Im Dschungel der Begierden – Lukas Bärfuss‘ Stück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Vorhang öffnet sich und man sitzt vor einem Dschungel. Über und über ist die Bühne bewachsen, so dass kaum ein Durchkommen ist. Ist dies der Dschungel der Begierden? Die Assoziation liegt nicht allzu fern, denn auf dem Spielplan stehen „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“.

Das zu Herzen gehende Stück des jungen Schweizers Lukas Bärfuss handelt von der geistig leicht behinderten Dora. Auf Wunsch der Mutter werden eines Tages ihre dämpfenden Medikamente abgesetzt. Und was kommt zum Vorschein? Ein sexuelles Monstrum, das fortan nur noch „ficken“ will.

Einiger Unsinn ist über das Stück verbreitet worden, etwa nach der Devise, dass Doras machtvoll erwachende Sexualität von den Erwachsenen im Namen einer höheren Ordnung unterdrückt werde. Ganz so, als wär’s noch wie einst in Frank Wedekinds„Frühlings Erwachen“, wo die Lüste der Jugend im wilhelminischen Ungeist erstickten.

Diese Dora liefert sich vollkommen aus

In Wahrheit geht es hier ziemlich permissiv zu, sprich: Die Erwachsenen erlauben dieser Dora so manches, sie haben (oder heucheln) ja sooo viel Verständnis. Die Eltern, der Arzt (bravourös: Fritz Schediwy), der Gemüsehändler (Bernd Rademacher als Doras Arbeitgeber) und ein „feiner Herr“ (Martin Horn als Parfümvertreter), der Dora brutal entjungfert, sind in verschiedenen Graden und Verdruckstheiten selbst bis zum Anschlag sexualisiert. Mutter und Vater (Veronika Bayer, Manfred Böll) etwa treiben’s mit einem „gut bestückten“ Mann zu dritt.

Die Leute sind daher ebenso irritiert wie insgeheim aufgestachelt, als dieses Mädchen mit seinem etwas debilen Lolita-Appeal zu allem bereit ist und sich alles gefallen lässt, um sich endlich einmal selbst zu spüren. Eine unversehens auf die Welt gefallene Versuchung. Blutergüsse, heftige Hautabschürfungen? Egal. Dora liefert sich aus, wie ein vollkommen passives Fluidum. Es ist ihr offenbar ganz gleich, ob man sie gröbstens beschläft, sie verprügelt oder eine Abtreibung an ihr vornimmt. Ihre häufigsten Sätze bei all dem lauten „Weiß nicht“ und „Ist doch nichts dabei“. Ungeheuerlich.

Martin Höfermanns Inszenierung am Bochumer Schauspielhaus lässt solche bestürzenden Befunde im besagten Dschungel (mit Extra-Beifall bedachtes Bühnenbild: Volker Hintermeier) wie ein düsteres Märchen oder eine Legende erscheinen. Der Rcgisseur erspart uns rüde Sex-Szenen. Statt dessen wird es jeweils finster, und man hört ein bcdrohlich-atavistisches Dröhnen.

Herkömmliche Erklärungsmuster helfen hier nicht

Die Regie erschließt geradezu mythische Dimensionen und beschwört abgründige Ängste vor einer freigelassenen, geist- und grenzenlosen Sexualität. Herkömmliche gesellschaftliche Erklärungsmuster (von Geld, Arbeit und drohender Pleite ist nur en passant die Rede) helfen hier kaum weiter. Es waltet ein unlösbares Geheimnis. Doch im ältesten, aristotelischen Sinne des Theaters werden Furcht und Mitleid geweckt.

Sehr leicht könnte das Stück in Brachial-Komik oder Weltekel abstürzen. Es steht und fällt fast alles mit der Darstellerin der Dora: Bewundernswert, wie Angelika Richter in Bochum das Schwanken auf dem Grat vollbringt. Am Ende erstrahlt sie geradezu in ihrem Elend der Selbstaufopferung, als wäre sie eine „Heilige“ ganz eigener Art.

