Wie die Kunst auf die Industrialisierung reagierte – „Vision und Schrecken der Moderne“ in Wuppertal

Conrad Felixmüller: „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ (1927). Von der Heydt-Museum, Wuppertal. © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Mit einem Stipendium ausgestattet, hätte der Künstler Conrad Felixmüller nach Rom reisen können, doch er hat sich fürs Ruhrgebiet entschieden und dort – beispielsweise – das Ölbild „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ (1927) gemalt. Felixmüller war sichtlich fasziniert vom gigantischen Industriebetrieb, dessen stählerne Kolosse geradezu erhaben aufragen. Sein Bild kündet visionär vom Werden einer neuen Zeit.

Ganz anders zeigt Hans Baluschek die Folgen der Industrialisierung im Revier, so etwa mit seinem Bild „Arbeiterinnen (Proletarierinnen)“ von 1900. Viele, viele Frauen verlassen bei Schichtende das Werksgelände, sie kommen auf die Betrachtenden zu. Die elend gleichmacherischen Lebensumstände haben ihnen einen Großteil ihrer Individualität geraubt, nur noch bei näherem Hinsehen nimmt man kleine Unterscheidungs-Merkmale wahr. Ansonsten sind sie zur gesichtslosen Masse geworden. Ebenfalls ärmlich, aber schon selbstbewusster wirken einige Jahre später Baluscheks „Zechenarbeiterinnen auf einer Hängebrücke“ (1913).

Hans Baluschek: „Zechenarbeiterinnen auf einer Hängebrücke“, Aquarell, 1913 (Deutsches Bergbau-Museum, Bochum)

Zwischen solchen Gegensatz-Polen und etlichen Nuancen mehr bewegt sich die Wuppertaler Ausstellung „Vision und Schrecken der Moderne“, die vor allem mit Eigenbesitz des Von der Heydt-Museums (aber auch prägnanten Leihgaben, z. B. aus dem Dortmunder LWL-Industriemuseum) aufwartet, künstlerische Antworten auf die Industrialisierung in den Blick fasst und mit wenigen Ausläufern bis in die Gegenwart reicht.

Die Öffnungszeiten der Schau stehen unter Corona-Vorbehalt. Derzeit (Stand 26. März) bleibt das Museum vorerst weiter geöffnet – siehe auch den Nachspann dieses Beitrags. Auf jeden Fall gilt: vorher informieren!

Zurück zur Ausstellung, die sich durch acht Räume im ersten Obergeschoss zieht und im Rahmen einer Zoom-Videokonferenz von Beate Eickhoff (im Kuratorinnen-Team mit Antje Birthälmer und Anna Storm) vorgestellt wurde. Also kann ich leider noch nicht aus unmittelbarer Anschauung berichten.

Carl Wilhelm Hübner: „Die schlesischen Weber“, 1844 (Kunstpalast Düsseldorf)

Der einstweilen virtuelle Rundgang beginnt u. a. mit Carl Wilhelm Hübners Gemälde „Die schlesischen Weber“ von 1844, das eine Szene am Vorabend des berühmten Weberaufstands vergegenwärtigt. Fabrikant Zwanziger und sein Sohn mäkeln über die angeblich schlechte Qualität der angelieferten Heimarbeits-Tuchware, werfen sie achtlos zu Boden oder aschen gar verächtlich mit der Zigarre darauf ab. Verzweifelte Heimarbeiter und ihre Familien sind zu sehen, aber auch zwei Männer rechts im Hintergrund, die offenbar schon den Aufstand im Sinn haben. Ein historisch bedeutsamer Moment, der auf die Entstehung des Proletariats und des Sozialismus vorausweist. Aus derselben Zeit stammt Wilhelm Kleinenbroichs Bildnis „Kölnische Zeitung (Der Proletarier)“ von 1845. Dem Arbeiter kommen nach der Lektüre eines Artikels über die Gesindeordnung die Tränen. Es sieht aus, als könnte er alsbald einen Entschluss zur Gegenwehr fassen.

