Klavier-Festival Ruhr: Mit Bravour in die Sommerpause

Arcadi Volodos bei seinem Konzert im Kulturzentrum Herne. Foto: Peter Wieler

Zum Ende der Sommer-Ausgabe des Klavier-Festivals Ruhr 2021 spielten Arcadi Volodos und Lise de la Salle herausragende und emotional bewegende Konzerte. Gastautor Robert Unger berichtet.

Bereits zum 17. Mal war Arcadi Volodos zu Gast beim Klavier-Festival Ruhr und interpretierte in Herne zu Beginn seines Konzertes die sechs Klavierstücke op. 118 von Johannes Brahms. In diesen gewichtigen Miniaturen zeigt Volodos seine Genialität in einer unaufgeregten, fein ausgeformten und präzisen Spielweise. Auch seine dynamische Finesse entfaltet sich im elegant flanierenden ersten „Intermezzo“. Jeder Ton findet Raum zur Klangentfaltung, die Bass-Linie wird hervorragend ausgeformt.

Im zweiten Teil des Konzertes kann der Pianist seine exzellenten Fähigkeiten in der Interpretation der Sonate A-Dur D 959 von Franz Schubert abermals unter Beweis stellen. Die Sonate, die zu den letzten drei Klaviersonaten des Komponisten gehört und als „klangschönste“ und „pianistischste“ bezeichnet wird, ist eine perfekte Partnerin für Volodos. Schon der Beginn mit seinen dominanten Oktaven in der linken Hand und der fast barocken Rhythmik zeigt ausgesprochen kraftvolles, an Beethoven gemahnendes Profil. Die dritte Wiederholung des Auftaktmotives kleidet Volodos in stilvoll zurückgenommene Virtuosität.

Höhepunkt des Konzertes ist dann ohne Zweifel das Andantino der Sonate. Der düster-fatalistische Charakter des Satzes mit den abrupten Einschlägen wirkt in seiner romantischen Zerrissenheit aus seiner Zeit hinaus weisend. Mit klaren Linien und Feingefühl interpretiert Volodos die Sonate bis zum letzten Ton. Das Publikum erhebt sich zu einem lang anhaltenden Applaus; der Pianist dankt für die Anerkennung mit fünf sehr unterschiedlichen und eindrücklichen Zugaben von Schubert, Brahms, zwei Mal Frederic Mompou und Alexander Skrjabin.

Gedenken an Flutopfer

Dem Intendanten des Festivals, Franz Xaver Ohnesorg, war es ein Anliegen, das Abschlusskonzert am 16. Juli mit Lise de la Salle in der Mercatorhalle in Duisburg nicht ohne Gedenken an die Opfer der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz beginnen zu lassen. Ohnesorg nutzte seine sonst routinemäßige Begrüßung, mit bewegenden Worten den Geschädigten sein Mitgefühl auszusprechen. Lise de la Salle hatte sich entschlossen, ihrem Konzertprogramm Johanns Sebastian Bachs Choral „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“ in der Bearbeitung Ferruccio Busonis voranzustellen. Danach erhob sich das Publikum zum Gedenken still von seinen Plätzen. Solche Momente kann es nur in Live-Konzerten geben; kein Streaming-Angebot vermag einen solchen Akt gemeinsamer Sammlung und bewegend ausgedrückten Mitgefühls hervorzurufen.

Viel mehr als eine „Einspringerin“

Lise de la Salle in der Mercatorhalle Duisburg beim Klavier-Festival Ruhr.
Foto: Peter Wieler

Lise de la Salle, die seit ihrem Debüt 2012 erst zum dritten Mal beim Klavier-Festival Ruhr auftritt, beweist, weit mehr als ein „Ersatz“ für die in den USA auf ihre Visa-Unterlagen wartende Hélène Grimaud zu sein. Viel mehr als bloß eine Einspringerin, überzeugt sie mit einer völlig unprätentiösen, jeglicher Virtuosen-Zelebration abholden, geradezu spirituellen Interpretation der herausfordernden h-Moll-Sonate von Franz Liszt. Den Rahmen setzen spanische und lateinamerikanische Tänze und Charakterstücke von Isaac Albéniz und Alberto Ginastera: Die „Cantos de España“ mit dem als Gitarrenstück berühmt gewordenen „Asturias“ und Ginasteras „Tres Danzas Argentinas“ spielt Lise de la Salle bewundernswert präzis, kristallklar in den an Gitarrentechnik erinnernden Akkordsalven, rhythmisch schmiegsam und mit einer faszinierenden Palette von Anschlagsfarben. Dieser Pianistin möchte man gerne wieder begegnen.

Ausblick auf den Herbst

In einem Video zur ersten Halbzeit des Klavier-Festivals auf dessen Webseite zeigt sich Franz Xaver Ohnesorg dankbar für die großzügige Unterstützung der Sponsoren sowie die Treue und den Zuspruch des Publikums. Mit einer Auslastung von 80 Prozent unter Berücksichtigung der jeweils aktuellen Hygieneregeln kann der Intendant ohne Frage zufrieden sein. Dennoch kommt die Frage auf, warum es nicht gelungen ist, mehr Konzertbesucher zu aktivieren? Ist der meist kurzfristige Vorverkauf schuld? Empfinden die Menschen die Hygieneregeln als zu einschränkend? Fehlt ein unbeschwertes Gemeinschaftserlebnis? Oder befürchten die früheren Konzertbesucher angesichts der Meldungen über eine sich anbahnende vierte Welle gesundheitliche Risiken? Dazu wird es noch einiger sorgfältiger Analysen bedürfen.

Ohnesorg jedenfalls schaut mit professioneller Zuversicht auf die am 3. September startende Herbstausgabe des Klavier-Festivals. Er hat es wieder geschafft, ein umfangreiches, hochkarätiges, aber auch mit 15 Debüts besetztes Programm zusammenzustellen. Für das Festival, das normalerweise von Mai bis Juli seine Spielzeit hat, wird es wohl dennoch nicht einfach, sich gegen die Fülle von Premieren und Eröffnungskonzerten durchzusetzen, die im September alle gleichzeitig um das musikliebende Publikum buhlen werden.

Zum Auftaktwochenende vom 3. bis 5. September erwartet das Publikum drei exquisit besetzte Konzerte: mit den Brüdern Lucas und Arthur Jussen in Mülheim/Ruhr, mit Anne-Sophie Mutter, Lambert Orkis (Klavier) und Pablo Ferrández (Cello) in Essen und ein Abend, bei dem Sir András Schiff in der Philharmonie Essen ein erst zu Konzertbeginn verkündetes Überraschungsprogramm spielt. 35 Konzerte sollen bis Dezember 2021 wieder im gesamten Ruhrgebiet und darüber hinaus das Publikum in seinen Bann ziehen.

Er wird anlässlich seines 90. Geburtstags durch eine Reihe von Konzerten geehrt: Alfred Brendel, geschätzter Mentor vieler heute weltberühmter Pianisten. Foto: KFR/Mark Wohlrab

Weitere Höhepunkte sind sicherlich die Konzerte anlässlich des 90. Geburtstages von Alfred Brendel mit Pianisten, denen Brendel als Mentor verbunden ist – so Pierre-Laurent Aimard, Kit Armstrong, Imogen Cooper, Francesco Piemontesi und Anne Queffélec. Wieder dabei sind Meisterpianisten wie Marc-André Hamelin, Krystian Zimerman und Jos van Immerseel. Unter den fünfzehn Debütanten finden sich junge Talente wie die von Evgeny Kissin benannte Stipendiatin des Klavier-Festivals Ruhr 2020, Eva Gevorgyan, den Gewinner des Brüsseler Wettbewerbs „Reine Elisabeth“ 2021, Jonathan Fournel oder die Schülerin des legendären Dmitri Bashkirov, Pallavi Mahidhara. In der Jazz-Line kommt endlich der Stipendiat des Jahres 2020, der chinesische Jazz-Pianist, A Bu, zu seinem pandemiebedingt verspäteten Debüt.

Ab sofort können sich Interessierte auf www.klavierfestival.de Ihr Vorkaufsrecht für zahlreiche Konzerte sichern. Der eigentliche Ticketverkauf beginnt am Donnerstag, 19. August.




Romantischer Zauberklang und impressionistische Fehlfarben – der russische Pianist Arcadi Volodos zu Gast in Essen

Arcadi Volodos, Meister des Klangs und Virtuose. Foto: Marco Borggreve

Arcadi Volodos sahen und hörten wir zuerst im Jahr 2001. Damals eröffnete der russische Pianist die groß angelegte Reihe „The Next Generation“, die der Dortmunder Verleger und Kunstliebhaber Bodo Harenberg ins Leben gerufen hatte. Es war ein gleichermaßen aufregendes wie denkwürdiges Konzert.

Denn da präsentierte sich ein kraftvoll zupackender Virtuose, ein flinker Fingerakrobat, dessen Raserei am Klavier das Publikum taumeln ließ. Volodos, zu jener Zeit 28 Jahre jung, war schon kein gänzlich Unbekannter mehr, doch sein künstlerischer Reifeprozess sollte erst noch folgen. Ja, der Russe zählte gewiss zu jener Generation, die das 21. Jahrhundert pianistisch prägen würden.

Doch Volodos, den findige PR-Strategen sofort als neuen Horowitz anpriesen, war von Beginn an mehr denn ein kraftstrotzender Tastenlöwe. Sein subtiler Klangsinn bestach mindestens genauso, und sein Dortmunder Konzert bestand ja nicht nur aus Liszt’schem Furor, sondern etwa auch aus der Annäherung an Brahms’ Tiefsinn. Fortan jedenfalls wollte Volodos weg vom Effekt, hin zur reflektierenden Deutung.

Wir erlebten den russischen Pianisten dann oft, nicht zuletzt als Gast des Klavier-Festivals Ruhr, und jetzt wieder in der Essener Philharmonie, in der Reihe „Piano solo“. Er wirkt gelassen, die Musik fließt ihm wie von selbst aus den Fingern, und die vor allem leisen Zauberklänge, die er seinem Instrument entlockt, sind von enormer Sogkraft. Im Saal ist es auffallend still, wenn Volodos im diffusen Dämmerlicht die Melodien modelliert, wenn sich nahezu impressionistische Momente auftun, und das bei Werken von Robert Schumann, Johannes Brahms und Franz Schubert.

So offenkundig also des Solisten Stärke in klangvoller Gestaltungsmacht liegt, so ohrenfällig offenbart sich zugleich seine Schwäche. Volodos kann ein Legato derart verdichten, dass jegliche Trennschärfe verloren geht. In Schumanns „Papillons“ erscheinen diese aparten Charakterstücke als teils martialisch aufgeplusterte Gebilde, exaltiert in ihrer Art, künstlich dramatisiert durch seltsame Tempoverzögerungen. Der kindlich naive Geist, den Schumanns Miniaturen oft prägen, ist vertrieben. Stattdessen spricht hier bereits der ernste, vergrübelte Brahms.

Bei dessen Klavierstücken op. 76 ist Volodos in seinem Element. Der Pianist wühlt sich ins dichte Klanggeflecht dieser Musik hinein, gibt den je vier Capriccios und Intermezzi ihr eigenes dramatisches Gewand, mal extrovertiert, mal ganz intim klingend. Volodos erzählt und reflektiert, hier tatsächlich ohne seinem Hang nachzugeben, sich allzu lang auf Inseln des Klangs zu verlieren. Dann nämlich entstehen jene pointillistisch-impressionistischen Effekte, die im Gefüge der musikalischen Romantik wie Fremdkörper wirken.

Frei davon ist auch Volodos’ Deutung von Schuberts später A-Dur-Sonate nicht. Die oft schlicht gewebten Melodien, ihre vielbeschworenen „himmlischen Längen“ können sich bisweilen nicht in aller Ruhe ausbreiten, wirken klanglich überfrachtet. Nur in zweiten Satz gelingt es dem Interpreten, das stille, kleine Thema als traurige Weise aufklingen zu lassen, im schärfsten Kontrast zur abrupt folgenden, wie improvisiert dahingeworfenen Raserei, kulminierend in hämmernden Schmerzakkorden. Welch’ ein Albtraum!

Am Ende aber, im Rahmen der sechs (!) Zugaben, besinnt sich Arcadi Volodos seiner spieltechnischen Wurzeln. Ernesto Lecuonas „Malagueña“, in des Pianisten Arrangement, sprüht und funkelt, grollt und lodert flammenhell. Zirzensik auf höchstem Niveau – Jubel!

 




Super-Virtuoses, ironisch gebrochen: Marc-André Hamelin brilliert in Mülheim

Marc-André Hamelin bei seinem Mülheimer Konzert. Foto: Peter Wieler/KFR

Marc-André Hamelin bei seinem Mülheimer Konzert. Foto: Peter Wieler/KFR

Seit 1997 tritt Marc-André Hamelin immer wieder beim Klavier-Festival Ruhr auf; 2013 war er dessen Preisträger. Jetzt kam der kanadische Virtuose zurück und spielte in Mülheim ein atemberaubendes Programm ohne jeden Show-Effekt. Bei ihm steht die Musik im Zentrum, nichts anderes. Und wer käme einem genuinen Musiker mehr entgegen als Mozart?

