Mit Geschmack und Sentiment: Klarinettenmusik von Iwan Müller

Naxos CD 8.572885Ein anderer hätte alles hingeworfen: Da verbessert ein Deutsch-Balte namens Iwan Müller die Klappentechnik der Klarinette, schafft so ein Instrument, das auch in entlegenen Tonarten spielbar ist. Er gründet eine Klarinettenfabrik, stellt seine „clarinette omnitonique“ dem Pariser Conservatoire vor. Doch die Kommission dieser so einflussreichen wie konservativen Musik-Institution lehnt es ab, das Instrument einzuführen. Man fürchtet, der Charakter der Tonarten könne beeinträchtigt werden. Die Firma Müllers geht in Konkurs.

Doch Müller gibt nicht auf. Seine Konzertreisen sind gleichzeitig Werbefeldzüge: Mit selbst geschriebener, virtuoser Musik offeriert er die Möglichkeiten seiner chromatischen Klarinette, kann in Kassel, Berlin, Wien und London überzeugen. 1825 veröffentlicht er eine Klarinettenschule; mit Georg Wilhelm Heckel, einem begabten Instrumentenbauer aus Wiesbaden, baut er eine Serie von Musterklarinetten. Die „Müllerklarinette“ ist die Urmutter der heutigen „deutschen“ Klarinette.

Den Komponisten – und Virtuosen – Iwan Müller stellt eine kurzweilig anzuhörende CD der Firma Naxos vor: Die Klarinettisten Friederike Roth und Wenzel Fuchs spielen, begleitet von der Pianistin Erika Le Roux oder im Verein mit dem Berolina Ensemble Kammermusik des erfinderischen Weber-Zeitgenossen. Im gleichen Jahr 1786 geboren, hört man bei Müller den empfindsam-kantablen Tonfall des Romantikers, mehr noch freilich die Einflüsse der Belcanto-Oper des beginnenden 19. Jahrhunderts. Müller war Solo-Klarinettist unter anderem an der Pariser Oper, bevor er seinen Lebensabend am Hof von Schaumburg-Lippe in Bückeburg, an der Ostgrenze zu Westfalen, verbrachte. Dort starb er 1854.

Müllers Musik gehört zu jener später verpönten Art von Virtuosenmusik, die – zu schwer für den Dilettanten – vor allem der anspruchsvollen Unterhaltung und der Präsentation der spieltechnischen Raffinesse eines Solisten diente. Einen Mozart oder gar Beethoven wird man in seinen beiden Klarinettenquartetten aus dem Jahr 1820 nicht entdecken – aber das macht auch nichts: Müller entwickelt seine Melodien mit einem aparten Charme, der auch heute noch mit Vergnügen zu hören ist.

Ein Werk wie die „Scène romantique“ erinnert in seinem ersten Satz, „Adagio con espressione“, an Leidens- und Traumszenen aus der Oper; eine Polonaise wie „Le château de Madrid“ gibt der Klarinette reichlich Gelegenheit, wie eine Primadonna aufzutreten. Verzierungen, Rouladen, Sprünge, chromatische Eintrübungen, weite Legatobögen: Der stets mit leuchtend-brillantem Ton spielenden Klarinettistin Friederike Roth wird nichts geschenkt.

Auch die Pianistin Erika le Roux pflegt die theatralische Geste, ohne sich allzu sehr vom Sentiment zu distanzieren oder es überbetont zu denunzieren. Solche Musik will mit Geschmack und Sensibilität gespielt sein – und die Musiker, einschließlich der Streicher des Berolina Ensembles (David Gorol, Andreas Mehne, Martin Smith), pflegen diese Tugenden.

Fast möchte man meinen, im „Souvenir de Dobbéran“ für zwei Klarinetten und Klavier höre man das rhythmische Stampfen der Dampf-Schmalspurbahn, die heute noch Bad Doberan mit der „großen Welt“ verbindet – aber von diesem modernen Verkehrsmittel hatte Müller noch keine Ahnung. Eine CD, die an einem dämmrigen Nachmittag oder zu einer Tasse Tee mit Vergnügen hören lässt – und die ein Fenster in eine musikalische Kultur öffnet, die uns heute nur noch in Bruchstücken bekannt ist.

