum Betreten der Tanzfläche (auf der Brücke) kann sich sehen lassen. Solche veränderten Schreibweisen durch Hörfehler sind gar nicht so selten. Nehmen wir das Beispiel Japan: Die Japaner nennen ihr eigenes Land in lateinischer Schrift „Nippon“. Die Engländer aber als die ersten europäischen „Entdecker“ verstanden nicht „Nippon“, sondern (in Lautschrift) „Jeppen“, sie schrieben dementsprechend „Japan“, und die Franzosen machten daraus „Japon“.

Ähnlich erging es dem asiatischen Lande Mianmar. Weil der Name von den Einheimischen schnell gesprochen wurde, verstanden die Engländer nicht Mianmar, sondern Burma, aus dem später Birma wurde. Heute ist aus der britischen Schreibweise wieder in lateinischer Schrift die korrekte Bezeichnung Mianmar geworden.

Auch in Westfalen gibt es zahlreiche solcher Umdeutungen. Im Namen meiner münsterländischen Heimatgemeinde „Herzebrock“ zum Beispiel vermutete ich als Kind ganz selbstverständlich die romantische Geschichte von einem gebrochenen Herzen. Tatsächlich aber geht das Wort auf das althochdeutsche „horsabroich“ zurück, und Englischkundige sehen sofort, dass hier etwas vom Pferd erzählt wird, dem „Horse“ – eine sumpfige Pferdeweide war nämlich gemeint. Entsprechend entstand der Stadtname Essen natürlich nicht aus der Nahrungsaufnahme, ebenso wie Dortmund nicht der Ort war, in dem das Essen verschwand, obwohl sich die Restaurantszene heute sehen lassen kann.




Als Japan den Westen betörte – eine schwelgerische Schau im Museum Folkwang

Es ist mal wieder eine dieser Prunk- und Prachtausstellungen des Essener Folkwang-Museums. Seit das Haus Projekt-Partnerschaften mit dem potenten Sponsor e.on (vormals Ruhrgas) pflegt, gibt es solche Schauen mit schöner Regelmäßigkeit. Praktisch immer sind die üblichen Heroen der Klassischen Moderne mit dabei, deren namentliche Signalwirkung weithin ausstrahlende Events garantiert. Diesmal lautet der Titel: „Monet, Gauguin, van Gogh… Inspiration Japan“.

Kitagawa Utamaro: "Die Kurtisane Kisegawa aus dem Matsubaya". Mehrfarbiger Holzschnitt, (© Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst)

Kitagawa Utamaro: „Die Kurtisane Kisegawa aus dem Matsubaya“. Mehrfarbiger Holzschnitt, (© Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst)

Es geht um Japonismen, also japanische Einflüsse in der französischen Kunst, die damals mit der globalen Kunsthauptstadt Paris den Ton angab. Der Betrachtungszeitraum reicht im Wesentlichen von 1860 bis 1910. Das Thema wird mit 400 Werken (davon 65 Gemälde) in zwölf Kapiteln entfaltet, denen zwölf Räume entsprechen. So weit das dürre Zahlenwerk.

Doch so nüchtern bleibt es wahrlich nicht. Irgendwann erreicht man den Gipfel des Schönheitsempfindens: Grandioser, schwelgerischer Höhepunkt ist jener Raum mit den prächtig in Szene gesetzten Seerosenbildern von Claude Monet, dessen Garten in Giverny (Normandie) nach japanischen Vorbildern und mit japanischen Pflanzen angelegt worden war. Kein Wunder also, dass auch die künstlerische Gestaltung japanisierende Züge trägt, nicht zuletzt die serielle Arbeitsweise rührt von daher.

Claude Monat "Der Seerosenteich" (Öl auf Leinwand, 1899). The Metropolitan Museum of Art, H. O. Havemeyer Collection, Bequest of Mtrs. H. O. Havemeyer, 1929 (© Foto: bpk; The Metropolitan Museum of Art)

Claude Monat „Der Seerosenteich“ (Öl auf Leinwand, 1899). The Metropolitan Museum of Art, H. O. Havemeyer Collection, Bequest of Mtrs. H. O. Havemeyer, 1929 (© Foto: bpk; The Metropolitan Museum of Art)

Japonismen waren damals ein Hauptstrang der Kunstentwicklung. Alle Fluchtlinien des Rundgangs laufen gleichsam auf die Apotheose in Monets Garten zu. Ringsum wird anhand von allerlei japanischen und französischen Kunstwerken erwogen, wie die Einflüsse verlaufen sein könnten. Da begegnet man einigen Bildern wie etwa Vincent van Goghs „Sämann“ oder Gauguins „Frauen aus Arles“, die in Kunstlexika ihren festen Platz haben und auch Besucher aus der Ferne anlocken werden.

Es begann wohl mit der Öffnung und Modernisierung Japans sowie der nachfolgenden Japan-Mode, die ganz Westeuropa erfasste. Schon bald tauchten in französischen Gemälden japanische Kunstgegenstände auf – als betörende Zeichen eines luxuriösen zeitgenössischen Lebensstils, der sich alsbald nicht nur in den Alltag der „besseren Kreise“, sondern auch in die Kunst des Westens einfügte.

Paul Gauguin: "Frauen aus Arles" (Öl auf Jute, 1888). Mr. and Mrs. Lewis Larnes Coburn Memorial Collection, 1934.39, The Art Institute of Chicago (© Foto: The Art Institute of Chicago)

Paul Gauguin: „Frauen aus Arles“ (Öl auf Jute, 1888). Mr. and Mrs. Lewis Larnes Coburn Memorial Collection, 1934.39, The Art Institute of Chicago (© Foto: The Art Institute of Chicago)

Die charakteristischen japanischen Rollbilder, Holzschnitte, Masken, Fächer und Gebrauchsgegenstände (Teebehälter, Lackdosen usw.) zeichnen sich durch eine ganz eigentümliche Ästhetik aus, die durch Fremdheit fasziniert haben muss. Mal galt sie als rein und unverdorben oder auch roh, mal als raffiniert und sublim. Ihre zunächst irritierenden Weltbilder weichen jedenfalls deutlich von der europäischen Zentralperspektive ab. Ein und dasselbe Kunstwerk kann viele Blickpunkte nebeneinander haben. Solche Bilder sind nicht auf dreidimensionale Wirkung aus, sondern bleiben flächenhaft, wobei auch leere Flächen bedeutsam sind. Formen entstehen vielfach durch dekorative Arabesken und Ornamente.

Katsushika Hokusai: "Die große Welle vor der Küste bei Kanagawa" (Mehrfarbiger Holzschnitt, um 1831). Privatsammlung. (© Foto: Museum Folkwang)

Katsushika Hokusai: „Die große Welle vor der Küste bei Kanagawa“ (Mehrfarbiger Holzschnitt, um 1831). Privatsammlung. (© Foto: Museum Folkwang)

Hinzu kommen radikale Bildausschnitte, steile Draufsichten, extreme Bildformate, hohe Horizontlinien, kräftige Umrisse und eine besondere („unnatürliche“) Farbgebung. Das alles ist damals sicherlich den Tendenzen entgegen gekommen, die sich in der Moderne ohnehin abzeichneten und auf den Abschied von realistischer Abbildhaftigkeit hinausliefen. Die Impulse aus Japan dürfte den Prozess beschleunigt und intensiviert haben. Übrigens haben offenbar just jene Künstler die Anregungen am feinsinnigsten aufgegriffen, die niemals in Japan gewesen sind. Die wenigen Beispiele von Reisebildern aus Japan wirken demgegenüber geradezu uninspiriert. Es ging eben um Phantasie, nicht um Sightseeing.

