Amüsement in schweren Zeiten – Emmerich Kálmáns Operette „Gräfin Mariza“ wird in Dortmund zum strahlenden Bühnenfest

Mit Frack und Kronleuchter: Tanja Christine Kuhn und Alexander Geller als Gräfin Mariza und Graf Tassilo von Endrödy-Wittemburg. (Foto: Anke Sundermeier / Theater Dortmund)

So richtig ordentlich ist das nicht. Stühle liegen auf dem Boden, Gerümpel stapelt sich in den Ecken, und der Mann, der auf dem Boden sitzt, scheint auch schon getrunken zu haben. Die alte Ordnung ist dahin und hat Verlierer hinterlassen. Einer von ihnen ist Graf Tassilo von Endrödy-Wittemburg, der sein Vermögen eingebüßt hat, nun als Gutsverwalter arbeiten muss und den alten, feudalen Zeiten nachtrauert: „Grüß mir die süßen, die reizenden Frauen im schönen Wien“.

Richtig, wir sind in Emmerich Kálmáns Operette „Gräfin Mariza“, die nun in Dortmund ihre umjubelte Premiere erlebte. Und weil dieses so überaus erfolgreiche Stück schon seit fast hundert Jahren gespielt wird, wissen wir natürlich, dass es nicht so bleiben wird für den armen Gutsverwalter. Schließlich gibt es noch eine Gräfin, die der Männer überdrüssig ist. Wie sie glaubt.

Ein bisschen Rahmenhandlung

In der Figur des verarmten Grafen Tassilo (Alexander Geller) spiegelt sich das Schicksal vieler Privilegienträger des untergegangenen K.u.K.-Staates Österreich-Ungarn, und auch dieser Zeitbezug mag 1924, im Jahr der Uraufführung, zum Erfolg der Operette beigetragen haben. Doch eigentlich wird wenig mehr erzählt, als dass sich am Ende alle kriegen: Gräfin Mariza (Tanja Christine Kuhn) den Grafen Tassilo, Schwesterchen Lisa (Soyoon Lee) den Schauspieler Zsupán (herrliche „ungarische“ Knallcharge: Fritz Steinbacher),und die Tante (Johanna Schoppa) ihren Langzeitverlobten Populescu (Morgan Moody). Aber sie erzählt es meisterlich, und Regisseur Thomas Enzinger hat gut daran getan, den erzählerischen Duktus Kálmáns nicht mit besonderen Regieeinfällen zu beeinträchtigen. Hinzugefügt hat er allerdings eine dezente Rahmenhandlung, in der ein weiser alter Diener (Christian Pienaar) und ein aufgewecktes kleines Mädchen (Liselotte Thiele) sich einige Male über den Gang der Handlung unterhalten, kurz nur, nicht allzu raumgreifend. In komplizierten Handlungsverläufen sind solche „Stücke-Erklärer“ häufig wertvoll, hier ginge es vielleicht auch so.

Starke Musiktitel, auch nach 100 Jahren noch

Vor allem aber ist da die Musik, sind die Ohrwürmer. Jeder kennt die Lieder, auch wenn er nie in der Operette war, „Komm mit nach Varasdin“, „Komm, Zigány, komm, Zigány, spiel mir was vor“ und viele weitere. Streckenweise wähnt man sich in einer „Best Of“- Nummernrevue mit – zugegebenermaßen manches Mal etwas hölzern vorgetragenen – Zwischenmoderationen. Starke Titel, sentimental traurig, fröhlich, reihen sich, die einen Andrew Lloyd Webber neidisch machen sollten.

Hell gewandet der Chor; rechts in vorderster Reihe (und ganz in weiß) Morgan Moody, der bei der Premiere den Fürsten Moritz Dragomir Populescu gab. (Foto: Anke Sundermeier / Theater Dortmund)

Wenn Tassilo und Schwester Lisa sich an ihre Kindheit erinnern, schwebt buntes Spielzeug vom Hängeboden, salutiert ein strammer Zinnsoldat, schiebt sich ein entspannter Plüschhase ins Bild.

Doch häufig bleibt die Bühne unbestückt, sind ein blauer Hintergrundhimmel, farbige Flächen und gerafftes Textil fast die einzige Kulisse. Leer ist es auf der Spielfläche trotzdem nicht, denn ein vielköpfiger Opernchor in eleganten, hellen Zwanzigerjahre-Outfits sorgt für kräftigen Schalldruck und ist gleichermaßen das überaus naturalistische Personal der Massenszenen. Wiederum ist Regisseur Thomas Enzinger – und ebenso Toto, der für Bühne und Kostüme verantwortlich ist – dafür zu loben, dass der Versuch unterblieb, hier mit unsinnigen Aktualisierungen zu punkten.

Hannes Brock dreht wieder auf

Kleine stilistische Jetztzeit-Zitate gibt es indes schon, eine rhythmische Einlage mit einigen Librettozeilen im Rap-Stil beispielsweise, mit Nachempfindungen von Bühnenshows wie „Stomp“ oder „Blue Men Group“. Inhaltliche Eingriffe erfolgten behutsam. So stammt die grandiose Charleston-Einlage (Choreographie: Evamaria Mayer) aus der Kálmán-Operette „Die Herzogin in Chicago“. Und wenn Hannes Brock, Kammersänger und seit vielen Jahren „Homeboy“ dieses Opernhauses, als Diener der Fürstin Guddenstein zu Clumetz nur in Titeln von Theaterstücken, Filmen und Büchern spricht (die teilweise lange nach der Operette entstanden), ist das direkt komisch.

