Afrika und die Magie des Fußballs

Wohl kein anderer deutscher Journalist kennt sich mit Afrika u n d mit Fußball so gut aus wie Bartholomäus Grill, von 1993 bis 2006 und neuerdings wieder Afrika-Korrespondent der Wochenzeitung „Die Zeit“. Im Vorfeld der Fußball-WM 2010 in Südafrika ist jetzt sein Buch „Laduuuuuma!“ erschienen. Das Titelwort ist der immens lang gedehnte Torschrei am Kap der Guten Hoffnung – etwa vergleichbar dem exzessiven „Gooooooooool!“ in Brasilien.

Grill hat sein Buch jetzt in Dortmund vorgestellt, zünftig in der Stadion-Gaststätte „Strobels“. In diesem Dunstkreis fühlt sich der 1954 geborene Bayer (er stammt aus Oberaudorf wie z. B. die Herren Stoiber und Schweinsteiger) ein wenig zu Hause, ist doch Borussia Dortmund seit dem Europapokalsieg 1966 sein Lieblingsverein. Gutes Beispiel für Globalisierung: Auch in entlegenen Winkeln Afrikas sind ihm schon Einheimische im BVB-Trikot begegnet. Ich geb’s freimütig zu: Als Dortmunder gehen mir solche Vorfälle zum schwarzgelben Herzen.

Nun aber zur Sache. Grill findet, auf keinem anderen Kontinent sei man derart fußballverrückt wie in Afrika. Die Menschen wissen dort nicht nur mit den eigenen Vereinen Bescheid, sondern mindestens ebenso sehr mit der englischen Premier League oder Erstligisten in Spanien, Italien, Deutschland oder Holland, wo jeweils etliche afrikanische Stars ihr Geld verdienen. Selbst mit den härtesten Gangsterbossen in Townships wie Manenberg (mörderische no-go-area, in die sich Grill zu Recherche-Zwecken dennoch gewagt hat) könne man oft immer noch ein Gespräch über Fußball anknüpfen. Verblüffender noch: Als dem Autor im Kongo unversehens ein sichtlich aggressiver, bis an die Zähne bewaffneter Soldat begegnete, habe die bloße Erwähnung des Namens Ballack für Entspannung gesorgt. Das muss man sich für Wechselfälle merken.

Wie schätzt Bartholomäus Grill die im Hinblick auf die WM oft warnend beschworene Kriminalität in Südafrika ein? Nun, die Zahlen (rund 50 Morde am Tag) seien wirklich verheerend. Allerdings seien so gut wie nie Touristen die Opfer, sondern überwiegend (zu rund 70 Prozent) Schwarze aus armen Vierteln. Bei Grill klingt diese Einschätzung nicht zynisch, sondern realistisch und pragmatisch.

Die Darstellung in den hiesigen Medien sei indes fast immer ungerecht. Typisches Beispiel: Als die ARD-Tagesthemen kürzlich von der Gruppenauslosung zur WM berichteten, sei sogleich ein Kontrast-Schwenk über brennende Hütten vollführt worden. Grill: „Das ist ungefähr so, als hätten afrikanische Sender bei der Auslosung für die WM in Deutschland Skindheads gezeigt, die einen Obdachlosen totschlagen.“ Die eingefahrenen Wahrnehmungs-Muster westlicher Journalisten in Afrika liefen meist auf Not, Elend und Gewalt hinaus. Dabei werde dort ebenso gelebt, gelacht und geliebt wie überall auf Erden. Überhaupt: Selbst wohlmeinende Ratschläge „weißer Gutmenschen“ seien oft eher hinderlich.

In seinem erzählfreudigen und informativen Buch schildert Grill die enorme Bedeutung des Fußballs für Afrika, stets verknüpft mit geschichtlichen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen (bis hin zur Diktatur des Schlächters Idi Amin), doch auch der gut platzierten, süffigen Anekdote nicht abhold. Man glaubt es schließlich gern: Es ist wohl tatsächlich ein Königsweg, um den Erdteil ein wenig zu verstehen, wenn man sich über den Fußball nähert. So ist zwar einerseits der Sport vielfach ebenso von Korruption durchsetzt wie ganze Staatengebilde, auch gibt es üblen Menschenhandel mit jungen Kickertalenten.

Doch beim Zusammenwachsen einer (vordem durch die Apartheid zutiefst gespaltenen) Nation wie Südafrika ist die Bedeutung von Fußball und Rugby eben auch kaum zu überschätzen. Nichts weckt solche Gefühlswallungen, nichts kann im besten Falle so sehr zusammenschweißen. Was Deutschland anno 1954 bewegt hat („Das Wunder von Bern“), hat Südafrika 1995 mit dem Sieg bei der Rugby-WM und 1996 als Afrikameister im Fußball erlebt. Heute allerdings, so Grill, dürfte das Gastgeberland das „mit Abstand schwächste Team“ aller 32 Teilnehmerländer stellen.

Eines der spannendsten Kapitel handelt mit drastischen Beispielen von Okkultismus und Magie: Der in ganz Afrika verbreitete Aber- und Hexenglaube, der mitunter sogar zur Lynchjustiz führt, lässt sich eben auch anhand des Fußballs illustrieren. Pavianpfoten, Krötenherzen, Rattenfelle oder allerlei Pülverchen sollen siegreiche Wunschergebnisse herbeizwingen. So mancher Zauberer ist auf diesem Gebiet tätig. Auf großen Fetisch-Märkten ist das bizarre Zubehör käuflich zu erwerben. Selbst wenn hiesige Fans schon mal verzückt den Rasen küssen: Welch nüchterne Verlässlichkeit scheint hingegen in der Bundesliga zu herrschen…

Die Frage, die keinesfalls fehlen darf: Wer gewinnt nach Grills Meinung das Turnier 2010? Er nennt ein Wunschfinale der kultiviertesten Spielkunst: Spanien gegen die Elfenbeinküste. Letztere möge dann mit 2:1 gewinnen.