Die Kuratorin Sandra Gianfreda hat sich vielfach auf Bestände des Folkwang-Museums stützen können. Schon Karl Ernst Osthaus, Begründer der anfänglich in Hagen beheimateten Sammlung, hatte erlesene Kunst mit japanischem Einschlag gekauft. Auch die von japanischen Künstlern (darunter z. B. die populären Meister Hokusai und Hiroshige) stammenden Exponate hat man jetzt nicht etwa aus japanischen Museen geliehen, sondern es sind überwiegend Stücke, die sich im Besitz französischer Künstler befanden. Das ist ja auch schon eine wichtige Frage: Wer konnte welche japanischen Arbeiten kennen? Wenn man weiß, wer was gesammelt oder sonstwie rezipiert hat, lassen sich auch die Einflüsse besser dingfest machen.

Edgar Degas: "Orchestermusiker" (Öl auf Leinwand, 1872 - überarbeitet 1874-76). Städtische Galerie, Städel Museum, Frankfurt/Main (© Foto: U. Edlemann / Städel Museum / Artothek)

Edgar Degas: „Orchestermusiker“ (Öl auf Leinwand, 1872 – überarbeitet 1874-76). Städtische Galerie, Städel Museum, Frankfurt/Main (© Foto: U. Edlemann / Städel Museum / Artothek)

Ansonsten besteht Frau Gianfreda darauf, dass es hier nicht etwa um einen kolonialistischen Blick der Europäer gehe („Japan war nie eine Kolonie“), sondern um (wertneutrale?) transkulturelle Vermittlungen. Überhaupt handle die Ausstellung „nicht von Politik, sondern nur von Ästhetik“. Ob man da auf eine Dimension verzichtet, die so manches noch ganz anders erhellen könnte?

Eine etwas schmale These der Schau lautet, dass sich französische Künstler nach und nach Motive und Duktus der japanischen Kunst anverwandelt hätten, bis dies sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen war. Hier beginnt freilich auch schon eine Schwierigkeit. Japanische Anregungen wurden, so scheint es, zuweilen dermaßen verinnerlicht und eigenschöpferisch fortgeführt, dass man sie kaum noch als solche ausmachen kann. Da droht das Thema der Ausstellung beinahe zu verschwimmen. Folglich verzichtet man auch auf direkte Gegenüberstellungen, sondern lässt das Thema teils im Ungefähren durch die Raumfolgen wabern.

Paul Cézanne: "Montagne Sainte-Victoire" (um 1890). Musée d'Orsay, Paris (© Foto: bpk / RMN - Grand Palais / Hervé Lewandowski)

Paul Cézanne: „Montagne Sainte-Victoire“ (um 1890). Musée d’Orsay, Paris (© Foto: bpk / RMN – Grand Palais / Hervé Lewandowski)

Ob und inwiefern sich etwa die luftig-duftigen Balletteusen eines Edgar Degas noch der japanischen Inspiration verdanken, ist wohl nicht ganz leicht zu belegen. Auch leuchtet nicht ohne weiteres ein, dass die Wellenbilder von Gustave Courbet auf Hokusais „Große Welle“ zurückgeführt werden können. Nun gut. In solcher Mehrdeutigkeit mag denn auch ein flirrendes Element der Spannung liegen.

Allerdings gibt es auch etliche entschiedene, sehr frappante Japonismen, seien es eine „Japonaiserie“ von van Gogh, ein zartes Blumenbild von Odilon Redon, Cézannes Ansichten der „Montagne Sainte-Victoire“, hinreißende Plakate von Pierre Bonnard und Toulouse-Lautrec oder die Holzschnitte von Félix Vallotton.

Einen erotischen Nachklang hat die Ausstellung auch noch. Reihenweise hat Pablo Picasso 1968 Erotika im quasi-japanischen Stil hervorgebracht. Da geht es freizügig „zur Sache“. Passende Kapitelüberschrift: „Die Kunst ist niemals keusch“.

„Monet, Gauguin, van Gogh… Inspiration Japan“. 27. September 2014 bis 18. Januar 2015. Geöffnet Di-Do 10-20, Fr 10-22, Sa/So 10-18 Uhr. Eintritt 13 Euro (ermäßigt 8 Euro). Führungen Tel.: 0201/201 8845 444. Katalog 39 Euro. Internet: www.inspiration-japan.de




„Menschenschlachthaus“: Wie die Kunst den Ersten Weltkrieg nicht fassen konnte

Gert Heinrich Wollheim: "Der Verwundete" (1919), Öl auf Holz (Privatbesitz Berlin / © Nachlass Gert Wollheim)

Gert Heinrich Wollheim: „Der Verwundete“ (1919), Öl auf Holz (Privatbesitz Berlin / © Nachlass Gert Wollheim)

Als auch die Künstler in den Ersten Weltkrieg geraten, ist ihre anfängliche Kampfes-Euphorie sehr bald vorüber. Die Bilder vom Kriege, zwischen 1914 und 1918 entstanden, enthalten hin und wieder patriotische Appelle, doch kaum noch triumphale Gesten.

Ja, die Kunst macht sich geradezu klein vor der schrecklich übermächtigen Wirklichkeit, wie man jetzt in einer bemerkenswerten Wuppertaler Ausstellung sehen kann. So manche Skizze ist im Schützengraben oder an der Frontlinie entstanden. Dorthin konnte man keine Staffeleien und Leinwände mitnehmen. Doch auch die im Atelier gemalten Ölbilder haben meist bescheidene Ausmaße.

„Menschenschlachthaus“ heißt die Ausstellung mit drastischer Deutlichkeit, der Untertitel lautet „Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst“. Das Partnermuseum (Musée des Beaux-Arts) in Reims, das rund die Hälfte der rund 350 Exponate beigesteuert hat und die Schau ab 14. September übernehmen wird, will einen dezenteren Titel wählen, denn jenseits des Rheins wird der Erste Weltkrieg bis heute anders gesehen. Dort verknüpfen sich – über das Leidensgedächtnis hinaus – ungleich mehr nationale Gefühle damit, auch solche der Genugtuung und des Stolzes.

Reims hat wegen der im Ersten Weltkrieg zerstörten und später wieder aufgebauten Kathedrale (Krönungsort französischer Könige) eine herausragende Bedeutung für Frankreichs Selbstbild. So kommt es, dass im September vermutlich Frankreichs Präsident Hollande und Bundeskanzlerin Merkel die Ausstellung in Reims eröffnen werden.

Gustave Fraipont: "Brand der Kathedrale von Reims". Lavierte Gouache und schwarze Tinte, Feder und Tusche (Reims, Musée des Beaux-Arts)

Gustave Fraipont: „Brand der Kathedrale von Reims“. Lavierte Gouache und schwarze Tinte, Feder und Tusche (Reims, Musée des Beaux-Arts)

Die Ausstellung konzentriert sich ganz auf die beiden Nachbarländer und blendet alles weitere Kriegsgeschehen aus. Sie berührt freilich auch so einen weiten Themenkreis, setzt sie doch schon bei unguten Vorahnungen, kriegsträchtigen Stimmungen und beim Zustand der Kunst vor 1914 ein und verfolgt die Linie bis zu Tendenzen der 1920er Jahre, als in Deutschland die Neue Sachlichkeit aufkam und französische Künstler sich im weiten Feld zwischen Neoklassizismus und Kubismus bewegten. Der Kernbestand aber widmet sich der eigentlichen Kriegszeit, ob nun an oder hinter der Front.