Die D-Dur-Sonate KV 576, für andere vielleicht ein „Einspielstück“, wird von Anfang an in seriösem Ernst gefasst: Keine Koketterie im „Jagdthema“ des Beginns, klare Sicht auf die Struktur, abwechslungsreicher Anschlag zwischen dem trocken aufbegehrenden Staccato des aufwärts weisenden triolischen Motivs und der weichen Triller-Antwort, zwischen den leichtfüßig schweifenden gebundenen Sechzehnteln und den aus den Anfangsnoten gebildeten Verarbeitungen. Ein Forte-Piano-Echo als Übergang zur Reprise, klare Gliederung in den Verläufen statt süffiger Legato-Kulinarik, dabei ein genau ausgehörtes Spektrum kühler Klangfarben: Mit so viel Raffinesse adelt Hamelin diese Sonate, lässt erleben, was für ein Meisterwerk der ausgewogenen Form Mozart mit ihr geschaffen hat. Nachzuhören ist das übrigens auf seiner 2013 entstandenen Aufnahme, die Hamelin beim Label Hyperion vorgelegt hat.

Marc-André Hamelins Aufnahme von Mozart-Sonaten, erschienen bei Hyperion. Cover: Hyperion Records

Marc-André Hamelins Aufnahme von Mozart-Sonaten, erschienen bei Hyperion. Cover: Hyperion Records

Im langsamen Satz meint man, Schuberts Romantik am Horizont zu ahnen: Ganz in sich gekehrt formt Hamelin dieses Adagio aus, gliedert es durch sanfte Agogik, romantisiert es aber nicht mit dunklen Klängen oder bedeutungsschwangeren Akzenten. Mozart bleibt bei aller Entrücktheit licht: heitere Melancholie, elegische Gelöstheit – man versteht, warum Mozart früher gern mit dem Etikett des „apollinischen“ Genius versehen wurde. Ganz anders der Finalsatz. Da entdeckt Hamelin den Humor Mozarts: kecker Rhythmus, dialogischer Witz, aber stets klar durchformte Polyphonie. Über den trocken perlenden Anschlag hinaus, mit dem er die Noten genau definiert, gönnt er allenfalls dem Bass etwas Wärme.

Und wozu bekennt sich Hamelin bei Schubert? Hier ist die Romantik nicht mehr ein fernes Aufdämmern, sondern die Sphäre, in der sich die Musik ereignen will. Freilich nicht im Sinne der gefühlvollen Werbespot- und Wohlfühl-Romantik, in die der Begriff inzwischen abgesunken ist. Sondern als das Nachspüren des Einbruchs des „ganz anderen“ Unbekannten, Jenseitigen und Eigentlichen. Als die Sphäre, die alles Vorläufige zu sich kommen lässt, die aber so auch das Unheimliche und Unbehauste gebiert. Hamelin kommt dem Romantiker Schubert auf die Spur, ohne ihn zu romantisieren: Selten gibt es, selbst bei diesem Treffen der Großen der Klavierwelt, einen solchen Höhepunkt.

Schubert im Zeichen des Belcanto

Hamelin bedient sich der Stilmittel, die manch anderem als verpönt gälten. Er kleidet den berühmten und viel diskutierten Beginn der B-Dur-Sonate (D 960) in die sprechende Rhetorik des Belcanto: Eine bewegte Linie, ein zartes Rubato, wenn das d und das es erreicht werden, ein sorgsam gehaltenes Pianissimo und ein exquisites Legato. Also weder die fließende Eleganz Horowitz‘, noch die tastende Suche Svjatoslav Richters, auch nicht die einfach darstellende Exposition von Andras Schiff.

Das romantische Beben klingt nach in der folgenden, weit geschwungenen, von Sechzehntelgruppen unterlegten Melodiebildung, in den crescendierenden Repetitionen, im ersten Haltepunkt, in der ersten nachhaltigen harmonischen Irritation, in der zum ersten Mal Fortissimo erreicht wird. Hamelin exponiert hier eine innere Unruhe, eine Bewegtheit, die er folgerichtig auf die bruchstückhafte Poesie des Schubert’schen Ringens um die angemessene Form nach Beethoven anwendet. Das ist, immer in klare, präsente, unverdickte Töne gefasste wirklich große Kunst.

Der zweite Satz bezieht sich in seiner weltverlorenen Versunkenheit, aber auch in seiner klassischen Phrasierung zurück auf Mozart und weist gleichzeitig nach vorne mit seinen harmonischen Rückungen und seinen atmosphärischen Bezügen zu dem geheimnisvollen Basstriller des Kopfsatzes. Der dritte Satz lässt studieren, wie Hamelin zu einer völlig anderen Haltung „umschaltet“, wie er trocken geschlagene Bässe und perlenden Diskant miteinander verbindet und innerhalb der Phrasen unterschiedlich färbt. Der vierte Satz, nicht übertrieben extrovertiert, zeigt die irritierend heftigen Ausbrüche der Forte-Akzente, die Wucht der punktierten Akkorde, auch die Reminiszenzen an die kantable Leichtigkeit des ersten Satzes. Mit der Zugabe, dem Impromptus As-Dur (D 935), bestätigt Hamelin: Hier ist ein Schubert-Interpret am Werk, der es mit den großen Deutungen der Vergangenheit aufnehmen kann und der so leicht niemanden fürchten muss.

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Mülheim: Die Stadthalle im Zeichen des Klavier-Festivals Ruhr. Foto: Häußner

Weit weg von „sachlicher“ Darstellung und dennoch mit äußerster Präzision – so nähert sich Marc-André Hamelin Claude Debussys „Images II“ (Auch davon gibt es eine CD). Zögernd stellt er im ersten Stück die eröffnende Achtelfigur vor, als höre er ihrem sanften Pianissimo nach, diskret und zart tritt das triolische Auf und Ab der Sechzehntel ein; zart verfließende Mini-Arpeggien, mit der Leichtigkeit eines feinen Gespinstes ausgebreitet, aufquellend wie der Erguss klaren Wassers in einer heimlichen Waldquelle.

Mit dem Titel „Glocken, durch das Laub hallend“ provoziert Debussy ja geradezu die Synästhesie von Licht und Ton, von Hören und Schauen – und Hamelin setzt sie mit einer ihresgleichen suchenden Delikatesse um. Auch das Bild des Mondes, das sich „über die Tempel von einst“ senkt, schildert Hamelin mit einem fein nuancierten Spiel luftiger Akkorde und zaubrischer Arpeggien. Man meint, die Finger berührten in den zart-gläsernen Tönen kaum die Tasten. In „Poissons d’or“ lässt er die „Goldfische“ in grazilem Forte glitzern – auch die Fülle des Klangs bleibt licht, fast zerbrechlich. Und man fragt sich, was das für ein Publikum ist, das in den letzten, verhaltenen, verhallenden Ton ungeniert hineinklatscht.

Hamelin hat wieder – nach der Uraufführung seiner „Barcarolle“ 2013 beim Klavier-Festival – zwei eigene Werke mitgebracht: Die „Pavane variée“ von 2014 fußt auf dem Thema von „Belle qui tiens ma vie“ des französischen Priesters und Tanzmeisters Thoinot Arbeau (1519 – 1595) und zerlegt die eingängige Melodie in einer altertümlich wirkenden Kirchentonart in atemberaubende Skalen, Arpeggien und Arabesken, in jazzig leichte Rhythmen und eine dichte Polyphonie, wobei am Ende ein repetierter düsterer Glockenschlag im Bass an das Ende des Vergnügens mahnt.

Hamelins Paganini-Variationen von 2011 reizen das Element des Virtuosen dann vorbehaltlos aus, zerfetzen rhythmische und akkordische Trümmer, als reiße ein wildgewordenes Raubtier alles in Stücke, und ironisieren die Bestandteile traditionell-trivialer Finalakkorde so rasant, dass spontaner Beifall aufkommt. Irgendwann konkretisiert sich das bekannte Thema, bleibt ein paar hektische Takte stabil und zerstiebt in irrsinnigen Akkorden und rasenden Passagen. Mit diesem subtil gearbeiteten Blendwerk hebelt der Virtuose Hamelin die Virtuosität als seriöse Haltung durch noch mehr Virtuosität aus: Ein Super-Virtuose, der sich selbst ironisch gebrochen vorführen kann.




Könner für Kenner: Das Belcea-Quartet in der Essener Philharmonie

Das Belcea-Quartet gehörte bei seiner Gründung 1994 zu den hoffnungsvollsten Gruppierungen auf diesem heiß umkämpften Markt. Die Erwartungen haben sich bestätigt: Corina Belcea, Axel Schacher, Krzysztof Chorzelski und Antoine Lederlin gehören heute zur Elite der Kammermusik. Das Quartett spielte zahlreiche Uraufführungen, kann sich aber auch mit seinen Aufnahmen im Repertoirebereich – etwa mit Gesamtaufnahmen der Quartette Beethovens und Mozarts – mühelos der Konkurrenz stellen.

In der Essener Philharmonie waren die Könner des Belcea-Quartets mit Liebhabern der Kammermusik unter sich: Streichquartettabende ziehen keine Massen an. Seit das Bildungsbürgertum schwindet, kommen die nicht mehr, die früher vielleicht noch einen Prestigegewinn erhofften, wenn sie sich zum Kreis der Kenner gesellten. Oder die eine besonders tiefe musikalische Bildung demonstrieren wollten. Das soll kein Mäkeln am Publikum sein: Das geistvolle Gespräch unter vier Instrumentalisten muss man sich erschließen. Mühe gehört dazu, Ausdauer, Geschmacksbildung. Das ist meist eine Sache gereifter Menschen. Wobei mir das Publikum des Belcea-Quartets jünger schien als das hochglänzender Sinfoniekonzerte. Reife muss keine Sache des Alters sein.

Deswegen ist es schade, dass die vier Musiker mit Mozarts dritten „preußischen“ Quartett und Schuberts „Rosamunde“ in vertrauten Gewässern fischten. Auch Anton Weberns fünf Sätze für Streichquartett gehören inzwischen zur „älteren“ Musik. Weberns fragile Gebilde machen exemplarisch deutlich, was den Rang des 1994 gegründeten Quartetts ausmacht: unglaubliche Disziplin bei der Bildung der Klänge, vom gehauchten Flageolett in äußerstem Pianissimo bis hin zu dunkel getöntem, sanftem Aufschwung. Und eine wie selbstverständliche Kultur der Abstimmung.

Bruchstücke des Alten in der Moderne

Webern klingt wie ein Rückblick auf die Musik von Mozart, die in der Moderne nur noch bruchstückhaft zu beschwören ist. Dessen F-Dur-Quartett (KV 590) lebt aus der Spannung der Dynamik, aus geistvollem Spiel mit kompositorischen Möglichkeiten. Der weiche Ton im eröffnenden Allegro moderato widerspricht nicht dem dezidierten Aufbauen dynamischer Spannung schon in der Eröffnungsgeste. Das Cello spielt eine prominente Rolle im spielerisch wirkenden Hin und Her der Motive. Kein Wunder: König Friedrich Wilhelm II. von Preußen, bei dem sich Mozart auf seiner Reise nach Berlin Gunst erhoffte, war ein begabter Cellist.

Sehr ruhig und langsam, mit Blick auf die vollstimmige Harmonie, eröffnet das Belcea-Quartet den Andante-Satz. Dabei bleibt die Tongebung leicht und schwebend, werden Linien nicht dramatisch verdichtet. Aber an dem provozierenden Akzent der Violine kurz vor dem Ende, auf den die anderen ebenso unwirsch antworten, merkt man, dass die Musiker um Primgeigerin Corina Belcea den dramatischen Aufbau des Satzes nicht aus den Augen verloren haben.

Das Allegretto des dritten Satzes erklingt lebhaft, aber gepflegt; auch der vierte Satz mit seiner diskreten Beweglichkeit hat etwas von britischem Understatement, zeigt aber, dass die Vier eher mit Blick auf das reizvolle Jonglieren mit kompositorischen Möglichkeiten musizieren als mit der von der früheren Kritik forcierten Einfühlung in mögliche persönliche Befindlichkeiten Mozarts.

Schuberts berühmtes a-Moll-Quartett dagegen hätte mehr Energie jenseits des herrlich diskreten Vortrags vertragen. Der eröffnende Satz könnte – auch als Kontrast zu Mozart – mehr melodischen Schwung entfalten; erst im letzten Satz gehen die vier Musiker, vielleicht angeregt durch die „ungarische“ Motivik, mehr aus sich heraus. Worin sich das Quartett treu bleibt, ist der sagenhaft souveräne Blick auf die inneren Strukturen der Komposition. Ein Wesenzug, der den Interpretationen eine dramatische und intellektuelle Tiefe gibt – und der wohl auch der eingehenden Beschäftigung mit moderner und zeitgenössischer Musik zu verdanken ist.

Quartettabende sind nicht häufig, daher noch einige Hinweise:

Im Konzerthaus Dortmund sind am 14. März mit dem Matosinhos String Quartet und Quatour Ardeo zwei junge Formationen zu erleben. Das Matosinhos Quartet ist am 8. März bereits in der Philharmonie Köln zu Gast. Wer zeitgenössische Musik mag, wird am 18. März im Museum Ludwig fündig: Dort spielt das JACK Quartet Musik von Matthias Pintscher. In Essen tritt das Mannheimer Streichquartett am 31. Mai traditionsgemäß auf Zollverein auf.




