Das Spektrum der Romantik: Michaela Selinger singt Lieder im Aalto-Foyer

Michaela Selinger. Foto: Ruth Ehrmann

Michaela Selinger. Foto: Ruth Ehrmann

Wien, Paris, Glyndebourne, Hamburg: Die Sängerin Michaela Selinger hat sich in den letzten Jahren einen internationalen Ruf erarbeitet. Und kehrt dennoch immer wieder gerne nach Essen zurück, so zuletzt mit einer Liedmatinee ins Foyer des Aalto-Theaters.

Sie beginnt mit einem raffinierten Bogenschlag: Sie nimmt mit Hanns Eislers „Erinnerung an Eichendorff und Schumann“ direkt Bezug zum zweiten Teil ihres Konzerts, dem „Liederkreis“ op. 39 Robert Schumanns auf Texte von Joseph von Eichendorff. Dazwischen fächert sie Aspekte der Liedkunst des 20. Jahrhunderts auf: Romantik in der Sprache Claude Debussys, Franz Schrekers, Gustav Mahlers. Und Neu-Romantik eines Wieners, der unter dem Namen Albin Fries feine Miniaturen komponiert, die in ihrer melodischen und harmonischen Sprache sich gerade noch im Kontext der Moderne von Schreker und Mahler behaupten.

Dem klug komponierten Programm entspricht eine klug geführte Stimme. In Essen am Aalto, seit 2010 ihr Stammhaus, hat sich Michaela Selinger große Rollen ihres Fachs als lyrischer Mezzosopran erarbeitet. In der nächsten Spielzeit kommen zwei dazu: die Charlotte in Jules Massenets „Werther“ und eine neue Händel-Partie in „Ariodante“. Seit sie Fotos vom Aalto-Theater gesehen hatte, war es ihr Wunsch, an diesem Haus zu arbeiten, bekennt die Österreicherin im Gespräch. Erstklassiges Orchester, gute Arbeitsbedingungen, schöne Rollen: diese Vorzüge schätzt Michaela Selinger am Aalto. Vor allem auf die Partie der Charlotte freut sie sich, nachdem sie sich bereits als Mélisande in Claude Debussys Oper im französischen Fach „ausprobiert“ hatte.

Das Aalto-Theater, Stammhaus von Michaela Selinger, an das sie immer gerne zurückkehrt. Foto: Werner Häußner

Das Aalto-Theater, Stammhaus von Michaela Selinger, an das sie immer gerne zurückkehrt. Foto: Werner Häußner

Das Lied steht für die Sängerin ganz oben in der Wunschliste: „Ich habe im Studium das Lied für mich entdeckt. Das war lange vor der Oper, denn ich komme vom Oratorium her. Für mich ist es ein Mittel des persönlichen Ausdrucks. Eine intime Form, in der ich Freiheit des Gestaltens bis ins Kleinste habe.“ Auf der Bühne sei das nicht möglich; der Zuschauer würde solche Nuancen gar nicht wahrnehmen. „Beim Singen eines Liedes kommt es darauf an, ob ich schnell oder langsam atme, geräuschlos oder laut. Alles kann dem Ausdruck dienen.“ Diese Möglichkeit, genau zu modellieren, fordert Michaela Selinger heraus. Und sie sieht den Liedgesang als „Stimmhygiene“: „Wenn ich viel Oper gesungen habe, merke ich, wie gut das Lied meiner Stimme tut.“

Die beiden Eisler-Lieder – Selinger sang noch „Die Heimat“ auf einen Hölderlin-Text – könnte man psychologisch als regressiv bezeichnen: Trauer über das Verlorene herrscht vor, das „Ich“ träumt sich weg, will sich im Kinderland ausruhen, sehnt sich danach, zum zweiten Mal ein Kind zu sein: Die deutsche Romantik als Sehnsuchtsort in einer Zeit, in der die Blaue Blume im Exil und auf hartem, blutgetränktem Boden vergeblich zu blühen versuchte.

Exemplarisch zeigte sich schon in dieser Exposition, was die Matinee kennzeichnen sollte: Der Wiener Pianist Clemens Zeilinger erwies sich als überlegt-überlegen gestaltender Poet, die Sängerin als ein aufmerksamer, für die Nuancen sich aufhellender oder eintrübender Emotionen hellwacher Kopf. Aber deutlich wurde auch, dass Michaela Selinger technische Grenzen hat, die das Spiel mit den Ausdruckswerten des Singens limitieren.