Jüngst hat eine andere, thematisch verwandte große Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle („Die Avantgarden im Kampf“) die These verfechten und illustrieren wollen, der Erste Weltkrieg habe die Künste beflügelt. Gerhard Finckh, Direktor des Wuppertaler Von der Heydt-Museums, mag diesem Ansatz nicht folgen. Im Gegenteil. Alle damals wesentliche Richtungen hätten sich unabhängig vom Krieg gebildet und seien bereits vorher zur Blüte gelangt. Zudem hätten die allermeisten Künstler dann den Krieg bildnerisch gar nicht zu fassen bekommen.

Pierre Bonnard: "Zerstörtes Dorf an der Somme" (um 1917), Öl auf Leinwand (Centre national des arts plastiques, Inv. FNAC 5891 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Pierre Bonnard: „Zerstörtes Dorf an der Somme“ (um 1917), Öl auf Leinwand (Centre national des arts plastiques, Inv. FNAC 5891 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Darf man da von einem Versagen sprechen? Wie will man denn auch mit den überlieferten Mitteln der Zeichnung, der Tafelmalerei oder Skulptur die wirklichen Gräuel „angemessen“ darstellen? So wird die bildende Kunst in keiner Hinsicht „fertig“ mit dem Krieg.

In Wuppertal ruft man demzufolge Fotografie, Film und Literatur (mit längeren Textpassagen in der Ausstellung) zur Hilfe, um dem Thema gleichsam mehrdimensional beizukommen. So entfaltet die Schau, die ohnehin zwischen Kunstgeschichte und politischer Geschichte oszillieren muss, eine anfangs geradezu irritierende Vielfalt der Perspektiven.

Selbst ein Max Beckmann hat zunächst den Krieg begrüsst, der seiner Kunst „zu fressen“ gebe, also starke Themen liefere. Sogar ein Otto Dix wirkt auf einem Selbstporträt noch gewaltbereit, wenngleich Brüche und Verstörungen zu spüren sind. Ähnliche Phänomene der Begeisterung gibt es auch auf französischer Seite.

Max Beckmann: "Selbstbildnis als Krankenpfleger" (1915), Öl auf Leinwand (Kunst- und Museumsverein Wuppertal / VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Max Beckmann: „Selbstbildnis als Krankenpfleger“ (1915), Öl auf Leinwand (Kunst- und Museumsverein Wuppertal / VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Im Folgenden findet man etliche Schattierungen der Kunst im Kriege. Wenn Maurice Denis ein preußisches Schwein darstellt, das ein unschuldiges Kind brutal niedertrampelt, so ist dies natürlich Propaganda. Man sieht hie und da patriotische Posen und Heroisierungen, Stilisierungen, Überhöhungen oder auch naive Betrachtungsweisen.

Dabei kommt es der Ausstellung zugute, dass in ihrer Fülle nicht nur berühmte Künstler vertreten sind, sondern auch einige Unbekannte, zuweilen ersichtlich weniger Talentierte. So wird deutlicher, wie und warum die herkömmliche Malerei vielfach am Thema scheitert und scheitern muss.

Doch einige wenige Künstler lassen die rohe Wahrheit der Materialschlachten und der massenhaft zerfetzten Körper aufblitzen. So zeigt Otto Dix’ (hier komplett präsentierte) Mappe „Der Krieg“ in bizarrer Zuspitzung denn doch einiges vom innersten Zerstörungswesen des Krieges. Das Totentanz-Konvolut, zu dem 50 Radierungen gehören, ist freilich erst 1924 entstanden. Auch Conrad Felixmüllers „Soldat im Irrenhaus“ (1919) ist ein solcher Aufschrei, bis ins Mark erschütternd.

Neben dem grotesken Zugriff, für den beispielsweise auch George Grosz steht, scheint äußerste lakonische Zurückhaltung eine weitere Möglichkeit zu sein, sich der schlimmen Wahrheit zu stellen. Anders herum gesagt: Wo immer sich die künstlerischen Mittel zu sehr aufdrängen (oder eben auch nicht genügen), geht die Anstrengung fehl. Traditionelle Regeln gelten hier ohnehin nicht mehr. Allseits zerfallende Strukturen müssen auch im Bild ihre Entsprechung finden. Sonst ist es von vornherein Verharmlosung.

Félix Vallotton: "Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne (1917, Öl auf Leinwand (Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine - BDIC)

Félix Vallotton: „Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne (1917, Öl auf Leinwand (Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine – BDIC)

Eines der großartigsten Bilder der Ausstellung offenbart wohl auch einen Zwiespalt. Félix Vallottons „Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne“ (1917) ist mit seinen Tausenden von Grabkreuzen ein grandioses Monument stiller Trauer, doch könnte man auch argwöhnen, dies sei eine nahezu abstrakte Ansammlung von Ornamenten. Es ist ein schwankender Gang auf dem Grat – wie alle Kunst vom Kriege.

„Menschenschlachthaus. Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst.“ Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Vom 8. April bis 27. Juli 2014. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Mo geschlossen. Karfreitag und Ostersonntag 11-18 Uhr, Ostermontag und Maifeiertag geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 25 Euro. Umfangreiches Begleitprogramm. Informations-Hotline: 0202/563-26 26. www.von-der-heydt-museum.de




Michel Houellebecq: „Karte und Gebiet“ – Schauplatzbesichtigungen

Wird sich Michel Houellebecq auf seine alten Tage zu einem Autor von Frankreich-Reiseführern entwickeln? Unwahrscheinlich. Dennoch laden die detaillierten Ortsangaben in seinem zuletzt erschienenen Roman Karte und Gebiet zu Schauplatzbesichtigungen ein. Und mit dem Fotografen, Maler und zuletzt auch Videokünstler Jed Martin hat Houellebecq einen Protagonisten gewählt, der französische Städte, Dörfer und Landschaften mit distanzierter Neugier beobachtet – „dieses Land, das unbestreitbar das seine war.“

Jed Martin wohnt in einem Dachgeschoss-Atelier im 13. Arrondissement. Durch die Fenster sieht er hinter der Place des Alpes die „in den Siebzigern erbauten viereckigen Festungen, die in totalem Gegensatz zur Ästhetik der restlichen Pariser Landschaft standen und die Jed vom architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog.“

Obwohl sozusagen intra muros gelegen, also innerhalb des Boulevard Périphérique und nicht in der berüchtigten Banlieue, würde ein durchschnittlicher Paris-Tourist diese mit „Sehenswürdigkeiten“ eher dünn bestückte Gegend nicht bei seinem ersten Besuch der Stadt ablaufen, und wenn es keinen besonderen Anlass gibt, auch noch nicht beim zwanzigsten. Jeds bevorzugtes Bistro, in dem er sich mehrfach mit seinem Galeristen Franz verabredet, liegt in der Rue du Château des Rentiers. Ein wohlklingender Name. Aber die Straße in unmittelbarer Nachbarschaft vieler Betonbauten ist nicht für ihre Restaurants berühmt. Ein Stadtbewohner mit konventionelleren ästhetischen Erwartungen an französische Gastronomie würde, von Jeds Atelierwohnung gleichweit entfernt, zum Beispiel die Butte-aux-cailles nahe der Avenue Tolbiac mit ihrer Kneipenvielfalt entdecken. Es ist, als lenke der Autor den Blick absichtlich auf die unspektakulären, „langweiligeren“ Straßenzüge neben den charmanteren. Als wolle er zu einer hellwachen Reise durch vermeintliche Belanglosigkeiten einladen.

