Béla Réthy: Zum Schluss ein paar kleine Lektionen

Fußballreprter Béla Réthy im April 2018 bei einer Pressekonferenz. (Wikimedia Commons, © Olaf Kosinsky / http://www.kosinsky.eu / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Staatsaffäre höchsten Ranges: Ein deutscher Fernseh-Fußball-Reporter hört auf. Nach Jahrzehnten. Im ZDF. Béla Réthy. Ach, du meine Güte!

Im WM-Halbfinale Frankreich – Marokko (2:0) hat er seine letzte Messe gelesen. Gottlob gemeinsam mit dem vor nicht allzu langer Zeit emeritierten Ex-Fußballstürmer Sandro Wagner. Der kennt sich nämlich verdammt gut aus und weiß es auch zu kommunizieren. Herrlich, wie dieser Jungspund dem Beinahe-Rentner Béla Réthy auf dessen alte Tage noch ein paar kleine Lektionen erteilt hat, die dieser viel früher hätte gebrauchen können.

Vielleicht wäre Réthy einem ungleich sympathischer gewesen, wenn er einen anderen Job ausgeübt hätte. Synchronsprecher beispielsweise. Mit dieser Kettenraucher-Reibeisen-Stimme. Es hat nicht sollen sein (auch so ein üblicher Reporter-Spruch).

Wie zu lesen war, bekannte sich Béla Réthy bis zum Schluss zur „präsenten Prosa“, sprich: Er wollte spontan reden und mochte sich angeblich nicht groß vorbereiten – anders als der weitaus jüngere, furchtbar eingebildete WC Fuss, der sich auch in den sozialen Netzwerken umtut, bevor er kommentiert. Ungefähr so: „Spieler XY stellt seinen Kumpanen bei Instagram Buchstabenrätsel, schauen Sie mal rein. Es ist lustig.“

Nun ja, Béla Réthy hat sich ebenfalls vorbereitet. Aber eben nach Art seiner Generation. Eher so mit Karteikarten. Old school also. Unvergessen, wie er einst am Mikro das Aussehen eines Spielers mit einer Klobürste verglichen hat. Jetzt bedauert er derlei verbale Eskapaden.

Gerade heute, wo er Spielernamen hätte verwechseln dürfen, hat er es (offenbar) nicht so getan wie sonst. Schön aber, wie er in Katar über die Marokkaner gesagt hat: „Sie sind vielfach hier in Europa geboren.“ Is‘ klar, Béla. Schwamm drüber.

Unvergessliche Brüllwitz-Dialoge auch heute:

Réthy: „Sie (die Franzosen) sind ja auch Weltmeister…“
Wagner: „Du doch auch, oder?“
Réthy: „Noch nicht.“

Vielleicht ja jetzt. Parallel zur Rente. Wie alle, die das Berufsleben weitgehend hinter sich haben. Lauter Weltmeister.

Beide tippten übrigens auf Frankreich als neuerlichen Titelkandidaten. Messi hin, Messi her. Wir werden sehen.

Geradezu rührend Réthys Altersmilde: „Wir verteilen hier keine gelben Karten.“ Stimmt auffallend. Dafür sind tatsächlich andere Leute zuständig.

Schließlich dann doch noch der Köpper ins Klischee. Da die arabische Welt massiv beteiligt war, musste noch der Kracher von „1001 Nacht“ rausgehauen werden. Ehrensache. In diesen Kreisen. Neulich hat noch ein erbarmungswürdiger Kollege zu den Argentiniern „Dann Gute Nacht, Gauchos“ gesagt. Wie einst Heribert Faßbender. Aber 2022. Ich glaube, es war einer von „Magenta TV“ („Mehr WM geht nicht.“). Da sehnt man sich im Voraus fast schon nach Béla Réthy zurück.

Und was ist jetzt mit hundsgemeinen Facebook-Gruppen wie „Béla Réthy gefällt mir nicht“? Nun, irgendwen werden sie schon als Nachfolger(in) finden.

