Ernst, streng und abgeklärt: Evgeny Kissin mit reinem Beethoven-Programm beim Klavier-Festival Ruhr

Konzentration und abgeklärter Zugriff: Evgeny Kissin interpretiert Beethoven. Foto: Sven Lorenz

Evgeny Kissin galt als Wunderkind. Er selbst hat diese Bezeichnung freilich abgelehnt. Sie roch ihm zu sehr nach Drill, vordergründiger Brillanz. Und doch: Wenn ein 12Jähriger beide Chopin-Klavierkonzerte hintereinander öffentlich aufführt, wenn er damit nicht nur, ja, brilliert, sondern zugleich Zeugnis beseelter Musikalität ablegt, wenn ihm dazu technisch fast alles gelingt, kann die Bezeichnung Wunderkind nicht ganz abwegig sein.

Allerdings ist schon mancher junge Stern am Pianistenhimmel schneller als gedacht verglüht. Nicht aber Kissin: Der Russe ging seinen Weg so kontrolliert wie konzentriert, behutsam erarbeitete er sich zunächst das romantische Repertoire, gewann Schritt für Schritt an Ausdruckskraft und technischer Souveränität. Die Entwicklung mündete schließlich in der meisterhaften Beherrschung der Klangwelten eines Konzertflügels.

So fand er schnell sein Publikum in den berühmten Sälen der Welt, eroberte sich geradezu eine Fangemeinde zumeist russischsprachiger Natur. Kissin bezauberte, überwältigte, riss die Menschen schon nach den ersten Stücken von den Sitzen. Legendär sind seine Zugabenblöcke, ausufernd, kaum enden wollend, getragen von wahren Anfeuerungen aus dem Auditorium. Nun, bei aller Seriosität, ein bisschen Zirkus durfte es bei Kissin schon sein.

Ernster Blick, seriöse Aura: Kissin am Klavier. Foto: Sven Lorenz

All dies Beschriebene ist ein Blick zurück. Tritt der Pianist heute auf, umgibt ihn eine Aura von unbedingter Ernsthaftigkeit, künstlerischer Reife bis hin zur Abgeklärtheit, nicht zuletzt von Strenge. Der nunmehr 47Jährige hat alles Jungenhafte hinter sich gelassen, verlangt vom Publikum mehr als nur berauschten Taumel, verknappt die Zugaben. Entsprechend mag sich das alte Kissin-Feeling auch während seines diesjährigen Klavierfestival-Auftritts nicht mehr einstellen. Dabei spielt  freilich die Programmauswahl eine Rolle: Der Russe konzentriert sich allein auf Sonaten und Variationen Ludwig van Beethovens.

Lange hat Kissin gebraucht für die Annäherung an den Komponisten. „Beethoven fand ich viele Jahre sehr schwer“, bekannte der Pianist in einem Interview. Kein Wunder, dass er nun, in Essens Philharmonie, mit gehörigem Respekt vor dem Klassiktitanen ans Werk geht, Überzeichnungen ebenso meidet wie die große Geste. Gleichwohl wird es ein spannungsreicher Abend, bereichert durch traumschön poetische Momente. Im Wechselspiel von Klang und Motorik stößt Kissin eine Tür auf,  die den Blick freigibt auf die musikalische Romantik und Moderne.

Seien es die gravitätisch schreitenden Einleitungsakkorde der „Pathétique“ oder die sanften Arpeggien, die am Beginn der „Sturm“-Sonate aufleuchten – die Verdichtung der Klänge erinnert an nahezu impressionistische Farbspiele. Abrupte Stimmungswechsel, ausgelöst durch dynamische Eruptionen oder motorisches Hämmern, reißen uns jedoch schnell los von allem Schwelgen. Beethovens Werk ist eben geprägt von drangvoller Nervosität, nicht selten auch von energiegeladener Wucht.

Am Ende gibt’s Blumen für den Solisten und drei Zugaben fürs Publikum. Foto: Sven Lorenz

Gefordert ist ein ebenso sensibler wie kraftvoller Interpret. Der zudem das Virtuose beherrscht, ohne damit sinnfrei glänzen zu wollen. Dafür ist Kissin die richtige Adresse. Wie er die sich immer mehr verquirlenden Eroica-Variationen meistert, wie er manch improvisatorische Passage auskostet und die finale Fuge (Beethovens Verneigung vor Bach) ausdrucksvoll gestaltet, zeugt von großer Klasse.

Dabei entpuppt sich der Pianist als ökonomischer Gestalter, der auch in den teuflisch schweren Momenten der Waldstein-Sonate nie den Überblick verliert. Sauber und klar konturiert erklingen die pochenden Staccati zu Beginn, ohne Hast perlen die Figurationen. Das Adagio bekommt eine nahezu grüblerische Note, die sich auflöst im poetischen Thema des Finales. Und so sehr Kissin all die Sprünge, Trillerketten oder wuchtigen Ausbrüche dieses Rondos beherrscht, so geschmeidig, ja fast elegant formt er die Sonate als Ganzes.