Wenn das exakt so eintrifft, bin ich auch geneigt, an Geister zu glauben.

Bartholomäus Grill: „Laduuuuuma! – Wie der Fußball Afrika verzaubert“. Verlag Hoffmann und Campe. 256 Seiten. 20 €.

Gekürzte Fassung unter gleichem Titel auch als Hörbuch (gelesen von Andreas Pietschmann), ebenfalls Hoffmann und Campe, 2 CDs, 20 €.




Die Kultur umarmt den Fußball – Über die Deutsche Akademie für Fußball-Kultur

Vor dem EM-Endspiel noch mal kurz innehalten – und über Fußball und Kultur nachdenken. Manche bezweifeln ja immer noch, dass es solche Querbezüge gibt. Sie haben vielleicht noch nie von Lebens- und Alltagskultur gehört. Bei der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur in Nürnberg weiß man es besser. Nachgefragt bei Günter Joschko, Projektleiter der renommierten Einrichtung.

Wie ist das beispielsweise mit der oft beschworenen Spielkultur? Hat die EM neue Erkenntnisse gebracht? Joschko: „Auch hier erleben wir Globalisierung. Stilistisch gibt es weltweit eine Tendenz zur Angleichung.” Die Champions League, so Joschko, gebe mit rasantem Vereinsfußball vor allem der englischen und spanischen Spitzenclubs die Richtung vor. Dann versuche man es überall nachzumachen. Fast schon beängstigender Trend: immer schneller, immer kombinationssicherer. Ob das stets mit Kultivierung einhergeht?

Die Zeit der neuen
Fan- und Spielertypen

Zur Akademie für Fußball-Kultur gehören im losen Verbund Menschen zahlreicher Fachrichtungen. Soziologen sind vorwiegend am gesellschaftlichen Umfeld interessiert. Germanisten untersuchen sprachliche Weiterungen des Fußballs zwischen Fan- und Reporterdeutsch – bis hin zur hohen Literatur. Musikexperten analysieren Fangesänge. Philosophen wenden ewige Grundsatzfragen aufs Kicken an. Selbst Theologen sind dabei. Eigentlich kein Wunder, ist doch der Fußball eine Quasi-Religion unserer Tage und damit sozusagen eine Glaubensfrage.

Günter Joschko hat vor allem bei der letzten WM 2006 und der jetzigen EM beobachtet, wie sich die Spaßgesellschaft formiert: „Die Zahl der erlebnishungrigen Partygänger unter den Zuschauern ist enorm gewachsen. Das sind Leute, die kaum an taktischen Finessen interessiert sind, sondern am puren Event.” Der harte Kern der Kenner hingegen bleibe auf längere Sicht ungefähr gleich groß.

Der Stadionbau habe sich dieser Entwicklung angepasst. Joschko: „Die großen Arenen bieten heute Durchschnitts-Komfort und Rundum-Versorgung für alle – selbstverständlich auch für Frauen.” Der Fußball ist also längst in der ganz breiten Mitte der Gesellschaft angekommen und dabei – so unken Kritiker – auch etwas domestiziert worden.

Das deutsche Nationalteam, so meint Joschko, vereine heute ein breiteres Spektrum von Spielertypen als je zuvor. Die Mannschaft werde mehr und mehr zum repräsentativen Abbild der Gesellschaft. Umkehrschluss: Jeder kann sich seine passende Identifikations-Figur heraussuchen, jede Klientel wird fündig.

Lustige Vögel und Verantwortungsträger

Da gebe es sympathisch unbekümmerte, „lustige Vögel” wie „Poldi” und „Schweini”; aber auch ernsthaftere, „ausgesprochen gescheite Leute” (Joschko) wie Lahm, Mertesacker oder Metzelder, die über den Rand des Sports hinausblicken und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Damit liegen sie laut Joschko auf der Linie des DFB-Präsidenten Theo Zwanziger, der den Verband in dieser Hinsicht entstaubt habe.

Lang genug hat’s ja in Deutschland gedauert. In Spanien etwa war Fußball schon immer auch für Feingeister ein Thema. Hierzulande sind erst in den letzten 15 Jahren etliche Literaten, Künstler und Wissenschaftler auf den Zug aufgesprungen. Joschko: „Vorher war in diesen Kreisen das Reden über Fußball verpönt. Heute ist das völlig anders. Da sind Dämme gebrochen.” Kulturschaffende umarmen den Fußball nun so innig, dass ein gewisser Sättigungsgrad erreicht zu sein scheint. Man munkelt neuerdings von Trotzreaktionen: „Es gibt offenbar erste Rückzugstendenzen”, so Joschko.

Und das konkrete EM-Geschehen? Bekanntlich ist ja „entscheidend auf’m Platz”: Das Turnier sei für fast alle Mannschaften ein Auf und Ab gewesen, sagt Günter Joschko. Heute toll gespielt, beim nächsten Mal grottig – oder umgekehrt. Joschko: „Nur die Spanier haben ihr hohes Niveau gehalten.”

Beim Tippspiel der Akademie-Mitglieder waltete übrigens Skepsis. Gerade mal 18 von 75 Teilnehmern wetteten auf einen deutschen Titelgewinn. Nein, diese Kulturmenschen aber auch! Fehlt’s da etwa immer noch an der landläufigen Euphorie?

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INFO ZUR AKADEMIE

  • Die in Nürnberg ansässige Deutsche Akademie für Fußball-Kultur wurde 2004 gegründet.
  • Dahinter stehen als Mitglieder Institutionen wie das Goethe-Institut, das Grimme-Institut und der Volkshochschulverband.
  • Persönliche Mitglieder sind z. B. Django Asül (Comedian), Eckhard Henscheid, Albert Ostermaier (Autoren), Guido Knopp (Historiker), Renate Künast (Politikerin), Horst-Eberhard Richter (Psychologe) und Klaus Theweleit (Philosoph) sowie zahlreiche Journalisten und Professoren aller Fachrichtungen.
  • Die Akademie verleiht einen Fußball-Kulturpreis für die besten Fußballbücher, Fußballsprüche, das beste Spiel – und für einschlägige Bildungsprojekte.