Leider mit Mikoports

Das Ensemble präsentierte sich gesanglich in äußerst aufgeräumter Verfassung; allerdings singen alle mit elektrischer Klangverstärkung durch Mikroports, was im Theater schade, in der Operette sehr schade ist. Untadelig spielten die Dortmunder Philharmoniker auf, die von Olivia Lee-Gundermann dirigiert wurden.

Dem Programmheft entnehmen wir, dass Morgan Moody nur bei der Premiere auftrat und hernach durch Marcelo de Souza Felix ersetzt wird. Gleiches gilt für Margot Genet, die Seherin (an deren Stelle späterhin Vera Fischer oder Ruth Katharina Peeck kommen werden).

Leider blieb gut ein Drittel der Plätze im Opernhaus unbesetzt, was bei einer Premiere nicht zufriedenstellen kann. Doch sah man auch viele junge Gesichter, was für Operetten wie die von Emmerich Kálmán hoffen lässt. Anhaltender, begeisterter Applaus, der mit einer Zugabe belohnt wurde.

  • Termine:
  • 9., 18., 22.12.2022
  • 5., 21., 25.1.2023
  • 18.2.2023
  • 5.,12., 17.3.2023
  • 16., 23., 29.4.2023
  • 25.5.2023
  • www.theaterdo.de

 




In der Bar zum Krokodil: Verdis „Aida“ eröffnet die Intendanz von Heribert Germeshausen an der Oper Dortmund

Hyona Kim (Amneris) und Hector Sandoval (Radamès) in der Dortmunder Neuinszenierung von Verdis "Aida". Foto: Theater Dortmund

Hyona Kim (Amneris) und Hector Sandoval (Radamès) in der Dortmunder Neuinszenierung von Verdis „Aida“. (Foto: Björn Hickmann / Theater Dortmund)

Die ersten Premieren einer neuen Intendanz dürfen gewöhnlich als künstlerisches Statement gelesen werden. Heribert Germeshausen hat sich an der Oper Dortmund mit zwei Blockbustern eingeführt – einem überzeichneten „Barbiere di Siviglia“ aus dem komischen Genre und, als Eröffnung der Spielzeit, mit einer opulenten „Aida“. Beides viel gespielte Werke, mit denen sich ein Haus jedoch nur selten profiliert.

Mit Puccini und Wagner kündigt Germeshausen für die kommenden Jahre ebenfalls Komponisten an, bei denen man sich fragt, ob ihre Omnipräsenz nun ausgerechnet noch eines Schwerpunkts in Dortmund bedarf. Und der für 2020 angekündigte „Ring des Nibelungen“ führt die Tetralogie-Inflation an deutschen Mittelklasse-Häusern weiter, die schon längst nicht mehr über die Wiederholung von zum Überdruss gesteigerten szenisch-inhaltlichen Deutungen hinauskommt. Da hilft wohl auch nichts, dass mit Peter Konwitschny ein Altmeister gewonnen wurde, dessen letzte Arbeiten – Luigi Cherubinis „Medea“ in Stuttgart, Othmar Schoecks „Penthesilea“ in Bonn – nicht eben auf eine Lösung jenseits regietheaterlicher Dogmen hoffen lassen.

Erzählendes Theater in behutsam verfremdenden Bildern

Bei Jacopo Spirei braucht man sich der Frage, was mit dem unscharfen Begriff des „Regietheaters“ genau gemeint sei, gar nicht zu stellen: Der italienische Regisseur setzt auf erzählendes Theater in behutsam verfremdenden, ästhetischen Bildern, wie er sie für Nicola Porporas „Mitridate“ in Schwetzingen, für seine Mozart-Arbeiten am Landestheater Salzburg und für Charles Wuorinens Oper „Brokeback Mountain“ gefunden hat, welche im Mai 2018 aus Salzburg an die New York City Opera wanderte.

In „Aida“ öffnet sich Nikolaus Weberns Bühne in der Dreiecksform der ägyptischen Pyramide und gibt den Blick in einen Konferenzraum frei, wo der goldbefrackte, mit langem Rock würdevoll ausstaffierte Ramfis die Wahl der Isis für den neuen Oberbefehlshaber des Äthiopien-Feldzuges bekanntgibt. Sarah Rolke und Wicke Naujoks stecken die Militärs in adrette dunkle Uniformen. Die Dame des Hauses, Amneris, nimmt in einem steifen Modellkleid mit reichlich Goldbehang das Ägypten-Thema auf, während das Dienstpersonal, darunter Aida, in afrikanisch anmutenden Gewändern in Guantanamo-Orange Unterlagen verteilt.

Schon in diesen ersten Szenen zeigt sich, dass Spirei zwischen den Figuren kein Spannungsfeld schafft und sie auch in psychologischen Nuancen nicht ausdeutet. Was in Radamès vorgeht, erfahren wir, zum Glück, in der von Hector Sandoval mit sprödem Timbre gesungenen, aber sinnig gestalteten Romanze, die auf einem sauber-schlanken hohen b endet. Amneris wuselt reichlich unmotiviert zwischen Tisch und Stühlen herum, ohne dass die Bewegung bedeutsam würde.

Denis Velev als angenehm gerundet singender König steckt in goldenem Anzug und lässt sich als jovialer Dandy feiern, der später schon mal zu einem übermütigen Luftsprung aufgelegt ist. Welche Rolle dieser Mann zwischen straffer militärischer Organisation und bedrückender priesterlicher Bevormundung spielt, bleibt Spireis Geheimnis.