Ein ungewöhnliches Hörerlebnis in einem außerordentlichen Konzert. Und am Ende gibt es dann doch den großen Jubel im ausverkauften Saal. Freilich ohne die sonst schon ritualisierte frenetische Ausgelassenheit. Kissin wiederum belässt es bei drei Zugaben. Die Abende mit ihm haben sich gewandelt. Sie sind toll, vor allem aber anspruchsvoll. Auf der Stuhlkante haben wir einst jedenfalls öfter gesessen.




Farben, Tänze und Etüden: Die Pianistin Beatrice Rana interpretiert in Essen Werke von Chopin, Ravel und Strawinsky

Die junge italienische Pianistin Beatrice Rana gab ein sehr eindrucksvolles Debüt in der Essener Philharmonie. (Foto: Marie Staggat)

Mit der jungen italienischen Pianistin Beatrice Rana erobert eine Neue Sachlichkeit die Konzertpodien. Der Befund gilt ihrer Außendarstellung, die so gar nichts von Gehabe hat.

Die Künstlerin wirkt ernst und konzentriert, doch münzt sie das nicht um in körperliche Akrobatik oder introvertiertes Abkapseln. Weder müssen die Hände unsichtbaren Girlanden nachspüren, noch spinnt Rana einen Kokon zum Zwecke des Abtauchens in einen Zustand der Trance. Stattdessen Schnörkellosigkeit, uneitles Interpretieren, Virtuosität wie naturgegeben. Und natürlich Emotion, Gestaltungskraft, kluge Gewichtung musikalischer Proportionen.

Jetzt hat Beatrice Rana in der Philharmonie Essen debütiert. Als leidenschaftliche Musikerin, die das Material beherrscht, ohne dabei eine das Spiel hemmende Dauerkontrolle zu benötigen. Die am Beginn, mit den 12 Etüden op. 25 von Frédéric Chopin, nichts überhitzt, sowieso jeden Kitsch meidet, den Komponisten vielmehr aus den Salonmusikklischees heraushebt.

Souverän fließt ihr alles technisch Vertrackte aus den Fingern, sodass sich der Fokus ganz auf den Gehalt dieser „Übungsstücke“ richten kann. Rana entdeckt hier die geradezu orchestrale Wucht mancher Passagen, lässt Diskantfigurationen bisweilen aufschimmern, als sei Chopin ein früher Wegbereiter des Impressionismus, und illustriert nicht selten den Revolutionston des polnischen Komponisten, dessen Land immer wieder, oft vergebens, gegen Okkupanten rebellierte.

Rana muss sich allerdings in ihre Interpretation erst einschwingen. Am Beginn steht viel gleichförmiger Fluss und wenig Kontur. Doch stets schwebt über allem eine sehnige Spannung, herausgekitzelt durch dynamische Variabilität. Der motivisch-thematische Verlauf wird schnell klarer und unschön manierierte Rubati bleiben außen vor. Manche Zuspitzung aus der Abteilung Attacke verweist direkt auf Liszt, andererseits haben wir die Schlusswendungen einiger Etüden, pendelnd zwischen Lakonik und melancholischer Subtilität, selten so berührend ausformuliert gehört.

Gleichwohl ist Chopins Musik nicht von transzendenter Natur. Um in diese Sphären vorzurücken, bedarf es etwa der Miroirs eines Maurice Ravel. Interpretiert von einer Solistin, die im rechten Moment die Zeit anzuhalten vermag. Beatrice Rana zeigt sich hier von ihrer sensiblen Seite, mit Sinn für die Klangfarbe. Wie mäandernde Gebilde stehen diese „Spiegelungen“ im Raum, tönende Reflexionen diffuser Bilder wie „Nachtfalter“ oder „Traurige Vögel“. Griffiger im doppelten Sinne ist hingegen das mit spanischem Kolorit ausgezierte Stück „Alborada del gracioso“, jenes „Morgenständchen eines Narren“, das markante Akkorde mit den rezitativischen Linien des andalusischen Cante jondo mischt. Aus diesem Ineinandergreifen schöpft die Solistin die Spannung dieser Miniatur, ohne jedoch in einen auftrumpfenden Machismo abzugleiten.

Beatrice Ranas programmatischer Weg führt vom polnischen Emigranten Chopin im mondänen Paris über Ravel, der annähernd sein ganzes Leben in der französischen Metropole verbrachte, hin zum Russen Igor Strawinsky, der eben dort 1910 seinen „Feuervogel“ in die Welt setzte. Und über allem schwebt, in mehr oder weniger erfahrbarer Intensität, das Flair des Impressionismus. In Strawinskys Suite, von Guido Agosti für Klavier gesetzt, zeugt die Berceuse von jener Macht der zarten Andeutung. Doch Rana lässt es zunächst ordentlich krachen: Der „Danse infernale“ entpuppt sich unter ihren Händen als wahrhafter Höllenritt, wenn auch auf Kosten einer verwischten musikalischen Struktur. Fast majestätisch gelingt der Pianistin hingegen das machtvolle Finale.

