Nachlese zu den Salzburger Festspielen: Gefangen im Mechanismus der Macht – Aribert Reimanns Oper „Lear“

Auf dem Weg in den Wahnsinn: Gerald Finley als König Lear in Salzburg. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Auf dem Weg in den Wahnsinn: Gerald Finley als König Lear in Salzburg. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Ein sorgsam geschichteter Cluster aus Tönen wird zu einem unbestimmt lauernden Klang. Pianissimo hält ihn Dirigent Franz Welser-Möst in der Schwebe, während ein jovialer Politiker im Dinner-Jacket etwas verspätet hereinstrebt und in die Menge grüßt. Festlich gekleidete Menschen, vor der Bühne, rund um die Bühne. Der Mann im crèmefarbenen Dress bekundet, der Macht müde zu sein, das Reich teilen zu wollen.

Drei Töchter, zwei davon in Pastell-Rosa und Lindgrün wie eine Mischung aus Queen Elizabeth und Margaret Thatcher, stehen schon bereit auf der breit gezogenen, bunt und wild blühenden Wiese, die Simon Stone in der Felsenreitschule in Salzburg als Spielfläche frei gelassen hat. Wir sehen „Lear“, Aribert Reimanns 1978 in München uraufgeführtes Hauptwerk, inzwischen ein Klassiker des zeitgenössischen Musiktheaters.

Wäre die Besetzung nicht so riesig – selbst in Salzburg muss das vielfältig besetzte Schlagwerk auf den Balkon rechts vom Orchestergraben ausweichen –, hätte diese Shakespeare-Oper sicher schon mehr als die bisher weltweit rund 30 Neuinszenierungen erlebt, darunter auch am Aalto-Theater in Essen. Reimann musste erst 81 Jahre alt werden, bis sich die Salzburger Bühne für ihn öffnete – und das trotz großartiger Werke von „Melusine“ bis „Medea“.

Markus Hinterhäuser ist seit Herbst 2016 mit einem Fünf-Jahres-Vertrag Intendant der Salzburger Festspiele und hat eine erste erfolgreiche Saison hinter sich. Foto: Salzburger Festspiele/Julia Stix

Markus Hinterhäuser ist seit Herbst 2016 mit einem Fünf-Jahres-Vertrag Intendant der Salzburger Festspiele und hat eine erste erfolgreiche Saison hinter sich. Foto: Salzburger Festspiele/Julia Stix

Reimanns bis an die Schmerzgrenze expressive und exzessive Musik wird unter den Händen von Franz Welser-Möst und in der klanglichen Vollendung der Wiener Philharmoniker zum bestimmenden Ereignis dieser letzten Premiere der Salzburger Festspiele. Welser-Möst verlässt sich nicht auf die immer noch schockierende Härte und Brutalität der schlagzeuggepanzerten Akkordtürme und Tonschichtungen Reimanns, sondern zeigt, wieviel Resignation und wahnsinnsverwehter Zärtlichkeit in den Klängen steckt.

Er hütet sich, die präzise Kontrolle der Dynamik jemals aufzugeben und lässt so die Zuschnürung des dramatischen Knotens musikalisch erleben, bis er in der Heideszene des ersten Aktes reißt und das kontrolliert kontrapunktische Chaos entfesselt losbricht: Im Dröhnen der Perkussion und im Aufschreien des Orchesters entlädt sich der Sturm der Elemente, der zum inneren Wüten in der Seele Lears wird. „Haltlosigkeit, Ziellosigkeit“ schreibt Reimann selbst in seinen Notizen zum Kompositionsprozess. Und danach, in erschöpfter Ruhe, die enthobenen Girlanden der Melismen Edgars, des von seinem Vater Gloster verstoßenen Sohnes.