Obwohl durch seine Kunst zu unverhofftem Reichtum gelangt, orientiert sich der Maler nicht am Guide Michelin, sondern holt sich seine Pringles-Chips (der Autor kennt keine Zurückhaltung bei Produktnamen) an der Shell-Tankstelle und schließt sich damit zu Hause ein.

Viereckige Festungen, die Jed vom architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog

 

Eine Selbstpersiflage des Autors

Als nicht unwichtig für Jed Martins – nur mit der Irrationalität des Kunstmarkts erklärbaren – exorbitanten Geschäftserfolg erweist es sich, dass er auf Anregung seines Galeristen eine Romanfigur namens Michel Houellebecq, die unübersehbare Ähnlichkeiten mit dem Autor Michel Houellebecq aufweist, dafür gewinnt, ein Vorwort zum Ausstellungskatalog seiner „Serie einfacher Berufe“ zu verfassen. Diese Spiegelung als Figur in seinem Roman gibt dem Autor die Möglichkeit zur Selbstpersiflage als menschenscheuen Alkoholiker. Wintertage, an denen es um vier Uhr dunkel wird, sind dem zur Depressivität Neigenden weit erträglicher als die endlosen Sommertage. Die EDV-Experten der Polizei, die später Houellebecqs Festplatte untersuchen werden, stellen fest: „Selten jemanden gesehen, der ein so beschissenes Leben führte.“

Jeds Vater, als Architekt im Ruhestand, hat aus der Bibliothek seines Altenheims zwei Romane von Michel Houellebecq gelesen und zeigt sich informiert, als Jed ihm von dem beabsichtigten Vorwort berichtet: „Das ist ein guter Autor, wie mir scheint. Liest sich sehr angenehm, und er zeichnet ein ziemlich zutreffendes Bild unserer Gesellschaft.“ So liefert Houellebecq eine – gar nicht einmal beschönigende – Rezension seines Buchs gleich mit.

Den Kontakt zu dem cleveren Skandalautor vermittelt dem Maler Houellebecqs Schriftsteller-Freund Frédéric Beigbeder, der – ebenso wie die Flammarion-Verlegerin Teresa Cremisi – im Roman mehrere Cameo-Auftritte hat; zuerst während einer Literaturpreisverleihung, als Beigbeder lebhaftes Interesse an der Frage zeigt, welcher Mann die attraktive Olga für sich gewonnen hat. Beigbeders Ort ist das Café de Flore am Boulevard Saint-Germain, für das der wirkliche Frédéric Beigbeder den Literaturpreis Prix de Flore begründet hat, zu dessen Preisträgern Houellebecq gehörte.

Über die gutaussehende und erfolgreiche Russin Olga Sheremoyova – PR-Frau bei Michelin France, die zunächst berufsbedingt auf den jungen Künstler aufmerksam wird – bringt der Autor seine Leser mit einem anderen Paris, dem Paris der Partys und gesellschaftlichen Empfänge, der Sterne-Restaurants und „Romantikhotels“ in Kontakt. Olga bewohnt eine komfortable Zweizimmerwohnung mit Fenstern zum Jardin de Luxembourg.

Im Verlauf der Handlung kommt es zu drei persönlichen Begegnungen zwischen Jed Martin und Michel Houellebecq. Das erste Mal in Houellebecqs Haus in Irland, als Jed dem Schriftsteller Fotos seiner Gemälde zeigt. Das zweite Mal, ebenfalls in Irland, nachdem Jed sein Doppelporträt „Jeff Koons und Damien Hirst teilen den Kunstmarkt unter sich auf“ verworfen hat und stattdessen die Serie mit einem Bild „Michel Houellebecq, Schriftsteller“ abschließen möchte. Das Gemälde, das nach der Ausstellungseröffnung einen Marktwert von ca. 750.000 Euro erreicht, überbringt er dem Schriftsteller als Geschenk, der seinen Wohnort nach Souppes, ca. fünfundachtzig Kilometer südlich von Paris, verlegt hat. Von Freundschaft zu sprechen wäre bei den beiden egozentrischen Künstlernaturen verfehlt. Jed respektiert das Recht des zwanzig Jahre Älteren, in Frieden gelassen zu werden, doch seine Phantasie malt sich aus, wie sie beide, die eine Vorliebe für große Verbrauchermärkte teilen, durch das Warenangebot schlendern. „Wie schön wäre es doch gewesen, gemeinsam diesen frisch renovierten Casino-Supermarkt zu besuchen, sich gegenseitig mit dem Ellbogen anzustoßen, um den anderen auf das Auftauchen neuer Produktsegmente oder eine besonders ausführliche, klare Nährwertkennzeichnung auf einem Etikett hinzuweisen!“ Auch sonst sind sich die beiden Sonderlinge ziemlich ähnlich. Bei ihrer letzten Begegnungen sprechen sie über die Sozialutopisten des frühen und späteren 19. Jahrhunderts, Charles Fourier, Étienne Cabet, vor allem aber über William Morris, der ein wesentlicher Bezugspunkt für Jeds Vater gewesen war.

Heimlicher Protagonist

Jeds Vater, Jean-Pierre Martin, der im Umfeld der Bewegung Figuration Libre gegen die tonangebende Schule Mies van der Rohes und Le Corbusiers polemisierte und unter unorthodoxen Intellektuellen wie Gilles Deleuze Beachtung fand, ist vielleicht der heimliche Protagonist des Romans. Um seine Familie zu ernähren – in seiner erfolgreichsten Zeit beschäftigt sein Büro bis zu fünfzig Mitarbeiter – baut er jedoch gegen seine ästhetische Überzeugung vor allem „idiotische Strandhotels für blöde Touristen“. Für seine Familie und sich (Jeds Mutter begeht Selbstmord) hat er im damals noblen Vorort Le Raincy eine Villa gekauft, an der er trotz aller sozialen Veränderungen festhält. Zur Zeit des Romanbeginns ist Le Raincy bereits zu einer No-go-Area mutiert, für die kein Taxichauffeur einen Fahrauftrag annimmt. Nach dem Tod des an Darmkrebs leidenden Vaters, der sich in die Hände einer Züricher Sterbehilfeklinik begeben hat – ein „mustergültig banaler Betonklotz“ im Stil Le Corbusiers – entdeckt Jed dreißig Mappen mit minutiösen, teilweise utopisch anmutenden Architekturzeichnungen, die sein Vater angefertigt hat – „ohne jede Rücksicht auf Durchführbarkeit und Budget“.

„Die Karte ist interessanter als das Gebiet“ hieß Jeds erste, vom Reifen- und Kartenhersteller Michelin gesponserte Einzelausstellung – ein Gedanke, der in dem vielschichtigen Roman variiert wird und auch das phantastische Werk von Jeds Vater kommentiert. Grob vereinfacht und von dem kunstfertigen Autor so direkt nicht ausgesprochen, könnte eine Deutung des Ausstellungsmottos auch lauten: Die Literatur ist interessanter als die Wirklichkeit.