 

 




Pierre-Laurent Aimard verortet György Ligetis Klavieretüden in ihrem historischen Kontext

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard in tiefer Versenkung und höchster Konzentration am Klavier. Foto: Mohn/KFR

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard in tiefer Versenkung und höchster Konzentration am Klavier. Foto: Mohn/KFR

Er zählt zu den Intellektuellen unter den Pianisten. Zu denen, die sich erst einmal Gedanken über die Programmgestaltung machen, bevor ein Konzert beginnt. Um dann zwischen einzelnen Werken sinnfällige Beziehungen aufzuzeigen, zu verdeutlichen, dass Komponisten nicht im luftleeren Raum agieren, sondern stets in die Musikgeschichte eingebunden sind.

Von Pierre-Laurent Aimard ist hier die Rede, dessen analytischer Zugriff – als Interpret und indirekt ja auch als des Publikums Lehrer – uns Anregungen, zudem ästhetische Sinneserweiterung schenkt. Das hat er nun beim Klavier-Festival Ruhr erneut aufs Schönste bewiesen. Ihm zu folgen, staunend, anerkennend und mitdenkend, bedeutet Genuss und Herausforderung zugleich. Und am Ende eines solchen Konzeptkonzertes applaudiert das Publikum sowohl für Aimards nie zur Schau gestellte Virtuosität als auch, diesen Abend im Essener Haus Fuhr, für die Erkenntnis, dass Neue Musik mitreißend und sinnlich sein kann.

Der französische Pianist verknüpft zwei Stränge, die das Festival in diesem Jahr als Schwerpunkte ausgegeben hat. Vieles dreht sich dabei um das Thema Etüden, manches um den Ungarn György Ligeti. Der gilt, in Nachfolge Bartóks, gewiss als bedeutendster Komponist seines Landes im 20. Jahrhundert. Und schrieb zwischen 1985 und 2001 ein Konvolut von 18 Klavieretüden. Eine rhythmisch vertrackte, fingerakrobatische, teils klanglich aufreizende Musik, die sich so wahnwitzig wie vermeintlich unspielbar anhört. Dann müssen zehn Finger raschest quirlige Figurationen die Tastatur rauf und runter treiben, und dabei noch die Illusion ungleicher Geschwindigkeiten wecken.

Pierre-Laurent Aimard: ein kluger Kopf, der die musikalische Moderne geschickt in die Historie einbettet. Foto: Borggreve/KFR

Pierre-Laurent Aimard: ein kluger Kopf, der die musikalische Moderne bei seinen Konzeptkonzerten geschickt in die Historie einbettet. Foto: Borggreve/KFR

Ligeti hat sich als Vorbild die Musik für Player Pianos des Amerikaners Conlon Nancarrow genommen. Nur dass der Ungar einen lebendigen Pianisten als Interpreten vorsah, und nicht ein Selbstspielklavier – also eine Maschine. Doch abseits davon hat Ligeti die Etüden Chopins genauso intensiv studiert wie jene Claude Debussys oder eben Béla Bartóks. Und dem Solisten Aimard gelingt es nun, diese Beziehungen ohrenfällig zu illustrieren. Indem er seinem Programm einen Kunstgriff verordnet: Die Etüden, die erklingen, werden gemischt – auf Debussy folgt Ligeti, folgt Chopin, wieder Ligeti, dann Bartók…

Und es ist schon erstaunlich, dass wir plötzlich die Umspielungen einer Chopin-Etüde im Lichte der Moderne ganz neu hören. Dass die rauschhafte Sturm-und-Drang-Musik der frühen Bartók-Etüden problemlos als eine von Ligetis Wurzeln zu erkennen ist. Oder dass Alexander Skrjabins Beitrag zu Gattung, in ihrer Farbenpracht und orchestralen Wucht, klar auf Zukünftiges verweist. Nehmen wir nur das letzte Werk des Abends, Ligetis 13. Etüde, „Die Teufelstreppe“. In aberwitziger Geschwindigkeit, die der Komponist bis zum Exzess treibt, rast Satan umher. Um letztlich dort zu landen, wo er hergekommen ist: in der vom Clusterklang dominierten bassschwarzen Hölle.

Ein Finale furioso, das Pierre-Laurent Aimard bravourös inszeniert. Mancher mag danach Ligeti, den Modernen, für sich entdeckt haben.