 

Iwan Müller: Souvenir der Dobbéran. Clarinet Quartets Nos. 1 and 2, Naxos 8.572885




Abgesang auf alles

Lange nichts mehr gehört und gelesen von Friederike Roth. Seit Mitte der 90er Jahre hat sie keine literarischen Texte mehr publiziert.
Jetzt ist ihre „Abendlandnovelle“ erschienen. Und die handelt just vom Anfangen, vom Neubeginn. Die ersten Zeilen lauten so:

„Am Anfang des Anfangs / also vor jedem Anfang / diese Leere voll Hoffnung / diese vibrierende Ruhe…“

Keine Novelle ist dies, sondern ein mäanderndes Prosagedicht, ein ausuferndes Lamento. Es liest sich wie ein Abgesang aufs einst so glorreiche Autorinnenleben ebenso wie aufs Dasein der ganzen Menschheit.

Früher, ja früher waren Anfänge noch verheißungsvoll. Nun aber, da die Jugendzeit dahin ist, gibt es nur noch „dieses verwahrlost verschlampte Jetzt“. Alles verfällt und vergällt einem daher schon den nächsten Anfang, dem bereits das schlimme Ende einbeschrieben ist. Die erste frühlingshafte Liebe hatte noch Hoffnung geborgen. Doch immerzu haben Besitzgier und Begehren solch zarten Beginn zerstört.

Nicht nur jedes einzelne Leben, sondern die gesamte Geschichte erscheint hier als ewiger Kreislauf aus Aufbau und Niedergang. Immer sei es so gewesen: Als das Leben an Land kroch, als die Pyramiden gebaut wurden und als die antiken Griechen auf Erden wandelten.

Wär’s da nicht besser, nun endlich gar nichts mehr anzufangen?

Auch und vor allem das Abendland sei nicht mehr zu retten, befindet das unentwegt klagende Ich. Die gleichfalls titelgebende Novelle kommt ebenso vor, allerdings in schroffer Negation. Nach Goethes berühmter Definition enthält eine Novelle eine „unerhörte Begebenheit“. In Friederike Roths Langgedicht wird dies geradezu empört zurückgewiesen. Nichts sei neu und unerhört, alles erschöpfe sich nur in Wiederholungen. Ekelhaft und langweilig. Bloßes Lebenstheater. Alles schon getan und gesagt. Welch ein Ennui.

Nur ganz leise noch regt sich Sehnsucht nach Umkehrbarkeit des allgemeinen Übels, nach wahrhaft offenen Anfängen, nach Utopien. „…einmal doch / war da etwas wie / eine Ahnung von Gelungenheit ohne Bedrohung“. Aber wie lässt sich all das noch behaupten, nachdem Sozialismus u n d Kapitalismus vor die Wand gefahren sind?

Tastend, stammelnd, aller Sicherheiten beraubt, immer wieder mitten im Satz atemlos abbrechend, aus Schreibnot geboren, so kommt dieses Werk daher; längst nicht mehr ins Gelingen verliebt, sondern nach niederschmetternden Erfahrungen geradezu ins Scheitern verbissen. Streckenweise erschöpft sich auch die Sprache und schwingt sich nicht mehr auf zu wirklichen Wortfindungen. Dann tönt die Klage auch schon mal hohl und beinahe gewöhnlich.

Zwar erhebt sich der innige, irrsinnige Wunsch nach opernhaftem Pathos, welches das ewige Geplapper der Fußgängerzonen übertönen soll. Am Ende gibt es freilich überhaupt keinen Anfang mehr. Nur noch der Tod ist gewiss, wenn auch schimmernd kostbar eingefasst in die allerletzten Zeilen: „Gold, Keramik, Alabaster. / Und Sarkophage aus schwarzem Basalt.“

Friederike Roth: „Abendlandnovelle“ (Suhrkamp, 102 Seiten, 15,90 Euro)