Wanderers Seelennot: Franz Schuberts „Winterreise“ im Konzerthaus Dortmund

Christian Gerhaher hat im Duo mit Gerold Huber Maßstäbe in der Liedinterpretation gesetzt (Foto: Jim Rakete)

Christian Gerhaher hat im Duo mit Gerold Huber Maßstäbe in der Liedinterpretation gesetzt (Foto: Jim Rakete)

Mitten in der Nacht stapft er los. Hinaus in den Schnee, durch die schlafende Stadt, weit übers Land, unbemerkt und ohne Ziel. Der einsame Wanderer hat keinen Namen, aber alle Freunde der Musik von Franz Schubert kennen ihn aus zahllosen Liedern.

In ihnen ist der rast- und heimatlose Geselle der Hauptdarsteller: ein ewig Unbehauster, der dem Glück vergeblich nachläuft. Schon einmal ist es ihm entwischt, in dem Zyklus „Die schöne Müllerin“, in dem die Geliebte seine Hoffnungen betrog. Nunmehr ist es Winter, die Liebe quälende Erinnerung, und der Bach, der am Müllerhaus noch munter rauschte, zu Eis gefroren.

Alles, auch die Hoffnung, lässt Schuberts Wanderer bei diesem Aufbruch ins Ungewisse zurück. Wir aber dürfen mit ihm gehen, ihn ein Stück begleiten auf der „Winterreise“, die von Vereinsamung und Depression erzählt, von zunehmender Entfremdung und seelischer Erstarrung.

Wie jedes große Meisterwerk, spiegelt jedoch auch dieses nicht nur die düstere Seite des Lebens. Das haben im Konzerthaus Dortmund zwei überragende Künstler gezeigt: Der Bariton Christian Gerhaher, dessen stupende Stimmkunst die Juroren vom „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“ erstmals dazu bewog, einen Sänger mit dem Ehrenpreis der „Nachtigall“ auszuzeichnen, und sein langjähriger Klavierpartner Gerold Huber, mit dem er bereits seit Schülertagen ein festes Duo bildet.

Dieser Gerold Huber also tupft ein paar Akkorde in den Konzertflügel. Er macht äußerlich scheinbar nichts und erschafft doch eine ganze Welt. Wir hören die Schritte des Wanderers im Schnee, schwer und gedämpft. Zahllos sind die Schichten der Melancholie und die Farben der Resignation, die er und Christian Gerhaher im Folgenden vor uns ausbreiten. Es sind die köstlichsten Grautöne, mal bleiern monochrom, mal gespenstisch fahl, mal inwendig leuchtend, als schiene trotz aller Tristesse ein Licht irgendwo hinter den Wolken.

Gerold Huber zählt zu den gefragtesten Liedpianisten unserer Zeit (Foto: Albert Lindmeier)

Gerold Huber zählt zu den gefragtesten Liedpianisten unserer Zeit (Foto: Albert Lindmeier)

Immer kostbarer klingt das im Laufe dieser Reise, zugleich immer weltentrückter und todessehnsüchtiger. Christian Gerhahers lyrischer Bariton kann bei größter Textverständlichkeit schmeicheln, als sänken weiche Flocken in den Schnee. Seine warm timbrierte Stimme klingt in der Mittellage wunderbar samtig, erreicht in der Tiefe die Schwärze eines veritablen Basses und glänzt in der Höhe beinahe knabenhaft hell.

Wo des Wanderers Seelennot an die Oberfläche dringt, schafft das Duo Gerhaher/Huber einen machtvollen Gegensatz zur erstarrten Natur. Da siedet plötzlich heißer Schmerz hervor, da beginnen Begleitfiguren im Klavierpart zu brodeln, da fährt Gerhaher sein vokales Volumen eindrucksvoll aus. Seine Stimme bebt dabei wie von mühsam verhaltenem Zorn. Sie klagt eine fühllose Welt an, der unsere Nöte und Ängste gleichgültig sind.

Das Glück erscheint in diesen 24 Liedern nur als Erinnerung oder Traumvision. Aber Gerhaher und Huber widmen sich ihm mit gleicher, kompromissloser Hingabe. Es klingt nach Idylle, wenn sie die Eisblumen im „Frühlingstraum“ zärtlich nachzeichnen und das Posthorn wie aus einer fröhlicheren Zeit herüber klingt. Von Ferne erinnert dieser Ton noch an die Welt der „Schönen Müllerin“.

Aber die Träume zerfließen, und der Wanderer findet sich in einer unbarmherzigen Wirklichkeit wieder. Er passiert einen letzten Wegweiser, gelangt auf einen Totenacker, versucht sich noch ein letztes Mal Mut zuzusprechen. Gerhaher und Huber tragen das mit einem Trotz vor, der innerlich ausgehöhlt wirkt. Bald schon sieht der Wanderer drei Sonnen am Himmel stehen. In ihrem unwirklichen Licht lässt Gerhaher seine Stimme vollends erblassen. Den „Leiermann“, Symbol der Ausweglosigkeit, singt er so unbeteiligt, als sei jedes Gefühl in ihm erstorben. Gerold Huber lässt dazu eine kleine, ewig wiederkehrende Begleitfigur gespenstisch im Leerlauf drehen. Sie wird leiser, verliert sich, und wir wissen, dass danach nichts mehr kommen kann, dass nur der Tod noch steht und wartet, wartet.

Man möchte schweigen danach, hineinlauschen in die bestürzende Stille. Aber das Publikum gönnt der Musik kein Verklingen, sondern klatscht hemmungslos in den letzten verlöschenden Ton hinein. Derlei Applaus-Inkontinenz ist bei Konzerten zwar häufiger zu erleben. An diesem Abend aber wirkt das so instinktlos-brutal, als habe jemand an einem offenen Grab einen Herrenwitz gerissen.




Kunst statt Krieg – großartiger Auftritt der Sopranistin Anna Prohaska in Dortmund

Prohaska 2_2014(c)Holger Hage_DGIm Trailer der „Junge Wilde“-Reihe des Dortmunder Konzerthauses reißt sich Anna Prohaska wutschnaubend die Perlenkette vom Hals. Als wolle sie, sagen wir, in der Gestalt der Donna Elvira dem so geliebten wie verhassten Don Giovanni den Schmuck vor die Füße werfen. Eine Episode, die voller Symbolkraft steckt: Da ist eine Sängerin der unkonventionellen Art, jung und wild eben, die sich in musikalischen Gefilden auch auf abseitigen Pfaden bewegt.

„Das Ende der klassischen Klassik“ propagiert das Konzerthaus damit, und nichts scheint dem besser zu entsprechen, als Anna Prohaskas jüngster Auftritt, ein Liederabend. Denn die Sängerin bricht mit manchen Gesetzen der Aufführungspraxis, findet den Weg heraus aus kammermusikalischer Intimität oder nach innen gerichteter Emotionalität. Sie und ihr großartiger Klavierpartner Eric Schneider beherrschen das Podium gewissermaßen mit offenem Visier und fechten einen Kampf wider den Wahnsinn des Krieges, mit den Mitteln der Kunst.

„Behind the Lines“ ist dieses Konzeptkonzert zum Jahresgedenken an den Ersten Weltkrieg überschrieben, mit ausgewählten Liedern des Barock, der Klassik, Romantik und Moderne. Dabei wird indes nicht nur das Leben und Fühlen abseits der Front (Hinter den Linien) beleuchtet, besser gesagt messerscharf analysiert, vielmehr fällt der Blick oft genug aufs Schlachtfeld selbst. Es wird jubelnd in den Kampf gezogen, herrschen Stolz und Freude wie Schmerz und allertiefster Jammer. Aus Helden werden Gefangene, Vermisste, Begrabene. Der Tod ist immer und überall.

Schneider(c)Peter Adamik

Der Pianist Eric Schneider, Anna Prohaskas fulminanter Mitstreiter. Foto: Peter Adamik

Und Anna Prohaska, deren Stimme stets als Koloratursopran geführt wird, schafft es, jede Nuance wirkungsvoll zu artikulieren, seien es fahle Töne in tiefer Lage, sei es leuchtend hohes Jubeln. Und wenn sie in Hanns Eislers bitterbösem Spottlied „Meine Mutter wird Soldat“ ins glasklirrende Spitzentonregister wechselt, dürfte sich mancher Gänsehauteffekt unmittelbar einstellen. Auf der anderen Seite der Ausdrucksskala steht etwa Gustav Mahlers „Wo die schönen Trompeten blasen“: komponierte Leere, ein sanfter Balladenton, der in weltverlorene Lyrik mündet. Prohaska singt mit weitem Atem und wirkt in diesem Moment wie die personifizierte Einsamkeit.

Wie sich bei dieser Sängerin sowieso alle Emotion in ihrem Gesicht und Habitus wiederfindet. Die Haare hochgesteckt, in eine Art Uniformjacke gekleidet, setzt sie gleichsam das optische Signal, wie sehr ihr diese Dinge am Herzen liegen. Es geht nicht nur um schönen Gesang, sondern um eine Botschaft. Dass sie dabei eine gewisse Androgynität ausstrahlt, changierend etwa zwischen Soldat und daheim gebliebener Geliebter, ist eine weitere, wohl bewusst gesetzte Note. Das hat, nicht zuletzt, auch etwas mit Authentizität zu tun.

Prohaska hütet sich vor Überzeichnung und findet instinktiv in die jeweils geforderte Stilistik. Von sanfter Schönheit ist etwa das Lamento „Ich irre umher wie in der Wildnis“ von Michael Cavendish, im Tonfall eines Madrigals gehalten. Franz Schuberts „Ellens Gesang I“  interpretiert die Sopranistin mit feinem Legato, in höchster Sensibilität, mit aufbrausender Kraft und zuletzt mit fahler Stimme, langsamer werdend, ersterbend. Wolfgang Rihms „Untergang“ wiederum macht deutlich, über welche Vielfalt betörender Farben die Künstlerin verfügt.

Eric Schneider ist ihr in allem ein kongenialer Klavierpartner. Einer, der mit jedem Marschrhythmus, jeder dissonanten Wendung, mit jedem Klagegesang und jeder Modulation als treuer Verbündeter Anna Prohaskas gelten kann. So wird dieses Konzert zu einem der spannendsten Beiträge des Weltkriegsgedenkens, weil hier in uns Kunstempfinden und Intellekt geweckt werden. „Das Ende der klassischen Klassik“ heißt im übrigen auch: keine Zugabe. Weil mit diesem Liederabend in dieser Form alles gesagt ist.




Leidenschaft und Selbstfindung – der Auftritt Thomas Wypiors beim Klavier-Festival Ruhr

Thomas Wypior, mehrfacher Preisträger und Gast des Klavier-Festivals. Foto: KFR

Thomas Wypior, mehrfacher Preisträger und Gast des Klavier-Festivals. Foto: KFR

Wenn er Franz Schuberts 14. Sonate beginnt, mit ihren akkordischen Fortgängen, den Generalpausen und einem schwarzen, schweren Grollen, dann scheint’s, als wolle uns der Pianist Thomas Wypior in eine düstere Trauermarschwelt führen. Er musiziert das so starr wie markant, gibt jeder Phrase Gewicht und zeichnet so den Komponisten als einen Zerrissenen. Dass die aufgehellten, sanglichen Passagen des 2. Satzes entsprechend gebrochen klingen – dieses Risiko geht der Solist mutig ein. Um desto heftiger in die vermeintliche Idylle dreinzufahren.

Keine Frage: Wypior hat ein Konzept, das so aufregend wie des Diskutierens würdig ist. Doch dies erklärt sein Spiel nicht allein. Das nämlich mit technischen Problemen behaftet ist, sich also mischt aus der Gedanken Stärke und einer bisweilen manuellen Schwäche. So ist seine Schubert-Interpretation auch ein Spiegel für des Solisten Befindlichkeiten.

Der Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr in der Reihe „Die Besten der Besten“ zeugt von gewisser Nervosität, gespeist wohl von einer Sensibilität, die ihn zum Suchenden, ja Zweifelnden macht. Daraus leitet sich, im Dortmunder Harenberg-Haus, einerseits Wypiors Hang zum Zelebrieren ab, auf der anderen Seite der Drang, Selbstbestätigung in kantig-markanten Ausbrüchen zu suchen.

Die Sensiblen, sie haben oft das Glück, Liebling der Zuhörer zu werden. Das brachte dem 1985 geborenen Künstler 2013 den Publikumspreis beim Deutschen Pianistenpreis in Frankfurt ein, sowie beim Bonner Beethoven-Wettbewerb einen Favoritenpreis. Thomas Wypior ist ja auch, trotz aller Sturm-und-Drang-Mentalität, beileibe kein Kraftprotz, was etwa bei den Rasereien in Beethovens „Appassionata“ nur allzu deutlich wird. Vielmehr gleicht das wilde Figurieren einem dramatischen Drahtseilakt – und noch sind kleine Fehltritte, die der Pianist indes wieder auszubalancieren weiß, nicht zu überhören.