Selbstbewusstes Konzept: Khatia Buniatishvili beim Klavier-Festival Ruhr in Duisburg

Die Unruhe ist von Anfang an da, zieht in ihren Bann. Sie ist präsent in den hart angeschlagenen Akkorden des Beginns von Chopins b-Moll-Sonate, sie wacht über dem aufgewühlten Agitato-Brausen, sie durchwebt auch die Beruhigung des Tempos, die sanfte Dolce-Versenkung. Bei Khatia Buniatishvili liegt diese Unruhe wie ein existenzielles Verhängnis über allen vier Sätzen der Sonate, die durch ihren „Trauermarsch“ eine manchmal traurig-banale Berühmtheit erlangt hat.

"Versinken ... ertrinken...": Khatia Buniatishvili bei ihrem Duisburger Konzert. Foto: Frank Mohn

„Versinken … ertrinken…“: Khatia Buniatishvili bei ihrem Duisburger Konzert. Foto: Frank Mohn

Bei der 25-jährigen georgischen Pianistin sitzt man das Stück nicht mit dem bestätigenden Eindruck des viele Male Gehörten ab. Wie Blitze eine bekannte und lieb gewonnene Landschaft unheimlich neu beleuchten können, durchfetzen ihre Einfälle das vertraute Gebilde. Etwa wenn sie die Dynamik, nicht aber die Toncharakteristik ändert und damit etwas Unerbittliches in die Noten legt. Oder wenn sie durch Bassakzente den ach so lieb gewordenen weit phrasierten melodischen Motiven etwas Irritierendes mitgibt, ein Gift gegen jede Heimeligkeit.

Sicher: Chopin spielen viele, und viele spielen ihn beeindruckend, beredt, ja beschwörend. Umso faszinierender ist es zu erleben, wie eine junge, selbstbewusst ihrem Konzept folgende Pianistin ein Stück neu gestaltet, ohne es zu zerlegen. Buniatishvilis Chopin ist beides: authentisch und subjektiv, textgetreu und wunderbar frei.

Die Pianistin, die 2009 beim Klavier-Festival als Einspringerin für Hélène Grimaud Aufsehen erregte, ist inzwischen vielfach ausgezeichnet worden. Zum Beispiel erhielt sie 2012 den Echo-Klassik-Preis als Nachwuchskünstlerin Klavier. Ihre drei Schubert-Piècen, von Franz Liszt bearbeitet, zeigen auch, warum: Das „Ständchen“ nimmt sie introvertiert, mit leichten Rubato-Akzenten, meidet aber die Einfärbung des Anschlags zum sentimentalen Dolce, hält den Klang gerade und ernst. Keinerlei Attitüde, kein Anflug von virtuosem Narzissmus. „Gretchen am Spinnrad“ ist ein Beispiel dafür, wie Monotonie ausgedrückt werden kann, ohne monoton zu werden. Buniatishvili leistet sich keine theatralische Aufladung: Das Drama ist leise, aber bitter. Den „Erlkönig“ hämmert sie rasend übersteigert in die Tasten; ein entfesselter Weltenbrand mit fahl verlöschendem Ende.

Die Transkription „Schafe können sicher weiden“ des einst berühmten Pianisten Egon Petri (1881-1962) ist eine jener romantischen Reflexionen auf Johann Sebastian Bach, wie sie durch Ferruccio Busoni oder Leopold Stokowski beliebt geworden sind. Buniatishvili steht zur Romantisierung, verwendet viel Pedal, gestaltet den Klang substanzvoll.

Den zweiten Teil ihres Konzertes in der Gebläsehalle des Duisburger Landschaftsparks Nord sieht Buniatishvili offenbar wie eine Meditation am Klavier: Chopins cis-Moll Etüde aus Opus 25, die a-Moll-Mazurka aus Opus 17, der „Oktober“ aus den „Jahreszeiten“ Tschaikowskys, Skrjabins cis-Moll-Etüde, schließlich Debussys „Clair de lune“ und Ravels „Pavane pur une infante défunte“.

Ohne Pause fließen die Stücke ineinander, verlangen Konzentration, Stille, fast schon Entrückung. Buniatishvili formt die Linien weltverloren aus: weit, behutsam im Anschlag, spannungsvoll in der Dramaturgie, in bewusstem Verzicht auf Kontraste. Wenn „Magie“ überhaupt eine taugliche Beschreibung für die Qualität von Klavierspiel ist, dann passt sie hier.

Als dann „La Valse“, Maurice Ravels raffiniertes Schaustück, das offizielle Programm abschließt, kehren wir wieder in die Welt zurück, begleitet von weniger grell verzerrten als pikant ironischen Rhythmen – eine Welt, die von der ersten der beiden Zugaben, dem letzten Satz aus Prokofjews wahnwitziger Siebter Sonate, in furioser Raserei übersteigert wird.




Bravour ohne Risiko: Die Philharmonia Prag mit Jan Lisiecki in der Essener Philharmonie

Wächst da ein neuer Horowitz heran, wie es ein einflussreiches deutsches Magazin prophezeit hat? Wer Jan Lisiecki, den schlaksigen, ein wenig steif, aber selbstbewusst wirkenden jungen Kanadier polnischer Herkunft mit Chopins e-Moll Konzert in der Essener Philharmonie gehört hat, wird da seine Zweifel hegen.