Die literarische Figur Michel Houellebecq – das sei verraten – ist im dritten Teil des Roman auf eine Weise geschlachtet worden, die selbst die sadistischsten Phantasien eines jeden Houellebecq-Hassers übertreffen würde. Die Köpfe des Schriftstellers und seines Hundes, jeweils sauber abgetrennt, liegen auf Sofa und Sessel einander gegenüber. Das Fleisch ist mit einem chirurgischen Präzisionsinstrument von den Knochen geschält worden, die abgeschabten Knochen im Kamin aufgehäuft. Während der Hauptkommissar der „schwer zu entziffernden Logik“ des methodisch ausgeführten Gemetzels nachgrübelt, erinnert das Arrangement aus Fleischbrocken, Hautfetzen und Blutflecken auf dem Wohnzimmerboden den zum Verbrechensschauplatz geführten Künstler Jed Martin spontan an Jackson Pollocks Action Painting, jedoch ohne dessen Leidenschaftlichkeit. Das gesamte grausame Ritual, wie nach Jeds wertvollem Hinweis gefolgert wird, hat der Mörder offenbar allein auf sich genommen, um von einem Kunstraub abzulenken. Das Houellebecq-Porträt, dessen Wert Jed der Polizei gegenüber zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf neunhunderttausend Euro schätzt, ist aus dem Haus gestohlen worden. Als es schließlich nach dreijähriger Suche wieder auftaucht und wegen einer testamentarischen Verfügung Houellebecqs in Jed Martins Besitz zurück gelangt, kann sein Galerist es an einen indischen Mobiltelefonanbieter für zwölf Millionen Euro verkaufen.

Die Figuren und ihre bevorzugten Orte

Mit dem Schauplatz des Mords, dem zwischen Nemours und Montargis gelegenen Provinzstädtchen Souppes, wird ein Ort beschrieben, dessen „strukturbedingte Leere“ Jed an den Zustand nach der intergalaktischen Explosion einer Neutronenbombe erinnert. Außerirdische Wesen könnten sich „an dessen gemäßigter Schönheit erfreuen“ und „rasch die Notwendigkeit der Instandhaltung begreifen.“ Mag sein. Sollte es sich bei den Aliens jedoch um Wesen mit der ästhetischen Intelligenz vieler Terraner handeln, fände ihre konservatorische Fürsorge zwischen Paris und der Creuse erhaltenswertere Ortschaften als das mit „gemäßigter Schönheit“ freundlich bewertete Souppes sur Loing.

„Strukturbedingte Leere“. In Souppes sur Loing wird die Romanfigur Michel Houellebecq auf grausamste Weise ermordet.

 

Die detaillierten, teils gut beobachteten, teils in die nahe Zukunft phantasierten Ortsdarstellungen wären für einen Literaturkritiker oder -wissenschaftler vernachlässigbar, dienten sie dem Autor nicht als ein Mittel, seine Romanfiguren auf eine vergleichbare Art zu porträtieren wie auch Jed Martin in seiner „Serie einfacher Berufe“ den Bildhintergrund jeweils sehr sorgsam arrangiert. Hier wie dort ist die Umgebung Bestandteil des jeweiligen Porträts.

Polizei-Hauptkommissar Jasselin, der den Mord an Houellebecq aufzuklären hat und aus dessen Perspektive mit dem Beginn des dritten Teils erzählt wird, ist ein anderer Typ als der Maler und der Schriftsteller. Er wohnt nicht weit von Jed entfernt, etwas näher an der Seine, im 5. Arrondissement, scheint aber in einer völlig anderen Welt zu verkehren. Sonntagsmorgens begleitet er seine Frau gern beim Einkauf über die Marktstraße Rue Mouffetard mit dem Platz vor der Saint-Médard-Kirche, eine Ecke, die ihn jedes Mal bezaubert. Manchmal schlendert er auf dem Weg zur Pariser Kriminaldirektion am Quai des Orfèvres den Fluss entlang und teilt vom Pont de l’Archevêché mit Paristouristen einen Blick auf Notre-Dame. Er wählt kein Restaurant zwischen zweckdienlichen Betonkästen, sondern eines an der Place Dauphine, einem Platz an der Spitze der Île de la Cité, auf dem Boule gespielt wird. Und doch gibt es, etwa in ihren handwerklichen Methoden, auch Gemeinsamkeiten zwischen dem Schriftsteller und dem Polizisten.

Hauptkommissar Jasselin liebt es, am Sonntagmorgen seine Frau beim Einkaufen in der Rue Mouffetard zu begleiten.

 

Die Entdeckung der Provinz

Karte und Gebiet breitet verschiedene Facetten von Paris und seiner Vororte aus. Die Besonderheit des alternden (pardon, er stellt sich selbst so dar) Houellebecq aber ist die Entdeckung der Provinz.

Die Romanhandlung – und auch Jed Martins Leben – endet in einem Gebiet, das als Karte schon früh Jeds künstlerische Laufbahn bestimmt hat. Als er damals mit seinem Vater zur Beerdigung der Großmutter ins Limousin fuhr, machte er an einer Raststätte auf der A 20 „eine große ästhetische Erfahrung“, die ihn beim Auseinanderfalten der Michelin-Département-Karte 325 zittern ließ. „Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen.“

Einen von ihm fotografierten und mit technischen Mitteln veränderten Ausschnitt dieser Karte der Départements Creuse und Haute-Vienne präsentiert er als einziges vergrößertes Foto in einer von der Ricard-Stiftung gesponserten Sammelausstellung und beeindruckt damit unter anderem die schöne Olga, mit der ihn zeitweise eine Liebschaft verbindet und die als PR-Frau bei Michelin seine weitere künstlerische Karriere begleitet. Genauer gesagt, sie liebt ihn, während er nur für seine Kunst lebt.

Das Haus seiner Großmutter und die vom reich gewordenen Jed Martin aufgekauften angrenzenden Grundstücke dienen ihm in den letzten dreißig Jahren seines Lebens als Rückzugsort und als Material seiner späten künstlerischen Großprojekte.

Auch dieses Gebiet grenzt der Autor scheinbar überaus präzise ein: Das vordere Tor des 700 Hektar großen Geländes liegt an der D50; nur drei Kilometer sind es bis zur Auffahrt auf die A20 nach Limoges; in seinem rückwärtigen Teil geht das Grundstück in den Wald von Grandmont über. Das ist sowohl auf der Karte als auch im Gelände nachvollziehbar. Zugleich lokalisiert Houellebecq das Dorf Châtelus-le-Marcheix unmittelbar hinter der Rückfront des umzäunten Gebiets. Wo es aber in Wirklichkeit nicht liegt, sondern Luftlinie mindestens fünfzehn, über die kurvenreichen Straßen aber rund dreißig Kilometer weiter östlich. Eine Ungenauigkeit des sonst in allem so präzisen Autors? Oder aber Houellebecq möchte uns zeigen, dass die imaginären, künstlerisch geformten Landkarten der Literatur etwas noch anderes sind als die maßstabgetreue Umsetzung von Karte und Gebiet.

Denn auch Jed fotografierte nicht einfach nur die Michelin-Karten ab. „Er hatte eine stark geneigte optische Achse gewählt, einen Winkel von dreißig Grad zur Horizontalen, und die Filmstandarte für größtmögliche Tiefenschärfe maximal gekippt. Anschließend hatte er mit Hilfe von Photoshop-Filtern eine Entfernungsunschärfe und einen bläulichen Effekt am Horizont erzielt.“

Obwohl Houellebecq die Instrumente des Künstlers mit einem ähnlichen „enzyklopädischen Ehrgeiz“ beschreibt, mit dem Jed zu Beginn seiner Laufbahn „Gegenständen menschlicher Fertigung im industriellen Zeitalter“ fotografierte, klingen die Resultate der Kunst nie rein technisch und manchmal geradezu poetisch. Auf dem Foto führen gewundene Straßen „durch die Wälder, die wie eine unantastbare, feenhafte Traumlandschaft wirkten.“

Gehen wir davon aus, dass auch der Autor bei allem augenscheinlichen Realismus einen Unschärfefilter über gewisse Entfernungsangaben legt, ebenso wie er umgekehrt manche Details oder entfernt Gelegenes besonders scharf einstellt. Die „Creuse“ des Romans ist gewissermaßen die Anwendung der Scheimpflugschen Regel auf die Literatur. Auch in der zeitlichen Ausdehnung.