Ägyptisch glitzernde Halbwelt feiert After-Kriegs-Party

So ähnlich geht es weiter: Florian Franzens Licht setzt den blassblauen Hintergrund eines neutralen Raumes in ein Crescendo von Helligkeits- und Farbnuancen, in dessen Verlauf Radamès sein heiliges Sturmgewehr erhält. Im zweiten Akt erinnert man sich unwillkürlich an Willy Engel-Bergers „Bar zum Krokodil“ am schönen Nil mit einer auf ägyptisch getrimmten, glitzernden demi-monde, umrahmt vor vertikalen Streben, die an das verspiegelte Glas der Bankentürme einer Skyline erinnern. Zu Verdis „Allegro marziale“ reihen sich im Triumphmarsch-Bild Mütter oder Ehefrauen mit Bildern ihrer gefallenen Helden auf, die ihre Orden empfangen; Kinder salutieren kriegs- und rachebereit vor ihrem König, bevor in staubigem Grau die Gefangenen hereingetrieben werden. Der Herrscher legt schon mal – hier finden wir uns bereits in beachtlicher psychologischer Tiefe – einen Arm um die Schulter von Radamès. Eigentlich eine ganz nette After-Kriegs-Party.

Finale von Aida": Während sich zu ätherischen Tremoli und zu lichtvollen Pianissimi der Himmel öffnet, verschwimmt das Bild des Paares Aida und Radamès. Foto: Theater Dortmund

Finale von Aida“: Während sich zu ätherischen Tremoli und zu lichtvollen Pianissimi der Himmel öffnet, verschwimmt das Bild des Paares Aida und Radamès. (Foto: Björn Hickmann / Theater Dortmund)

Mit dem Nil-Akt versteigt sich Weberns Bühne dann endgültig in tiefenpsychologisch anmutende Bildwelten. Achttausend Liter Wasser, so recherchierte eine findige Lokalzeitung, füllen ein flaches Bassin. Gerät das Nass in Wallung, wirft es reizvoll gewellte Lichteffekte auf die hohen, in den Raum ragenden Wände. Viel Aufwand für ein mageres Ergebnis, denn über die Ästhetik des Augenblicks hinaus führt weder die Szene selbst noch ihre Einbettung in den Rest der Inszenierung. Die endet, durchaus als Bild wieder ansprechend, auf einem Podest im Wasserbad, auf dem der verurteilte Landesverräter sein Ende finden soll. Plexiglasplatten ersetzen den Stein, der ihn und seine treue Aida von Leben und Luft trennt. Sie schweben von oben herab und zwängen die Sterbenden immer enger ein. Und während sich zu ätherischen Tremoli und zu lichtvollen Pianissimi der Himmel öffnet, verschwimmt das Bild des Paares.

Tempo-Nuancen genau analysiert

Für die schier unendlichen Schattierungen der Dynamik und der Tempi, mit denen Verdi seine Figuren beleuchtet, sind in Dortmund die Philharmoniker unter ihrem Chef Gabriel Feltz verantwortlich. Das Ergebnis beweist, dass sich Feltz mit Verdis Angaben genau auseinandergesetzt hat. Das Orchester entfaltet das Spektrum zwischen reduziertem, fast überschlankem Pianissimo bis hin zum heftig akzentuierten Marschtritt der trivialen Aufzugsmusiken, mit denen Verdi seine Kritik an pompösem Machtgehabe musikalisch artikuliert. Jedes „animato“, jede Nuance im psychologisch fein durchdachten Tempogefüge Verdis wird registriert.

Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk

Orchesterchef Gabriel Feltz. (Foto: Thomas Jauk)

Allerdings tut Feltz hin und wieder zu viel des Guten: Dem „marcato“ am Ende des ersten Bildes vor Aidas Arie „Ritorna vincitor“ nimmt er das Pathos und verwandelt es in ein ungeduldiges Drängen. Gut so. Aber dort, wo im Finale die aufgeblasene Größe eines „maestoso“ angebracht wäre, verfällt er ebenso ins Drängeln und zieht das Tempo unverhältnismäßig an. Das „mosso“ im Duett zwischen Aida und Amneris im zweiten Akt nimmt er zum Anlass, aufs Tempo zu drücken. Und im ausgedehnten Finale wackeln die Ensembles, wenn er bei jedem „piú animato“ die Versuchung des Davoneilens bedient.

Feltz liest „Aida“ auf sinnige Weise als intimes musikalisches Kammerspiel. Aber er sollte Verdis insistierendes Bemühen, durch vierfache Piani die Orchester seiner Zeit zu einem gezügelten Musizieren zu veranlassen, nicht missverstehen: Verdi wollte die „sonorità“, den tragenden, klingenden Ton nicht anämisch verdünnen. In diese Gefahr geraten die Philharmoniker hin und wieder, wenn sie in den leisen Momenten einen schönen Ton zu sehr reduzieren.

Weibliche Hauptrollen ein Glücksfall

Mit dem zurückgenommenen Ton hat Kelebogile Besong kein Problem: Die südafrikanische Sopranistin hat Aida bereits in Malmö, Essen und den USA gesungen und zeigt in Dortmund eine dunkel-schlanke, zu samtenem Legato und zu kultivierter Expression fähige, individuell gefärbte Stimme, bei der allenfalls die etwas erzwungen wirkende brustige Tiefe aus dem Gleichmaß der Töne herausfällt. Sehr sicher und stets ohne Druck geformt erreicht ihre Phrasierung die Klimax der langen Phrasen in „Numi, pietá“ und in „O patria mia“. Die resignierte, gleichwohl als fingiert durchschaubare Unterwürfigkeit, aber auch das aufblitzende Temperament der äthiopischen Prinzessin spiegelt sich in ihrer stimmlichen Gestaltung wie in ihrem überlegten Spiel.