Der blonde Klavier-Boy hat einen kräftigen Zugriff für die Eröffnung, gefällt mit einem lyrisch-perlenden Passagenspiel, stellt sich leichtfingrig und mit schwerelosen Linien den heiklen Stellen. Aber ein neuer Horowitz? Dafür fehlen dem erst Achtzehnjährigen die Passion, die persönliche Farbe, das Aushören von Innenspannung und harmonischer Reibung, die dramatische Flamme in der Steigerung, der – wie es Joachim Kaiser so unnachahmlich ausdrückt – raubtierhafte und brillant durchdachte Zugriff.

Jan Lisiecki (18) (© DG/Mathias Bothor)

Jan Lisiecki (18) (© DG/Mathias Bothor)

Wozu auch solche Vergleiche? Chopins Musik lässt es – wie alle große Klaviermusik – zu, sich ihr auf unterschiedliche Weisen zu nähern. Und was Lisiecki selbst mit einem Glenn-Gould-Zitat für seinen Mozart in Anspruch nimmt, nämlich „something different“ zu sagen zu haben, gilt wohl auch für seinen Chopin. Zu den hitzig-tiefgründigen Virtuosen wie eben jener Vladimir Horowitz gehört Lisiecki nicht; das offenbart auch die Zugabe, die erste von Chopins Etüden op. 25. Sie träumt vor sich hin, als kenne sie keine spannungsvolle innere Dramaturgie.

Lisieckis mit seiner Lust am frisch-quirligen Passagenspiel hat, das spürt man, nicht den Grund, sich als brillanter Virtuose zu präsentieren. Er sucht den seelenvollen Ton, die Poesie der Linie, aber er findet (noch?) nicht zu Entrückung und Schwermut. Warum Chopin sich immer wieder – als spinne er einen Gedanken in halbbewußtem Dämmer weiter – in seine von John Field inspirierten silbrigen Improvisando-Meditationen verliert, kann Lisiecki nicht deutlich machen. Dazu schaut er zu wenig auf Kontraste, auf Beleuchtungswechsel.

Mag sein, dass der junge Pianist mit dem Dirigenten Jakob Hrůša nicht gerade den idealen Partner gefunden hatte: Der Nachwuchs-Pultstar neigt nämlich zu einem Rhythmus ohne Atem, zum Metrum ohne Geschmeidigkeit. Das geht geschwinde und genau, aber ohne Sinn für den Aufbau von Spannung, ohne Rubato-Kultur, ohne entrückendes Innehalten in der lyrischen Delikatesse der Mittelsatz-Romanze. Hrůša blickt kaum einmal auf den Pianisten – und Lisiecki wagt es wohl nicht, ihm durch eigene Impulse Paroli zu bieten. Als das Solo-Horn im ersten Satz seinen Ansatz nicht gleich hat, geht das beinahe schief: Lisiecki ist für einen Moment irritiert, fängt sich aber gerade noch. Auch im Zusammenspiel mit dem Solo-Fagott fehlt das gemeinsame Atmen; solche Stellen wirken wie prima vista gespielt.

Die Philharmonia Prag, ein erst 1994 gegründetes, jung besetztes Orchester, folgt Hrůša offenbar willig in seinen Absichten: rasantes Tempo in Smetanas Ouvertüre zur „Verkauften Braut“, Präzision und scharfgeschnittener Klang in Antonín Dvořáks Sechster Symphonie. Den Aberwitz der frechen Pianissimo-Achtelketten Smetanas meistern die Streicher bravourös, aber der Charme wird der Virtuosität geopfert. Die Bläser präsentieren sich in der leider zu selten gespielten Dvořák-Symphonie glanzvoll, aber das metrisch steife, überkorrekte Musizieren wirkt in seiner kalten Perfektion auf Dauer fade: kein Risiko, kein Herzblut, keine Wärme.

Die Reihe der ProArte – Konzerte in der Essener Philharmonie wird am 7. Mai fortgesetzt: Anne-Sophie Mutter spielt mit den Dresdner Philharmonikern und Rafael Frühbeck de Burgos Beethovens Violinkonzert. Am 27. Mai ist dann die Camerata Salzburg mit dem Perkussionisten Martin Grubinger zu Gast. Information: www.pro-arte-konzert.de




Ivo Pogorelich in Essen: In den Klüften des Klangs

Musik ist eine Kunst, die wie kaum eine andere der Zeit unterworfen ist: Ohne Zeit keine Melodie, kein Rhythmus, kein Verlauf. Musiker ohne Zeitgefühl könnten ihren Job an den Nagel hängen. Der Pianist Ivo Pogorelich ist so umstritten, weil er so exzentrisch mit der Zeit umgeht.