Der Maler Jed Martin kauft zwischen der D50 und Grandmont ein 700 ha großes Waldgebiet.

 

Selbst gewählte Isolation eines Sonderlings

Das verschlafene Châtelus-le-Marcheix wird im Roman zu einem Stückchen Science Fiction. Als Jed nach einem Jahrzehnt selbst gewählter Isolation das Dorf am Hinterausgang seines Grundstücks wieder betritt, findet er ein völlig verwandeltes Ambiente vor. Gleich drei Internet-Cafés auf hundert Metern, auf denen zuvor technologische und gastronomische Ödnis waltete. Die der Belle Époque nachempfundenen Bistro-Tischchen haben schmiedeeiserne Füße, und neben ihnen stehen Jugendstillampen, ihre Edelholzplatten sind aber allesamt mit Dockingstationen für Laptops, 21-Zoll-Bildschirmen und Steckdosen nach europäischer und amerikanischer Norm ausgerüstet. Die in Traditionen verwurzelte Landbevölkerung hat einer unternehmerischen, urbanen und weltoffenen Generation mit „bisweilen auch gemäßigten ökologischen Überzeugungen, die sich mitunter vermarkten ließen,“ Platz gemacht.

Châtelus-le-Marcheix – auf hundert Metern drei Internet-Cafés

Zu den letzten im Roman erzählten Ereignissen gehört der Tod von Frédéric Beigbeder, den Houellebecq im Alter von einundsiebzig sterben lässt. So kann man errechnen, dass sich die Handlung inzwischen im Jahr 2036 bewegt. Was Jed dreißig Jahre lang gemacht hat, erzählt er kurz vor seinem Tod einer eher unerfahrenen Journalistin der Art Press (zum Ärger des Kollegen von Le Monde). Er hat mit Video-Aufnahmen Verfallsprozesse dokumentiert. Jedoch nicht in automatisierter Zeitraffer-Einstellung. Vielmehr montiert er sorgsam ausgesuchte Einzelaufnahmen und überlagert sie in Mehrfachbelichtung mit anderen. Sein riesiges Grundstück lässt er verwildern, fährt jedoch fast täglich die einzige Straße entlang und – in der Absicht, „die pflanzliche Sichtweise der Welt wiederzugeben“ – nimmt er auf, wie die Vegetation jedes Menschenwerk überdeckt. Fotos der wenigen Personen, die zeitweise sein Leben begleitet haben, setzt er auf einer metallgerahmten Leinwand dem Sonnenlicht und der Witterung aus und filmt ihre Zersetzung. In Landschaften aus Tastaturen, Hauptplatinen und anderen elektronischen Bauteilen kopiert er kleine Spielzeugfiguren und hilft dem Verfall des Plastiks nach, indem er es mit verdünnter Schwefelsäure übergießt. Das Nachsinnen über das Ende des industriellen Zeitalters in Europa, heißt es gegen Ende des Romans, könne jedoch nicht das Unbehagen oder das Gefühl der Verzweiflung erklären, „das uns beim Betrachten dieser kleinen, ergreifenden Playmobilfiguren befällt, die sich inmitten einer riesigen futuristischen Stadt verlieren, einer Stadt, die ihrerseits zerfällt, sich auflöst und nach und nach in der pflanzlichen, sich bis ins Endlose hinziehenden Weite unterzugehen scheint.“

Das Ruhrgebiet als Quelle der Inspiration

Vor dem Beginn des rund dreißigjährigen Rückzugs und gewissermaßen als Quelle der Inspiration stand eine Reise ins Ruhrgebiet. „Von Duisburg bis Dortmund und von Bochum bis Gelsenkirchen waren die meisten ehemaligen Stahlwerke in Freizeitzentren verwandelt worden, in denen Ausstellungen, Theatervorführungen und Konzerte veranstaltet wurden.“ Unter anderem auch eine große Jed-Martin-Retrospektive. Aber nicht bei allen Anlagen ist es gelungen, sie in das Konzept eines industriellen Tourismus einzubeziehen. „Diese industriellen Kolosse, in denen sich früher der Großteil der deutschen Produktionskapazität konzentriert hatte, waren inzwischen verrostet oder halb eingestürzt, Pflanzen nahmen von den ehemaligen Werkstätten Besitz, überwucherten die Ruinen und verwandelten das Ganze nach und nach in einen undurchdringlichen Dschungel.“

Houellebecqs Prognosen über Frankreichs Zukunft

Als Jed nach jahrzehntelangem Rückzug in die Welt zurückkehrt, stellt er sich als Künstler die Frage, welches Bild aus seiner „Serie einfacher Berufe“ noch Gültigkeit haben mag. Der Beruf der Fernwartungstechnikerin existiert in Frankreich nicht mehr, diese Stellen wurden von Kolleginnen in Brasilien und Indonesien übernommen. Sein Porträt „Aimée, Escort Girl“ jedoch ist nach wie vor aktuell.

In den letzten Jahren waren wirtschaftliche Krisen fast unablässig aufeinander gefolgt. „Diese Krisen waren immer heftiger und derart unvorhersehbar geworden, dass es geradezu burlesk war – zumindest vom Standpunkt eines spöttischen Gottes, der sich wahrscheinlich hemmungslos über die finanziellen Zuckungen lustig gemacht hätte, die quasi über Nacht ganze Erdteile von der Größe Indonesiens, Russlands oder Brasiliens mit Reichtum überhäuften, ehe diese ebenso plötzlich von Hungersnöten heimgesucht wurden, was jeweils Bevölkerungen von Hunderten Millionen Menschen betraf.“

Frankreich hat alle globalen Höhenflüge und Tiefschläge fast unbeschadet überstanden. Seine Krisenfestigkeit verdankt es nicht den französischen Autos, nicht dem Airbus, nicht den Waffenexporten, sondern seinem nicht totzukriegenden Image, das Land der Lebenskunst zu sein. Es vermarktet einfach das Savoir-vivre mit Wein, Käseherstellung, „Romantikhotels“ und Parfüm. Wo immer sich das Kapital gerade befindet, in China, Russland, Dubai, Indonesien oder Brasilien – die Touristen kommen aus aller Welt und suchen die französischen Dörfer auf. Und erstmals seit dem frühen 19. Jahrhundert blüht in Frankreich auch wieder Sextourismus auf – ein Thema, zu welchem Houellebecq seine Expertise zuvor unter Beweis gestellt hat (Plattform, 2001).

Houellebecq prognostiziert für Frankreich einen Anstieg des Sextourismus.

Die meisten Franzosen aber können sich in naher Zukunft einen Urlaub in ihrem Heimatland nicht mehr leisten – was sich nach der Darstellung der Michelin-Insiderin Olga Sheremoyova bereits ab etwa 2010 abzeichnete. Also: Hin! Bevor Frankreichs gute Art zu leben für uns krisengeplagte Industrieländer unbezahlbar geworden sein wird.

Houellebecq, der in Karte und Gebiet mehrfach als „der Autor der Elementarteilchen“ auftaucht, könnte vielleicht mit mindestens gleicher Berechtigung als „Autor von Karte und Gebiet“ in die Literaturgeschichte eingehen. Wenn dabei solche Bücher entstehen, dürfen wir im eigenen Interesse dem Autor weiterhin ein beschissenes Leben wünschen.