Doch über allem thront wie eine Zauberin oder Zeremonienmeisterin die betagte, doch frisch-freche Mutter des Gemüsehändlers: Mit dieser Urgestalt (Tana Schanzara), so ahnt man, könnte vielleicht ein neues Matriarchat beginnen. Doch das wäre ein anderes Märchen.

Termine: 31. März, 7., 13., 19. April. Karten: 0234/33 33-111.




Die Luftgeister des Leidens – Bochumer Uraufführung von „Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia“

Von Bernd Berke

Bochum. Es war wohl das vornehmste deutsche Theaterereignis dieses Monats: Nicht der ursprünglich vorgesehene Peter Stein in Berlin, sondern Matthias Hartmann in Bochum inszenierte die Uraufführung des neuen Stückes von Botho Strauß. Und so herrschte am Samstag knisternde Spannung, als das Spiel begann.

Der Titel der 20-teiligen, in Bochum vierstündigen Szenenfolge passt komplett in kein Schauspielführer-Register: „Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia“. Vermutlich wird man ihn aufs klangvolle Rätselwort „Pancomedia“ verkürzen – und darunter ist vielleicht die allumfassende (Tragi)-Komödie heutigen Menschseins zu verstehen, das sich (einem Stückzitat zufolge) „zwischen Ariel und Hiob“ spannt; ein Drahtseilakt also zwischen dem Luftgeist, der zum Höheren oder ins Flüchtige strebt, und der biblischen Figur erdenschweren Leidens.

Zentraler Ort ist die Empfangshalle des Hotels „Confidence“ (Vertrauen). In einem Saal des Etablissements, das in Erich Wonders magischem, durch und durch roten Bühnenbild an einen riesigen Uterus gemahnen mag, gibt es eine Dichterlesung. Die Schriftstellerin Sylvia Kessel (Dörte Lyssewski) nimmt etwas schüchtern am Tischchen Platz und trägt mit zunehmend brüchiger Stimme aus ihrem Roman „Rapunzelzopf oder Vom Ende der Greisenrepublik“ vor.

Bis zum Schluss in der Schwebe 

Diese gläsern empfindlichen, doch hin und wieder aufbrausenden Visionen aus einer überalterten Gesellschaft werden von einem notorischen Zwischenrufer unterbrochen. Es ist der Kleinverleger Zacharias Werner (Tobias Moretti), der das gesamte Programm seiner „edition 24″ in einem Rucksack bei sich trägt. Ständig mit dem Aufkauf durch einen großen  Buchkonzern des jovialen Großsprechers Brigg (Alexander May) bedroht, laviert sich dieser Mann durch eine geldverderbte, immerzu mit Handys und Börsenkursen befasste Welt.

Soll man diesem Werner glauben, dass er für die wirklich wichtigen Bücher kämpfen und sich auch für Sylvia Kessel bedingungslos einsetzen will? Oder ist er nur ein finanzieller und sexueller Filou? Wäre er am Ende gar nur ein unverdrossen durch die Zeit schweifender Narr? Es bleibt bis zum Schluss in spannender Schwebe, und das ist eine reife Leistung von Tobias Moretti, der mit der TV-Serie „Kommissar Rex“ halt sein gutes Geld verdient hat.

Eine grandiose Gesellschafts-Belauschung

Rings um die beiden Hauptfiguren, deren Liebes-Zukunft letztlich gleichfalls ungewiss, doch nicht gänzlich hoffnungslos bleibt (wie gut tut dies einmal, angesichts aller sonst so gängigen, pessimistisch-schwarzen Bühnen-Phantasien), entfaltet sich ein ungeheuer facettenreiches Panorama der Paare und Passanten. Die 31 Darsteller verkörpern in diesem rauschenden, manchmal zu Tableaus einfrierenden Reigen rund 100 Figuren in immer neuen Gruppierungen. Er ist eine grandiose Gesellschafts-Belauschung: Einmal geht eine Engels-Figur mit einem überdimensionalen Ohr in den Händen durch die Menschen-Pulks, allerlei markante Beziehungs-Satzfetzen einfangend.