Der Ball muss ins Buch – Lektüre zur EM

Zur Fußball-EM darf’s passende Lektüre sein. Auf dem Tisch liegt ein Stapel mit Neuerscheinungen. Das Spektrum reicht sozusagen vom Grottenkick bis zum legendären Match. Also hinein ins Strafraum-Getümmel, wo zunächst keine Treffer fallen – aber dann!

„Unsere Jungs” (Chronik Verlag, 198 S. Bildbandformat, 29,95 Euro) klingt schon im Titel ebenso kreuzbrav wie ‚ranschmeißerisch. Tatsächlich ist der DFB federführend an diesem Buch über 100 Jahre deutsche Länderspiele beteiligt. Der noch einfallslosere Untertitel („Tore, Titel, Triumphe” – fehlen nur noch die Tränen) gibt die Richtung vor: aufgewärmte Begeisterung aus dem Archiv, gedrucktes Ballgeschiebe.

Nicht viel trickreicher kommt das Mini-Buch „Fußball – Deutsch / Deutsch – Fußball” (Langenscheidt, 130 S., 5 Euro) daher. Männer, Frauen, Ärzte und Chefs wurden in der Erfolgsreihe schon sprachlich aufgegabelt. Bestenfalls Lektüre für Minuten: enorm kleinteilige Texte, immer hübsch bunt unterlegt und mit Promi (hier: Gerhard Delling) garniert. Irgendwie launig, aber nicht wirklich lustig. Leser und Fans werden klar unterfordert.

Monströs mutet das „Praxiswörterbuch Fußball” (Langenscheidt, 523 S., 16,95 Euro) an, in dem rund 5200 (!) Fachbegriffe auf Deutsch, Englisch und Französisch stehen. Wahrscheinlich ist es der ideale Lesestoff für international tätige Spieler, Schiris, Trainer – und ärztliche Betreuer. Schon gewusst, wie man Kreuzbandriss übersetzt? Bitte sehr: „cruciate ligament rupture” (engl.) und „rupture du ligament croisé” (frz.). Wer weiß, wann man’s braucht.

Pure Zahlen- und Faktenhuberei beschert „Deutschlands Fußball. Das Lexikon” (Herbig-Taschenbuch, 828 S., 20 Euro) mit 14 500 Einträgen und beigelegter CD-Rom (1400 Fotos). Von den zahllosen Pfeilen, die jeweils auf andere Stichworte verweisen, kann einem schwindlig werden. Gewiss nichts zum Schmökern, sondern höchstens zum Nachschlagen und Rechtbehalten bei Wetten.

Der österreichische Autor Franzobel sondiert in „Franzobels großer Fußballtest” (Picus Verlag, 240 S., 16,90 Euro) vor allem die Mentalität der gastgebenden EM-Nationen Österreich und Schweiz. Etwas speziell, aber bitteschön. Er tippt übrigens auf Italien, Spanien oder Frankreich und hofft auf Holland. Unentschlossener Hallodri!

Jetzt kommt der erste literarische Lattenkracher. Thomas Brussig (zuletzt bei „Berliner Orgie” in Rotlicht-Bezirken unterwegs) stimmt in „Schiedsrichter fertig” (Residenz Verlag, 92 S., 12,90 Euro) eine lange, absatzlose Klage-Litanei an: Der Schiri erscheint als bedauernswertes Neutrum in einer fanatisierten Welt, immerzu von lügnerischen Spielern bedrängt und oft gnadenlos ausgepfiffen. Ein Bild des Jammers.

„Titelkampf” (Suhrkamp Taschenbuch, 284 S., 8,90 Euro) heißt der Band, den die ebenso sprach- wie ballsichere Deutsche Autoren-Nationalmannschaft (so ‚was gibt’s! Moritz Rinke und Albert Ostermaier sind die „Stars”) beisteuert. Die gesammelten Geschichten und Gedichte schürfen oft erstaunlich tief und zeichnen prägnante Charakterbilder von Spielertypen und Fans. Willkürliches Reim-Beispiel: „Auf eines starken Bussards Flügeln / die Italiener niederbügeln.” Hoho! Das müssen die Holländer gelesen haben.

Als Nabokov und
Handke über
Torhüter schrieben

Hinterm nostalgischen Seufzer „Früher waren mehr Tore” (Diogenes-Taschenbuch, 302 S., 9,90 Euro) steckt eine erlesene Sammlung klassischer Stories und Buch-Auszüge – oft von ganz illustren Autoren. Vladimir Nabokov und Peter Handke haben z. B. über Torhüter geschrieben. Selbst Friedrich Dürrenmatt und Jaroslav Hasek („Schwejk”) kamen literarisch nicht am Leder vorbei. Ein Buch wie ein Sonntagsschuss. Die Vorentscheidung!

Den Siegtreffer per Fallrückzieher markiert freilich der unvergleichliche Ror Wolf, dessen gesammelte Fußball-Texte in neuer Ausgabe vorliegen: „Das nächste Spiel ist immer das schwerste” (Verlag Schöffling & Co., 300 S., 19,90 Euro). In langjähriger, besessener Feinarbeit (die er, gleichsam aus Selbstschutz, um 1982 abgebrochen hat) ist dieser Autor tief in die Mechanik der fußballerisch angetriebenen Sprach-Maschinerie eingedrungen. Collagen aus Reporter-Jargon und Fan-Gerede bringen das ganze Metier zur Kenntlichkeit. Großer Sport!