Der ausgewogene, abgerundete Klang der Wiener Streicher, die disziplinierten Bläser – auch wenn sie böse gellen und schrill kreischen –, die schmerzvoll-süßen Unisoni und das gedämpfte Brodeln der kunstvoll gebauten Flächen aus Viertel- bis Eineinvierteltönen nehmen der Musik nichts von ihrer Schärfe, schleifen ihre schmerzhaften Krallen nicht, verhindern aber, dass sie durch permanente Überreizung abstumpft. Die kluge Dramaturgie der Dynamik, verbunden mit einer fabelhaften Transparenz und einem wie selten sinnhaft-sinnlich durchgestalteten Klang, bestätigt eindrucksvoll die formalen wie expressiven Qualitäten von Reimanns Musik.

Reduziert auf elementare kreatürliche Bedürfnisse

Was geschieht mit einem Herrscher, der die Macht hinter sich lässt? Das Libretto von Claus H. Henneberg spitzt Shakespeares Drama unbarmherzig zu: Lear bleibt ein Gefangener der Macht, zuerst ihre Mechanismen wunderlich verkennend, dann an ihrer nackten Brutalität zerbrechend, reduziert auf die elementarsten kreatürlichen Bedürfnisse, die ihm nur noch der barmherzige Gloster gewährt.

Simon Stone, der von Preisen verwöhnte australische Regisseur, lenkt seine zweite Arbeit für das Musiktheater weg vom Erzählenden, hin zu bildmächtigem Darstellungs- und postdramatischem Episodentheater. Schon bei der Verteilung des Reiches stehen die Töchter Lears in einer Reihe in weitem Abstand. Auf sich selbst konzentriert schleudert Evelyn Herlitzius ihre stählernen Tonfolgen heraus, zeichnet Gun-Brit Barkmin – 2013 in Essen die Lady Macbeth Verdis – die hysterischen Intervallsprünge Regans nach.

Lear (Gerald Finley) teilt das Reich; Seine Tochter Cordelia (Anna Prohaska, im Vordergrund), die ihre Liebe nicht in Worten beschreiben kann und will, geht leer aus. Im Hintergrund Gun-Brit Barkmin als Regan. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Lear (Gerald Finley) teilt das Reich; Seine Tochter Cordelia (Anna Prohaska, im Vordergrund), die ihre Liebe nicht in Worten beschreiben kann und will, geht leer aus. Im Hintergrund Gun-Brit Barkmin als Regan. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Das wüste Gelage von Lears Gefolge verwandelt die Blumenwiese in einen grünlichen Matsch, in dem sich später der nackte Lear im Regen und in der Qual seiner Ohnmacht wälzt. Auf der breit gezogenen Spielfläche von Bob Cousins legt Stone offenbar keinen Wert darauf, die Personen zueinander in Verhältnisse zu setzen, auch die Begegnungen Lears mit dem anrührend singenden Edgar Kai Wessels und dem von Anfang an kraftlos gezeichneten Gloster Lauri Vasars bleiben seltsam distanziert.

Für den hereinbrechenden Wahnsinn Lears scheint sich Stone auf das darstellerische Potenzial Gerald Finleys verlassen zu haben, der den erbarmungswürdig ohnmächtigen König in seiner Flucht in weltlosen Wahn grandios zeichnet, dessen Fallhöhe aber nicht deutlich wird – dazu ist der Herr im Sakko zu Beginn einfach zu durchschnittlich.

Aber der Abstand von psychologischem Realismus ist Absicht, auch wenn er den Figuren komplexe Facetten nimmt. Im zweiten Teil des Abends wird deutlicher, wohin Stone zielt, wenn Gloster zunächst hyperrealistisch in einem blutigen Schaustück seine Augen ausgedrückt werden, wenn das Blut aus der Kehle des gemeuchelten Cornwall (zupackend singend: Michael Colvin) stürzt, dann in einer riesigen Blutlache auf weißer, leerer Fläche ein Schlachten beginnt, das wie ein symbolhaftes Ritual wirkt: Security-Leute, von Mel Page in die blauen Uniformen einschlägiger Typen gesteckt, wie wir sie aus Nachrichtensendungen oder amerikanischen Filmen kennen, reißen willkürlich einzelne Menschen aus den Zuschauerreihen auf der Bühne heraus, stoßen sie in den roten Teich, wo sie mit Blut besudelt werden und ins Irgendwo seitlich der Bühne schreiten, als gehörten sie zu einer stummen Totenprozession.