Ein Glücksfall für Dortmund, dass die beiden weiblichen Hauptrollen gleich überzeugend besetzt sind: Hyona Kim trifft mit flexiblem Mezzosopran die lauernden Zwischentöne im Dialog mit ihrer Rivalin Aida, das schwärmerisch in fabelhaftem Legato ausgesungene Begehren der verliebten, verwöhnten Königstochter, aber auch die lodernde Empörung gegen die „üble Rasse“ der Priester und den zwischen Versöhnung, Ergebenheit und Verzweiflung changierenden Wunsch nach Frieden am Ende. Mit ihrer in allen Lagen gleich geschmeidig ansprechenden Stimme ist Kim die ideale Interpretin italienischer Mezzo-Partien; man darf hoffen, diese Gestalterin in anderen anspruchsvollen Rollen wieder zu erleben.

Weiter geht’s mit einem populären Potpourri

Eher als Darsteller denn als Sänger überzeugt Mandla Mndebele als Amonasro: Die kaltschnäuzige Zielstrebigkeit, mit der er seine Pläne verfolgt, drückt er im Nil-Akt mit rohem Zugriff aus; sein Bariton allerdings, bei gut klingendem Material, ist zu sorglos geführt, sitzt nicht kontrolliert genug im Fokus und neigt daher dazu, die Intonation haarscharf zu verfehlen. Karl-Heinz Lehner ist ein prägnant artikulierender Ramfis, der auch in der kraftvollen, aber nicht überzeichnenden Stimme den befehlsgewohnten Oberpriester hervorkehrt. Fritz Steinbacher nimmt in den wenigen Sätzen des Boten durch Timbre und Stimmkultur für sich ein. Natascha Valentin gibt eine wohlklingende Priesterin. Fabio Mancini hat den Dortmunder Opernchor auch in den wuchtigen Bildern des zweiten Akts auf einen konzentrierten Auftritt hingeführt; die Fernchöre allerdings klingen zu präsent.

Die Oper Dortmund startet mit einer neuen Intendanz in die kommenden Spielzeiten. Foto: Werner Häußner

Die Oper Dortmund startet mit einer neuen Intendanz in die kommenden Spielzeiten. Foto: Werner Häußner

Eine radikalere Befragung von Verdis „Aida“ hat schon im Frühjahr der Dortmunder Schauspielintendant Kay Voges vorgenommen – nicht in Dortmund, sondern an der Staatsoper Hannover, wo das Ergebnis demnächst wieder zu erleben ist. Germeshausens erste Spielzeit läuft indes mit einem fast schon ärgerlichen Populär-Potpourri mit Bernsteins „West Side Story“, Lehárs „Land des Lächelns“ und Puccinis „Turandot“ weiter, bis sie mit der deutschen Erstaufführung der Heiner-Müller-Oper „Quartett“ von Luca Francesconi und Philip Glass‘ „Echnaton“ in spannendere Bereiche vorstößt. Was Repertoire-Impulse angeht, bleibt also allem Anschein nach das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen in der so reichhaltig mit Opernhäusern gesegneten Region Rhein-Ruhr ohne Konkurrenz.

Nächste Aida“-Vorstellungen: 27. Oktober, 1., 4., 18., 28. November, 15., 23. Dezember 2018; 13. Januar 2019.
Tickets: Tel.: (0231) 50 27 222, www.theaterdo.de/karten-abo/kauf/




Wie sich Menschen verfehlen können: Tina Lanik inszeniert Tschaikowskys „Eugen Onegin“ in Dortmund

Einsame Menschen: Tatjana (Emily Newton), Fürst Gremin (Luke Stoker) und Onegin (Simon Mechlinkski) im dritten Akt der Oper "Eugen Onegin" in Dortmund.

Einsame Menschen: Tatjana (Emily Newton), Fürst Gremin (Luke Stoker) und Onegin (Simon Mechlinkski) im dritten Akt der Oper „Eugen Onegin“ in Dortmund. (Foto: Björn Hickmann/Stage Picture)

Sehr viel Glück hatte die Oper Dortmund mit den Regiearbeiten der letzten Jahre nicht. Trotz mancher hoch gehandelter Namen war einiges Mittelmaß dabei: Repertoire-Bestseller, die unter mangelnden Einfällen, lustlosem Handwerk oder überinszenierter Originalität ächzten. Und dann kam Tina Lanik, im Musiktheater eine Neue, und bot mit Verdis eigentlich längst ins Nirwana inszenierter „La Traviata“ einen präzisen, bewegenden Opernabend, nicht in jedem Detail durchgestaltet, aber deutlich versierter als ihr erster Versuch im Musiktheater, Vincenzo Bellinis auch für erfahrene Regisseure heikle „La Sonnambula“ in Frankfurt.

In ihrer neuen  Dortmunder Inszenierung, Peter Tschaikowskys „Eugen Onegin“, wiederholt sie, was in Verdis Meisterwerk zum Erfolg geführt hat. Lanik schaut eingehend auf Konstellationen. Sie errichtet keinen Ideen-Überbau, sondern schafft Beziehungsgeflechte, zeigt, wie Menschen aneinander vorbeigehen, wie sie aneinander scheitern. Tschaikowskys Entwicklungs- und Beziehungstragödie ist dafür das geeignete Sujet.