Wenn dann aber Robert Schumanns „Kreisleriana“ erklingt, teils fiebrig nervös, teils sich in dunkler Schwärmerei ergehend, wenn Wypior zum leidenschaftlichen Gestalter wird, uns aufs Schönste die Wirkmacht von Modulationen beweist, dann scheint der Interpret ganz seiner selbst sicher. Des Komponisten Poesie mag auch hier aufgebrochen sein, oder durch ein herb expressives Klangbild überlagert, anderes jedoch zeugt von bestechend reflektierendem Zugriff. Viel Applaus.




Begeisterndes Panorama des Ausdrucks: Evgeny Kissin beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund

Evgeny Kissin bei seinem Konzert in Dortmund. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Evgeny Kissin bei seinem Konzert in Dortmund. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Seine Auftritte sind nicht häufig, aber die Verknappung ist kein Programm zur Förderung einer Aura, sondern schlicht künstlerischer Verantwortung geschuldet: Evgheny Igorewitsch Kissin gehört zu den ganz Großen seiner Zunft, nicht weil er anderen technisch etwas vorzumachen hätte, sondern weil er in seinem Spiel den einfühlenden, gestaltenden, souveränen Geist erkennen lässt. Weil es ihm gelingt, das innere Erleben, das ihm nach eigener Aussage wichtiger ist als das äußere, in seinem Spiel zu kommunizieren. Weil er, der Distanzierte, Scheue, ein bisschen aus der Welt Gefallene, in diesen Momenten sich mit seinem Publikum tief verbindet.

Und die Menschen in den Sälen merken das: Der Beifall bei Kissins Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr im Konzerthaus Dortmund war nicht nur der Überwältigung durch ein makelloses Spiel geschuldet – das können viele andere Pianisten ja auch –, sondern drückte etwas aus von der „Begeisterung“ im wahrsten Sinn des Wortes. Wenn Kissin sich in Schubert, in Skrjabin versenkt, dann be-geistert er, dann nimmt er mit in die unergründlichen Welten, die Musik aufschließen kann. Vor wenigen Tagen wies Claus Leggewie beim Festkonzert zu zehn Jahren Philharmonie Essen auf die immense Kraftquelle hin, die Orte wie ein Konzerthaus für eine Stadt und ihre Gesellschaft bedeuten. Nach dem Kissin-Konzert möchte man mit Wotan sagen: „Heut hast Du’s erlebt“.

Man erlebt’s, selbst wenn nicht alles wie aus einem Guss gelingt: Warum Kissin in Schuberts „Gasteiner Sonate“ D 850 den einleitenden, später formal so bedeutenden rhythmischen Ruf so hastig zusammenzieht, wird nicht verständlich. Seine Artikulation wirkt unwirsch und verschwommen, sein Akkordspiel beruhigt sich erst im klar formulierten Seitenthema. Will man bei den oft strapazierten Naturbildern gerade für diese, in Schuberts Ferien in Bad Gastein entstandenen Sonate bleiben, könnte man für den ersten Satz sagen: ein Sturm im Gebirge. Allerdings einer, in dem sich mehr und mehr die Nebel lichten und im Wüten rauschender Triolen die vollgriffige Harmonik deutlich fassbar wird. Wie er das Signal des Beginns durch die harmonische Entwicklung immer wieder aufleuchten lässt, zeigt: Kissin ist ganz bei sich.

Im zweiten Satz bringt Kissin die harmonischen Wendungen zum Leuchten, sentimentalisiert sie aber nicht. Auch wenn er verzögert, mit der Agogik spielt, will er nicht verzücken, sondern vertiefen. Wie differenziert er die Wiederholungen färbt, ist ein Beispiel großer Kunst für sich. Das Scherzo lässt er aus der heftigen Bewegung und den scharfen Kontrasten Kraft gewinnen: Hier selbstbewusster Rhythmus, scharf konturiert; dort silbern filigranes melodisches Gespinst. Und im letzten Satz schaut Kissin weniger auf die humorigen Momente – die trockenen Staccatio empfand Schumann als Satire auf den „Schlafmützenstil“ von Pianisten wie Pleyer oder Vanhal –, sondern auf die einfache, unverkünstelte Poesie, mit der die Sonate endet.

Bei seinem Landsmann Alexander Skrjabin bewegt sich Kissin dann auch manuell auf Gipfeln, auf denen die Luft für andere sehr dünn wird: Das polymetrische Gewirk im zweite Satz der Sonate-Fantaisie gis-Moll (op.19) muss erst einmal jemand so präzis und souverän entflechten. Die Presto-Kaskaden muss erst einmal jemand so hindernisfrei abrauschen lassen. Und wem das nicht genug ist, dessen Blick stellt Kissin in all dem Trubel noch scharf auf die motivischen Bezüge zum Andante; denn die Sonate vergisst im Finale nicht die Ostinato-Glockenschläge des Beginns.

Auch in der Auswahl der sieben Etüden aus dem Zyklus Opus 8 von 1894 erweist sich das dramaturgische Geschick, mit dem Kissin seine Programme gestaltet. Nie verrät er die technisch anspruchsvollen Stücke an das bloß Triumphal-Zupackende. Nie umwölkt er die leisen Töne, das nachdenkliche Innehalten mit dem Parfüm, das Skrjabin noch vor dreißig Jahren in Westeuropa gerne nachgesagt wurde. Das „tempo rubato“ etwa in der Nummer acht ist kein sensualistischer Effekt, sondern unterstreicht die poetische Note des Stücks. Und das „Andante cantabile“ der Nummer elf wird herb, fast schmerzlich formuliert und endet in einem fragenden Dunkel, auf das in der abschließenden dis-Moll-Etüde Nummer 12 eine heroisch aufbegehrende Antwort gegeben wird.

Kissin entrollt ein unglaubliches Panorama pianistischer Ausdruckskunst – und seine Zugaben sind keine netten Schmankerln, um das Publikum noch einmal „Ah“ und „Oh“ rufen zu lassen, sondern erweitern den Blick um weitere Aspekte: von Skrjabin zu Chopin und von den Meistern des 19. Jahrhunderts zurück zum Meister aller Meister, Johann Sebastian Bach, gesehen durch die Bearbeiter-Brille eines der signifikanten Ausdrucksmusiker der verebbenden Romantik, Wilhelm Kempff.




Von der Lust am Werden: Schubert-Symphonien mit Pablo Heras-Casado

Zu den unseligen Traditionen in der Musikrezeption gehört, dass seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert der historische Belang zunehmend zum Qualitätskriterium erhoben wurde: Nur noch, was strukturell tiefgründig war, was als Fortschritt eingeschätzt wurde und was im hegelianischen Sinne den Zeitgeist voranbrachte, war es wert, dauerhaft zur Kenntnis genommen zu werden.

Vor diesem – tief im Unterbewusstsein der sich wahrhaft gebildet wähnenden Schicht weiter wirksamem – Kriterium musste vieles verblassen: vom „wälschen Tand“ angefangen über vermeintlich Epigonales und Kleinmeisterliches bis hin zu skurrilen Seitensträngen der Entwicklung. Und natürlich auch Erzeugnisse aus den Lehrjahren der wahrhaft Großen: Wagners für Bayreuth unwürdige Frühopern etwa schieben vor allem Wagnerianer immer noch halb geringschätzend, halb peinlich berührt zur Seite.

Auch für unbestrittene Meister wie Franz Schubert gilt das selektive Prinzip: Seine Opern? Fehlanzeige! Seine Lieder? Von den Hunderten, die er geschrieben hat, sind ein paar Dutzend bekannt. Und seine Symphonien? Von denen war schon der alte Brahms überzeugt, sie sollten besser „mit Pietät bewahrt“ als veröffentlicht werden. Der Konzertbetrieb schließt sich dieser Ansicht in der Praxis bis heute mehrheitlich an: Von der „Unvollendeten“ und der „großen“ C-Dur-Symphonie abgesehen sind sie selten auf den Programmen anzutreffen.

Franz Schubert, Symphonie Nr. 3 & 4, Pablo Heras-Casado, Freburger Barockorchester, Harmonia Mundi HMC 902154

Franz Schubert, Symphonie Nr. 3 & 4, Pablo Heras-Casado, Freburger Barockorchester, Harmonia Mundi HMC 902154

Das könnte sich ändern: Schuberts frühe Symphonien sind in letzter Zeit mehrfach neu und aufregend frisch eingespielt worden – und eine der besten Platten neuen Datums ist die Aufnahme der Dritten und der Vierten mit dem Freiburger Barockorchester unter Pablo Heras-Casado. Der spanische Dirigent, der sich bei Verdi ebenso zu Hause fühlt wie in der Barockmusik oder im 21. Jahrhundert, will nichts in diese Versuche des jugendlichen Komponisten hineingeheimnissen: Er bringt sie als frisch-pointierte Zeugnisse der Zeit. Die Dritte ist im Frühsommer 1815 entstanden, die Vierte im April 1816, beide für ein Orchester aus Liebhabern und Profis, das im privaten Rahmen spielte.

Haydn grüßt, Mozart hopst

So hört man in der „Adagio maestoso“-Einleitung der D-Dur-Symphonie (D 200) den erhabenen Stil von Schuberts Lehrer Antonio Salieri; das lebhafte Brio des Allegro könnte aus einer komischen Oper der Zeit stammen. Haydn grüßt von seinem Schreibtisch, wie er an einer seiner Ideen tüftelt; Mozart hopst mit tanzfreudigem Rhythmus und federnden Bläsern um die Ecke. Schließlich grüßen auch schon die Rouladen und Crescendi, mit denen Gioacchino Rossini die Wiener in einen süchtig machenden Taumel versetzte.

All diese musikalischen Zeitaspekte, die Schubert auf versierte und zum Teil schon sehr eigenwillige Weise verarbeitete, macht Heras-Casado mit dem phänomenalen Freiburger Barockorchester hörbar: mit vibrierender Energie zumal in den Vivace- und Presto-Sätzen, mit eleganter Leichtigkeit der Bläser, mit energischen, aber nicht überdrehten Tempi, mit exakter Artikulation, mit Pfiff im Rhythmus und mit klaren, schroffen Akzenten, Sforzato-Einwürfen oder vehement-kantigem Pauken-Donner. Eine tragfähige, aus dem Geist einer undogmatischen, „historisch informierten“ Aufführungspraxis belebte Alternative zur legendären Aufnahme von Schuberts Dritter (und Achter) unter Carlos Kleiber.

Pablo Heras-Casado war 2011 anlässlich seines Debüts bei den Essener Philharmonikern sogar als Nachfolger für Stefan Soltesz im Gespräch. Seine Karriere weist weiter steil nach oben: Am 2. April hatte er sein Debüt beim New York Philharmonic Orchestra; im März leitete er erstmals das Philharmonia Orchestra London. Erst am 16. März war er mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra zu Gast in der Essener Philharmonie. 2014/15 wird Heras-Casado an der Met Bizets „Carmen“ dirigieren; im Juli steht er beim Festival von Aix-en-Provence bei Mozarts „Zauberflöte“ am Pult.

In der Region gastiert Heras-Casado im Rahmen seiner Tournee mit dem Freiburger Barockorchester am 13. April in der Kölner Philharmonie. Auf dem Programm stehen die drei Konzerte für Klavier, Violine und Cello von Robert Schumann.

Franz Schubert, Symphonies Nos. 3 & 4, Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado, Harmonia Mundi, HMC 902154




Zum Klang wird hier die Zeit – die Pianistin Elisabeth Leonskaja mag’s philosophisch

Die Pisnistin Elisabeth Leonskaja kann auch zupacken. Foto: Wohlrab/KFR

Die Pianistin Elisabeth Leonskaja spielt konzentriert und hoch sensibel. Foto: Wohlrab/KFR

Sie gilt als die „Grande Dame“ der russischen Klavierschule und wird damit in eine Reihe großer Pianisten wie Heinrich Neuhaus, Emil Gilels oder Svjatoslav Richter gestellt. Entsprechend ehrfürchtig sprechen Kenner und Fans über Elisabeth Leonskaja, die am Moskauer Konservatorium studierte und alsbald große internationale Wettbewerbe gewann. Ihre Weltkarriere begann 1979 bei den Salzburger Festspielen, und bis heute fasziniert ihre Art, der Musik so ruhig wie kraftvoll zu begegnen. Dabei erweist sie sich vor allem als Meisterin der Klangnuancen.

Das hat sie jüngst wieder einmal, im Dortmunder Konzerthaus, unter Beweis gestellt. Mit einem Programm, das teils packenden Zugriff sowie  gestalterische Klarheit und Sinn für diffizile Farbgebung verlangt. Leonskaja geht energisch ans Werk, jedoch ohne zu überspitzen. Divenhaftes Gehabe und daraus abgeleitete musikalische Effekthascherei ist mit ihr nicht zu haben. Sie genießt das Zusammenwirken von Tönen und beschert uns Genuss.

Doch die Künstlerin stellt das Publikum auch auf die Probe. Denn sie lässt sich Zeit und fordert Geduld – besonders bei Ravels „Valses nobles et sentimentales“ oder drei ausgewählten Préludes von Debussy. Sie dehnt das Material, gibt den Walzern so eine grüblerische Note, bisweilen um den Preis des Zerbröselns von Struktur. Andererseits balanciert Leonskaja wunderbar zwischen Noblesse und Sentiment – hier wirkt nichts weinerlich, dort nichts überkandidelt.