Das mag ein eindrückliches Bild dafür sein, dass die inhärente Grausamkeit des Stücks eine beklemmende Gegenwarts-Dimension hat. Aber für diese Erkenntnis opfert Stone die viel grundsätzlichere Einsicht in das verhängnisvolle Gefüge der Macht, dem alle scheinbar Mächtigen zum Opfer fallen. Stone verweigert den letzten Szenen die theatrale Konkretion, lässt an der Rampe singen: Edgars Zweikampf gegen den mit souveränem Kern die Töne bildenden Charles Workman als Edmund, Regans trotz Gun-Brit Barkmins leicht gastritischen Zuckungen beiläufiger Gifttod, Gonerils vermeintlicher Triumph und Selbstmord.

Eine Wolke entzieht sie unseren Blicken

Anna Prohaska (Cordelia) und Gerald Finley (Lear) beim Schlussapplaus. Foto: Salzburger Festspiele/Franz Neumayr

Anna Prohaska (Cordelia) und Gerald Finley (Lear) beim Schlussapplaus. Foto: Salzburger Festspiele/Franz Neumayr

Das Bild dahinter allerdings prägt sich ein: Lear und Cordelia – Anna Prohaskas lyrischer Sopran unterscheidet sich im Timbre zu wenig von ihren bösen Schwestern – sind in einem Gazeschleier gefangen. Ganz in Weiß erstarrt hat die tote Cordelia nur mehr behauptete Präsenz, Lear erhebt sich aus dem Krankenhausbett, streift mit seinen Händen den bleichen Staub von ihren Haaren ab und färbt sich selbst todessehnsüchtig damit ein. Eine Vision, von einer weißen Wolke langsam den Blicken von Edgar und Albany (der ebenfalls vorzüglich singende Derek Welton) entzogen. Dunst für die sinnlose, vergebliche Existenz, in die wir Menschen geworfen sind? Oder verbergende Hülle einer Hoffnung, die ahnungsvoll Lears und Cordelias geschundene Menschlichkeit birgt? Im blitzartigen Dunkel des Endes bleibt jeder Zuschauer mit dieser Frage sich selbst überlassen.




Klangfarbenrausch in kühler Perfektion – das Cleveland Orchestra im Konzerthaus Dortmund

Petra Coddington Fotografenmeisterin

Seid ausgebreitet, ihr Klänge! Franz Welser-Möst dirigiert das Cleveland Orchestra. Foto: Petra Coddington

Boston, New York, Philadelphia, Chicago und Cleveland – aus diesen Städten kommen, so sagen es jedenfalls ehrfurchtsvoll viele Musikfreunde, die fünf besten Orchester zumindest der Vereinigten Staaten, wenn nicht sogar der Welt. Nun sind solcherart Platzierungen, vorgenommen unter ästhetischen Gesichtspunkten, immer mit Vorsicht zu genießen. Doch ohne Zweifel sind diese „Big Five“ in Sachen technischer Präzision, Klangbild oder Musikalität ziemlich weit oben anzusiedeln.

Was nicht heißen soll, dass die Berliner oder Wiener Philharmoniker, das Concertgebouw Orkest Amsterdam oder das London Philharmonic hintenan stehen. Erstaunlich aber ist, dass sich über viele Jahrzehnte eine deutliche Differenz des Klangbilds im europäisch-amerikanischen Vergleich entwickelt und gefestigt hat. Hier die wärmeren Farben, die bessere Mischung der Valeurs, jenseits des Teiches eine hellere, sehr präsente Tönung, oft auch ein sehr strukturbewusstes Musizieren.

Punktgenaue Einsätze fürs präzise Spiel. Foto: Petra Coddington

Punktgenaue Einsätze vom Pult aus fürs präzise Orchesterspiel. Foto: Petra Coddington

Solche Beobachtungen mögen ein wenig abstrakt anmuten. Umso mehr ist das erste Gastspiel des Cleveland Orchestra im Dortmunder Konzerthaus ein Glücksfall: Denn dessen Interpretation von Olivier Messiaens „Chronochromie“ und Richard Strauss’ „Alpensinfonie“, Musik, die sich nicht zuletzt durch einen wahren Taumel an Klangfarben auszeichnet, macht klar, dass Vergleiche dieser Art ihren Sinn haben.