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WEITERE EMPFEHLUNGEN

Nick Hornby: „Fever Pitch – Ballfieber” (Kiepenheuer & Witsch, 335 S., 9,95 Euro). Fiktives Tagebuch eines Fans (FC Arsenal London). Fußball als harte Schule des Lebens. Hornby gilt seither als Kultautor.

Tim Parks: „Eine Saison mit Verona” (Goldmann-Taschenbuch, 520 S., 9,90 Euro). Italienische Ball- und Seelenkunde.

Theo Pointners Fußball-Krimis im Dortmunder Grafit-Verlag: „Rechts-Außen” (8,90 Euro) und „Tore, Punkte, Doppelmord” (8,40 Euro).

Martin Arnold (Hrsg.): „Abenteuer Fußball. Auf den Bolzplätzen dieser Welt” (Verlag Die Werkstatt, 224 S., 19,80 Euro). Reise zu exotischen Spielfeldern der Erde. Spannende Sozialstudie in Zeiten der Globalisierung.

Dietrich Schulze-Marmeling: „Holt euch das Spiel zurück. Fans und Fußball” (Verlag Die Werkstatt, 271 S. – vergriffen; übers Internet antiquarisch erhältlich). Erhellende Perspektive „von unten”. Vom selben Autor gibt’s Vereins-Historien, etwa über Borussia Dortmund.

Christoph Biermann: „Fast alles über Fußball” (Kiepenheuer & Witsch, 200 S., 9,95 Euro). Fleißig gesammelt: Komisches und Kurioses beim Kick.

F. C. Delius: „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde” (Rowohlt-Taschenbuch, 128 S., 6,90 Euro). Roman rund ums 1954er „Wunder von Bern” – aus Kinderperspektive erzählt.

Siobhan Curham: „Club der Fußballwitwen” (Droemer/Knaur, 8,90 Euro). Frauen nehmen Rache an Gefährten, die sich nur noch für Fußball interessieren. Gemein!




Goethe muss natürlich unbedingt ins Sturmzentrum – Eine Traumelf deutscher Dichter und Denker aufstellen

Von Bernd Berke

Heute geht’s endlich gegen Argentinien rund. Aber gestern und vorgestern waren bei der WM erstmals spielfreie Tage. Seufz! Da wusste man ja fast schon gar nicht mehr, was man mit der leeren Zeit anfangen sollte.

Was tut man also? Sich doch mal wieder spielerisch mit Kultur und Fußball befassen. Etwa mit der reizvollen Idee, eine Traumelf mit ruhmreichen deutschen Dichtern und Denkern aufzustellen. Richtig gelesen.

Wer steht im Tor? Immanuel Kant! Der Mann hat sich in der T-Frage gegen Leibniz und Heidegger durchgesetzt. So abgeklärt wie er ist sonst keiner. Er bleibt nicht auf der Linie kleben, sondern denkt weit voraus. Und er dient der ganzen Mannschaft als Ansprechpartner in moralischen Sinnfragen.

Viel wild er wohl nicht auf den Kasten kriegen. , Denn wir haben ja hinten unsere Weltklasse-Viererkette – mit Hölderlin (dichtet, äh, dribbelt jeden schwindlig), dem willensstarken Nietzsche (gefürchtete Blutgrätsche!), E. T. A. Hoffmann (macht schon mit flackernder Miene dem Gegner Angst) sowie dem kompromisslosen preußischen „Abräumer“ Kleist. Die Härte! Aber Vorsicht vor gelben Karten, die Schiri Reich-Ranîcki so freihändig verteilt.

Fürs 4-3-3-System postieren wir vor die Abwehr kreative Spieleröffner, die auch Defensivaufgaben nicht scheuen: den schnörkellosen Büchner, den gewitzten Heine (bei Paris St. Germain unter Vertrag) und den listigen Lessing, der die ganze Dramaturgie eines Spiels lesen kann und mit allen Freiheiten hinter den Spitzen agiert. Ein solches Mittelfeld schmückt ungemein.

Weiteres Prunkstück ist der Angriff. In der Mitte lauert der wendige junge Goethe („Sturm und Drang“) auf Chancen. Von links bedient ihn der schlaue Bert Brecht mit frechen Flanken, von rechts kommt brachial Gottfried Benn, der auf dieser exponierten Position dem hüftsteifen Ernst Jünger den Rang abgelaufen hat. Jedenfalls: Unsere beiden ,Außen“ gehen konsequent bis zur Grund(satz)linie – und dann schnackelt’s.

Da können es sich der schwäbische Trainer Hegel (Devise: „Das Wirkliche ist vernünftig“) und sein Assistent Marx sogar erlauben, Joker wie Schiller, Thomas Mann, Eichendorff oder Fontane auf der Bank zu lassen. Ihre Stunde kommt noch – ebenso wie die der Talente Heinrich Böll und Günter „Odonkor“ Grass.




Wenn Schalke mit Borussia singt: Franz Wittenbrinks Lieder-Revue „Männer“ in Gelsenkirchen – und bald in Dortmund

Von Bernd Berke

Gelsenkirchen/Dortmund. Zum Theater geht’s über die Autobahn A 42, Abfahrt Gelsenkirchen-Schalke. Für manchen Fan der Dortmunder Borussia ist dies fußballerisches „Feindesland“ und „verbotene Stadt“. Just die uralte Rivalität der Revierclubs prägt das musikalische Bühnenspektakel „Männer“.

Allerdings haben bei dieser Inszenierung (tribünentauglich gesprochen) die Schattenparker und Warmduscher das Sagen, denn es herrscht tendenziell Versöhnung zwischen Schwarzgelb und Blauweiß. Kleinere Rangeleien lösen sich rasch in Wohlgefallen auf. Es ist eben eine ausgewogene Produktion für zwei WM-Städte: Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier und das Dortmunder Schauspielhaus mögen es schiedlich-friedlich. Mit einem lauen 0:0 endet denn auch ein anfänglich geschildertes Bundesliga-Match.