Aktuell:

Der Autor und Theaterregisseur Falk Richter hat den 2010 in Frankreich und 2011 in der deutschen Übersetzung von Uli Wittmann erschienenen Roman Karte und Gebiet für die Bühne bearbeitet und führt in seiner sehr gelungenen Theaterfassung selbst Regie. Im Düsseldorfer Schauspielhaus (Kleines Haus) finden die nächsten Aufführungen am 30. September und am 6. Oktober 2012 statt.

Düsseldorfer Schauspielhaus:
Karte und Gebiet. Nach dem Roman von Michel Houellebecq. Aus dem Französischen von Uli Wittmann / Für die Bühne bearbeitet von Falk Richter. Repertoire, Deutschsprachige Erstaufführung, Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten – 1 Pause.
Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf; Karten: Telefon 0211.36 99 11; Fax 0211.85 23 439, karten@duesseldorfer-schauspielhaus.de

Roman:
Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont Buchverlag, Köln. 416 Seiten.
Gebundene Ausgabe, 2011: ISBN-13: 9783832196394, 22,99 Euro,
Broschierte Ausgabe, 2012, DuMont Taschenbücher Nr.6186: ISBN-13: 9783832161866, 9,99 Euro.




Andere Länder – andere Zeitungen

Wenn wir verreisen und dabei die Bundesrepublik verlassen, dann kaufe ich mir regelmäßig auch die dortige Regionalzeitung. Als ehemaliger Rundschau-Redakteur interessieren mich immer noch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Zeitungsmachen.

Der Hafen von St. Tropez (Foto: Pöpsel)

Neulich wieder in Südfrankreich, da war es der „Var matin“, ein Schwesterblatt des „Nice matin“. Dort in Nizza sitzt auch die Zentralredaktion.
Var heißen ein Fluss und das Departement, in dem zum Beispiel Cannes, Grasse, Frejus und St. Tropez liegen. Ein ziemlich großes Gebiet, und entsprechend knapp fällt die lokale Berichterstattung aus den einzelnen Orten aus – anders als im Ruhrgebiet, denn das sieht man in französischen Zeitungen sofort: Wenn überhaupt etwas aus einzelnen Orten berichtet wird, dann sind es knappe Berichte von Vereinsveranstaltungen mit einem gestellten Gruppenfoto und Reporte aus dem Gemeinderat.
Die Bilder werden überwiegend nicht in Farbe gedruckt, bis auf den Mantelteil, obwohl man im Falle „Var matin“ eigentlich nicht von „Mantel“ reden kann. Die Titelseite enthält eine Mischung aus Lokalem und überregionaler Politik, dann kommen sechs bis acht Seiten Lokales, nach Städten sortiert, es folgen eine Seite Frankreich, eine Seite Wirtschaft, eine Seite Ausland und zehn Seiten Sport, aber was für Sport: Zunächst natürlich, wie überall im Süden Frankreichs, geht es auf zwei bis drei Seiten nur um Rugby. Dann kann man sich auf zwei weiteren Seiten den Galopprennen und ihren Ergebnissen widmen, bevor die Segelregatten bewertet werden. Erst dann findet man auf einer weiteren Seite Fußball – eine Reihenfolge, die in Dortmund oder Schalke völlig ausgeschlossen wäre.
Ähnlich sieht es in anderen Teilen Frankreichs aus, zum Beispiel in Burgund oder in der Picardie, wo die „Voix du Nord“ sehr stark ist.

Auch Cannes gehört zum Departement Var. (Foto: Pöpsel)

Mein Gesamteindruck ist aber, dass Tageszeitungen in Deutschland deutlich besser sind als in Frankreich. Auch überregional bietet zum Beispiel die „Süddeutsche“ weit mehr Informationen als etwa „Le Monde“, bis auf das Thema Afrika. Da ist man in Frankreich aus kolonialer Tradition näher dran.




„Nichts zu verzollen!“ – Komödie über Streitigkeiten an der Grenze zwischen Belgien und Frankreich

Der Film Nichts zu verzollen ist eine französische Komödie von Dany Boon, die sich der europäischen Einigung im Allgemeinen und der Abschaffung der Zollgrenzen zwischen Belgien und Frankreich im Speziellen widmet. Ort der Handlung ist das belgisch-französische Grenzörtchen Courquain, welches durch das Schengener Abkommen seine wahrscheinlich größte Besonderheit verliert – den Schlagbaum an der gemeinsamen Grenze.

Für den belgischen Zöllner Ruben (Benoît Poelvoorde) bricht dabei eine Welt zusammen, denn „die Camenberts“ ((so nennt er die Franzosen)) mag er nicht wirklich (und das ist noch sehr freundlich ausgedrückt). Seine inoffizielle „Mission“ (gegen die verhassten Franzosen zu stänkern und agieren) scheint dabei manchmal wichtiger als seine eigentliche Aufgabe als Zöllner, wie beispielsweise das Verhindern von Drogenschmuggel. Sein Gegenpart auf der anderen Seite, der Zöllner Mathias (Dany Boon), sieht das mit dem Streit zwischen Belgien und Frankreich nicht so, wiewohl er natürlich auch auf Rubens Provokationen reagiert – teilweise sogar recht heftig…

Das macht seine Situation nicht unbedingt einfacher, denn schon seit einem Jahr pflegt er eine enge Beziehung über die Grenze. Was grundsätzlich kein Problem wäre, wenn nicht gerade seine Angebetene Louise die Schwester von Ruben wäre, was auch der Grund dafür ist, dass er die Beziehung mit Louise versucht geheim zu halten.

Die Situation wird – gerade für Ruben – immer schlimmer, je näher der Tag der Grenzöffnung kommt. So haben die Vorgesetzten auf belgischer und französischer Seite beschlossen, dass nach Schließung der festen Schlagbäume mobile Grenzkontrollen eingerichtet werden sollen. Diese Grenzkontrollen sollen gemischt besetzt werden und auch wenn Ruben noch hofft, dass dabei männlich/weiblich gemeint ist, ist natürlich damit belgisch/französisch gemeint. Es kommt wie es kommen musste – und Ruben und Mathias gehören gemeinsam einer solchen Kontrolle an und müssen versuchen mit einem klapprigen Renault R4 und einen einem Drogenspürhund ihre hoheitlichen Aufgaben zu erfüllen.

Ohne zu viel verraten kann man sich denken, dass es zu dem einen oder anderen Konflikt verbaler und non-verbaler Art zwischen Mathias und Ruben kommt, was durch auftretende Drogenschmuggler, redselige Wirtsleute und mehr komplettiert wird.

Sprachliches…

Dany Boons Erstlingswerk Willkommen bei den Sch’tis wird auf dem Kinoplakat von Nichts zu verzollen genannt, und wer diese Komödie kennt, der wird sich bei diesem Film schnell an die besondere Sprache des Filmes erinnern. Dort war die picardische Sprache ein Thema, die – zur besseren Verständlichkeit für das deutsche Publikum – in der deutschen Fassung durch einen fiktiven deutschen Dialekt ersetzt wurde. Ähnlich ist es bei Nichts zu verzollen, wo sprachliche Unterschiede zwischen dem in Frankreich gesprochenen Französisch und dem in Belgien gesprochenen Französischen durch unterschiedliche Dialekte präsentiert werden (wobei laut der Kritik der „Rheinischen Post“ das nicht so gut ausgeprägt ist, wie bei den Sch’tis).