Wer ist diese Regisseurin, die sich ihre Stoffe nicht nur genau anschaut (das sollten eigentlich alle tun), sondern auch immer wieder behutsam stilisierte Szenen und Bilder findet, die in einem Moment so klug vorbereitet, aber doch wie eine Eingebung überraschend zeigt, worum es geht?

Tina Lanik. Foto: Thomas Dashuber

Regisseurin Tina Lanik. (Foto: Thomas Dashuber)

In Paderborn geboren und in Stuttgart aufgewachsen, kam Tina Lanik eher zufällig als 22-jährige Studentin zu einer Regiehospitanz für Tschechows „Iwanow“ bei Elmar Goerden, ging dann als Assistentin zu Luc Bondy nach Lausanne und machte erstmals überregional auf sich aufmerksam, als sie 2001 beim Steirischen Herbst in Graz die Uraufführung von „Tintentod“ von Josef Winkler inszenierte.

Schauspiel-Inszenierungen in Bochum

Ein Jahr später arbeitete sie schon am Bayerischen Staatsschauspiel, wurde von der Zeitschrift „Theater heute“ zur Nachwuchsregisseurin des Jahres gewählt und hat seither viel in München, aber auch an anderen Häusern inszeniert – so 2005/2006 in der Intendanz Goerdens Sophokles‘ „Antigone“ und Lessings „Emilia Galotti“ in Bochum.

In Tschaikowskys Adaption des Versromans von Alexander Puschkin sieht Lanik eine Abfolge von drei Tragödien: In jedem Akt „wird eine Figur so lange abgebaut, bis nur noch ein Haufen Elend von ihr übrig ist“, schreibt sie im Programmheft. Aber das ist nicht alles. Fast unmerklich zunächst, im dritten Akt aber durch das Bühnenbild von Jens Kilian glasklar deutlich, macht Lanik aus „Eugen Onegin“ auch eine Studie über die Wandlungen der Zeit.

Im ersten Akt baut ihr Kilian einen Kubus aus Brettern, entfernte Erinnerung an russische Holzbauten, in erster Linie aber ein geschlossener Raum, in dessen Zentrum ein Teenager mit Brille und Jane-Austen-Kleidchen auf einem Stapel Bücher kauert. Tatjana, die Leseratte, existiert in ihrer eigenen Imagination, kommt kaum aus der hintersten Ecke dieser Kastenwelt heraus. Aber ein langer Blick des fremden Besuchers – es ist der junge Beau Onegin – bringt unaufhaltsam eine Lawine der Gefühle ins Rutschen.

Johanna Hlawica hat alle in wunderschöne Kostüme des 19. Jahrhunderts gesteckt – nur die Larina von Almerija Delic trägt einen modernen Hosenanzug. Die Frau, die das Gut „schmeißt“ und sich mit Filipjewna (Judith Christ) schon mal eine Zigarre gönnt, greift aus in die Moderne: selbständig, selbstbewusst, illusionslos. Ihre Roman-Jahre, so erklärt sie der aufgewühlten Tatjana, habe sie längst hinter sich.

Weltentwürfe, die nicht zusammenpassen

Die großen, heißen, eher auf sich selbst als auf einen anderen Menschen bezogenen Gefühle! Bei Tatjana führen sie schon nach einer durchschriebenen Nacht – die Briefe hängen wie Wäschestücke an der Leine – in die Katastrophe, als ihr Onegin mit der gönnerhaft wirkenden Überlegenheit des rational gesteuerten Lebemanns Bescheid gibt. Weltentwürfe, die nicht zusammenpassen.

Bei Olga und Lenski dauert es länger: Er, ein versehrter, nicht mehr ganz junger Mann, überschüttet sie mit Blättern voll poetischer Ergüsse. Auch er entwindet sich schnöder Realität, zelebriert seine mit Schönheit und Schwärmerei aufgeladene Innenwelt. Auf Olga reagiert er, wenn sie dazu passt. Die Lebensphilosophie des unbekümmerten „Kindes“ nimmt er nicht wahr.

So kann er im zweiten Akt weder mit den spielerischen Provokationen seiner Braut – sympathisch locker singend: Ileana Mateescu – noch mit dem aus Laune und Überdruss gezeugten Spiel Onegins umgehen. Lanik nimmt diese Katastrophe in riesigen Schattenbildern während der von Thomas Paul sensibel gestalteten Arie vorweg; die innere Sprachlosigkeit zwischen den Kontrahenten, das zeigt die Regisseurin in genau abgezirkelten Bewegungen und Gesten, führt ins Ausweglose.

Der dritte Akt vollendet das Zeit-Konstrukt der Inszenierung: Denn jetzt ist Onegin derjenige, der zurückgeblieben ist. In seinen Biedermeierkleidern streift er um einen Glaskubus, der unbezweifelbar ins 20. Jahrhundert gehört. Die Gesellschaft, die sich zur Polonaise unbewegt gibt – nur der Pavillon dreht sich –, trägt moderne Couture. Tatjana hat sich zur blonden Dame mit rotem Kleid im übertriebenen Chic osteuropäischer Oligarchen gewandelt, bewegt sich souverän auf dem Parkett der Gesellschaft, die sich um eine Luxuskarosse – aus später sowjetischer Produktion? – schart. Eine Welt, in der die verzweifelt leidenschaftlichen Liebesausbrüche Onegins anachronistisch wirken.