In Gelsenkirchen hatte das 90minütige Sangesspiel jetzt Vorab-Premiere, teilweise noch unter Probenbedingungen. Bald wird das Ganze auch in Dortmund zu sehen sein, dann wohl hoffentlich etwas ausgefeilter. Vor allem Beleuchtung und Tontechnik wären noch zu justieren.

Notdürftig auf Revier-Verhältnisse umgemodelt

Vorlage ist einer jener Liederabende des Franz Wittenbrink, notdürftig auf Ruhrgebiets-Verhältnisse umgemodelt. Und was drängt sich da heftiger auf als das ewige Derby zwischen dem BVB und Schalke 04, das hier angereichert wird mit der alten „Romeo und Julia“- bzw. „West Side“-Story. Sprich: Liebe über die Grenze verfeindeter Clans hinweg, Borussen-Fan verguckt sich in Schalke-Mädel. Diese pikante Liaison bleibt freilich eher episodisch in all dem Sängerwettstreit, der da anhebt.

Tribüne als Bühne: Hie der Schalker Block mit fünf, dort die BVB-Ecke mit vier Fans. Im munteren Wechsel schmettern die Darsteller Schlachtgesänge, vor allem aber Evergreens: lauter Einblicke in hahnenstolze, doch oft auch waidwunde Männerseelen. Man hört Kracher von Westernhagen („Sexy“), Grönemeyer („Currywurst“, „Alkohol“), Maffay („Und es war Sommer“) oder Udo Jürgens („Mit 66 Jahren“) sowie Beatles-Songs („Yesterday“, „Let it be“).

„We Will Rock You“ mit Heintje-Text

Ausflüge in deutsche Schlager-Tradition („Ich brech‘ die Herzen der stolzesten Frau’n“) wechseln mit fetzigen Rock-Einlagen („Wild Thing“). Und dass der urzeitliche Stampf-Rhythmus des „Queen“-Klassikers „We Will Rock You“ mit Heintjes „Mama“-Text gefüllt werden kann, ist wirklich verblüffend. Auswahl, Abfolge und Arrangement sind der eigenschöpferische Anteil in Wittenbrink gut geölter Wiederaufbereitungs-Anlage.

Was ist das nun? Liederabend, Nummernrevue, Musical mit Karaoke-Charme? Von allem etwas. Jedenfalls macht es Spaß. Denn Regisseur Andreas Wrosch hat im gereiften Ensemble (Schwerpunkt bei „50 plus“) die richtigen Typen versammelt. Profis sorgen fürs musikalische Gerüst, und eigens gecastete Revier-Originale geben er Aufführung authentischen Anstrich.

Alle einigen sich auf Anti-Bayern-Song

Gerade dann, wenn sich nicht alles in glatter Perfektion erschöpft, kommt die geheime Wahrheit mancher Lieder zum Vorschein. So etwa bei Willibald Zumpe (64), früher Bergmann in Dortmund-Mengede, seinerzeit im Chor der Zeche Hansemann und jetzt auf der Bühne als BVB-Altrocker zugange.

Am Schluss haben sich die Fan-Blöcke auf zwei Nenner geeinigt. Erstens darauf: Wahre Liebe kann alle Vereins-Schranken überwinden. Und zweitens auf jene güldene Parole, die sich in bierseliger Gemeinsamkeit grölen lässt: „Wir werden nie zum FC Bayern München geh’n!“

Gelsenkirchen (Musiktheater) 22. April, 15., 29. Mai. 1., 3. Juni. Tel.: 0209/40 97 200 / Dortmund (Schauspiel) 25. April, 22., 30., 31. Mai, 7. Juni. Tel.: 0231/50 27 222.

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ZUR PERSON

Häufig nachgespielt

  • Franz Wittenbrink (Jahrgang 1948) war von 1993 bis 2000 musikalischer Leiter am Deutschen Schauspielhaus Hamburg.
  • Die von ihm thematisch zusammengestellten und arrangierten Lieder-Programme werden landauf landab nachgespielt, z. B. „Sekretärinnen“, „Mütter“, „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ und „Männer“ (1997 uraufgeführt).
  • Die Fassung von Gelsenkirchen/Dortmund wird musikalisch geleitet von Bill Murta und Jochen Hartmann-Hilter.



O abgetropfter Ball, o rundes Leder! – Ludwig Harigs Fußballsonette im Vorfeld der WM

Von Bernd Berke

Die bevorstehende FußballWM beflügelt nicht nur Sport-Kommentatoren und zig Millionen Bundestrainer, sondern auch viele Schriftsteiler. In diesem Frühjahr sind zahllose Bücher mit literarischem Kick auf dem Markt. Sehr edel gibt sichLudwig Harigs schmale Gedichtsammlung „Die Wahrheit ist auf dem Platz“.

Der Umschlag ist nicht nur satt grün wie gut gepflegter Rasen, sondern trägt auch die weißen Linien-Markierungen eines Spielfeldes. Noch dazu fühlt sich der aufwändig hergestellte Band wie Samt und Seide an. Da macht schon das Anfassen Freude.

Und der Inhalt? Mythen und Schicksale zuhauf. Harig lässt große Turniere und Spiele der letzten Jahrzehnte in einer wahrhaft erhabenen lyrischen Form aufleben: Er bedient sich des Sonetts – wie beispielsweise einst Shakespeare oder Rilke. Die klassische Strophen-Aufstellung folgt zeilenweise dem 4-4-3-3 System. Das hehre kulturgeschichtliche Erbe zieht überaus kostbare, pathetische Formulierungen nach sich:

„O abgetropfter Ball! O eingeschlenztes Leder!“

Preziöse Sprache und würdevolle Form stehen zuweilen im krassen, komischen Gegensatz zur Schlichtheit der mitgeteilten Tatsachen. Man darf wohl annehmen, dass Harig (ähnlich wie sonst ein Robert Gernhardt) diesen rhythmisch grundierten Fallhöhen-Effekt ganz gezielt einsetzt. Beispiel:

„Ein Unentschieden macht den Sieg zuschanden / und schiebt den Riegel zu für künftige Trophäen.“

Wie wahr. Ein 0:0 ist kein Sieg und zeitigt keine Triumphe. Ein andermal riskiert Harig, der auch schon mal „Böller“ auf „Völler“ reimt, einen gar kühnen Vers:

„Der Fan lehnt sich zurück und cremt sich mit Nivea, / erwartet voll Respekt das Team aus Südkorea.“

Ganz klar. Typisches Fanverhalten. Gleich der Griff zum Cremedöschen, wenn’s hart auf hart kommt.