Kein Geringerer als Friedrich Engels (am 28. November 1820 im späteren Wuppertaler Ortsteil Barmen geboren), sonst eher der Literatur als den bildenden Künsten zugeneigt, hat übrigens just Hübners Weber-Bild gekannt und sehr geschätzt. Die ganze Ausstellung hätte ja auch im November des „Engels-Jahres“ 2020 beginnen sollen, woraus aber wegen Corona nichts wurde. Immerhin kann die Dauer der Schau nun bis zum 11. Juli 2021 verlängert werden. Die Leihgeber zeigen sich geduldig.

Einleitende Akzente setzen auch einige Arbeiter-Skulpturen, deren Urheber sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch an antiken Vorbildern ausrichten und traditionelle „Helden der Arbeit“ (bevorzugt Schmiede) darstellen. Bisweilen werden auch kräftige Arbeitsmänner nach dem Vorbild eines Adonis gestaltet. Zu nennen wären etwa Bernhard Hoetgers „Tauzieher“ (1902) oder Wilhelm Lehmbrucks „Steinwälzer (Die Arbeit)“ (1904). Hier waltet ein ganz anderer Geist als etwa in den Schriften von Marx und Engels, die den ausgebeuteten Proletarier nicht als Heros, sondern eher als zerlumpte, verzweifelte und nicht selten dem Alkoholismus verfallene Figur gesehen haben.

Bemerkenswert die schon von ziemlich zahlreichen Schloten durchsetzten Industrie-Landschaftspanoramen von Elberfeld und Barmen (Wuppertals Vorläufer als „Das deutsche Manchester“), die allerdings noch als herkömmliche Idyllen aufgefasst sind. Gesellschaftsporträts des regionalen Großbürgertums zeigen zudem, dass die höheren Herrschaften hierzulande zwar wahrlich im Wohlstand lebten, aber noch längst nicht so mit ihrer Habe prunken konnten wie die Pendants im industriell avancierten England.

Und so geht es weiter durch die Jahrzehnte, mit sehenswerten Arbeiten etwa von Marianne von Werefkin oder Max Beckmann („Die Bettler“, 1922); mit Bildern der furchtbaren Not von Käthe Kollwitz, Max Klinger und Heinrich Zille; mit bissig-aggressiven Anklagen von Georg Scholz („Industriebauern“, 1920) und Otto Dix (Blätter aus der Mappe „Der Krieg“), der die Industrialisierung des Krieges in aller Drastik ins Bild setzt, beispielsweise mit gespenstischen Gasmasken.

Carl Grossberg: „Der gelbe Kessel“, 1933 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Ganz anders dann ein neusachliches Bild wie „Der gelbe Kessel“ (1933). Der Künstler Carl Grossberg hat es keineswegs auf soziale Verwerfungen abgesehen, sondern offenkundig Auftragskunst im Sinne einer Ästhetisierung industrieller Apparaturen verfertigt. Noch einmal mit gänzlich verschiedenem Ansatz gingen die „Kölner Progressiven“ zu Werke. Die bekennenden Marxisten gaben sich im Dienst der sozialistischen Utopie ausgesprochen abgeklärt, emotionslos und unsentimental. Sie arbeiteten an einer stark vereinfachten, allgemein verständlichen Bildsprache des neuen Industrie-Zeitalters, die bei Gerd Arntz in flugschriftentauglichen Piktogrammen gipfelt (z. B. „Fabrikhof“, 1926). Doch wirken diese gewollt modernen Menschen nicht auch reichlich steril und gar zu „bereinigt“?

Berühmte Positionen der Industrie-Fotografie (Albert Renger-Patzsch, Bernd und Hilla Becher) dürfen in diesem Kontext nicht fehlen, sie setzen die industriellen Bauwerke geradezu skulptural in Szene, allerdings auf ganz unterschiedliche, mal monumental imposante, mal nüchterne Weise.

Schließlich die nur spärlich vertretene Gegenwartskunst. Hier knüpft Andreas Siekmann an die erwähnten Piktogramme von Gerd Arntz an. Einfach ist zwar die Bildsprache, einigermaßen kompliziert sind jedoch die konstruierten Zusammenhänge und Hintergedanken. Im Spätkapitalismus sind die Verhältnisse eben nicht einfacher geworden.

„Vision und Schrecken der Moderne“. Industrie und künstlerischer Aufbruch. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Bis 11. Juli 2021.