Debussys Bildhaftigkeit wiederum begegnet sie mit wirbelnder Motorik („Der Wind in der Ebene“), lieblicher Gestaltung („Das Mädchen mit den flachsblonden Haaren“) sowie mit schillernder, perlender, hauchzarter wie stürmischer Virtuosität („Feuerwerk“). Leonskaja also hat keine Scheu vor der großen Geste, doch wirkt das nie aufgesetzt körperlich exzessiv. Im übrigen scheint ihr die Reflexion der Musik weit wichtiger zu sein als oberflächliche Kunstfertigkeit.

In das Auskosten impressionistischer Valeurs – zum Klang wird hier die Zeit – hat die Künstlerin die erste Sonate des rumänischen Komponisten George Enescu eingebettet. Gerade der zerklüftete Kopfsatz mit seinen träumerisch-narrativen Episoden, mündend in ein wildes Lamento, gibt der Solistin erneut Gelegenheit, sich als Philosophin am Klavier zu präsentieren. Die Ziellosigkeit dieses Stücks wird entsprechend reflektierend gestaltet, nicht aber mit Macht in ein Formkorsett gepresst. In schönem Kontrast dazu steht die augenzwinkernde Ironie des zweiten Satzes und die schwebende Anmutung des Finales – als Verweis eben auf Debussy und Ravel.

Am Ende des außergewöhnlichen Abends erklingt Schuberts „Gasteiner Sonate“. Gerade hier allerdings, wo des Komponisten vielbeschworene „himmlische Längen“ allen Gestaltungsraum geben, ringt Leonskaja mit großen Linien, scheint sich in verwaschene Strukturen zu flüchten. Manches wirkt zergliedert, der Volkston der Musik spricht allzu sachlich zu uns. Immerhin: Die Variationen des zweiten Satzes gewinnen mehr und mehr an Eindringlichkeit, das Scherzo klingt stimmungsvoll, mit delikater Note, das Finale fasziniert durch seine Ausdrucksambivalenz – hier Schumanns „Kinderszenen“-Ambiente, dort Beethovens „Waldstein“-Virtuosität. Da beweist die Pianistin mit kantigem Ingrimm, dass sie den Titel „Grand Dame“ der russischen Schule mit Recht trägt.

 

(Der Text ist in ähnlicher Form bereits in der WR erschienen.)

 




Gleißende Raserei in Mülheim: Daniil Trifonov kehrt zum Klavier-Festival zurück

 

Daniil Trifonov. Foto: KFR

Daniil Trifonov. Foto: KFR

Bei seinem Klavier-Festival-Debüt 2012 hat die Rhein-Ruhr-Presse von Daniil Trifonov noch kaum Notiz genommen: Einer jener Newcomer eben, die einmal hochgespült werden, kaum Luft holen können auf den Schaumkronen jungen Ruhms, und schon wieder in den Wogen des Betriebs untergehen, die im selben Moment das nächste Wundertalent aus dem Wellental heben.

Bei Trifonovs Rückkehr in die Stadthalle Mülheim 2013 sieht das Echo anders aus. Jetzt hat der 22jährige einen Namen, eine Fama. Trifonov, so scheint es, hat es geschafft, spielt im Kreis der Pianisten mit, die „man“ einfach kennen muss, will man sich für die Kunst auf Elfenbein und Ebenholz ernstlich interessieren.

Was der russische Nachwuchskünstler im letzten Jahr in Düsseldorf gezeigt hat, führt er in Mülheim extrem geschärft weiter: Wucht und Kraft des Zugriffs, eine gewaltige Pranke im Bass, gleißende Raserei über alle Oktaven hinweg, schwer atmende Grenzerkundung der physischen Leistungsfähigkeit. Er hat sich die passenden Stücke dazu ausgesucht: Franz Liszt zuallererst, mit vier ins Dämonisch-Gewaltige übersteigerten Transkriptionen von Schubert-Liedern und der h-Moll-Sonate, und nach der Pause Sergej Rachmaninows Variationen nach Chopins Opus 22, ergänzt durch „Rachmaniana“, eine selbst komponierte Suite als Hommage an den großen Komponisten und Pianisten.

Ein veritables Virtuosenprogramm also, eines, das alle Kräfte fordert, intellektuell wie physisch. Bei einem vor Energie berstenden jungen Mann wie Trifonov muss das zu standing ovations führen. Sie brachen erwartungsgemäß los. Aber der Jubel über so viel Kraft, pianistische Bravour und musikalische Chuzpe ließ nicht vergessen, dass der Abend nach einer Seite krängt: Es bestätigt zu eilfertig das Klischee des Tastenlöwen und fegt die Aspekte der Kunst Trifonovs zur Seite, die 2012 in Düsseldorf zeigten, dass hier mehr als ein extrem zupackender Hochleistungssportler á la russe am Flügel sitzt.

Dabei war vor der Pause alles im Lot: In Schubert/Liszts „Frühlingsglaube“ sinnt Trifonov dem lyrisch-kantablen Aufschwingen nach, gibt der Melodie die weiche Farbe der Entrückung mit. Die „Forelle“ gestaltet er mit rhythmisch sinnigen Pointen nicht nur als fließend-sangliches Legato, sondern als ein sich bedrohlich verdichtendes, tödliches Drama. Und den „Erlkönig“ treibt er schnaufend in Extremkontraste: wildes Entsetzen in den Gewittern der Oktavtriolen, fahles, trügerisches Dämmerlicht in der matten Beruhigung. Die letzten Akkorde sind großes Liszt-Kino: So schlagen die Tore des Lebens zu, wenn ein Leinwanddrama in Vielfach-Surround-Sound zu Ende geht.

Derart vorbereitet, knüpft die h-Moll-Sonate bedeutungsschwer an den stickig-dunklen Klängen an. Trifonov macht schnell klar, dass er dieses Paradestück auch als solches darstellen will. Fülle und Überwältigung, krasse Extreme, eruptive Ausbrüche – aber kein Lärm: Trifonovs Exaltationen sind reflektiert, keine instinktiven Brutalitäten einer entfesselten Kraftprotzerei. Er versteht es, auch im Fortissimo noch so abzutönen, dass die harmonische Kühnheit nicht im schäumenden Gebräu der Klänge unhörbar wird. Er versteht es, zurückzunehmen, die dynamische Wucht des drängenden Verlaufs abzufedern. Und er lässt nicht vergessen, wie suggestiv Liszts lyrische Selbstversenkung am Klavier wirken kann.

Wäre mit dieser brillant reflektierten Deutung der h-Moll-Sonate der Abend zu Ende gewesen, er wäre mit Recht groß zu nennen gewesen. Doch Trifonov wollte noch eins draufsetzen und drosch die Rachmaninow-Variationen in den hörbar erschöpften Flügel der Mülheimer Stadthalle. Noch einmal ein Gewitter, noch einmal Anspannung bis zum Äußersten – doch selbst der stärkste Reiz stumpft ab. Und so bestätigten die silbrig hochfahrenden Arabesken, die dröhnenden Glockenschläge des Basses und das Fingerfeuerwerk nur noch, was man in der Liszt-Sonate bereits musikalisch eindrücklicher erfahren hatte.

Daniil Trifonov kehrt in die Region zurück mit einem Klavierabend in der Philharmonie Köln am Mittwoch, 2. Oktober 2013. Auf dem Programm stehen Werke von Strawinsky, Ravel, Schönberg und Schumann. Info: http://www.koelner-philharmonie.de

 




Im Schatten Alfred Brendels: Paul Lewis deutet Schubert-Sonaten beim Klavier-Festival Ruhr

Der britische Pianist Paul Lewis geht mit Schubert eigene Wege. Foto: Jack Liebeck

Der britische Pianist Paul Lewis geht mit Schubert selbstbewusst eigene Wege. Foto: Jack Liebeck

Der britische Pianist Paul Lewis „studierte bei Joan Havill an der Londoner ,Guildhall School of Music and Drama’, bevor er weiter privat bei Alfred Brendel ausgebildet wurde“.

So sachlich verlautet’s zumeist in offiziellen Künstlerbiographien, doch nicht nur in diesem Fall sprechen Fakten Bände. Zeugen zudem von großer Last, von riesigen Fußstapfen, in die zu treten eine immense Herausforderung bedeutet. Wie findet ein junger Künstler seinen Weg des Interpretierens, ohne der Versuchung zu verfallen, den „Übervater“ kopieren zu wollen? Wie kann es der Eleve andererseits vermeiden, sich ins trotzige Abseits zu begeben, frei nach dem Moto „Ich mache alles anders“?

Nun, für Paul Lewis darf gelten, dass er mutig und selbstbewusst, durchdacht und differenziert ans Werk geht. Das hat er jetzt als Gast des Klavier-Festivals Ruhr in Mülheim bewiesen. Indem er sich den drei letzten Sonaten Franz Schuberts widmet, allesamt in des Komponisten Todesjahr, 1828, entstanden. Indem der Interpret sich also ausgerechnet des Werkes annimmt, das Alfred Brendel wie kaum ein anderer poetisch aufs Schönste auszuleuchten vermochte.

Das erfordert vom „Schüler“ Mut und Umsicht. Da kommt Lewis das britische Understatement, das sein Spiel auch ausmacht, gerade recht. Konzentration statt großer Geste, Denken in Strukturen statt Zurschaustellung von Virtuosität – der Pianist nähert sich Schubert (und Brendel) mit allem Respekt. Und er weiß um die poetische Kraft dieser Musik. Lewis zieht dann alle Register in Sachen Klanggestaltung und Beleuchtungswechsel.

Der große Schubert-Exeget Alfred Brendel hat Paul Lewis unterrichtet. Foto: KFR

Der große Schubert-Exeget Alfred Brendel ist wohl der bedeutendste Lehrer von Paul Lewis. Foto: KFR

Auf der anderen Seite, konkret mit dem Beginn der c-moll-Sonate, offenbart uns der Solist in kraftstrotzendem, fiebrigem Tonfall Schuberts Nähe zu Beethoven. Dieses Moment der Unruhe ist immer wieder Bestandteil von Lewis’ Deutung, wie er andererseits den oft liedhaften Charakter einzelner Sätze betont. Und jedes Mal steigt die Aufmerksamkeit, wenn der Pianist die Generalpausen, die Stille also, sprechen lässt. Für Schubert könnte dies heißen: „Ich bin trotz Beethoven auch noch da und habe Originäres mitzuteilen“.

Die Aufzählung vieler Interpretationsaspekte macht indes noch nicht das große Ganze aus. Und hier scheint ein Problem Lewis’ im Umgang mit den Sonaten zu liegen. Der starke analytische Zugriff führt zu formalen Zerklüftungen, Binnenspannung kann sich nur bedingt entwickeln. Poesie ist da nur ein Element, von Weltenschmerz bleibt lediglich eine Ahnung. Kurzum: Der Solist ist letzthin fixiert auf die Deutung absoluter Musik.

Schuberts himmlische Längen werden so im Irdischen verortet. Mitunter verliert sich der Pianist in ihnen, wie er andererseits, so im Andantino der A-Dur-Sonate, Sommernachtstraumschweben neben furiose Klangsprengsel, die der Moderne entlehnt scheinen, wie tönende Inseln setzt. Lewis’ Spiel ist voll von solchen Kontrasten, das Poetische will gewissermaßen beiseite geschubst werden.

Und damit entfernt er sich vom Mentor Alfred Brendel, eigenwillig, gleichwohl aussagekräftig. Nicht trotzig, aber konsequent. Ein wenig aber distanziert sich Lewis so auch von Schubert – in einer Welt von interpretatorischen Ambivalenzen.




Glühende Eruptionen: Federico Colli debütiert beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund

Mit Federico Colli, dem Sieger der renommierten Leeds International Piano Competition 2012, hat Italien nach längerer Zeit wieder einmal einen jungen Pianisten im Rennen, der alle Chancen hat, an die große Tradition von Arturo Benedetti Michelangeli über Maurizio Pollini und den oft unterschätzten Bruno Canino bis Andrea Lucchesini anzuknüpfen. Colli setzte sich – offenbar in einer knappen Entscheidung – gegen den gleichaltrigen Schweizer Louis Schwizgebel durch, der zumindest einen Teil der Kritiker auf seiner Seite hatte und 2013/14 Stipendiat der Dortmunder Mozart-Gesellschaft sein wird.

Federico Colli. Foto: Sirio Serugetti

Federico Colli. Foto: Sirio Serugetti

Dass die Hoffnungen auf Colli nicht eitler Public-Relations-Hochglanzschaum sind, konnte der 25jährige aus Brescia mit seinem Debut beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund fulminant beweisen. Beethovens „Appassionata“ op. 57 ist in ihrer stürmischen Unentwegtheit ein geeigneteres Stück für einen jungen Pianisten, sich vorzustellen, als die philosophische Spätsonate Opus 111, die der Franzose Ismael Margain im Harenberg Center gespielt hatte.