Diverse WM- und EM-Verläufe seit 1954 werden lyrisch besungen. Zum teutonenhaften deutschen Auftreten bei der erfolglosen WM 1998 heißt es:

„Denn Ordnung, Arbeit, Kraft, so höhnt ein Journalist, / womit die Deutschen sich und alle Welt betrügen, / sind nichts als Alibi, als fromme Lebenslügen.“

Auch zur WM 2002 klingt es aus deutscher Sicht mahnend und besorgt: „Es hilft die Tugend nicht, man muß auch Fußball spielen.“ Und zur EM 2004 in Portugal: „Taugt unser Fußball noch? Das ist die Gretchenfrage.“ Das Leiden an deutscher Holzklasse ist ebenem bleibendes Thema. Doch vor Monaten, wahrscheinlich beim munteren Confed-Cup 2005, sah Harig einen Lichtstreif:

„Am Fußballhorizont ein helles Dreigestirn / mit Klinsmann, Bierhoff, Löw erleuchtet unser Hoffen.“

Die leidige Torwartfrage hat Harig unterdessen subjektiv ganz eindeutig entschieden: Jens Lehmann soll es sein! Über Oliver Kahn heißt es hingegen nach glücklosem Match geradezu schadenfroh:

„Nun kann er sich nicht mehr gebärden als Titan / und nicht erkühnen, sich die Nummer eins zu heißen.“

Überhaupt erweist sich Harig als ausgesprochen bissiger Anti-Bayer. Zitat aus „Bayern gegen Arsenal“, mit Bezug zum deutschen Torwart in Londoner Diensten:

„Kommt Lehmann an den Ball, schon pfeift die feige Meute. / Es sind die Bayernfans ein schlimmes Publikum, / Zerstören die Idee von Spiel und Menschentum. / Hier herrscht der blinde Wahn vulgär gebliebner Leute.“

Wie gut, dass Westfalen und Saarländer anders sind. Immer nur Lyrik im Kopf und stets faire Sportsfreunde. Jau!

Ludwig Harig: „Die Wahrheit ist auf dem Platz. Fußballsonette“. Hanser Verlag, 80 Seiten, 12,50 Euro.

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ZUR PERSON

Passionierter Saarländer

  • Ludwig Harig wurde 1927 in Sulzbach/Saar geboren.
  • Zunächst war er als Grundschullehrer tätig, seit 1974 ist er freier Schriftsteller.
  • Besonders viel Beachtung fand seine Romantrilogie mit den Bänden „Ordnung ist das ganze Leben“, „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“ und „Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf“.
  • Harig hat sich auch mit experimenteller Lyrik einen Namen gemacht.
  • Fußballthemen hat der passionierte Regionalist (Buch „Die saarländische Freude“) mehrfach aufbereitet.
  • Schon 1967 war sein Hörstück „Das Fußballspiel“ gesendet worden. Und zur Fußball-WM 1974 leistete er mit Dieter Kühn den literarischen Beitrag „Netzer kam aus der Tiefe des Raumes“.



Fußball im edlen Frack – Experiment der RuhrTriennale: Oratorium „Die Tiefe des Raumes“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Wer wollte bestreiten, dass der Fußball rituelle und mythische, ja quasi religiöse und liturgische Anteile hat? Da liegt es vielleicht doch nahe, diesem phänomenalen Sport ein ehrwürdiges Oratorium zu widmen. Die RuhrTriennale probiert’s mit der in Bochum uraufgeführten Kreation „Die Tiefe des Raumes“.

Wenn hier die Mannschaftsaufstellung verkündet wird, klingt es fast, als riefen Posaunen zum Jüngsten Gericht. Der mit blauweißen bzw. schwarzgelben Schals angetretene, zuweilen ausgelassen tobende TriennaleChor (48 Damen und Herren verkörpern 60 000 Fans) antwortet auf die Vorgabe „Oliver“ mit Donnerhall: „Kaaaaahn“! Dazu lässt Dirigent Steven Sloane die sturmstarken Bochumer Symphoniker zu apokalyptischer Klangmacht anwachsen.

Das Spiel mit der komischen Fallhöhe

Es darf gefeixt werden. Derlei komische Fallhöhe zwischen Thema und Instrumentierung wird sich an diesem Abend häufig ergeben. Es ist ja ein Heidenspaß. Doch irgendwann fragt man sich, ob dem Fußball dieser edle Frack überhaupt passt. Soll das Kicken nachhaltig nobilitiert werden? Oder lässt man sich gnädig-gönnerhaft dazu herab? Ist diese Schöpfung gar blasphemisch, weil sie eine religiös geprägte Form profan ausbeutet? Nun, so päpstlich sollte man nicht denken.