"Pelléas et Mélisande" in Essen: Michaela Selinger als Mélisande und Jacques Imbrailo als Pelléas. Foto: Hermann und Clärchen Baus

„Pelléas et Mélisande“ in Essen: Michaela Selinger als Mélisande und Jacques Imbrailo als Pelléas. Foto: Hermann und Clärchen Baus

Im Einzelnen: Schon bei Eisler fallen Perioden auf, die verschwommen artikuliert sind, in denen die Konsonanten nicht ausreichend gebildet werden. Geht es um erfüllte Bögen, fehlt dem Mezzosopran der sicher fundierte Kern und ein weiträumiger Klang. Wenn Selinger uns einen öden Strand vors innere Auge führt, wenn sie Tränen und fahle Resignation besingt, ist ihr ganz leicht rauchiges, feingliedriges Timbre genau richtig. Auch für Claude Debussys „Trois Chansons de Bilitis“ bringt sie lyrische Clarté im Zentrum mit. „Le Tombeau de Naїades“ kleidet sie zu den charakteristischen, hell-unwirklichen Klängen des Klaviers in einen zurückhaltend bleichen, tonarmen Schimmer. Aber Schrekers und Mahlers groß angelegte, blühende Entwicklungen – mit herrlichen Pointen Zeilingers auf dem Flügel – kann sie klanglich nicht entfalten; da bleibt Selingers Mezzo begrenzt. Manchmal klingt auch die Höhe erzwungen, der Ton mit einer Spur zu viel gaumigem Klang.

So kann Michaela Selinger in Schumanns Zyklus vor allem in den verhaltenen, traurigen, ironischen, auch spukhaften Momenten überzeugen, während Visionäres oder sehnsuchtsvoll Kantables unerfüllt bleibt. Nochmals sei Clemens Zeilinger hervorgehoben: Er durchlebt Schumanns Gefühlskosmos mit einer Vielfalt von Farben und Nuancen, mit einer gestalterischen Souveränität, die den Zuhörer staunend und ergriffen zurücklässt. Freudiger Beifall im Foyer, in dem noch Stühle zugestellt werden mussten: So schlecht scheint es um das Liedpublikum nicht bestellt zu sein. Und man zeigte, dass man die Gattung und ihre jugendlich-sympathische Interpretin ins Herz geschlossen hat.




Ahnung und Geheimnis: Franz Schrekers „Der Schatzgräber“ in Amsterdam

Den großen Schatz, des Lebens Hort, alles Sehnens Ziel: Elis, der Schatzgräber, grüb‘ ihn gern. Doch: Was dieser Schatz auch sei, Franz Schreker lässt den Zuschauer seiner Oper mit dem Rätselwort allein. Ein typischer Zug der Zeit und seiner selbst geschriebenen Libretti: Der Komponist, der zwischen 1915 und 1933 zu den Stars des deutschen Musiktheaters gehörte, hüllt seine Sujets gerne in Ahnungen, gibt dem deutenden Geist Raum, lädt dazu ein, ihnen ihr Geheimnis zu entreißen. Wer es zu greifbar zu erklären strebt, bleibt im Geflecht der Symbole, der Traumbilder, der raunenden Andeutungen hängen.

Ob „Der singende Teufel“ oder „Irrelohe“, ob „Der ferne Klang“ oder „Die Gezeichneten“: Franz Schrekers Werke fordern den beherzten Interpreten. John Dew war das in seinen guten Jahren in Bielefeld; Hans Neuenfels hat mit „Die Gezeichneten“ in Frankfurt vor dreißig Jahren ein Schlüsselwerk der immer wieder stockenden Schreker-Wiederentdeckung geschaffen. Andere folgten, so Martin Kušej 2002 mit den Stuttgarter „Gezeichneten“, aber auch Klaus Weise in Bonn mit „Irrelohe“. Jetzt hat sich Ivo van Hove in Amsterdam an „Der Schatzgräber“ gemacht und ist mit seinem Team – Jan Versweyveld (Bühne und Licht), An D’Huys (Kostüme) und Tal Yarden (Video) aufrichtig gescheitert.