Collis zupackender Art kommt Beethovens Allegro- und Presto-Furor ideal entgegen: Sein Sinn für scharfe Kontraste, für einen sprühenden, entschiedenen Anschlag zielen auf Leidenschaft. Seine atemberaubende Konsequenz im Arpeggio-Spiel und seine Aufmerksamkeit für wechselnde Beleuchtungen erschöpfen sich nicht im virtuosen Vorzeigen, sondern dienen der strukturellen Klärung des Werks. Wenn Colli mit Wucht und Kraft die dynamische Skala nach oben öffnet, „meißelt“ er die Akkorde nicht heraus, um glanzvoll zu demonstrieren, was er „drauf“ hat. Sondern er trifft mit ihnen die insistierende Haltung, das Hineinsteigern in die Expression, die „furchtbaren, wilden Ausbrüche“, wie sie Willibald Nagel in seiner Analyse beschrieben hat.

Der Unterschied zur Kraftmeierei russischer Herkunft ist evident: Colli geht es um Erklärung, nicht um Überwältigung. Zwar ist sein Temperament kaum domestiziert, aber er findet den richtigen Moment, um im Sinne der musikalischen Gliederung die Eruption zu beruhigen. Das Magma der Klänge wird nicht mehr herausgeschleudert, sondern fließt: glühend zwar, aber ruhig und gelassen.

Und dann kann Colli etwa den resignativen Beginn der Sonate leicht und verhalten formulieren, auch zu Momenten gesanglicher Intensität finden. Im zweiten Satz verwechselt er das „con moto“ mit einem Entspannungs-Verbot: Der ruhigen Melodik des Andante wäre eine fließend kantable Haltung besser bekommen als Collis mechanistisches Beharren auf dem Rhythmus. Aber man registriert die Absicht: Colli will den hymnischen Frieden als gefährdet erweisen. Die Figurationen sind keine freundliche Dekoration eines frommen Gesangs, sondern das Nachbeben des lodernden Querfeuers, das Beethoven seinem thematischen Material im ersten Satz entgegengejagt hat. Der dritte Satz bringt dann wieder kompromisslose Klarheit, kaltes Feuer, traumhaft sichere Skalen.

Das feine Gespür für Nuancen und Atmosphäre, das die englische Presse dem Sieger von Leeds bescheinigt, ließ sich in Dortmund in Schuberts vier Impromptus op. 142 (D 935) wiederentdecken. Ein wenig Gelassenheit fehlt dem jungen Mann mit dem kecken Halstuch in schillerndem Türkis noch, aber das Liedhafte verzärtelt er nicht, die Kontraste nivelliert er nicht. Colli spielt einen klaren, rhythmisch pointierten, eher intellektuell als emotional phrasierten Schubert: Elegant der Walzer im B-Dur-Impromptus, beeindruckend die choralartige Steigerung am Ende. Und keine Spur vom „heiteren Capriccio“ im „Allegro scherzando“, dem Impromptus Nr. 4 in f-Moll. Sondern zupackender Rhythmus, scharf umgrenzte Akkorde und wilder Staccato-Schwung in der Coda – Beethoven lässt grüßen.

Keine Frage, dass Colli der musikalischen Idee von Ferruccio Busonis Transkription von Siegfrieds Trauermarsch aus Wagners „Götterdämmerung“ gewachsen ist. Und den manuellen Herausforderungen von Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“ ebenso. Die gläserne Präsenz der „Ondine“, die rhythmische Akkuratesse und die grellen Kontraste zwischen Gewalt und Subtilität in „Scarbo“ lassen keinen Zweifel: Von diesem Pianisten wird man noch hören. Ende Juni nimmt er seine erste Solo-CD auf, unter anderem mit der „Appassionata“ und Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“; im Herbst gastiert er in Japan. Im Dezember spielt Colli in Wien Beethovens Zweites Klavierkonzert und am 18. November 2013 debütiert er im Herkulessaal in München: Spätestens dann, so wage ich zu prophezeien, wird die deutsche Musikszene von Federico Colli nachhaltig Notiz nehmen.




Offene Wege der Jugend: Ismael Margain beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund

Müssen junge Debütanten immer gleich nach den Sternen greifen? Müssen sie sich mit den Gipfelwerken der Klavierliteratur Vergleichen aussetzen, die wie eine gewaltige Last aus 100 Jahren dokumentierter Rezeptionsgeschichte auf ihnen lasten?

Ismael Margain, der 20-jährige aus einem – wie das Programmheft extra betont – mittelalterlichen Städtchen in der Dordogne, hat die Frage auf seine Weise beantwortet. Er bestritt beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund in der Reihe „Die Besten der Besten“ sein Debut mit Beethovens Opus 111, einem der Prüfsteine der Klaviermusik und für Generationen von Pianisten eine lebenslange Herausforderung.

Ismael Margain. Foto: KFR/Caroline Doutre

Ismael Margain. Foto: KFR/Caroline Doutre

Nun ist es, nähert man sich einem solchen abgründigen Werk, kein Dogma, sich gleich auch der aufgenommenen und geschriebenen Hinterlassenschaft der Kulturgeschichte stellen zu müssen. Denn man darf legitimerweise fragen: Ist die c-Moll-Sonate denn tatsächlich ein „Abschiedswerk“? Muss man Beethovens Opus 32 so lesen, wie Thomas Mann in „Doktor Faustus“ geraunt hat: als Schicksalswerk für die Sonate als Gattung, historischer Abschied einer Kunstform? Müssen wir in den sich verlaufenden Trillern und Triolen Beethovens eigene Todesahnung erlauschen? Oder gar das tragische Wehen des Weltgeistes rauschen hören, der auf seinen dialektischen Wegen etwas Großes, Erhabenes ins Wirbeln der Geschichte entlässt?

Im Harenberg Center kommt ein junger Franzose, von deutscher Grübelei offensichtlich nicht angekränkelt, und spielt tapfer gegen den Deutungsballast an. Er senkt den Kopf nicht lastend über das Maestoso, sondern spielt es erhobenen Auges: kraftvoll, mit überlegten Akzenten im Bass und sonnigem Ton. Er nimmt das Allegro „con brio“, wie notiert, mit drängender Energie und formaler Clarté, nicht angekränkelt von dunklem Pathos und dräuendem Abschiedsschmerz, sondern mit dem Streben nach Aufwärts im Blick.

So hält Margain es auch mit dem zweiten Satz. Und in diesem anscheinend harmonisch so unkompliziertem C-Dur überholt dann doch die gewichtige Philosophie den jugendlichen Sprinter. Denn wie liebevoll er auch die Noten modelliert: Der Variationensatz (sehr einfach und sanglich will ihn Beethoven haben) erschöpft sich zu schnell, wenn ein Pianist dem „Einfachen“ keine Tiefe mitgibt. Insofern ist Beethovens Sonate – und da trifft sie sich gemeinerweise mit seinem Konkurrenten Rossini – ein sehr „modernes“ Werk: In den Noten steht wenig, in den Händen des Interpreten liegt viel. Um diesen Satz mit Sinn zu erfüllen, reicht Margains Zugang nicht, sind seine Anschlagskultur und die Variabilität seiner Dynamik – um es technisch zu sagen – zu begrenzt. Es war erfrischend zu erleben, wie unbefangen er sich Beethoven genähert hat, aber bei diesem Impuls der Bewunderung jugendlicher Unbekümmertheit bleibt es. Transzendierung – wohin auch immer – findet nicht statt.

In Franz Liszts Bearbeitung des Schlussgesangs aus Wagners „Tristan und Isolde“ hinterlässt Ismael Margain den Eindruck, noch keinen Liebestod gestorben zu sein. Er steuert zielsicher den harmonischen Kulminationspunkt an, er kann steigern und intensivieren, aber am Schluss lässt er nicht los: Das weite Ausschwingen der sanglichen Linie, das Ersterben des Tons bleibt zu irdisch, zu gewollt.

Mag sein, dass der dritte Preisträger des Pariser Concours International Long Thibaud 2012 auch hier einen anderen Ansatz verficht, als den der gängigen und beliebten Romantik des süffig-schmerzlichen sich Vergessens. Seine Sicht auf Franz Schubert scheint das nahezulegen: Denn die A-Dur-Sonate (D 664) spielt er ganz auf Klarheit, unbeschwerte Eleganz, bewegliches Tempo ausgerichtet – ein Schubert mit den Augen von Claude Debussy oder Darius Milhaud.

Man möchte diesen sachlich-unbeschwerten Blick nicht gleich mit dem Adjektiv „vordergründig“ belegen. Aber wenn sich Margain in Wiederholungen keinen Wechsel der Beleuchtung erlaubt, wenn er die Bässe absichtslos leicht und damit bedeutungslos behandelt, muss man keinen „Geist“ einklagen, um schon am „Buchstaben“ Zweifel anzumelden. Und man entscheidet sich dann doch für eine reifere, bedeutsamere Interpretation, ohne die lichtvolle Frische von Margains Spiel betrüben zu wollen. Wohin die offenen Wege der Jugend führen, muss sich bei ihm noch zeigen.

 




Benjamin Moser pflegt beim Klavier-Festival in aller Bescheidenheit das musikalisch Ernste

Der Pianist Benjamin Moser. Foto: KFR

Der Pianist Benjamin Moser. Foto: KFR

Benjamin Moser ist der Typ eines Pianisten, der sich selbst am wenigsten in den Vordergrund stellt. Der weder hyperventilierend-virtuos die Tastatur durchpflügt, noch in einer Art Trancezustand die Gesetze der Langsamkeit erforschen will. Der junge Münchner ist vielmehr ein Künstler mit bezwingender Musikalität, ein Diener des Notentextes. Nur manchmal verfällt er seiner Bescheidenheit, spielt dann derart akkurat, dass wir ihm mehr interpretatorische Freiheit wünschen wollen.

Zum zweiten Mal ist Moser nun Gast des Klavier-Festivals Ruhr, und er beginnt sein Konzert im Bottroper Kulturzentrum August Everding mit einer Hommage an Richard Wagner, dessen 200. Geburtstag derzeit gefeiert wird. In Form des „Tristan“-Vorspiels, in der Bearbeitung des berühmten ungarischen Pianisten Zoltan Kócsis. Es ist ein schwieriges Unterfangen, denn diese Sehnsuchts- und Begehrensmusik entfaltet ihren Reiz eigentlich nur als Orchesterstück. Moser gibt alles, um die Gefühlsseligkeit in Fluss zu halten, gleichzeitig die radikal neue Harmonik zu betonen. Dennoch wirkt die Klavierfassung brüchig. Dem Interpreten indes ist das nicht anzukreiden.

Einmal den romantischen Pfad beschritten, bleibt der Pianist dem Weg treu. Setzt aber auf harsche Kontraste. Denn Schumanns „Kinderszenen“ wirken im Gegensatz zu Wagner nachgerade leicht und locker. Doch im Einfachen, im schnell skizzierten Charakterstück, liegt oft das Schwerste. Mosers Mimik zeigt, was er will: sanften Passagen  eine heitere und keine kitschige Note geben, das Gewichtige nicht erdrücken. Und am schönsten klingen diese „Szenen“ dort, wo der Solist die Farben der Klänge durchschimmern lässt.

Johannes Brahms’ 1. Sonate ist hingegen von ganz anderem Kaliber. Dunkel und schwer, ein viersätziges Sturm-und-Drang-Opus, groß dimensioniert, in seinen Höhepunkten ein Werk symphonischer Wucht. Zu Recht schätzte Schumann die Musik des jungen Kollegen als revolutionär ein. Und Moser hat als Interpret alle Hände voll zu tun, um den Spannungen und Fallhöhen gerecht zu werden. Es braucht seine Zeit, bis der Pianist in den bisweilen herben, dann melancholischen, ernsten Tonfall hereingefunden hat. Manches klingt in der Akzentuierung noch unausgewogen. Er ringt, wie einst Brahms mit der Materie gerungen hat.

Doch welche Ruhe geht von Moser aus, wenn er Schuberts letzte Sonate (B-Dur) in aller Schlichtheit aufblühen lässt, sodass wir reine Schönheit hören. Der Pianist formuliert beinahe andächtig die einfachen, innigen Melodien, lässt sie atmen und nachklingen. Musik für die Seele ist das, und Moser hütet sich, Heiteres ins Überbordende zu treiben. Denn Schubert war es, der feststellte, er kenne keine fröhliche Musik.

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ-Ausgabe Bottrop erschienen).




Selbstbewusstes Konzept: Khatia Buniatishvili beim Klavier-Festival Ruhr in Duisburg

Die Unruhe ist von Anfang an da, zieht in ihren Bann. Sie ist präsent in den hart angeschlagenen Akkorden des Beginns von Chopins b-Moll-Sonate, sie wacht über dem aufgewühlten Agitato-Brausen, sie durchwebt auch die Beruhigung des Tempos, die sanfte Dolce-Versenkung. Bei Khatia Buniatishvili liegt diese Unruhe wie ein existenzielles Verhängnis über allen vier Sätzen der Sonate, die durch ihren „Trauermarsch“ eine manchmal traurig-banale Berühmtheit erlangt hat.