Erzählt wird die Geschichte eines 17-jährigen Spielertalents (Corby Welch, Tenor): Er schwankt zwischen „Tugend“ (Claudia Barainsky, Sopran) und „Laster“ (Ursula Hesse von den Steinen, Mezzosopran). Wird er nach ersten Erfolgen nur noch hinterhältig nach Geld und Weibern gieren, oder wird er dem wunderbar zweckfreien Spiel huldigen, wie es dem Menschen seit Anbeginn der Zeiten gemäß ist? Ein paar Lebensjahre hinzu gerechnet, denkt man dabei jetzt vor allem an Kölns Nationalstürmer Lukas Podolski. Er soll bei der Genese dieses Oratoriums gleichsam Pate gestanden haben: Tonsetzer und Textautor haben angeblich diskutiert, ob es sich bei ihm um eine „Erlöserfigur“ im biblischen Sinne handele…

Doch ein erzählerischer Kern schält sich nicht so klar heraus in dieser Aufführung, die fußballgerecht zweimal 45 Minuten plus 8 Minuten (!) Nachspielzeit dauert und mit dem legendären Resultat 3:2 endet. Es fehlt ein kräftiger roter Faden. Ohne Programmheft (mit komplettem Libretto-Text) haben Zuschauer bei dieser gestisch nur sparsam akzentuierten Nummernfolge kaum eine Chance. Die überfrachtete Story (Autor: Schalke-Fan Michael Klaus) verirrt sich auf ebenso viele Nebenwege wie die Musik (Komponist: Bayern-Anhänger Moritz Eggert).

Wenn die Abseitsregel gesungen wird

Der Text sammelt allerlei Vorfälle aus dem Umkreis eines Fußballspiels ein – bis hin zur gesungenen Erläuterung der Abseitsregel. Zudem wollen drei prominente Rezitatoren als Trainer, Radioreporter und Alt-Internationaler mitmischen: Doch Joachim Król, Christoph Bantzer und Peter Lohmever (Film „Das Wunder von Bern“) dringen mit ihren Sprechstimmen manchmal kaum durch.

Die Musik ist vollends eklektisch. Sie nimmt – mit imponierendem Kunstverstand – ihre Impulse von überall her und begreift alles als Spielmaterial, beileibe nicht nur Schlachtgesänge aus der Stadionkurve. Der hehre Duktus eines barocken Oratoriums (Gipfel ist eine „Hymne an den Ball“) wird in dieser Collage vielfach (post)modernistisch und ironisch gebrochen. Es gellen die Schiri-Pfeifen und Siegesfanfaren à la Verdi dazwischen, oder man wiegt sich auch schon mal in schlagerseligen Rhythmen undskandiert feinsinnige Weisheiten: „Nichts ist scheißer als Platz zwei.“

Meist steigert sich das Orchester aus lyrisch leisen Kapitel-Anfängen in ein anschwellendes Breitwand-Pathos, das freilich immer wieder in den tonalen Zusammensturz getrieben wird. Man ist schließlich avanciert.

Innenminister Otto Schily hat’s kürzlich bei der Vorstellung der WM-Kulturprojekte geahnt: „Die Tiefe des Raumes“ werde sich dem durchschnittlichen Fußballfan nicht leicht erschließen. Tatsächlich behält dieses interessante Experiment eine Zwittergestalt. Auf dem grünen Rasen geht’s drauf und dran. Auf kulturellem Spielfeld aber zählen Zwischentöne. Insofern ist es ein exemplarisches Projekt, das solche Distanzen spürbar werden lässt. Doch damit wird bestimmt keine neue Gattung begründet.

• Weitere Aufführung in der Bochumer Jahrhunderthalle: 18. Sept. (20 Uhr). Karten  0700/2002 3456. www.ruhrtriennale.de

 




Beim Fußball singt es sich nochmal so schön – Musikwissenschaftler erforschen das Stadion-Phänomen

Von Bernd Berke

Als Borussia Dortmund am 7. Dezember 1996 beim 1. FC Köln antrat, gewannen die Westfalen nicht nur auf dem grünen Rasen (3:1), sondern auch sängerisch: 25 verschiedene Lieder stimmten die Dortmunder Fans im Lauf des Spiels an, die Domstädter brachten es nur auf 14 – schon damals ein abstiegsverdächtiger Wert. Von wegen sangesfrohe Rheinländer!

Woher wir das wissen? Vom Fachmann. Der Kölner Musikwissenschaftler Guido Brink (Jahrgang 1968) untersucht das Phänomen der Fußball-Fangesänge seit Jahren. Jetzt haben er und der Würzburger Musikprofessor Reinhard Kopiez die Resultate im Buch zusammengefaßt. Es kommt gerade recht zur Fußball-WM.

Vier bis neun Takte sind genug

Brink zur WR: „Im Grunde müßte man bei jedem Spiel einer Liga-Saison reinhören.“ Doch pro Begegnung wären zwei Wissenschaftler im Einsatz, um dann wochenlang ihre Erkenntnisse auszuwerten.

Brink und Kopiez standen beim besagten Match und beim Dortmunder Rückspiel in den Fanblöcken. Sie hielten die akustischen Früchte mit Digital-Recordern fest. Neben Strophen und Refrains, oft in Kneipe, Bus oder Bahn eingeübt und im Stadion von „Ober-Fans“ angestimmt, kamen Kurzgesänge (knappe Tonfolgen auf Namen wie „Aaan-dy Möl-ler“) und wortlose Rhythmen in Betracht.

Die Forscher fanden heraus, daß sich Fußballfans gern beim Schlager der 70er Jahre, Volksliedern, anglo-amerikanischen Traditionals („When the Saints…“, „Over in the Gloryland“) und Popsongs der letzten Jahrzehnte bedienen. Stets gilt: Vier bis neun Takte sind genug. Die Melodien müssen eingängig sein, sie sollten für „Endlosschleifen“ taugen und dürfen keine sonderlichen Höhenschwankungen haben. Sogar den maximalen Oktaven-Umfang, bevorzugte Tonleitern und das mittlere Metronom-Tempo haben die Forscher gemessen.

