Aufbruch zu einer Landpartie führt in die Schrecken des Ersten Weltkrieges – Jean Cocteaus Roman „Thomas der Schwindler“

Wenn eine Reisegruppe Kekse, Orangen und Likör einpackt, dann wird es sich wohl um Proviant für eine Landpartie handeln, möchte man meinen. Doch die edel gekleideten Frauen und Männer, die da im Paris des Jahres 1914 die Kisten entsprechend gefüllt haben und sich auf den Weg machen, verfolgen ganz andere Absichten.

Ihr Ziel ist die Stadt Reims oder anders gesagt: die französische Front. Sie wollen den verwundeten Soldaten helfen und (wenn möglich) die Kämpfe aus nächster Nähe verfolgen. In den Lazaretten angekommen, treffen sie aber auf eine Welt, mit der sie nun überhaupt nicht gerechnet haben und die ihr Vorstellungsvermögen übersteigt. Verstörende Szenen wie diese prägen den Roman „Thomas der Schwindler“, den der Regisseur, Maler und Schriftsteller Jean Cocteau (1889-1963) im Jahr 1923 verfasst hat.

Der Manesse-Verlag hat das Werk in einer ansprechenden Edition als Neuübersetzung herausgegeben und bietet mit einem Nachwort von Iris Radisch, einem Anmerkungsapparat und einer editorischen Notiz einige Verständnishilfen. Das Buch weist eine ganze Reihe biographischer Züge des Autors auf. Für Iris Radisch war Cocteau ein Dichter, der in der Zeit des noch jungen 20. Jahrhunderts dem „Typ des Künstler-Dandy zu neuem Glanz“ verholfen habe.

Cocteaus Roman beruht auf realen Begebenheiten. Historisch belegt sind seine Besuche zusammen mit weiteren Mitgliedern der feinen Gesellschaft an der Front. Er verarbeitet seine eigenen Erlebnisse mit dem Krieg, wobei er selbst überhaupt kein Soldat war, sondern für untauglich befunden wurde. Er hatte sich freiwillig zum Dienst gemeldet.

Und so erzählt Cocteau von einem jungen Mann, der schon bei der Angabe seines Alters und seiner Herkunft schwindelt, um besser dazustehen. Als Neffe eines bekannten Generals gibt er sich aus. Denn nur so, davon ist er überzeugt, wird es ihm gelingen, zur Front und zu den Verletzten durchzukommen.

Aber spätestens, als der junge Thomas die Schützengräben besuchen darf, werden ihm die Schrecken des Krieges überdeutlich vor Augen geführt. Dem jungen Mann erscheint es ähnlich zu ergehen wie seinem literarischen Vater, der zu Beginn des Krieges zunächst einen Waffengang ungleich spannender fand als Langeweile und Tristesse des Alltags. Daran konnten auch die Aussichten auf amouröse Abenteuer und Liebeleien, die der Kontakt zu adeligen Frauen versprach, nicht wirklich etwas ändern.

Jean Cocteau, der unter anderem mit Pablo Picasso, Charlie Chaplin, Edith Piaf und Marcel Proust befreundet war, führt mit dem Buch keine laute Klage gegen den Krieg, allein die Beschreibungen der Realität reichen aus, um die Unmenschlichkeit und die Brutalität zum Ausdruck zu bringen. Denn was Krieg eigentlich bedeutet, das wusste die kleine Reisegruppe wahrlich nicht, als sie meinte, mit einigen Lebensmitteln die Not lindern zu können.

Jean Cocteau: „Thomas der Schwindler“. Roman. Aus dem Französischen neu übersetzt von Claudia Kalscheuer. Manesse Verlag, 192 Seiten, 20 Euro.




Abscheu vor dem Krieg – Heinrich Bölls Front-Tagebücher

Wenn man den Titel liest „Kriegstagebücher von 1943 bis 1945“ und der Autor den Namen Heinrich Böll trägt, dann mag man als Leser ein Werk erwarten, in dem der Literaturnobelpreisträger, der am heutigen 21. Dezember 100 Jahre geworden wäre, den Widersinn und das Grauen des Krieges wortmächtig zur Sprache bringt.

Doch wer den Band, den jetzt sein Sohn René Böll herausgegeben hat, zur Hand nimmt, wird schon nach wenigen Seiten feststellen, dass es sich fast ausnahmslos um kurze Notizen und Bemerkungen handelt, mitunter ist es nur eine Zeile oder ein einziges Wort, das Heinrich Böll an einem Tag niedergeschrieben hat. Gleichwohl erlauben die Eintragungen einen Einblick in das Seelenleben eines Soldaten, der bei Kriegsbeginn 21 Jahre alt war.