Vorerst weiter geöffnet

Update: Nach jetzigem Stand (26. März) bleibt das Museum vorerst geöffnet. Die Stadt Wuppertal will die „Notbremse“ – trotz einer Corona-Inzidenz von rund 170  – (noch) nicht ziehen und stützt sich auf eine Test-Strategie, sprich: Zutritt zu Geschäften („Click & Meet“) und Museen ist mit negativem Schnelltest vom selben Tag möglich.

Im Falle der weiteren Öffnung (Online-Tickets mit Zeitfenster, bitte unbedingt erkundigen): Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 12 Euro. Katalog 24,50 Euro.

Telefon: 0202/563-6231

www.von-der-heydt-museum.de

 




Nicht nur zum Ende der Zechen-Ära eine Erinnerung wert: August Siegel, Bergmann und Gewerkschafts-Pionier

Gastautor Horst Delkus erinnert – nicht zuletzt aus Anlass der bald endenden Zechen-Ära im Ruhrgebiet – an den Bergmann und Gewerkschafter August Siegel (1856-1936), einen Pionier der Arbeiterbewegung des Reviers:

Die Heilige Barbara – Schutzpatronin der Bergleute – muss mit dem Kopf geschüttelt haben, als sie erfuhr, wie die katholische Geistlichkeit gegen den neu gegründeten Verband der Bergarbeiter hetzte: Gewerkschaftlich organisierte Bergarbeiter, hieß es da von der Kanzel herab, seien Mordbuben, der Auswurf der Menschheit.

August Siegel - Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Deutsches Bergbau-Museum / montan.dok / Sammlung Delkus)

August Siegel – Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Sammlung Delkus)

Ein Pfaffe hatte sogar das Bündnis des Bergarbeiterverbandes mit der Hölle entdeckt. „Wo die ‚Bergarbeiterzeitung‘ auf dem Tische liegt“, predigte er den Frauen der Bergarbeiter, „da sitzt der Teufel unterm Tisch.“ Und die ‚Tremonia‘, die katholische Zentrums-Zeitung des einflußreichen Dortmunder Verlegers Lambert Lensing, mahnte: „Wehe unserem Arbeiterstande, wenn er sich in die Hände der Sozialdemokratie begibt.“

Panikmache anno 1889. Denn die organisierte Sozialdemokratie war damals im Ruhrgebiet noch eine Sekte; ihre heimlichen Hauptstädte hießen Leipzig, Hamburg oder Berlin. Auf den Bergarbeiterstreik im Mai hat sie wahrscheinlich nicht mehr Einfluß gehabt, als die Apo 70 Jahre später auf die Septemberstreiks 1969. „Sie ist mit dem Ausbruch desselben gerade so überrascht worden, wie die übrige Welt“, schrieb einer, der es wissen mußte: August Bebel.

Er galt als bester Agitator der Gründungszeit

Einfluss im Bergarbeitermilieu des Ruhrgebiets hatten um 1889 vor allem drei Sozialdemokraten: die mit dem Nimbus der „Kaiserdelegierten“ versehenen Bergleute Ludwig Schröder, Friedrich Bunte und August Siegel. Ein zeitgenössischer Chronist über diese „Volksverführer und Hetzer“: „Schröder, der Älteste, wird als ‚mehr erfahren‘, ‚offen‘ und ‚gutmütig‘ im Gegensatz zu dem hinterhältigeren Bunte geschildert. Siegel scheint der geistig Beweglichste zu sein. Er scheint auch für weit greifende Organisationspläne und für die eigentlichen Lohnkämpfe mehr eingenommen als die zwei anderen.“

Alle drei waren an der Gründung und am Aufbau der Bergarbeitergewerkschaft maßgeblich beteiligt. In der Phalanx der Gewerkschaftsführer aber sind sie – im Gegensatz zu Hue, Sachse, Husemann und Schmidt – in Vergessenheit geraten. Immerhin ist einer von ihnen im Internationalen Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens von 1932 noch mit einer Kurzbiographie vertreten: August Siegel. In ihm, heißt es da, „verkörpert sich ein Stück Geschichte des Verbandes der Bergarbeiter, war er doch in der Gründungszeit sein bester Agitator“.