Besonders spannend wiederum wird die Angelegenheit dadurch, dass Franz Welser-Möst am Pult, Chef des Orchesters seit 2002 und bis 2022 vertraglich gebunden, bereits mit gehörigem Erfolg auch die Wiener Philharmoniker dirigiert hat. Europa und Amerika – nah beieinand’.

Der gebürtige Linzer Welser-Möst ist von hohem Wuchs, aristokratischem Habitus und elegantem Charme. Entsprechend stilvoll dirigiert er: ohne körperliche Entäußerung, mit Augenmaß und punktgenau. Das mag ein bisschen trocken wirken, erfüllt aber den Zweck höchster Präzision im Orchester. Und die Leidenschaft, das Aufgehen in Klangmagie, kommt nicht zu kurz.

Der Mann am Pult also, er gebietet Respekt, und ist doch nicht unnahbar. Ein paar Worte ans Publikum gelten Messiaens „Chronochomie“, Anfang der 1960er Jahre entstanden, spröde anmutende Musik, dennoch voller Reichtum, in Form stilisierter Vogelstimmen und Naturgeräuschen. Der Komponist habe das Werk einen sonnendurchfluteten Protest gegen die Zwölftöner genannt, sagt Welser-Möst mit der Empfehlung, sich diesem Licht entspannt hinzugeben.

Dann beginnt das große tönende Leuchten, sehr hell, bisweilen gleißend, weil Messiaen als bekennender Katholik stets die Himmelsmächte beschwor. Ein Leuchten, nur hier und da mit dunklen Farbtupfern grundiert (Gong, Kontrabässe), vom Cleveland Orchestra licht und rein und glasklar dahingezaubert, innerhalb der markant gezeichneten Strukturen wirkmächtig vor uns ausgebreitet. Und so fremd das Werk anmutet, mit all seinen Exotismen, Verschlingungen und Spreizklängen, so stark ist seine Zugkraft.

Foto: Petra Coddington

Höchste Konzentration und stilistische Eleganz zeichnen den Dirigenten aus. Foto: Petra Coddington

Gegen die „Alpensinfonie“ muss es freilich ins Hintertreffen gelangen, weil Strauss’ Musik eben einem klaren Programm folgt und sich dabei derart illustrativ gibt, dass Sonnenaufgang, Jagdszene, das Gleißen des Wasserfalls, Vogelgezwitscher und Gewitter für jeden offen erkennbar ist. Als liefe vor uns ein imaginärer Film ab. Doch wer sich so erwartungsvoll in den Kinosessel fallen lässt, hat die Rechnung ohne die Wirte auf dem Podium gemacht. Und ist am Ende vielleicht sogar ein wenig enttäuscht.

Denn Welser-Möst dirigiert diesen spätromantischen Brocken aus dem Geist der zuvor erklungenen Moderne. Setzt auf Strukturen statt auf alpine Folklore, kitzelt noch die kleinste Nebenstimme im großorchestralen Getümmel heraus. Sodass sich etwa im Donnerwüten eine auf- und absteigende Klarinettenfigur hervortut, als würde der Wind ein Blatt zuerst nach oben, dann abrupt zu Boden schleudern. Der Dirigent lässt zudem zügig musizieren, was einigen Spannungsbögen die Kraft kostet. Dafür wird erkennbar, dass dieses Werk im Umfeld der so neu tönenden „Elektra“ entstanden ist.

Das Cleveland Orchestra musiziert dabei so, wie man es von einem der „Big Five“ eben erwartet. Technisch höchst präzise – die Trompeten etwa geben sich selbst in höchsten Höhen keine Blöße –, im Klangbild äußerst transparent, dabei ziemlich aufgehellt. Und wenn der Österreicher Welser-Möst den Amerikanern schwungvoll satten Streicherfluss abverlangt, fehlt eben jene Wärme, die er von den Wiener Philharmonikern sofort bekommen würde. Die Differenz zwischen europäischen und US-Orchestern ist in mancher Hinsicht evident, unbelastet von Klischees.