Dies alles ist so sehr aus dem Heute geronnen und so unumstößlich zur Sprache gebracht, dass es zum Lachen reizt und gleichermaßen schmerzt. Botho Strauß zeigt hier ganz und gar, was das Theater vermag. Es ist, als spiele er dessen Möglichkeiten zwischen Alltags-Niederung und mythischem Fluge („Weltliebesbrand“, „Zerschlagt die Ideen“) bis zur Neige durch.

Wie in einem hellsichtigen Traum

Hartmann tut es ihm nach: Der allzeit gleitenden Bewegung des Textes folgend, wandelt er wie in einem hellsichtigen Traume durch all die Ticks und schrägen Manieren, die grotesken, innigen, sehnsüchtigen, absurden, witzigen, traurigen, desolaten, zu Tode bestürzten Momente.

Requisiten kommen wie von Zauberhand auf Rollen herein und hinaus. Mit Drehbühne und sphärischer Flüster-Musik (Parviz Mir Ali) ergeben sich daraus geradezu geisterhaft schön fließende Übergänge. Eins erwächst aus dem anderen und treibt das nächste aus sich hervor. Und wie die Narren bei Shakespeare, so spiegeln hier die beiden Varieté-Typen Alfredo und Vittoro (Fritz Schediwy, Ernst Stötzner) das Tun und Treiben. Man denkt an abstruse Dialoge eines Karl Valentin, doch auch an die urkomischen Verzweiflungen eines Samuel Beckett.

Wen dürfte man nur hervorheben aus dem starken Ensemble? Moretti und Lyssewski tragen das Gerüst. Sie haben sichtlich Bodenhaftung und vermögen dennoch – als leidvoll Freigesetzte – ins Jenseitige auszugreifen, ganz wie es Strauß entspricht. Doch ohne all die anderen gingen sie durch luftleere Räume.

Ein an Gedanken und Empfindungen, reicher, ein erhebender Abend. Frenetischer Beifall.

Termine: 15., 16., 22. April. 5., 6., 19., 20. Mai. Karten: 0234/33 33-111.




Gewalt frisst die Sprache auf – Matthias Hartmann inszeniert Kleists „Familie Schroffenstein“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Ringsum zugemauert, sieht die Bühne aus wie das Innere eines Mausoleums. Hier wird wohl kein freies Leben erblühen, das ahnt man gleich. Und richtig: Rechts und links, einander feindlich gegenüber, nehmen die beiden finsteren Clans Platz, die sich in „Die Familie Schroffenstein“ aufs Blut befehden.

Bochums neuer Intendant Matthias Hartmann hat etwas riskiert, indem er Heinrich von Kleists Stück erkor. Das Frühwerk aus dem Jahre 1800 gilt vielfach als unfreiwillig komische „Scharteke“. Doch weit gefehlt! In dieser Vorlage steckt wilder, entfesselter Furor – wie in Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“.

Sehr richtig schon Hartmanns Entscheidung, die in Spanien angesiedelte Urfassung („Die Familie Ghonorez“) zu wählen, deren bloße Rollen-und Ortsnamen schon ungleich mehr Hitze ausstrahlen als die spätere Eindeutschung mit all ihren Ottokars und Gertrudes.

Ein Erbvertrag als Quell des Übels

Zurück zum Eingangsbild. Wie undurchdringliche Menschen-Mauern sitzen die feindlichen Familien da. Vollends ungerührt bleiben sie, wenn einer aus der Phalanx hervortritt und etwa seine Irritation über diesem versteinerten Zustand bekundet.