"Versinken ... ertrinken...": Khatia Buniatishvili bei ihrem Duisburger Konzert. Foto: Frank Mohn

„Versinken … ertrinken…“: Khatia Buniatishvili bei ihrem Duisburger Konzert. Foto: Frank Mohn

Bei der 25-jährigen georgischen Pianistin sitzt man das Stück nicht mit dem bestätigenden Eindruck des viele Male Gehörten ab. Wie Blitze eine bekannte und lieb gewonnene Landschaft unheimlich neu beleuchten können, durchfetzen ihre Einfälle das vertraute Gebilde. Etwa wenn sie die Dynamik, nicht aber die Toncharakteristik ändert und damit etwas Unerbittliches in die Noten legt. Oder wenn sie durch Bassakzente den ach so lieb gewordenen weit phrasierten melodischen Motiven etwas Irritierendes mitgibt, ein Gift gegen jede Heimeligkeit.

Sicher: Chopin spielen viele, und viele spielen ihn beeindruckend, beredt, ja beschwörend. Umso faszinierender ist es zu erleben, wie eine junge, selbstbewusst ihrem Konzept folgende Pianistin ein Stück neu gestaltet, ohne es zu zerlegen. Buniatishvilis Chopin ist beides: authentisch und subjektiv, textgetreu und wunderbar frei.

Die Pianistin, die 2009 beim Klavier-Festival als Einspringerin für Hélène Grimaud Aufsehen erregte, ist inzwischen vielfach ausgezeichnet worden. Zum Beispiel erhielt sie 2012 den Echo-Klassik-Preis als Nachwuchskünstlerin Klavier. Ihre drei Schubert-Piècen, von Franz Liszt bearbeitet, zeigen auch, warum: Das „Ständchen“ nimmt sie introvertiert, mit leichten Rubato-Akzenten, meidet aber die Einfärbung des Anschlags zum sentimentalen Dolce, hält den Klang gerade und ernst. Keinerlei Attitüde, kein Anflug von virtuosem Narzissmus. „Gretchen am Spinnrad“ ist ein Beispiel dafür, wie Monotonie ausgedrückt werden kann, ohne monoton zu werden. Buniatishvili leistet sich keine theatralische Aufladung: Das Drama ist leise, aber bitter. Den „Erlkönig“ hämmert sie rasend übersteigert in die Tasten; ein entfesselter Weltenbrand mit fahl verlöschendem Ende.

Die Transkription „Schafe können sicher weiden“ des einst berühmten Pianisten Egon Petri (1881-1962) ist eine jener romantischen Reflexionen auf Johann Sebastian Bach, wie sie durch Ferruccio Busoni oder Leopold Stokowski beliebt geworden sind. Buniatishvili steht zur Romantisierung, verwendet viel Pedal, gestaltet den Klang substanzvoll.

Den zweiten Teil ihres Konzertes in der Gebläsehalle des Duisburger Landschaftsparks Nord sieht Buniatishvili offenbar wie eine Meditation am Klavier: Chopins cis-Moll Etüde aus Opus 25, die a-Moll-Mazurka aus Opus 17, der „Oktober“ aus den „Jahreszeiten“ Tschaikowskys, Skrjabins cis-Moll-Etüde, schließlich Debussys „Clair de lune“ und Ravels „Pavane pur une infante défunte“.

Ohne Pause fließen die Stücke ineinander, verlangen Konzentration, Stille, fast schon Entrückung. Buniatishvili formt die Linien weltverloren aus: weit, behutsam im Anschlag, spannungsvoll in der Dramaturgie, in bewusstem Verzicht auf Kontraste. Wenn „Magie“ überhaupt eine taugliche Beschreibung für die Qualität von Klavierspiel ist, dann passt sie hier.

Als dann „La Valse“, Maurice Ravels raffiniertes Schaustück, das offizielle Programm abschließt, kehren wir wieder in die Welt zurück, begleitet von weniger grell verzerrten als pikant ironischen Rhythmen – eine Welt, die von der ersten der beiden Zugaben, dem letzten Satz aus Prokofjews wahnwitziger Siebter Sonate, in furioser Raserei übersteigert wird.




Emotionaler Ausnahmezustand: Grigory Sokolov in Köln – und bald in Gelsenkirchen

Grigory Sokolov braucht kein „Einspielstück“. Er ist sofort mittendrin. Die einstimmige Melodie zu Beginn von Schuberts Impromptus c-Moll (op. 90,1) spielt er zurückhaltend, tastend, als müsse sie sich ihrer selbst versichern. Dann, sobald sie ihre akkordische Verdichtung erfährt, formuliert er sie zunehmend selbstsicher. Ein zögernder Einwand, eine harmonisch klare Antwort in selbstbewusstem Forte.

Harmonische Erweiterungen, Schärfungen, Modulationen: Sokolov behandelt Schuberts verwickelte Wanderungen wie die Rhetorik einer nuancenreichen Sprache. Nichts ist dem Zufall überlassen, alles in einem dichten Geflecht aufeinander bezogen. Intellektuelle Höchstleistung korrespondiert mit sinnlicher Klarheit. Dieser Schubert sucht seinesgleichen.

Sokolov hat in der Kölner Philharmonie mit den vier Impromptus op. 90 (D 899), mit Schuberts drei Klavierstücken (D 946) und mit der „Hammerklaviersonate“ Ludwig van Beethovens ein denkbar schwieriges Programm in gewohnter Souveränität gemeistert. Wie das c-Moll-Impromptus aus seinen simplen Anfängen in bescheidene Zweistimmigkeit zurücksinkt, dazwischen aber ein riesiger Bogen zu schlagen ist, stellt manuell wenig Probleme, geistig aber umso anspruchsvollere Herausforderungen.

Franz Schubert. Lithografie des 19. Jahrhunderts

Franz Schubert. Lithografie des 19. Jahrhunderts

Auch das zweite in Es-Dur will in seinem Gegensatz von rauschender, brillanter Bewegung und dramatischer Zuspitzung bewältigt sein. Sokolov gelingt das eine so überzeugend wie das andere; er formuliert zu Beginn vollgriffig, in silbrigem Strahlen, ändert aber die Beleuchtung bald und führt das Thema in grandiosem Ton zu Ende. Man ist geneigt, an Franz Liszt zu denken – und in der Tat: Über Karl Czerny, der bis heute zu Unrecht als bloß äußerlicher Virtuose gilt – schlägt sich die Brücke von dem früh verstorbenen Wiener Genius zu dem zwischen Paris, Weimar, Rom und Bayreuth vagierenden Schöpfer des späten romantischen Virtuosentums. Sokolov lässt etwas von der Faszination solcher hexerischer Expression aufblitzen und ruft spontanen Beifall hervor.

Mag sein, dass ihm das dritte Impromptu in Ges-Dur am schönsten, innigsten gelingt: ein Gesang in erlesenem Legatissimo, schwärmerische Crescendi, die in leuchtende Piani zurücksinken, ein romantischer Puls im Rhythmus, eine magische Kunst des rubatogestützten Steigerns. Wie Sokolov die „einfache“ Linie in Bewegung hält, wie er – auch im As-Dur-Impromptus – die Melodie dynamisch vielfältig gestaltet fließen lässt, wie er den formenden Gedanken durch kantable Differenzierung gestaltet: Das würde man sich von so manchem Operndirigenten wünschen!

Sokolov sieht die sieben Klavierstücke als Folge – beim Beifall nach den vier Impromptus erhebt er sich nicht vom Flügel, sondern wartet angespannt, bis er mit den rollenden Triolen des „Allegro assai“ in es-Moll weitermachen kann. Sokolov treibt dieses Stück energisch an, schärft die Punktierungen schroff und schneidend, erinnert im rastlosen Tempo und der leuchtenden Akkordik ein weiteres Mal an Franz Liszt. Im zweiten Stück, in Es-Dur, betont er wieder das Sangliche; im dritten arbeitet er den Rhythmus in trockenem Anschlag aus. Drängend und heftig zupackend verwandelt er Schuberts romantische Anmutung in ein expressionistisches Charakterstück, das mit vollem Recht den ersten enthusiastischen Beifall der vollbesetzten Kölner Philharmonie entzündet.

Und noch einmal Franz Liszt: Er hat die „unspielbare“ Große Sonate für das Hammerklavier nach Beethovens Tod erstmals wieder gespielt. Und Sokolov erinnert daran, dass es in op. 106 nicht mit dem herrischen Fanfarenton des Beginns oder den pathetischen Rhythmen der Durchführung, nicht mit den grotesken Fortissimo-Oktaven des Scherzo oder den hämmernden, kontrapunktischen Sechzehntelläufen des Finalsatzes getan ist. Sondern er zeigt mit seinem Sensus für die Poesie des Beginns, für das Zarte und Leise, wie Beethoven in diesem Sonaten-Ungetüm mit Kontrasten, mit musikalischen Schattenwelten ebenso arbeitet wie mit dem virtuosen Gipfelsturm.

Sokolov artikuliert heftig und kraftvoll, aber noch bewundernswerter ist, wie er im Adagio durch klugen Pedaleinsatz den Zusammenhang wahrt, wie er das langsame Tempo ausfüllt durch einen unendlichen Atem, wie er aber auch Figurationen herb anschlagen und damit aus einer Sphäre wohliger Piano-Wattierung lösen kann. Denn dieses Adagio gewinnt seine schmerzliche Intensität nicht durch Klavier-Belcanto, sondern durch eine extreme Innenspannung, die Sokolov in einer geradezu anti-romantischen Klarheit fördert. Der Beifall war riesig und ließ erst nach einer halben Stunde und sechs Zugaben erschöpft nach. Auf Sokolovs Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr am 9. Juli in Gelsenkirchen – übrigens mit dem gleichen Programm – darf man sich jetzt schon freuen.




Wagner, Maazel, Tristan: In Essen feiert man den „Meister“ etwas anders

Richard Wagner wird 2013 erwartungsgemäß groß gefeiert. Ringe beginnen und Ringe enden, allenthalben eifern Regisseure zu zeigen, was noch nie erschaut, versuchen Dirigenten aus den Partituren zu lesen, was noch nie erlauscht. Staatsopern beschäftigen sich mit den Haupt- und Staatsaktionen der Wagner-Bühne. Den Rest überlässt man den Kleinen und schürt damit das von den Wagner-Vergötterern der Bayreuther Kreise propagierte Vorurteil, erst ab dem „Holländer“ beginne der „echte“ Wagner.

So wird es grad ein wenig „Rienzi“ geben – obwohl ein Experte wie Egon Voss dafür plädiert, in diesem Werk sei das Wagner’sche Idiom erstmals zweifelsfrei durchgehend hörbar. Die Rhein-Ruhr-Region kann ab 9. März 2013 in Krefeld Wagners Versuch erleben, die zeitgenössische französische und italienische Oper zu übertreffen (Regie: Matthias Oldag). Keinen Anwalt finden „Das Liebesverbot“ oder gar „Die Feen“ – mit Ausnahme von Leipzig, das mit Bayreuth kooperierend beide Werke szenisch bringt –, obwohl die Lebenskraft dieser frühen Opern in den letzten Jahren immer wieder auch auf der Bühne zu bestaunen war – zuletzt beim „Liebesverbot“ in Meiningen, das ab 2. Februar 2013 dort wieder dem Spielplan steht.

Dass Hinrich Horstkotte vor den Toren Dresdens, in Radebeul, das „Liebesverbot“ inszenieren darf (Premiere am 8. Dezember 2012), zeichnet nicht nur dieses Mini-Opernhaus aus, sondern ist auch eine schallende Ohrfeige für die keine halbe Stunde Straßenbahnfahrt entfernte Semperoper, der statt des überall gespielten „Tristan“ ein „Rienzi“, uraufgeführt 1842 in Dresden, gut gestanden hätte.

So hebt sich die Essener Philharmonie unter ihrem scheidenden Intendanten Johannes Bultmann aus dem meist überflüssigen Wagner-Gefeiere durchaus mit einem Programm der klügeren Sorte heraus: Unter dem Titel „Tristan Akkord“ rückt Wagners folgenreiches harmonisches Experiment in den Blickpunkt. Der „Tristan-Akkord“ avancierte zum Fanal für den Aufbruch in die musikalische Moderne und hielt Generationen von Musikern in seinem Bann. Wobei die Folge von fünf Sinfoniekonzerten auch die Rolle von Franz Liszt beleuchtet, den man mit Fug und Recht als den kühneren Neuerer bezeichnen darf. Hat er doch schon 1854 in seiner „Faust-Sinfonie“ ein Zwölftonthema verwendet. Aber an Wagner schieden und schärften sich die Geister der kommenden Generationen, und der Akkord aus „Tristan und Isolde“ wurde zur Chiffre für das Neue.

Dieses Neue faltet sich auf bei sonderbaren Hitzköpfen wie Alexander Skrjabin, den das Russische Nationalorchester am 11. November mit seiner Sinfonie „Poème de l’extase“ vorstellen wird. Auch Rachmaninow und Elgar – die beiden anderen Komponisten im Programm – wären ohne Wagner nicht denkbar. Liszt und Skrjabin sind dann die Eckpfeiler einer Klaviermatinee von Evgeny Bozhanov am 14. April. Und am 18. Mai spielt das WDR-Sinfonieorchester Liszts „Faust-Sinfonie“.

Bereits am 6. Oktober ist das hr-Sinfonieorchester zu Gast in der Philharmonie. Auf dem Programm: Arnold Schönbergs „Pelléas et Mélisande“ op.5, 1905 uraufgeführt. Das eher durch seine Verwendung von Leitmotiven mit Wagner korrespondierende Werk ist eine hervorragende Ergänzung zu Claude Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ von 1902, die – leider am gleichen Tag – im Aalto-Theater Premiere hat.