Die Zeiten des „jungen Wilden“ sind vorbei: Pogorelich geht gemessenen, fast ein wenig gebrochenen Schritts zum Flügel, lässt sich Zeit, sich niederzulassen, lauscht, noch bevor ein Ton erklungen ist. Und was dann kommt, wirkt wie ein ganz persönlicher Kampf mit der Zeit: Pogorelich scheint ihre Herrschaft nicht anerkennen zu wollen. Chopins wuchtige Akkorde zur Eröffnung der b-Moll-Sonate op. 35 – der mit dem allbekannten Trauermarsch – will er gar nicht enden lassen, lässt sie aus dem Flügel dröhnen, als gehe es darum, ein für Millionen Jahre unbewegliches Klanggebirge aufzutürmen.

Und dann das Gegenteil: Pogorelich rast durch die Läufe, als wolle er selbst den schnellsten Puls der Zeit hinter sich lassen. Er kennt keine Oberstimme mehr, keine Kontur, keine Phrase. Alles ist purer Rausch. Nur nicht innehalten, nur nichts ausformen. Weiter, immer weiter, raketenschnell, den Schall als träge verhöhnt.

Aber im Scherzo der Sonate findet Pogorelich auf einmal mitten im Hochdruck zur Muße. Da sinnt er einer Melodie nach, flicht sie zu einem intensiven Band von Tönen, die er am liebsten nicht aus seinen Händen lassen würde. Denkt über einzelne Anschläge nach, formt das Cantabile mit unendlicher Zärtlichkeit aus. Dazwischen der Trauermarsch, ernüchternd konventionell.

Franz Liszts Mephisto-Walzer Nr. 1 hat er schon gespielt, als ihn das Klavier-Festival Ruhr 2009 ins Dortmunder Konzerthaus lockte. Donner und Rausch rumoren in unmittelbarer Nachbarschaft von zäher, in sich versinkender Dauer. Und Chopins c-Moll-Nocturne op. 48/1? Eine Klanglandschaft wie ein romantischer Stich, der die Natur monumentalisiert und ihre wilde Größe erregend steigert.

Die h-Moll-Sonate Franz Liszts als Krönung des Konzerts war gleichzeitig die extremste Ausformung des für Pogorelich typischen Subjektivismus: Das Thema zerfällt in eine Folge statischer Klang-Ereignisse, zwischen denen Pogorelich sich und dem aufmerksam lauschenden Publikum Meditationen über Liszt’sche Notenwerte zumutet. Verläufe und Entwicklungen – für die Sonatenform unverzichtbar – verfließen in den Klüften des Klangs zur Unkenntlichkeit. Matter Beifall: Das Publikum nötigte zum Verzicht auf eine Zugabe.




Daniil Trifonov: Grandioses Debut beim Klavier-Festival Ruhr

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Hymnische Kritiken zu bekommen, ist heutzutage nicht schwer. Die Frage ist immer, von wem. Der 21-jährige Russe Daniil Trifonov hat sie nicht aus einer gut geschmierten PR-Maschinerie, sondern von Kritikern, deren Kompetenz und Unabhängigkeit erprobt sind.

Der junge Mann scheint sich zum Glück auch nicht als kompatibel für Kampagnen zu geben: Seine noch nicht inflationär verbreiteten Äußerungen in Interviews deuten auf ein maßvolles gezügeltes Selbstbewusstsein hin, das sich vor allem musikalisch verwurzelt: Auf der einen Seite zitiert ihn das Programmheft zu seinem Einstand beim Klavier-Festival Ruhr mit dem Satz, er verstehe das Wort Karriere im musikalischen Sinne; auf der anderen hatte er sein im letzten Jahr schon geplantes Debüt bei dem renommierten Ruhrgebiets-Tastenmarathon abgesagt, um nach dem Rubinstein-Wettbewerb in Tel Aviv noch schnell auch den Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau zu gewinnen. Dem 16. Chopin-Wettbewerb war er einen dritten Preis wert. Aber Martha Argerich und Krystian Zimmerman wurden in Warschau auf den Newcomer aus Nischnij-Nowgorod aufmerksam. Und wenn Argerich einmal sagt, so etwas habe sie noch nie gehört, hat das Gewicht.

So haben sich die Portale der Klavierwelt für Trifonov weit geöffnet. Er hat schon in Sälen gespielt, die für Andere Gipfelpunkt einer langen Karriere sind: Carnegie Hall New York, Wigmore Hall London, Musikverein Wien, Suntory Hall Tokyo, Salle Pleyel Paris, Amsterdamer Concertgebouw und Berliner Philharmonie; dazu kommen jetzt im Sommer Festivals wie Verbier, Lockenhaus oder das – neben dem Ruhr-Festival – zweite wichtige europäische Pianistentreffen im südfranzösischen La Roque d’Anthéron. Und wer mit den Berliner und den New Yorker Philharmonikern spielt, mit dem Cleveland Orchestra und den Wiener Philharmonikern, von dem lässt sich getrost behaupten, er habe den Durchbruch nicht nur geschafft, sondern längst hinter sich.