Quell allen Übels: Ein fataler Erbvertrag besagt, dass beim Aussterben der einen Sippe deren gesamte Habe der anderen zufällt. Alsbald wünschen sie einander Pest und Verderben an den Hals – und als ein Kind zu Tode kommt, werden „die da drüben“ gleich des Mordes bezichtigt, was ungeheuerliche Steigerungen nach sich zieht. jedes Gerücht, jedes Missverständnis birgt jetzt Sprengkraft. Keiner will des anderen Worte wirklich hören. Wir erleben in Bochum vor allem das Drama einer nachhaltigen Sprach- und Sinn-Zerstäubung. Gewalt frisst die Sprache auf.

Bei Hartmann klappern die Clans zu Beginn mit Löffeln, als wollten sie den (Lebens)-Rhythmus der Gegenseite zerstören. Bedrohlich kakophon klingt es, passend untermalt von vier Musikern aus einem kleinen Orchestergraben. Raimond, Graf aus dem Hause Ciella (Fritz Schediwy), tritt wie ein krähenhafter Diktator ans Mikrophon und schwört bitterste Rache für besagten Kindstod. Er spuckt, krächzt, würgt und zerhackt die Konsonanten seiner Hass-Worte. So militant und gewaltbereit rasselt hier die deutsche Sprache, dass es zum Fürchten ist. Man lese nur nach: Es ist bei Kleist schon angelegt.

Die ganze Hysterie steht schon im Text

Auch wenn man bisweilen fürchtet, die Inszenierung könne zapplig aus den Fugen geraten: Ständiges Stammeln, hysterische Ausbrüche und marionettenhafte Ohnmachten sind aus dem Text herzuleiten. Überhaupt lauscht Matthias Hartmann jeder Sequenz ihre ganz eigenen, zumeist schrecklich dumpfen oder angstvoll kreischenden Tonfälle ab – und er verfügt über ein Ensemble, das diese dunklen verbalen Triebkräfte, die schier unaufhaltsame Dynamik der Feind-Bilder, auch fassbar macht. Statt eines dürr-theoretischen Regie-„Konzeptes“ waltet hier die sorgsame Arbeit am Gehalt der Szenen.

Raimond geriert sich zunehmend als blutgieriger Rache-Teufel. Fritz Schediwy legt die Rolle als wahres Pandämonium an. Man sieht ihm fassungslos zu, auch atemlos. Während seine Gemahlin Elmire (Ulli Maier) ihn vergeblich zu beschwichtigen sucht, treibt auf der Gegenseite Franziska (Veronika Bayer) ihren Alonzo (Ernst Stötzner) an. Bis dieser kühlere Kopf seinerseits Rache übt, dauert es lange. Doch dann ist das Schwungrad nicht mehr anzuhalten.

Gegenwelt der Liebenden

Sehr anrührend die machtlose Gegenwelt der Liebenden. Wie Romeo einst Julia, so liebt Raimonds Sohn Rodrigo (Johann von Bülow) die Tochter aus dem verfeindeten Hause, Ignez (Sonja Baum). Zuerst diese Angst voreinander, dann allmähliche Näherung, Überschwang frischen Glücks, doch auch schon das erste Necken und Keifen, daraufhin wieder verzückte Umarmungen. Ein ergreifendes Wechselspiel der Liebe. Später dieses bannende Bild: ihrer beider paradiesische Nacktheit als höchst bedrohte Utopie eines anderen Lebens.

Am Ende, über den Leichen ihrer Kinder, haben die Herrscher noch nicht genug vom Feldgeschrei. In babylonischer Sprachverwirrung irren alle gespenstisch umher, jeder nur mit seinen Worten, seinem Wahn beschäftigt. Wo sich bei Kleist am Ende eine gar zu späte Reue ergibt, lautet hier der allerletzte Satz: „Wir müssen vorwärts!“ Geht’s denn noch weiter hinab in die Hölle?

Frenetischer Beifall mit Bravos für alle. Fast wie zu Peymanns Bochumer Zeiten.

Termine: 1., 5., 11., 19., 20., 28. Nov. Karten: 0234/3333 111.