Beileibe keine Neandertaler-Kultur

Die Vorlagen werden mehr oder weniger originell umgetextet, wobei gehässige Schmähgesänge (z. B.: „Ihr seid Kölner / asoziale Kölner“ (nach Bonnie Tylers „It’s a Heartache“) oft Vorrang genießen. Brink flachst: „Böse Menschen haben viele Lieder.“ Auf den Stehtribünen werde eben Dampf abgelassen, das Stadion sei „keine Kuschelecke“. Aber: Um eine primitive „Neandertaler-Kultur“ handele es sich nicht, sondern um einen der letzten noch nicht kommerzialisierten musikalischen Freiräume. Der Fangesang sei zudem eine kultische Handlung, mithin ein Stück Sinngebung. Hört, hört!

Brink tippt auf Bayern München als deutschen Meister dieser Disziplin. Bayern-Fans hätten in einem ganz normalen Spiel 53 verschiedene Melodien abgesungen. Ein Grund: „Die haben einen versierten Trompeter, der die Lieder anstimmt.“ Sakra!

Die Geburtsstunde heutiger Fangesänge läßt sich ziemlich genau markieren: Ende 1963 sangen sie beim FC Liverpool „You’ll never walk alone“, den Hit von Gerry & The Pacemakers. Bei der WM in England (1966) kam dann jener Klatsch-Rhythmus auf, der auch Dave Dees Song „Hold Tight“ antrieb.

Von den Beatles zu den Bayern

Noch Beispiele gefällig? Es gibt vielseitig verwendbare musikalische Steilpässe. Auf den Refrain des Beatles-Klassikers „Yellow Submarine“ singt man bundesweit „Zieht den Bayern / die Lederhosen aus“ oder auch „Eins-zwei-drei und wieder mal vorbei!“ Die armen Kölner wurden zur selben Tonfolge so verulkt: „Ihr seid nur / ein Karnevals-Verein“. Auch der Gassenhauer „Go West“ von den Pet Shop Boys ist variabel: In Gelsenkirchen singt man darauf das pathetische „Steht auf. wenn ihr Schalker seid“, in Dortmund das triumphale „Ole, hier kommt der BVB“. Und welchen Reim machen wir uns nun auf Bertis Buben?

Reinhard Kopiez/Guido Brink: „Fußball-Fangesänge“. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg (mit Demo-CD), 39,80 DM / Das ARD-Fernsehen sendet heute um 23.00 Uhr einen Beitrag zum Thema.




Profifußball – schleichendes Gift / Michael Lentz‘ Fernsehfilm „Alles paletti“

Von Bernd Berke

Essen. Zunächst fällt auf, was „Alles paletti“ n i c h t ist: Der Film des Esseners Michael Lentz (geplanter Sendetermin: ZDF, 16. April, 19.30 Uhr) ist, obwohl im Ruhrgebiet gedreht, kein Revier-Film und er ist, obwohl Fußball die Handlung in Gang bringt, kein Fußballfilm.

Im Mittelpunkt steht vielmehr Kai Wodar (Levin Kress), genannt „Fips“, der vierzehnjährige Sohn des aus Jugoslawien stammenden Bundesligatrainers Milan Wodar (Branko Plesa). Dessen Verein „BlauWeiß“ (Vorbild Schalke?) ist abstiegsbedroht. Dies bekommt der Sohn an allen Ecken und Enden zu spüren. In der Schule vollziehen sogenannte Fans kurzerhand eine Sippenstrafe und demolieren Kais Fahrrad, der Vater wird im Abstiegsstrudel zunehmend auch als Erzieher hilflos. Für den Ernstfall hat er (zu Kais Entsetzen) bereits Kontakte nach Istanbul geknüpft – Jupp Derwall hat’s vorexerziert.

Der Einstieg in die Handlung erfolgt mit großer Geduld und Zähigkeit, wirkt unscheinbar, ja zunächst fast läppisch. Lentz nähert sich seinen Themen sehr vorsichtig von den Rändem her, tastet behutsam den Alltag ab. Und der ist nun einmal grau.

Das Innere des Stadions sieht man erst zum Schluß. Fußball ist denn auch eher das geheime Zentrum der Handlung, gleichsam ein zuerst kaum sichtbares Gift, das in den Alltag einsickert. Auch daß die Geschichte im Revier spielt, wird nie in den Vordergrund gestellt. Wohhuend: Das Ruhrgebiet ist hier eine weder gebeutelte noch glorifizierte Selbstverständlichkeit; selbstverständliche Heimat auch für Kai, der hier Freunde gefunden hat und nicht schon wieder entwurzelt werden will. Unter anderem deshalb fängt er auch allmorgendlich den Postboten ab und versteckt vor seinem Vater die schmutzigen Drohbriefe enttäuschter „Freunde“ des Vereins.

Kai ist 14. Also liegt es nahe, daß dies auch, eine Pubertätsgeschichte ist. Der erste Suff, die erste Liebe, ersterer komisch, letztere leidlich gefühlvoll ins Bild gesetzt. Den Weltschmerz allerdings hat Lentz durch die Figur „Rico“, den sterbenskranken Freund Kais, ein wenig zu dick aufgetragen. Mit makabren Sprüchen und einer gehörigen Portion Melancholie gibt Peter Lohmeyer dem „Rico“ zwar einen gewissen Aufmerksamkeitswert. Warum die Figur als solche aber notwendig ist, bleibt bis zum Schluß unerfindlich. Vielleicht ist es die Leidenschaft für alte Hollywood-Klassiker, die Lentz wohl mit „Rico“ teilt, die allerdings auch zuweilen mit ihm durchgeht. Da gibt es – verzichtbar – eine ganze Schwarz-Weiß-Sequenz mit den US-Stars von „damals“.

Der Schluß: Durch ein mit Ach und Krach erkämpftes Unentschieden seiner Mannschaft- gegen den Hamburger SV kann der Trainer seinen Kopf noch einmal knapp aus der sprichwörtlichen Schlinge ziehen. Keine Rettung, eher eine Verschnaufpause. „Alles paletti“? Bis auf Weiteres.