Empfindsame Schattierungen in der Musik

Angesagt ist Coolness: Luke Stoker singt Gremins eigentlich großherzige Arie kühl und unbewegt, Tatjana posiert dazu auf dem Kühler des Wagens. Hier wird keine Liebe gezeigt, sondern die gesellschaftlich adäquate Demonstration des potenten Mannes und seines Weibchens. In dieses Ambiente passt auch Emily Newtons oft hart getönte, silbersprühende Stimme besser als zu den Gefühlsgluten des Teenagers im ersten Akt. Jetzt zeigt – ganz im Sinn der Anlage der Figur – auch Simon Mechlinski, dass seine Stimme Farben kennt; im ersten Akt hat er Onegin noch eindimensional, entschieden voluminös und ohne emotionales Kolorit gesungen.

Das Dortmunder Orchester zeigt sich den empfindsamen Schattierungen in Tschaikowskys Musik gewachsen, folgt vor allem dem lyrischen Ausschwingen, das Philipp Armbruster am Pult in weit konzipierten Phrasierungen fordert, mit fein gestalteter Sensibilität. Armbruster nimmt den Begriff des „Lyrischen“ offenbar als leitendes Kriterium für seine musikalische Interpretation: Brennende Leidenschaften, etwa in der großen Szene der Tatjana, lässt er nur gebremst auflodern. Das Couplet des Monsieur Triquet im zweiten Akt singt Fritz Steinbacher mit einiger Finesse, aber das Tempo ist so verzogen, dass der ironische Anklang an Auber oder Offenbach verloren geht. Komisch, sentimental oder beides? Die Figur findet kein überzeugendes Profil.

Mit Laniks „Eugen Onegin“ hat die Oper Dortmund eine ansprechende Produktion in ihrem Repertoire. Sie dringt nicht so schmerzhaft tief in die Seelenschichten der Protagonisten vor wie Dietrich Hilsdorfs phänomenale Inszenierung in Köln 2013. Aber sie beobachtet klug, wie sich Menschen verfehlen können und wie furchtbar scharf sie aneinander vorbei in ihre einsamen Tragödien fliegen.

Tina Lanik sollte wiederkommen – Dortmund kann eine solche Handschrift brauchen. Die Dortmunder müssen nur noch merken, was sie an diesem „Eugen Onegin“ haben: Die Vorstellung war nur mager besucht.

Die nächsten Vorstellungen sind am 30. Dezember 2017, am 5., 21. und 28. Januar 2018.
Info: https://www.theaterdo.de/detail/event/eugen-onegin/




Operetten-Passagen (1): Paul Abrahams „Die Blume von Hawaii“ in Dortmund

Großes Ensemble, große Finali: Paul Abrahams "Blume von Hawaii" scheut keinen Aufwand. Foto: Björn Hickmann, Stage Picture

Großes Ensemble, große Finali: Paul Abrahams „Blume von Hawaii“ scheut keinen Aufwand. Foto: Björn Hickmann, Stage Picture

Erlebt die Operette eine Renaissance? Teile des Feuilletons sehen die Morgenröte für Omas bevorzugte Theatersparte aufdämmern, weil Barrie Kosky an der Komischen Oper in Berlin mit rasanten Inszenierungen wie Paul Abrahams „Ball im Savoy“, Nico Dostals „Clivia“ oder Oscar Straus‘ „Eine Frau, die weiß, was sie will“ Furore gemacht hat.

In der Tat lassen sich Indizien sammeln: Ein Symposion in Berlin hat deutlich gemacht, wie die Operette auch in der (Musik-)Wissenschaft angekommen ist. Die Staatsoperette Dresden, die sich schon seit Jahren auch um vergessene Werke kümmert, hat im Dezember ein neues Haus bezogen – ein dauerhafter Standort für das oft gering geschätzte Genre.

Das Operetta Research Center des Spezialisten Kevin Clarke in Amsterdam führt unter anderem ein Online-Archiv mit einer aktiven Website und viel Hintergrund. Und in Chemnitz wurde sogar jüngst wieder einer neue Operette uraufgeführt: „Südseetulpen“ von Benjamin Schweitzer.

Verfemte, vertriebene, ermordete jüdische Komponisten und Librettisten rücken wieder ins Blickfeld, werden endlich wissenschaftlich seriös und kritisch gewürdigt. Dirigenten wie der ab Mitte 2017 amtierende Hildesheimer GMD Florian Ziemen setzen sich explizit für Aufführungen ein, die den Originalen angenähert sind. Es gibt Operetten-Festspiele, Mörbisch oder Bad Ischl.

Auf dem einen oder anderen Spielplan schimmert dann auch eine Perle, die am Meeresgrund des Vergessens verblasst war. „Axel an der Himmelstür“ von Ralph Benatzky an der Volksoper Wien ist so ein Beispiel, aber auch „Die Herzogin von Chicago“ von Emmerich Kalman in Koblenz. „Lady Hamilton“ von Eduard Künneke in Dessau oder „Der Carneval in Rom“ von Johann Strauß in Baden.

Dennoch sind Zweifel angebracht. Immer noch verabschiedet sich die Operette still und unbeweint aus den Spielplänen. Große Häuser wie Essen und Frankfurt meiden sie seit Jahren. An anderen führt sie ein Nischendasein, gekennzeichnet durch eine bemerkenswerte Monotonie der Spielpläne: „Fledermaus“, „Lustige Witwe“, „Csardasfürstin“, daneben etwas Offenbach.

An den Stadttheatern sind die Operetten-Ensembles, die früher die Häuser vollgespielt haben, abgebaut. Und wer auf die Suche nach Darstellern geht, erlebt sein blaues Wunder. Einen Operettentenor? Eine Diva? Eine Tanzsoubrette? Fehlanzeige.