Van Hove ortet Schrekers 1920 uraufgeführte Oper im künstlichen Realismus eines Raumes, der Märchenbuch-Skizze oder minimalistische Filmkulisse sein könnte: Ein Dreieck aus Holz öffnet sich in weitem Winkel zum Zuschauer hin. Die beiden Schenkel tragen je eine hausförmige Öffnung, durch die sich Schauplätze wie Puppenhäuser schieben: Kneipe, Hütte, Todeskammer, Tribüne, Palast. Stets bleibt das „Spiel“ bewusst; Illusion soll nicht keimen.

"Der Schatzgräber" in Amsterdam: Szenenbild. Foto: Monika Rittershaus

"Der Schatzgräber" in Amsterdam: Szenenbild. Foto: Monika Rittershaus

Aber die feine Balance zwischen der nacherzählten Handlung und einem der Realität entschwebenden, halb träumerischen, halb symbolischen Spiel gerät immer wieder aus dem Gleichgewicht: Dann kommen die Szenen daher wie handwerklich routiniert am Libretto entlang inszeniert. Und der hybride Realismus der Bühne erweist sich als Falle, aus der auch die Videos keinen Ausweg bieten. Ihre „Herr der Ringe“ – Ästhetik, vermischt mit explodierendem kosmischem Farbennebel und softig beleuchteter nackter Haut, funktioniert anders als im Kino in der Oper nur schwer: Die Träume der Hauptfigur Els, einer Mischung aus traumatisiertem Missbrauchsopfer, männermordenden Besessenen, jugendstilhaftem Symbolweib und wagnerischer Erlösungs- und Liebesikone sind zu konkret: Man könnte meinen, es gehe um guten Sex und glückliche Familie.

Videos in "Herr-der-Ringe-Ästhetik": Schrekers "Schatzgräber" in Amsterdam. Foto: Monika Rittershaus

Videos in "Herr-der-Ringe-Ästhetik": Schrekers "Schatzgräber" in Amsterdam. Foto: Monika Rittershaus

Unter all den zauseligen gesellschaftlich Gestrandeten und eleganten Anzugträgern, mit denen Hove das Schreker’sche Figurenkabinett bevölkert, gelingen jedoch beeindruckende Einzelstudien: Graham Clark verkörpert mit seinem nach wie vor unverwechselbar schneidenden Charaktertenor den Narren als hinkenden alten Mann mit Witz und Wehmut. Wund vom Leben hat er sich längst der Gesellschaft bei Hofe entfremdet. Er weiß, dass ihm die Liebe versagt ist, gewinnt aber aus Erkenntnis Stärke. Er scheint die Fäden, wenn auch nicht zu ziehen, doch zu kennen: ein „Loge“ des Symbolismus.

Manuela Uhl als Els in Schrekers "Der Schatzgräber". Foto: Monika Rittershaus

Manuela Uhl als Els in Schrekers "Der Schatzgräber". Foto: Monika Rittershaus

Manuela Uhl hat die Figur, die weibliche Attraktion und die Spiel-Erfahrung, um die Els glaubhaft zu verkörpern. Das Vibrato ihres Soprans schlägt diesmal weniger schwer als sonst, die Höhe gleißt, das Zentrum strahlt klangsatt, die Artikulation bleibt immerhin nicht ständig auf der Strecke. Für die Sängerin ein starker Abend. Raymond Very kommt mit der kraftraubenden Partie des Elis stimmlich zurecht; könnte aber eine Szene wie die Liebesnacht differenzierter gestalten statt stämmig durchzustehen. Er hat glückliche Momente, aber auch manchen „Durchhänger“, der wohl auch der unentschiedenen Regie zuzuschreiben ist. Andere Darsteller sind herausgefordert, in kurzen, manchmal nur episodischen Momenten alles zu geben, etwa Gordon Gietz als Albi oder Andrew Greenan als Wirt. Nur Tijl Faveyts als König und Kay Stiefermann – der Wuppertaler „Holländer der vergangenen Spielzeit – als Vogt haben etwas mehr Raum, Charakter zu entwickeln.

Im Orchestergraben lässt Marc Albrecht Schrekers magische Klänge glitzern und gleißen. Er betont den schwankenden Boden einer aufgelösten Tonalität, indem er Reibungen ausmodelliert, die irisierenden Harmonien leuchten lässt. Das Nederlands Philharmonisch Orkest folgt seinen Impulsen en détail, mit Finesse in den dynamischen Valeurs und, wo gefordert, in der weit ausholenden Phrasierung ebenso wie im ziselierten solistischen Engagement. Alan Woodbridges Chor steht dem nicht nach: Musikalisch ein durch und durch überzeugender Schreker!