Im Konzerthaus zählt indes am Ende nur, dass das Publikum heftigst applaudiert für ein aufregendes Konzert. Überraschung hier, Enttäuschung dort nicht ausgeschlossen. Und mancher hat vielleicht sogar Unvermutetes für sich entdeckt – Messiaen und Strauss noch im Gehör.

 




Festspiel-Passagen XI: Mozart und Strauss – Neuinszenierungen in Salzburg

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger "Don Giovanni". Foto: Michael Poehn

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger „Don Giovanni“. Foto: Michael Poehn

Wenn sich nach sexueller Bedrängnis und ohnmächtiger Eifersucht Zerlina und Masetto in einem Moment der Ruhe wiederfinden, wenn sie sich in Duettino und Arie der Zerlina („Vedrai carino“) nach allen emotionalen Stürmen wiederfinden, entkleiden sich Valentina Nafornita und Alessio Arduini, schlüpfen in Unterwäsche in eines der Zimmer des düsteren Hotels, entziehen sich dem Zugriff des allgegenwärtig scheinenden Don Giovanni. Und dem sehnsuchtsvoll dem Paar nachblickenden Don Ottavio zeigen sie, was die Sinnspitze sexuellen Begehrens sein sollte: die liebende Begegnung, auf die er – mit Donna Anna – vergeblich hofft.

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Das war einer der flüchtigen Momente im Salzburger „Don Giovanni“ Sven-Eric Bechtolfs, der gezeigt hat, wohin diese Inszenierung hätte führen können. Es gab noch andere solche Augenblicke verdichteter Deutungs-Energie in der Arbeit des Salzburger Schauspielchefs: Etwa, wenn Donna Anna ein Messer in der Hand hält und Don Giovanni ihren Arm zum Todesstoß gegen den Komtur führt.

In solchen Momenten gewinnen Personen eine Dimension, die über das konkrete Spiel hinausgeht – sie werden zu Symbolgestalten des psychischen Dramas: Donna Anna befreit ihre Persönlichkeit, vom triebhaften Impuls Giovannis geleitet, aus patriarchalischen Fesseln. Dass sich dann ihre Schuldgefühle in Rachegelüsten manifestieren, für die sie Don Ottavio benutzt, bleibt in der Inszenierung unausgeleuchtet – so wie manche Ecken in der ragenden Halle eines Dreißiger-Jahre-Hotels, die Rolf Glittenberg als Einheits-Schauplatz auf die breite Bühne des „Hauses für Mozart“ gebaut hat.

Kraftlose Bühne für einen überflüssigen „Don Giovanni“

Es mag an dem unverbindlich kraftlosen Schauplatz liegen, dass Bechtolfs Inszenierung die konsequente Verortung auf der Meta-Ebene des existenziellen Dramas verfehlt hat und letztlich doch bei der Komödie um einen Testosteronbolzen hängengeblieben ist, dem der Teufel den Cocktail für die „Champagnerarie“ mixt. Es mag auch am plakativen Don Giovanni von Ildebrando d’Arcangelo liegen, der die Zwischentöne der Figur weder szenisch noch stimmlich präsent zu setzen verstand: Wenn auch von der Anlage der Rolle her Eleganz oder Subtilität nicht gefragt waren, sind doch massive Attacke im „Ständchen“ und uniformierter, klobiger Ton selbst in Rezitativen nicht angemessen.

Salzburg: Ildebrando D'Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Salzburg: Ildebrando D’Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Wie überhaupt die Salzburger Sängerbesetzung enttäuschte. Selbst Luca Pisaronis stimmschönem Leporello gelang es nicht, sich zu flexibler Leichtigkeit zu befreien. Die Donna Anna der Lenneke Ruiten schlug sich mit dünn-gefährdetem Timbre und verquälten Spitzentönen durch ihre Partie.