Mit elf Jahren täglich zwölf Stunden auf der Kohlehalde

Geboren wurde August Siegel am 1.April 1856 in Zwickau. Sein Vater war Bergmann, starb jedoch fünf Monate vor Augusts Geburt. Die Witwenrente reichte für die neunköpfige Familie nicht aus. August besuchte die Armenschule, unternahm Bettelstreifzüge aufs Land. Über seine Kindheit schrieb er später: „Bei den Bauern konnte ich manchen Überfluss entdecken, der mich dazu zwang, Vergleiche anzustellen mit der furchtbaren Not, die bei uns zu Hause herrschte. Warum ist es so? Warum kann sich nicht jeder satt essen, wenn er Hunger hat? Das waren meine ersten philosophischen Gedanken.“

Zwölf Stunden täglich arbeitete er bereits mit elf Jahren täglich auf der Kohlenhalde. Als ein älterer Bruder beim Rangieren der Kohlenwaggons schwer verunglückte, stand für seine Mutter fest: Mein Sohn soll kein Bergmann werden! Er wurde Sandformer in einer Chemnitzer Maschinenfabrik. Hier ergaben sich die ersten Kontakte zu Sozialdemokraten. Mit 16 Jahren trat er der Partei bei. Nach dem Chemnitzer Metallarbeiterstreik 1872 folgte Siegel seiner älteren Schwester von Sachsen nach Westfalen. In Dortmund und Umgebung fand er Arbeit auf verschiedenen Zechen.

„Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden…“

Siegel in seinen Erinnerungen: „Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden, ist kaum zu beschreiben. Warum, wird man fragen, haben die Leute die betreffende Zeche nicht verlassen und auf einer anderen Grube gearbeitet? Das ist leichter gesagt als getan. Viele von der Belegschaft waren Kleinhauseigentümer und hatten ohnehin schon einen weiten Weg zur Arbeitsstelle. Bei einem Arbeitswechsel mußten sie noch weiter laufen. Zumal fanden sie das, was sie auf der einen Zeche verlassen hatten, auf der anderen getreulich wieder.“ Streiks ohne eine Organisation im Rücken erschienen wenig aussichtsreich.

Als Vorsitzender eines nichtkonfessionellen freien Knappenvereins arbeitete Siegel bald mit anderen Dortmunder Bergarbeiterführern zusammen und agitierte mit seiner kräftigen Stimme die Bergleute auf zahllosen Versammlungen. In seinen Lebenserinnerungen, 1921 als Serie für die Jugendzeitschrift des Bergarbeiterverbandes verfasst, schreibt er später: „Wie oft wunderte ich mich in jenen Tagen, wenn die bürgerlichen Zeitungen schrieben, daß die sozialdemokratischen Agitatoren von den Schweißtropfen der Arbeiter lebten. Nicht einen Pfennig bekamen wir. Fahr- und Zehrgeld, wie alles, was wir sonst noch ausgeben mußten, ging aus unserer Tasche. Hin und wieder verspielten wir noch dazu eine Schicht. Das hielt uns aber nicht ab, unserem Ziel treu zu bleiben. Unsere Arbeit war auch keineswegs umsonst. Es kam etwas mehr Leben in die ruhig dahinbrütenden Knappen.“

Streikführer für wenige Minuten zur Audienz beim Kaiser

Alle in Deutschland existierenden Bergarbeitervereine erhielten für den 2.Juni 1889 eine Einladung zu einem Delegiertentag der Knappenvereine nach Dortmund-Dorstfeld. Zentraler Tagesordnungspunkt: Wie die miserable Lage der Bergarbeiter in Deutschland zu beseitigen sei.

Doch wegen des Massenstreiks im Mai, bei dem rund 100.000 Bergarbeiter die Arbeit niederlegten, wurde die Versammlung verschoben. Während dieses Streiks schickten die Dortmunder Bergarbeiter Bunte, Schröder und Siegel zum Kaiser nach Berlin, um ihm die Forderungen der streikenden Ruhrkumpels vorzubringen: Wiedereinführung der Acht-Stunden-Schicht, Lohnerhöhungen und Abschaffung der Schikanen auf den Zechen. Als die drei zur Kaiser-Visite aufbrachen, bröckelte der Streik rasch ab. Die Audienz dauerte nur wenige Minuten und gipfelte in der Drohung Wilhelms II., alles über den Haufen schießen zu lassen, falls der Streik unter den Einfluß der Sozialdemokratie geriete.