Solche Leute holt das Klavier-Festival an Rhein und Ruhr! Ruhris und Rheinis sollten, so sie es denn wahrnehmen, stolz sein auf ihr noch existierendes Kulturleben. Zumindest die lesende Öffentlichkeit hatte für diese Wahrnehmung wenig Chancen: Das Trifonov-Debüt wurde publizistisch weitgehend ignoriert. Zu wenig lokale Relevanz für „Europas neue Metropole“? Das stimmt sogar: Trifonov bewegt sich auf internationalen Parketts. Der einzige Unterschied zu arrivierten Künstlern seines Kalibers ist das Fehlen von Hochglanz-Breitseiten, die ihm mit ihrem Dauer-Salut den Weg auch in „lokale“ Feuilletons freischießen.

Das Publikum in Düsseldorf jubelte. Trifonov erwies sich als „formidabler Virtuoso“, wie ihn die „New York Times“ bei seinem Debüt im August 2011 beschrieben hat. Das betrifft nicht nur Wucht und Kraft des Zugriffs, etwa in den bösen Glockenschlägen und dem ungezähmten Furor von Skrjabins fis-Moll-Sonate Nr. 3, einem Paradestück Trifonovs. Sondern auch den Bruitismus und die ungeschönte Raserei in den pianistisch unglaublich anspruchsvollen Transkriptionen Guido Agustis von Strawinskys „Feuervogel“-Sätzen. Und die technischen Raffinessen von Chopins Etuden op. 25, die Trifonov so spielend bewältigt, als habe er ein paar Übungsstückchen von Karl Czerny vor sich.

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Aber all die grandiosen Kaskaden, die Pranke im Bass und die gleißende Kraft des Diskants, die durchgerauschten Passagen und Arpeggien, die Raserei der Hände und der Triumph ihrer Spannweite über die Grenzen der Physis – alles das macht den jungen Virtuosen noch nicht zu einem Dramatiker, einem Poeten oder einem Lyriker am Klavier, sondern erst einmal zu einem Techniker. Wenn da nicht noch etwas ganz Anderes wäre: Im Allegretto der Skrjabin-Sonate zum Beispiel ist es die Farbe der Bässe, ein trocken-drohendes Staccato, das die Leichtigkeit als trügerisch entlarvt. Es ist die Abtönung der Phrasenenden, die zeigt, mit wie viel Delikatesse Trifonov zu modellieren versteht. Es ist die souveräne Geschmeidigkeit, mit der er sich an das Maestoso im letzten Satz anschleicht: Wie ein Tiger spannt er die Sehnen an, um dann mit voller Kraft abzuspringen.

Mehr noch: In Tschaikowskys „Echo rustique“ aus den 18 Morceaux op.72 bricht sich eine fröhlich zupackende Lust am Spielen ihre Bahn, ein gewitzter Blick auf den „Effekt“. Und in der cis-Moll-Hommage an Chopin aus dem gleichen Zyklus überzeugt der klare Aufbau des Stücks, die klug gesetzten dynamischen Forte-Piano-Kontraste, und wieder die federnden, gestaltreich durchformten Bässe. Bei Strawinsky transzendiert Trifonov die knallig-wilde Energie der „Danse infernale“ in der „Berceuse“ in kühler Poesie, in zerbrechlich-gläsernen Klangflächen. Das ungerührte, kalte Feuer dieser Tanz-Explosionen erfasst Trifonov ebenso wie die orchestrale Fülle des Finales.

Bedürfte es nach so viel musikalischer Überzeugungskraft noch eines letzten Impulses, um Trifonovs überragende Begabung zu bestätigen: mit Claude Debussys „Images“ hätte er ihn gegeben. Die „reflets dans l’eau“ habe ich – weder auf Tonträger noch live – schon lange nicht mehr so kontrolliert, so klar und dennoch mit solch poetischer Durchdringung erlebt wie an diesem Abend im Düsseldorfer Robert-Schumann-Saal. Die große Kunst der Balance – hier der innere Drang des Stücks, mit lyrischen Farben aquarelliert zu werden, dort der Wille Debussys zu Klarheit und seine Distanz zu schweifend-glühender Innerlichkeit – beherrscht Trifonov schlicht überwältigend. Und die Versenkung am Schluss hat in ihrer zärtlichen Freude am lichten Ton nichts vom Hang zum romantischen Kolorit, das Debussy gerne in die Nähe unscharfer Farbenmalerei des Impressionismus rückt.