Die drei von insgesamt sechs Kriegstagebüchern (die übrigen sind verschollen) hat der gebürtige Kölner dann ab den Zeiten geführt, als er erstmals in den Osten verlegt wurde. Bis dahin hatte ihn der Kriegsdienst über Osnabrück in die Niederlande und nach Frankreich geführt. In der Schreibstube, in Werkstätten und auf dem Kasernengelände war aber die Front weit entfernt. Das sollte sich im Herbst 1943 ändern, als er zunächst auf der Krim, später in Transnistrien und danach in Rumänien eingesetzt wurde.

Schon gleich zu Beginn bringt er in dem Tagebuch seine ihn bedrückenden Gefühle zum Ausdruck, schreibt er beispielsweise von „der absoluten Verlorenheit der Infanterie“. Aus anderen, ganz knappen Eintragungen wird das Elend deutlich, das ihn umgibt: „Blut Dreck, Schweiß und Elend: Das Gejammer der Verwundeten und Sterbenden, der Platz beim Essenholen.“

Wie schwierig und lebensgefährlich es war, überhaupt an Essen zu kommen, weil man auf dem Weg dorthin von einer Granate getroffen werden konnte, lässt sich aus Bölls Bemerkungen ganz deutlich herauslesen. Häufig spricht er von seinem eigenen Leiden, von Nächten, in denen er keinen Schlaf findet, beklagt sich über die Läuse, die ihn immer wieder heimsuchen. Manches erscheint auch wie ein Ausruf, wenn es heißt „diese entsetzlichen Stukas.“ Das Wort Arzt versieht Böll an einer Stelle mit Ausrufe- und Fragezeichen, denn der Schriftsteller wurde mehrfach während des Krieges schwer verletzt.

Ganz häufig taucht auch der Eintrag „Gott“ auf, den er um Hilfe bittet oder dessen Existenz er hervorhebt. Bekanntlich hatte Heinrich Böll ein sehr kritisches Verhältnis zur katholischen Kirche, verstand sich aber durchaus als ein gläubiger Mensch. Noch viel öfter aber schreibt er – in großen Lettern – den Namen seiner Frau Anne-Marie, die er auf einem Heimaturlaub 1942 heiratete. Sie ist, wie es Böll zum Ausdruck bringt, „sein Leben“ und dem kleinen Heft vertraut er auch an, wie sehnsüchtig er sie vermisst.

Die Gedanken an Anne-Marie geben ihm ganz offensichtlich Kraft, die Grausamkeit des Krieges zu ertragen, die Böll aber nicht nur auf der Krim erlebt. Auch später, als er nach Rumänien kommt, hält sein Entsetzen über das brutale Geschehen an, Worte wie „Jammer, Blut, Feuer, Not, Dreck und Elend“ sprechen für sich. Eine Gegenwelt scheinen ihm seine Träume zu bieten, die er ganz offenherzig schildert, vom Auswandern phantasiert oder gemeinsam mit seinem Bruder unterwegs ist und badende Mädchen trifft.

Die Qualen der Realität holen Böll schnell wieder ein, durch seine Verletzungen ist er gesundheitlich schwer angeschlagen. Er kann zwar zwischenzeitlich wieder nach Köln und zu seiner Frau zurückkehren, doch eben nur für wenige Wochen. Als er zu Ende des Krieges in Gefangenschaft gerät, muss er einmal mehr großes Leid ertragen: „Hitze, Elend, Kälte, Hunger“ notiert er in sein Tagebuch, das der einstige Germanistikstudent so lange führt, bis er am 15. September 1945 im Bonner Hofgarten aus der Gefangenschaft entlassen wird.

Sicherlich stellt sich die Frage, ob diese Tagebücher, die Heinrich Böll seiner Familie überlassen hat, neue Erkenntnisse über das Leben und das Werk des bedeutenden Schriftstellers erbringen. Eine eindeutige Antwort zu geben erscheint durchaus schwierig, aber eines lässt sich gewiss festhalten: Schon in jungen Jahren hat Heinrich Böll Abscheu gegenüber dem Krieg zum Ausdruck gebracht und durch seinen Einsatz an der Front wusste er, wovon er sprach.

Heinrich Böll: „Man möchte manchmal weinen wie ein Kind. Die Kriegstagebücher 1943 bis 1945“. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 352 Seiten, 22,00 Euro.