Unendlich schwer: das leichte Genre

Wie unendlich schwer das leichte Genre ist, lässt sich derzeit in Dortmund studieren. Immerhin hat sich das Haus unter Jens-Daniel Herzog, der 2018 nach Nürnberg geht, mit einzelnen Projekten profiliert – so mit Paul Abrahams Fußball-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ 2014, einer deutschen Erstaufführung.

Abraham, der von den Nazis vertriebene und ruinierte ungarische Virtuose der „leichten Muse“, war auch jetzt angesagt: Mit „Die Blume von Hawaii“ zeigt Dortmund eines der drei beliebtesten Abraham-Werke, mit denen er zwischen 1930 und 1933 in Berlin ungeheuren Erfolg einheimste, bis der braune Ungeist dem „unarischen“ Treiben ein jähes Ende bereitete.

Die „Blume von Hawaii“ galt schon in den siebziger Jahren als unerträglicher Kitsch. Ein Bild, das gefördert wurde von Bearbeitungen im Geschmack der fünfziger Jahre, von Plattenaufnahmen wie derjenigen mit Rudolf Schock und Anneliese Rothenberger oder gar Roy Black, Wencke Myhre und dem Medium Terzett. An den Theatern hielt man sich fern von dem Stück, das ungeniert exotische Sentimentalität und Schaulust, Sehnsucht nach der Ferne und Südsee-Klischees bedient.

Dennoch widerstanden Paul Abrahams geniale Melodie-Erfindungen dem Zeitgeist: Zähneknirschend gab so mancher kritischer Theaterleiter dem Publikum den verachteten süßen Sirup: „Du traumschöne Perle der Südsee“, „Ich hab ein Diwanpüppchen“, „Wir singen zur Jazzband“ oder „My little boy“ schienen unsterblich.

Thomas Enzinger. Foto: Theater Dortmund

Regisseur Thomas Enzinger. (Foto: Theater Dortmund)

Auch in Dortmund entschied sich das Team um Regisseur Thomas Enzinger und Dirigent Philipp Armbruster, der Musik Abrahams ihren Raum zu lassen: Die Songs und Tanznummern kommen vollständig, die groß angelegten Finali leiden nicht unter dem Rotstift.

Die „bühnenpraktische Rekonstruktion“ von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn stellt die ursprüngliche Instrumentation aus dem Geist der Zwanziger Jahre wieder her, gespeist aus genauer Kenntnis des Notentextes und der alten Aufnahmen. Das gibt ein lebendiges, facettenreiches Klangbild – und die Dortmunder Philharmoniker legen sich mächtig ins Zeug, um den swingenden Rhythmus, die Farbwechsel, den melodischen Schmelz auszuspielen.

Philipp Armbruster hat den lockeren und dennoch präzisen Rhythmus drin, scheut den ironischen Seitenblick auf dick aufgetragenen Schmelz nicht, zwinkert mit den schrägen „Exotismen“ eines Songs wie „Was hat ein Gentleman im Dschungel zu tun“ – einem Lied in bester Tradition der skurril überdrehten Schlager dieser fiebrigen, ausgelassenen Zeit.

Problematischer Sound durch Einsatz von Microports

Leider war von den Subtilitäten des Orchesters über weite Strecken kaum etwas zu hören, denn in Dortmund wurden die Sänger per Microports verstärkt. Marc Schneider-Handrup hat es mit seiner Tontechnik – zumindest für die vorderen Reihen des großen Dortmunder Hauses – wohl zu gut gemeint. Die Stimmen dröhnen das Orchester zu, das sich im Piano- und Mezzoforte-Bereich profilieren will.

Die Annäherung der Operette an die Ästhetik des modernen Musicals ist ein Unding – aber die Ensembles, die diese Partien leicht und dennoch gut in den Raum projiziert singen konnten, sind ausgestorben. Von wegen Renaissance der Operette also.

So tanzt sich Karen Müller zwar höchst attraktiv durch ihre Partie der Bessie Worthington, doch ihr Stimmchen kapituliert schon in „My little Boy“: Wenn sie in starken Händen happy enden will, landet sie in fadendünner Höhe. Jens Janke, eigentlich ein solider, bewährter Musical-Sänger, wird als John Buffy so ordinär verstärkt, dass er selbst das Intermezzo zwischen zweitem und drittem Akt, in dem er schale Witzchen erzählen muss, gnadenlos zerschießt.

Für die Operette braucht es eine mondäne Diva: Emily Newton hat den großen Auftritt im Griff. Foto: Björn Hickmann, Stage Picture

Für die Operette braucht es eine mondäne Diva: Emily Newton hat den großen Auftritt im Griff. (Foto: Björn Hickmann, Stage Picture)

Für das „hohe Paar“ kannte auch die herkömmliche Operetten-Ästhetik den opernhaften Gestus der Stimme – für das Mikro meist problematisch, wie in Dortmund zu erleben ist: Emily Newton hat in ihrer Doppelrolle als Prinzessin Laya und Chansonnière Suzanne Provence den Charme und den mondänen Auftritt der First Lady des Ensembles. Aber ihre Stimme knallt unangenehm grell in den Raum und offenbart Schwächen, etwa in die Nase gedrückte Vokale, als vergrößere man ein Detail mit der Lupe. Marc Horus, ein smarter hawaiianischer Prinz Lilo-Taro, scheitert voluminös an seiner Tenorpartie: Er stemmt die Töne derart verzweifelt in ihre Position, dass er einen guten Teil nicht richtig trifft. Nur Verena Barth-Jurca als niedliches, liebesseliges Hawaii-Girl Raka, kann mit einem tadellosen leichten Sopran auch aus der Beschallung überzeugen.