Dass ein 21jähriger noch nicht „fertig“ ist mit dem Erschließen musikalischer Weltenräume, ist eine Binsenweisheit, die eigentlich keiner Erwähnung bedürfte. Aber bevor Trifonov zum jungen Abgott aus einer neuen Pianistengeneration stilisiert wird, sei auch auf Momente hingewiesen, die sein Potenzial auf künftige Erfüllung hin offen halten: Es ist, pikanterweise, das Einfache, das ihm noch nicht so souverän von der Hand geht. Tschaikowskys Morceaux, „Salonstücke“ im besten Sinne, wünschen sich im Falle der Valse aus op.51 das „Sentimentale“, also die Verschattung des Tons, den Trifonov zu klar und zu diesseitig nimmt. Die Bässe sind in diesem Fall zu bestimmt gesetzt, Arpeggien fehlt das biegsame Gleiten mit dem Hauch des Ungefähren. Das Sentiment will, überspitzt gesagt, ein kleines Spiel mit der Schlamperei – und das fordert das überlegen-augenzwinkerte Loslassen eines Virtuosen, der weiß, was er kann, und der sich dennoch ein wenig „gehen“ lässt.

Auch im Andante der Skrjabin-Sonate steht die jugendliche Ernsthaftigkeit der Suche nach dem Doppelgesicht der perfekten Töne noch im Wege. Bei Chopin schafft es Trifonov, poetisches Raffinement expressiv zu gestalten; da sind es nurmehr Details, die davon zeugen, wie jung dieser Ausnahme-Pianist ist: die Bässe der f-Moll-Etüde wirken ratlos unter der silbrigen Oberfläche; in der e-Moll-Etüde kommt er zu schnell zum Ziel des Crescendo und für die melancholische Lähmung des Stücks in cis-Moll fehlt ihm noch ein Quentchen Geduld. Doch das sind nicht mehr als winzige Flecken in einem überwältigend leuchtenden Bild, das, wäre es makellos, seine innere Tiefe verlöre.




Akkurates Herantasten an Chopin

Der Pianist Ingolf Wunder. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Der Pianist Ingolf Wunder hat seine nunmehr dritte CD vorgelegt. Mit Musik von Frédéric Chopin. Die Veröffentlichung ist zugleich sein Debüt beim renommierten Label „Deutsche Grammophon“. Das Gelb-Etikett hat ihn nicht zuletzt deshalb für sich entdeckt, weil Wunder einen wundersamen Lebens-Meilenstein namens Chopin-Wettbewerb vorweisen kann.

Ja, da war doch was im vergangenen Jahr, beim berühmten, ein wenig sogar berüchtigten internationalen pianistischen Kräftemessen in Warschau: Der 25jährige Österreicher Wunder bekam den 2. Preis; und er hätte doch den Spitzenplatz verdient – sprach das Publikum, tobte ein Teil des Feuilletons. „Skandal“ riefen manche frei heraus.

Nun wissen wir schon seit den Zeiten, als wir uns noch für die skurrile Sportart namens Eis“kunst“lauf interessierten und über abstruse Begriffe wie „Doppelter Rittberger“ staunten, dass eine Jury fehlbar ist. Besonders wenn es um die Wertung ästhetischer Darstellung geht. Darüber lässt sich bekanntlich wunderbar streiten – oder eben auch nicht.

So also ist den Preisrichtern in Sachen Chopin-Deutung kein Vorwurf zu machen. Eher noch den Kollegen, die 1980 einen exzentrischen Jungen namens Ivo Pogorelich fallen ließen, sodass Martha Argerich wütend ihr Jury-Mandat zurück gab. Doch was lehrt uns dies: Ein schöner Skandal kann zum Erfolgsgeheimnis werden.

So sehr das, zumindest wenn man den PR-Strategen glaubt, bei Wunder funktioniert, so traurig ist es, dass die amtliche Siegerin des letztjährigen Chopin-Wettbewerbs, die junge Russin Yulianna Avdeeva, in der öffentlichen  Wahrnehmung nahezu untergegangen ist. Das hat sie nicht verdient. Denn was sie an poetischer Ausdruckskraft und an gestalterischer Vielfalt mitbringt, geht Wunder ab.

Zurück also zur CD. Der Pianist hat Chopins 3. Sonate eingespielt, dazu die Polonaise-Fantasie As-Dur, die 4. Ballade, sowie Andante spianato/Grande Polonaise brillante. Alles gediegen akkurat, oft aber etwas steif musiziert, alles wie kalkuliert abspulend. Es scheint, als traue sich Wunder weder zu, den Figurationen schwebende Leichtigkeit zu geben, noch, Emotionen zuzulassen.

Seine Sensibilität wirkt pauschal, dynamische Dramatisierungen klingen wie aufgesetzt, nicht einem natürlichen musikalischen Prozess entwachsend. Eleganz oder differenziertes Klangfarbenspiel wollen sich nicht einstellen. Vielleicht lag die Warschauer Jury ja doch nicht so ganz falsch.

Das CD-Cover zeigt, wie Wunder über sein Instrument läuft, ganz vorsichtig, balancierend. Welch Sinnbild: tastende Schritte in einer noch jungen Karriere. Das gilt für seine Chopin-Deutung in gleichem Maße.