Nach erfolglosem Streik auf die Schwarze Liste gesetzt

Nach diesem erfolglosen Streik wurden Siegel und die anderen Streikführer gemaßregelt. Sie kamen auf die Schwarze Liste. Mit Hilfe von Spendengeldern aus der Parteikasse konnten sie sich jedoch eine bescheidene Existenz aufbauen. August Siegel wurde Flaschenbierhändler und später hauptamtlicher Agitator des Bergarbeiterverbandes, den 200 Zechendelegierte und Knappenvereinsvertreter am 18.August 1889 in Dorstfeld gegründet hatten. Einige Klagen wegen „indirekter Aufreizung zum Ungehorsam“ und Beleidigung (unter anderem hatte er die Knappschaftsältesten in einer Bergarbeiterversammlung unfähige „Strohköpfe“ genannt und ihnen vorgehalten, sie würden ihre Stellung nur zum eigenen Vorteil ausnutzen) brachten ihm mehrere Gefängnisstrafen ein.

Der alte Friedrich Engels hilft dem nach London geflüchteten Siegel

Anfang Januar 1892 sollte Siegel eine neunmonatige Haftstrafe im Zuchthaus Siegburg, einer ehemaligen Irrenanstalt, antreten. Fünf weitere Anklagen standen noch aus. Ludwig Schröder riet seinem Freund zur Flucht. Am 12.Januar 1892 machte sich Siegel aus Dorstfeld davon. Erste Station seines Asyls: London. Hier halfen dem mittlerweile steckbrieflich Gesuchten Friedrich Engels und Julius Motteler bei der Übersiedlung nach Schottland, wo Siegel im Bergbau Arbeit fand und bald seine Familie nachreisen lassen konnte.

Beim alten Engels hat Siegel einen guten Eindruck gemacht: „Das ist doch mal wieder ein deutscher Arbeiter, mit dem man sich vor allen anderen Nationen sehen lassen kann.“ Er empfahl Siegel eindringlich die englische Sprache zu lernen und „täglich, wenn nicht stündlich“ Kontakt zu den schottischen Arbeitern zu halten.

Als Mitglied der Bergarbeitergewerkschaft und der sozialistischen Independent Labour Party (ILP) beteiligte sich August Siegel an zahlreichen Streiks der britischen Bergarbeiterbewegung. Auch hier wurde er als Streikführer gemaßregelt. Als deutscher Asylant verlor er während des Ersten Weltkrieges seinen Arbeitsplatz. Bald folgte die Ausweisung als „lastiger Ausländer“.

Ausweisung und Rückkehr ins Ruhrgebiet

Im Januar 1919 kehrte Siegel ins Ruhrgebiet zurück. In Bochum, in der Hautpverwaltung des Bergarbeiterverbandes, arbeitete der humorvolle Graubart noch bis zu seiner Pensionierung 1929. Er starb im Alter von 80 Jahren am 5.Oktober 1936.

Geprägt durch die Aufbruchstimmung der frühen Sozialdemokratie sowie etlicher Arbeitskämpfe verkörperte August Siegel die Gründergeneration der heutigen Gewerkschaften. Sein Leben umfaßt eine Periode der Arbeiterbewegung, die vom Sozialistengesetz, dem ersten Massenstreik 1889 und den ersten stabilen Gewerkschaftsorganisationen bis zur kampflosen Zerschlagung der Gewerkschaften durch den Faschismus reicht. Ein Gewerkschaftsbeamter, ein Apparatschik ist August Siegel nie geworden. Weil die Gewerkschaft als Organisation erst mit ihm aufgebaut wurde und weil für ihn die Sache selbst wichtiger war als die eigene Karriere.

Durch und durch Sozialist und Idealist

Bernhardine Gierig, 88 Jahre alt, hatte Siegel in den zwanziger Jahren über ihren Vater persönlich kennengelernt. Tief beeindruckt erzählt sie heute noch: „Siegel war ein richtiger Mensch. Er machte kein Theater daraus, daß er gelitten hat für die Bewegung; er wollte keinen Profit aus der Sache schlagen. Er war sozialistisch gesonnen durch und durch. Ein wirklicher Idealist.“

Die Heilige Barbara wird an diesem Pionier der Bergarbeiterbewegung sicher ihre helle Freude gehabt haben.