Nicht ganz so aufdringlich ziehen sich die anderen Männer im Ensemble aus der Affäre: Fritz Steinbacher hält sich als hoffnungslos in die Südsee-Prinzessin verliebter Kapitän Stone sehr nobel zurück – obwohl er aus tiefer Liebe sogar den Befehl verweigert. Ian Sidden ist in der Konzeption des Stücks zur Nebenrolle verdammt, obwohl er als Anführer einer Untergrundbewegung der Einheimischen gegen die amerikanischen Besatzer politische Brisanz in das schwüle Melodram bringt.

Der Komponist imaginiert sein Geschöpf

Aber Thomas Enzinger hat nicht den Kolonialismus zum Aufhänger seiner Inszenierung gewählt. Der im Unterhaltungstheater erfahrene Regisseur – er wird 2017 Intendant des Lehár Festivals in Bad Ischl – verwebt Paul Abrahams tragische Lebensgeschichte mit dem Stück: Träume und Imaginationen des Komponisten, der ein Jahrzehnt psychisch krank im Creedmoor State Hospital auf Long Island/USA verbrachte, materialisieren sich; die Operette entsteht aus der Vorstellung.

So deckt Ausstatter Toto die Bühne mit einem riesigen Ausschnitt des Rumpfs der „Titanic“ – Symbol der Endzeit, der Sehnsucht, auch des Wunsches Abrahams, wieder nach Europa zurückzukehren. Vor dem Graben imaginiert sich der Komponist in die Melodien seines Geschöpfs, dirigiert in weißen Handschuhen das unsichtbare Orchester – ein Bild, das an ein überliefertes Detail aus Abrahams Leben anknüpft: 1946 soll er, in eben diesen Handschuhen, auf einer belebten Kreuzung in Manhattan ein imaginäres Orchester dirigiert haben.

Highlights sind die Tanznummern: Emily Newton, jens Janke (rechts) und das Tanzensemble. Foto: Björn Hickmann, Stage Picture

Highlights sind die Tanznummern: Emily Newton, Jens Janke (rechts) und das Tanzensemble. (Foto: Björn Hickmann, Stage Picture)

Enzinger integriert den großartigen Darsteller Mark Weigel in die Handlung, lässt ihn in die Rolle des amerikanischen Gouverneurs auf Hawaii schlüpfen; der Begleiter aus dem Vorspiel – er entpuppt sich am Ende als Arzt des Hospitals –  wird zum Jazz-Sänger Jim Boy. Immer wieder löst sich Weigel aus der Handlungsebene, wird zum erklärenden Conférencier, zieht biografische Parallelen zwischen Operettenhandlung und Abrahams Schicksal. Das klingt zu Beginn etwas zu langatmig nach Geschichtsstunde, zumal, wenn Enzinger auch noch jedes Handlungsdetail wortreich herleiten lässt.

Aber wenn die Blackfacing-Rolle des „Niggers“ Jim Boy als eine Chiffre für die Fremdheit interpretiert wird (das Gefühl, nicht dazuzugehören, das Abraham 1933 jählings erfahren musste, als er vom Star zur unerwünschten Person wurde), dann löst der beklemmende Moment jede der Operette gern unterstellte Harmlosigkeit auf, lässt auf einmal innere Brisanz erahnen und bringt das Lachen in gespannter Betroffenheit zum Schweigen: Niemand kann sich vorstellen, wie es ist, wenn man flieht, wenn er es nicht selbst erlebt hat. Der Satz steht nicht im Libretto, aber er passt an dieser Stelle, an der Jim Boy und der Erzähler alternierend die Sätze des traurigen Slowfox „Bin nur ein Jonny singen: „Heimat, dich werd‘ ich niemals mehr sehn“ – das galt in einem existenziellen Sinn auch für den Juden Paul Abraham.

Ansonsten ist die Inszenierung ständig in Gefahr, ins Zuviel abzurutschen. Zu aufdringlich die bewusst provozierende Kitsch-Orgie Totos mit Traumstrand-Fotos als Rahmen für einen drehbare Treppenaufbau, der aussieht, als habe jemand Kartons mit billigem Glitzerpapier beklebt. Zu viel Bewegung, wenn Solisten und – im Übrigen von Manuel Pujol vorzüglich studierte – Choristen Arme und Beine schlenkern, als hätten sie jede Körperbeherrschung verloren. Zu viel auch in überdrehten Dialogen und Lachern.

Vorsichtigere Dosierung, pointierte Stilisierung hätten gutgetan und das Humor-Potenzial nicht verpuffen lassen. Ramesh Nair und seine Truppe verdienen es, extra hervorgehoben zu werden: Die großen Tanzszenen sind die Höhepunkte des Abends, weil sie strikt und konzentriert erarbeitet sind. In diesen Momenten wird der Zauber greifbar, der Abrahams Operetten damals zu märchenhaften Erfolgen und heute zu Ikonen einer besinnungslos und ahnungsvoll am Rand des Untergangs tanzenden Gesellschaft werden ließ.

Vorstellungen: 27. Januar; 5., 8., 11., 18., 24. Februar; 18., 30. März; 8. April; 5. und 26. Mai 2017. Infos: www.theaterdo.de

Buchtipp: Der in Witten lebende Autor Klaus Waller hat 2014 eine Biographie über den Komponisten veröffentlicht: „Paul Abraham. Der tragische König der Operette: Eine Biographie.“ 240 Seiten, Book on Demand, 14,90 Euro.