Anett Fritsch dagegen überzeugte als Donna Elvira mit substanzreichem Klang und ausgeglichenen Koloraturen. Andrew Staples gab Don Ottavio in der Tradition englischer Kathedraltenöre mit dünn-blassem Klang und substanzlos verengter Höhe; Tomasz Konieczny bewegte sich als Komtur am anderen Ende der Tonskala mit unfreiem Bass. Nur das Paar Zerlina – Masetto (Valentina Nafornita und Alessio Arduini) ließ den Reiz entspannten Singens und drucklos gebildeter Phrasen erleben.

Auch das Dirigat von Christoph Eschenbach rettete die Aufführung nicht: zu spannungslos schon das Adagio der Ouvertüre, die Tempi ohne vibrierende Brillanz, die Artikulation ohne Prägnanz. Den Wiener Philharmonikern gelangen Momente faszinierender Piano-Kultur.

Doch Festspiel-Faszination blieb aus – dafür stellt sich die Frage ein, wozu man in Salzburg nach nur drei Jahren überhaupt eine „Don Giovanni“-Neuinszenierung, einen „Da Ponte-Zyklus“ braucht. Einen echten Zyklus mit den vorzüglichen Libretti des Dichters hat es noch nie gegeben – da müssten sich Theater oder Festspiele einmal verständigen, auch diejenigen zur Diskussion zu stellen, die Antonio Salieri, Vicente Martín y Soler, Stephen Storace oder auch Francesco Bianchi vertont haben. Und Mozart – Da Ponte – Zyklen sind, mit Verlaub, überflüssig, da die drei Opern sowieso überall und ständig im Repertoire zu finden sind.

Atmosphäre des Epochenabschieds in Kupfers „Rosenkavalier“

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger "Rosenkavalier" Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger „Rosenkavalier“ Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Die zweite Neuinszenierung dieser Festspiele gilt einem ihrer Mitbegründer: Richard Strauss. Zum 150. Geburtstag dieses so bedeutenden wie schillernden Komponisten des 20. Jahrhunderts hatte Noch-Festspielchef Alexander Pereira ausgerechnet das gängigste Werk gewählt: „Der Rosenkavalier“ ist als Epochen-Abschiedswerk mit Blick auf den Ersten Weltkrieg keine originelle, aber eine sinnvolle Wahl – und Altmeister Harry Kupfer vergegenwärtigte dieses unbestimmte Gefühl des Abschieds – für das die Fürstin Maria Theresia von Werdenberg steht – mit einer sich jeder plumpen Aktualisierung enthaltenden Regie.

Entscheidende Anteil an der atmosphärischen Dichte des Abends haben die Bühnenbilder von Hans Schavernoch: Raumfüllende Projektionen illustrieren beziehungsreich Schauplätze und geistige Haltungen: vergehende Barock-Herrlichkeit, aber auch zeitgeistiger Klimt-Jugendstil für die Marschallin; gusseiserne Dachkonstruktionen für den aufsteigenden Faninal, der sich freilich zu gerne im Glanz herrschaftlichen Barocks spiegeln würde. Und die Riesenrad-Gestänge des Praters drohen hinter einem Beisl, das als Illusionsarchitektur unter doppeltem Aspekt aufzufassen ist: In seinem imitierten Realismus steht es für die Kulisse des Schmierentheaters, das ebenso für den Lerchenauischen Gefoppten gespielt wird wie es der Ochs selbst als tragikomischer Wiener Vorstadt – Don Juan aufführt.

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Dass sich Harry Kupfer keiner Regie-Outrierung bedienen muss, um seine Figuren in Ruhe und Tiefe zu entwickeln, wird auch sichtbar. Intensive, beziehungsvolle Momente – wie die vor dem Bild herbstlich kahler Praterbäume im Nebel in Gedanken versunkene Marschallin – entstehen nicht im unermüdlichen Drang von Regisseuren, deutungswütig auch noch die marginalste Szene mit Bewegung füllen zu müssen.

Für dieses Konzept war Krassimira Stoyanova die passende Besetzung: eine Marschallin, die in einem Moment jugendlich spontan, im anderen abgeklärt, ja melancholisch wirkt. Auch die feinen Mezzo-Lasuren ihrer positionssicheren Stimme, der ruhevolle Atem der Legati, die ausgeglichenen Register, die lyrische Innigkeit leuchten den Charakter einer Frau aus, die nicht nur die eigene Jugend im Wissen um die Zeit schwinden sieht.