Dass die weit verzweigten Verästelungen des französischen „Wagnérisme“ unbeachtet bleiben; dass von Emmanuel Chabrier bis Vincent d’Indy und Ernest Chausson nichts zu hören ist; dass auch die deutsche musikalische Wagner-Rezeption zwischen kritikloser Imitation und kreativer Transformation durch seinen Sohn Siegfried Wagner unbeleuchtet ist, lässt das Konzept rudimentär bleiben. Für solche konsequente Durchformung eines Programm-Gedankens fehlt dann wohl das Geld und – bei vielen Mainstream-Musikern – auch der Wille.

Den „Tristan-Akkord“ selbst brachte zur Eröffnung der Konzertreihe kein Geringerer als Lorin Maazel zum Klingen: Kaum im Amt als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, kam er mit seinem neuen Orchester, den Münchner Philharmonikern, in den Alfried-Krupp-Saal. Immer wieder war er in Essen gern gesehen: 2005 und 2008 mit dem New York Philharmonic Orchestra, 2010 mit den Wiener Philharmonikern, 2011 mit Mahlers Fünfter und dem Philharmonia Orchestra London. Nach glänzendem Erfolg mit Mahler in München und Bruckner beim Lucerne Festival brachte Maazel nun Schubert, Wagner und Strauss mit – und die Münchner Philharmoniker zu ihrem Debüt in Essen!

Lorin Maazel in der Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen

Lorin Maazel in der Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen

Maazel hat viele unvergessliche Abende dirigiert – und auch dieser wird im Gedächtnis bleiben. Allerdings nicht, weil die Interpretation des 82jährigen überzeugt hätte. Denn Maazel scheitert im „Tristan“-Wunschkonzertstück an einem ins schier Endlose gedehnten Tempo; in Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“ an seinem Verständnis von „sehr breit“, das er nicht endenwollend dehnt. Als wolle er in die Spuren von Sergiu Celibidache treten, mit dem die Münchner legendär langsame Konzerte spielten, zerstückelt er die Erregungskurve des „Tristan“-Vorspiels in statische Klangfarbinseln, lässt das Orchester auf der Stelle brodeln, nimmt der Musik das Sehrende, Strebende, Sehnsuchtsvolle.

Dafür entdeckt der klarsichtige Analytiker im „Liebestod“ Begleitfiguren, die sonst im Fieber untergehen, als seien sie ein Welt-Ereignis. Und wenn sich die Musik vor dem ekstatischen Höhepunkt endlich in Bewegung setzt, baut Maazel noch schnell ein Ritardando ein und nimmt dem Schwung die Kraft. Immerhin: Der „Tristan-Akkord“ selbst erklingt in sezierter Klarheit, wie man es von Maazel nicht anders erwartet hat.

Lorin Maazel und die Münchener Philharmoniker, Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen.

Lorin Maazel und die Münchener Philharmoniker, Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen.

Auch die Fanfare aus Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“, vielen bekannt aus Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“, verliert so ihre Dynamik und ihre rhythmische Schärfe. Die Bläser winden sich auf Schneckenbahnen, die Celli grummeln, bis ein Fagott Erlösung verheißt. Maazel kostet aber auch die phänomenalen Spieleigenschaften der Münchner aus und lässt hören, mit welcher musikalischen Weltklasse er die nächsten drei Jahre zusammenarbeitet.

Schuberts Vierte zu Beginn war zum Glück kein Einspielstück, sondern eine farbige Demonstration, was der 19jährige Komponist von Mozart, Gluck und seinem Lehrer Salieri abgelauscht und in aufkeimender Individualität verarbeitet hat.




Schubert für Feinsinnige: András Schiff beim Klavier-Festival Ruhr

András Schiff berichtete in einem Interview einmal aus seiner Jugend: Er habe im Unterricht bei seinem Landsmann György Kurtág als Hausaufgaben Schubert-Lieder bekommen, die er in der Klavierstunde dann selbst singen musste. Und Schiff folgert: „Singen und Spielen, das war der vielleicht wichtigste Impuls in Richtung Schubert.“ Wer dem Klavierabend des ungarischen Pianisten in der Stadthalle Mülheim folgte, wird die Spuren dieser Ausbildung unschwer erkannt haben. Kurtág, einer der bedeutenden Komponisten der Gegenwart, hat dem jungen Schiff etwas mitgegeben, was dieser in seinen unvergleichlichen Stil integriert hat. Sein Schubert-Abend zum Abschluss des „klassischen“ Programms des Klavier-Festivals Ruhr war inspiriert von den Grundtugenden des Singens und des Atmens.

Dass Schubert in „singenden Phrasen“ denkt, macht Schiff sogleich deutlich: Den Anfang der G-Dur-Sonate D 894 setzt er in einem kunstvoll gesponnenen Bogen an, einer subtilen Mischung aus gebundener Phrase und perlender Staccato-Leichtigkeit, gegliedert mit einer schier unerschöpflichen Vielfalt an dynamischen Valeurs. Für einen solchen Ansatz ideal ist der Hammerflügel aus dem Bonner Beethoven-Haus, den Schiff spielt: Einem gewissen Franz Brodmann, einem unbekannten, angeblich in Wien zu lokalisierenden Instrumentenbauer, zugeschrieben, bietet er einen diskreten, farbigem Spiel zugeneigten Klang. Der Bass lässt sich markant betonen oder seidig-trocken ausspielen; in der Mittellage zeigt der Flügel warme, etwas metallisch klingende Tragfähigkeit. Nur der Diskant wirkt noch recht altertümlich spitz, wenig tragfähig im Ton. Dass vor allem in der oberen Mittellage die Stabilität der Stimmung schnell nachlässt, gehört zu den Kompromissen, die man bei historischen Instrumenten eingehen muss: Man bezahlt den Zugewinn im Klang durch Mängel der technischen Perfektion.

Dennoch: Mit diesem Flügel kann Schiff zeigen, worum es ihm bei Schubert geht: die gesanglich geprägte Phrasierung, die unerschöpflichen Abmischungen und Schattierungen in Klang und Dynamik, die Kunst der leisen Töne, der kaum hörbaren Andeutung. Die Zuhörer versetzt der Zwang zur Konzentration dabei nicht immer in Ruhe. Warum man spätestens 90 Sekunden nach dem Beginn eines Stücks das Ritual des Bonbon-Auspackens beginnen muss, bleibt mir auf ewig ein Rätsel.

Feines Geraschel in 4-D-Ausstrahlung also zu Schubert/Schiffs melancholischer Heiterkeit, zur diskreten Leidenschaft sanfter Aufschwünge und erlesen miniaturisierter Kontraste, zu elegischem Verklingen, nachdenklichem Kreisen und – hin und wieder – einem delikat gezügelten Forte-Akzent. Der Gefahr sanft-elegischer, versüßter Ästhetik entkommt Schiff nicht immer – vor allem in diesem schweifenden ersten Satz. Aber man kann ihm nicht vorwerfen, Schubert zu „verzärteln“: Schon im Andante-Satz greift der Pianist beherzter zu, arbeitet harmonische Kontraste deutlich heraus. Vor allem überspielt er nichts. Nur meidet er, Schuberts Psycho-Dramatik vorzuführen, wie ich es einmal etwa von Arcadi Volodos in jugendlichem Zupacken gehört habe.

Bei Schiff bleibt es bei Schubert für Feinsinnige. Der Anfang der ungeheuer tiefsinnigen posthumen C-Dur-Sonate D 960 ist etwa bei Alfred Brendel unter einen spannungsreicheren Bogen gestellt; Brendel betont – allerdings auf modernen Flügeln – eher das Gebrochene, das widerständige Potenzial des Bass-Trillers. Schiff achtet eher den Fluss der Musik, aber gerade auf dem Hammerflügel wirken die Triller nächtlich harsch und fast böse. Zwei Aspekte einer Schlüsselstelle, beide genial erfasst und dennoch so unterschiedlich!

Nun entwickelt Schiff die Sonate dann auch eher aus einem kantablen Aspekt. Das bedeutet jedoch nicht, dass er der Dynamik des Fließens unbekümmert Noten opfert. Bis in die fast unhörbaren Pianissimi des zweiten Satzes behauptet jeder Ton sein Gewicht. Dieses Andante sostenuto rückt Schiff nahe an die „Winterreise“ mit ihrer lakonischen, gelähmten Trauer.

Das Scherzo setzt er mit deutlich markanteren Rhythmen und spielerischer Frische deutlich ab; im vierten Satz muss die schmerzliche Intensität, die der Diskant auf dem modernen Flügel gewinnt, miniaturisierten Porzellantönen weichen – ein Eindruck, der das Bild von Schubert als dem Weltschmerz-Komponisten der Romantik etwas relativiert. Vier Zugaben, darunter die „Ungarische Melodie“ und zwei der unvergleichlichen Impromptus – runden einen Abend der Innerlichkeit ab, der in unserer lärmvollen Welt wie eine der Zeit enthobene Zauberinsel wirkte.




Winterreise im Mai – Katja Riemann und Arne Jansen bei den Ruhrfestspielen

Das Thermometer in Recklinghausen zeigte gut 25 Grad, auf dem Festspielhügel herrschte gepflegte Festival-Atmosphäre. Die Gastronomie gut besucht, das Publikum eigentlich sommerlich heiter gestimmt. Auf dem Programm aber steht eine Winterreise, im Festspielhaus rieseln die Schneeflocken.

Mit einer Schneekugel beginnt die Uraufführung von „Winter – ein Roadmovie“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Die Schneekugel – das unscharfe Symbol einer verkitschten, heilen Welt. Im Laufe der Jahre geliebt, verpönt, belächelt, derzeit Kult. Auf einer großen Leinwand sind sowohl Heinrich Heine als auch Franz Schubert in solch einer Kugel zu sehen. Die künstlichen Flocken rieseln zu den Klängen der Black Eyed Peas.

Erst dann beginnt die eigentliche Reise, auf die Schauspielerin und Sängerin Katja Riemann und der virtuose Jazz-Gitarrist Arne Jansen das Publikum in diesem Jahr mitnehmen. In ihrem Roadmovie verbinden sie den Liederzyklus „Winterreise“ von Franz Schubert mit Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“. Wie derWesten berichtet, ist die Idee zu diesem ambitionierten Projekt im letzten Jahr beim Brunch im Festspielhaus entstanden. 2011 waren Katja Riemann und Arne Jansen erstmals gemeinsam mit einem Projekt auf der Bühne. „Doitschlandlied“ war der Titel ihrer ersten gemeinsamen Konzeption, die so großen Anklang fand, dass die Frage nach einer Fortführung der erfolgreichenen Zusammenarbeit einfach im Raume stand.

„Winter – ein Roadmovie“ ist anders als das „Doitschlandlied“. Es ist elegischer, melancholischer, leiser. Das Thema Deutschland bleibt, weitet sich aber auf Europa aus. Die Werke Heines als auch Schuberts spiegeln nicht nur deutsche Geschichte wider, sie zeigen auch eine früh entstandene Sehnsucht nach einem geeinten Europa. In Zeiten der Eurokrise sind beide Werke aktueller denn je. Riemann und Jansen zeigen dies akzentuiert und punktgenau. Bearbeitet haben die beiden ihr Roadmovie mit akribischer Sorgfalt, spürbarer Hingabe, aber auch mit Respekt und Demut für die zugrunde liegenden Werke. Und so ist auch die diesjährige konzertante Vorlesung des Duos trotz des frostigen Themas mitten im Sommer wieder ein Erfolg.

Arne Jansen ist ein Ausnahme-Gitarrist. Selbst wenn er sich zurücknimmt wie an diesem Abend, sein großes Talent trägt die konzertante Begleitung und begeistert durchgehend. Die Riemann zeigt sich vielseitig. Dass sie eine gute Sängerin ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen – bei dieser Aufführung traut sie sich auch an instrumentale Ergänzung mit Blockflöte und Melodica. Die Texte fordern ihr ganzes schauspielerisches und gesangliches Können, sie ist eine Schauspielerin, die noch Mut zum Drama und zum Deklamieren hat. Souverän steht sie diese sicher anstrengende Reise durch, schafft es dabei nonchalant, das Publikum einzubeziehen und mit diesem in einen angenehm unaufgeregten Dialog zu treten. Unaufdringlich unterstützend wirken kleine Film-Einspieler auf der Leinwand, jeder für sich ein kleines Kunstwerk.

Die Ruhrfestspiele dümpeln in diesem Jahr zwar gewohnt erfolgreich, aber auch unspektalulär vor sich hin. Wie schon im letzten Jahr sind es die Aufführungen im kleinen Haus, die Mut und Kreativität zeigen, so wie jetzt die Winterreise im Mai. Intendant Frank Hoffmann verbindet die Ruhrfestspiele gerne mit dem Anspruch, sie seien ein Ort der Kreativität, deren dort uraufgeführte Werke von Recklinghausen aus einen erfolgreichen Weg durch die Theater und Bühnen der Republik finden. Zumindest „Winter- Ein Roadmovie“ dürfte diesen Anspruch erfüllen.

Die Ruhrfestspiele Recklinghausen zeigen noch bis zum 16. Juni ein breitgefächertes Programm.