Während die teilweise sich ziemlich dämlich anhörende Sprache in den ersten paar Minuten noch ziemlich irritierend wirkt, gewöhnt man sich recht schnell daran und kann im Verlauf des Filmes die Belgier und die Franzosen schon sprachlich unterscheiden. Wer die Sch’tis nicht kennt, kann sich eine Kostprobe im Trailer anhören.

Inhaltliches…

Der Film ist unterhaltsam und spielt mit vielen Klischees, wobei das zum Teil etwas einseitig (pro französisch) ist. Zwar wirkt die Geschichte an manchen Stellen etwas übertrieben, aber das ist bei einer Komödie nicht unbedingt außergewöhnlich. Die Charaktere sind – fast schon logischerweise – teilweise sehr überzeichnet dargestellt, aber gerade das macht auch ein wenig den Reiz des Filmes aus. Die Geschichte selbst ist nicht besonders komplex und lässt sich teilweise auch gut vorhersehen, aber hier gilt dann die filmische Variante von „der Weg ist das Ziel“.

Fazit

Der Film Nichts zu verzollen! ist ein guter Unterhaltungsfilm, bei dem man immer wieder über die abstrusen Einfälle und Dialoge lachen muss. Die Geschichte selber wirkt zwar an der einen oder anderen Stelle etwas konstruiert, aber das stört nicht wirklich. Die Schauspieler gehen in ihren Rollen auf und gerade die Hauptdarsteller Mathias und Ruben brillieren als die beiden Gegenspieler des Filmes, die sich notgedrungen zusammenraufen müssen, weil es so von ihnen verlangt wird.

Ungewohnt ist die spezielle Sprache, doch hat man sich da nach wenigen Minuten dran gewöhnt, macht es sogar ein wenig Spaß und weiß zu gefallen. Außerdem zeigt dies auch den enormen Aufwand, der im Rahmen der Synchronisation betrieben wurde.

Der Trailer

Nachfolgend der Trailer zum Film:




Hungerast?

PyrenäenDer Hungerast ist wie eine Wand,
die steht vor dir, erbarmungslos.
Man friert. Die Beine werden schwach.
Man schimpft.

Dort oben hört einen niemand.

Da kann man schimpfen, man kann bitten, man kann flehen.

Irgendwo um 2000 Meter,
da oben am Tourmalet, am Großglockner, am Furka oder Grimselpass,
wo kein Baum mehr steht, da fängt es an zu schneien.
Man hat keine Winterreifen und auch keine 50 000 Euro
von Milchschnitte.
Man hat eigentlich keine Schnitte.

Das Zelt ist vom Discounter, die Handschuhe hat Omma gestrickt.
So ist man also im Berg.
Kein GPS.
Kein Begleitfahrzeug.
Nicht mal einen Besenwagen, der einen einsammelt.

Freunde der Tour de France kennen den Besenwagen.

Das letzte Gefährt, welches gescheiterte Profis oder solche,
die sich für Profis halten einsammeln und ins Hotel fahren.
Zur Massage ins Hotel.
Entspannungsbad.
Thai-Massage.
Ich meine eine Thailänderin im Nebel zu sehen,
„May Lin, hier bin ich !
Oh gute Bergfee, rette mich…!“

Aus der Lesung – Unterwegs –

vom Mittelmeer zu den Pyrenäen

Stefan Dernbach ( LiteraTour )




Von Zaubertafeln und explosiven Salzstreuern – Französische Zeichnungen der Gegenwart im Ostwall-Museum

Von Bernd Berke

Dortmund. Armer „Kartoffelschäler“. Auf dem gleichnamigen Bild des Franzosen Fabrice Hybert sitzt der krumm und grau gewordene Mann, ganz in sich zusammengesackt, auf einem kleinen Hocker.

Links neben ihm türmt sich ein gigantischer Berg ungeschälter Erdäpfel, und mit dem stattlichen Hügel rechts von sich scheint er auch noch nicht weit gekommen zu sein. Der Alptraum von einer Arbeit, die sich kaum noch bewältigen lässt, gemahnt fast an den Mythos von Sisyphus.

Das Bild gehört zu einer beachtlichen Auswahl von rund 80 Zeichnungen, die jetzt das Dortmunder Ostwall-Museum präsentiert. Sie stammen von zehn französischen Gegenwarts-Künstlern und gehören zum offenbar reichen Fundus des „Frac Picardie“. Das Kürzel Frac steht, für einen Fonds zur zeitgenössischen Kunst in der nordfranzösischen Provinz. Angesiedelt ist die Sammlung in Amiens, Dortmunds Partnerstadt seit gut 40 Jahren.

Doch was heißt hier „80 Zeichnungen“? Zum einen werden auch Grenzbereiche dieser Gattung erkundet, jene Bezirke also, wo das Zeichnerische fließend übergeht in andere Genres. Außerdem stimmt auch die Zahl nicht ganz. Denn allein Marc Couturiers Serie „Das Unendliche auf der Erde in einem gegebenen Raum“ umfasst 4032 jeweils 15 mal 10,5 Zentimeter große Einzelstücke. In Dortmund sind „nur“ 1500 zu sehen. Es scheint, als habe der Künstler alle nur denkbaren Schraffuren erproben wollen. Die Gesamtwirkung des wandfüllenden Gewimmels ist schon famos.

Wird die Familie jemals zum Essen kommen?

Völlig anders geht Stéphane Lallemand zu Werke. Als geradezu triviales zeichnerisches Medium nutzt er kleine „Zauber“-Täfelchen, wie sie in Spielwarenläden zu finden sind. Staunenswert, wie er es vermag, nur durch das Bewegen zweier kleiner Knöpfe im engen Koordinatenraster der Tafel klassische Akte zu erzeugen. Sogar eine passable Version der berühmten „Nackten Maya“ Von Goya ist dabei.

Seitenwechsel: Annette Messager ist ersichtlich schlecht auf die Männer zu Sprechen. Ihre Bilder mit Buchstaben-Initialen zeigen in die Lettern verkeilte, fiese Kerle, die gleich beschimpft werden: „I“ steht für Idiot, „M“ für Macho, „Z“ für Zéro, womit der Typ als „Null“ abgetan wäre. Ein kleines Alphabet des Geschlechterhasses.

Nahezu lieblich wirken hingegen die bunten Szenen von Christophe Vigouroux. Doch es sind derbe oder geisterhafte Entgleisungen und Menetekel des Alltags, zudem Inbilder der Einsamkeit: Ein Mann pinkelt heimlich ins Waschbecken, eine Mutter brüllt verzweifelt „à table“ (also „Essen kommen!“), als sei die Familie schon längst für immer fort.

In eine ähnliche Richtung weisen auch die rätselhaften Erfindungen der Anne-Marie Schneider. Ihre Kohlezeichnung zweier Salzstreuer lässt fürchten, die an sich harmlosen Dinger könnten im nächsten Moment explodieren. Der international vielleicht ruhmreichste Teilnehmer heißt Jean-Charles Blais. Seine Serie mit Kopf-Fragmenten ist ein subtiles Experiment mit der Verteilung schwarzer und weißer Zonen im Bildgeviert, es handelt sich also um Kunst für Kenner, die feinste formale Nuancen auslotet. Etwas handfester wirken jene Bilder menschenleerer Hafen-Ecken, deren Melancholie Yvan Salomone eingefangen hat.

„Frac“-Direktor Yves Lecointre sagt, in Frankreich sei das Genre der Zeichnung längst nicht so anerkannt wie in Deutschland. Dafür aber hat es sich, nimmt man die Dortmunder Schau zum Maßstab, sehr facettenreich entfaltet.

6. Februar bis 9. April. Di-So 10-17, Do 10-20 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 4 DM, Katalog 29 DM