Kupfer deutet den Epochenabschied fein aus, wenn er es am Ende offen lässt, ob nicht der dunkelhäutige Chauffeur ihres Luxuswagens an die Stelle des Grafen Rofrano treten wird. Kupfer gibt der Marschallin so einen Zug ins Ambivalente, der sie ihrem Vetter Ochs annähert und ihre philosophische und moralische Unfehlbarkeit mildert.

Den "Walfisch" gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger "Rosenkavalier"-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Den „Walfisch“ gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger „Rosenkavalier“-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Mit Günther Groissböck rührt Kupfer auch an der überkommenen Konzeption des Barons Ochs auf Lerchenau: Nicht der gemütliche rotwangige Tölpel, sondern ein schneidiger, gewandter Typ, skrupellos, hochmotiviert, wenn es darum geht, die Frauenzimmer auf die vielerlei Arten, wie sie es (angeblich) wollen, zu nehmen.

Die aufgemachten Striche in diesem ungekürzten „Rosenkavalier“ verdeutlichen die aggressive Sexualität dieses Vertreters der Moderne, der Moral auf Konvention eindampft, die nur zu beachten ist, wenn sie nützlich ist oder dem adligen Blute dient.

Kupfer braucht keine Braunhemden oder Hakenkreuze, um zu zeigen, wohin der Weg dieser Moderne führt. Ochs ist einer ihrer Protagonisten, und Kupfer zeigt nach dem so wundervoll konzentriert wie virtuos inszenierten dritten Aufzug, dass der Rückzug seiner Truppe – auch die keine lerchenauischen Tölpel, sondern bedrohliche Schläger – keine Niederlage sein muss.

Melancholie des Abschieds - und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des "Rosenkavalier". Foto: Monika Rittershaus

Melancholie des Abschieds – und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des „Rosenkavalier“. Foto: Monika Rittershaus

Groissböck ist Niederösterreicher und beherrscht das Idiom perfekt, um dem Charakter seiner Figur Ausdruck zu geben; für den Sänger gibt es noch Entwicklungspotenzial, nicht nur in der Tiefe, auch in der Freiheit der Tonbildung.

Die Liste der luxuriösen Besetzung setzt sich fort mit Sophie Koch, wohl derzeit die prominenteste Darstellerin des Octavian, und Mojca Erdmann als selbstbewusst zu ihrem „Ich“ vordringender Sophie, deren kleiner Soubrettenstimme freilich blühender Glanz und eine tadellose Höhe fehlt. Adrian Eröd bestätigt als Faninal seinen Rang, für den er als Bayreuther Beckmesser die Messlatte hoch gelegt hatte.

Andere blieben hinter ihren Möglichkeiten zurück, so Silvana Dussmann als zu spitzstimmige Marianne Leitmetzerin, Rudolf Schasching als Valzacchi und Stefan Pop als italienischer Sänger mit flackerndem Legato und dünn gefüllter Höhe.

Die Wiener Philharmoniker durften im wie zu Karajans Zeiten hochgefahrenen Graben demonstrieren, wie vertraut sie mit dem Strauss’schen Idiom umgehen. Franz Welser-Möst bemüht sich, leider oft vergeblich, die Lautstärke zu zügeln, die Sänger nicht zu verdecken. Er legt offen, etwa im Vorspiel, dass die „Rosenkavalier“-Musik bei aller silbrigen Geschmeidigkeit und süßen lyrischen Verführung auch mit „Salome“ verwandt ist. Doch den schimmernden Glanz der Übergabe der „Silbernen Rose“ lässt er nicht geheimnisvoll-innig, das weltentrückte Terzett am Ende nicht ätherisch enthoben aus dem Orchester fließen. Ein handfester, kein subtiler „Rosenkavalier“: Welser-Möst hat noch einen Weg vor sich, bis er die Deutungs-Raffinesse seiner Vorgänger erreicht hat.