Nicht, dass uns am Ende doch noch seine Stimmlage fehlen wird…




Streckenbilanz, Realformation, Torwahrscheinlichkeit – ein paar Mitteilungen über den Fernseh-Fußball der Jetztzeit

Irgendwo da draußen im Lande: ein Fußballtor im Grünen. (Foto: Bernd Berke)

Wie oft hat man sich schon über Fußballkommentatoren aufregen müssen. Man ist ja schließlich kundig und objektiv – die professionellen Schwätzer*innen hingegen…

Wünschte man sich nicht manchmal, es säßen oder stünden Roboter am Mikro, desgleichen vor den Kameras? Doch nein. So unterkühlt hätte man’s auch nicht gern. Aber nochmals halt! Wahrscheinlich ist es längst kein Problem mehr, etwaigen Kommentar-Robotern gezielt und dosiert Emotionen beizubringen, in Mischungen nach Wunsch.

Die Künstliche Intelligenz, das hat sich schon vielfach gezeigt, beherrscht die nicht allzu ausufernde Fachsprache des Fußballsports recht schnell und perfekt. Vom korrekten Registrieren der Ergebnisse ganz zu schweigen. Ja, inzwischen ist die Entwicklung so weit, dass auch schon beachtliche Feuilleton-Texte generiert werden können. Wahrscheinlich muss man vorher nur oft genug Worte wie opak, verstörend oder Narrativ hochladen, dann wird das schon.

Doch zurück zum Fußball. Schon seit Jahren werden Fernsehübertragungen immer mehr mit Statistiken vollgepfropft, bis hinab zur Ebene des einzelnen Spielers, der z. B. am 5. November vor genau vier Jahren sein letztes Fallrückzieher-Tor erzielt oder ein elfmeterreifes, aber ungeahndetes Foul begangen habe, woraufhin… Regelrechte Absurditäten werden in den Datenbanken festgehalten – und nimmermehr gelöscht. Jetzt schleppen sie das ganze Zeug mit sich rum. Allerlei Transfergerüchte werden gelegentlich hechelnd mitgeliefert.

Ungewissheit sorgt für Gesprächsstoff

Vor allem aber ist die TV-Berichterstattung über Fußball immer mehr mit scheinbar fehlerlosen Kontroll-Techniken unterfüttert worden. Ausgeklügelte Torlinienberechnungen wären zu nennen, mit deren Hilfe es anno 1966 nie zum legendären „Tor von Wembley“ gekommen wäre. Nicht auszudenken. Generationen von Männern hätten des Gesprächsstoffs ermangelt und betrübt in ihr Bier geblickt, wenn nicht still ins Glas geweint. Dieses flaue Gefühl sorgt auch dafür, dass Videoassistenten (VAR) die wohl ungeliebtesten Protagonisten im Umfeld des Sports sind. Sie haben einem schon so manches Tor verhagelt, das man bereits bejubelt hatte. Zuweilen haben sie’s erst nach Minuten des Hoffens und Bangens versaubeutelt.

Die Messung der Schussgeschwindigkeit (wie schnell ist der Ball geflogen?) ist ein vergleichsweise alter Hut. Etwas neueren Datum sind Streckenberechnungen: Wie viele Kilometer hat ein bestimmter Spieler oder ein ganzes Team auf dem Rasen zurückgelegt? Waren es bei einem Kicker nur 8 und nicht 10 Kilometer in rund 90 Minuten, so ist der heimische Sesselhocker geneigt, ihn als „Stehgeiger“ zu bezeichnen. Etwas Respekt nötigt ihm zwischen zwei Pils höchstens die gleichfalls verzeichnete Sprint-Höchstgeschwindigkeit beim Match ab, die auch schon mal mehr als 34 km/h beträgt. Da ist man doch zum Kühlschrank eher etwas langsamer unterwegs. Ansonsten gleicht man als Zuschauer jenen Spielern, die sich in letzter Zeit bei gegnerischen Freistößen öfter mal hinter die eigene „Mauer“ auf den Rasen legen, damit bodennah „nichts durchkommt“.

Relativ neu ist die Visualisierung der sogenannten Realformation, die nichts mit Real Madrid zu tun hat. Nein, hierbei geht’s darum, wo die einzelnen (schematisch durch ihre Rückennummern repräsentierten) Spieler sich „im Durchschnitt“ der bisherigen Spielzeit aufgehalten bzw. bewegt haben, nämlich fast niemals lupenrein in taktischen Aufstellungsrastern wie 4 – 2 – 4, 3 – 4 – 2 – 1 oder dergleichen. Und siehe da: Eine Elf, die das Spiel überlegen gestaltet, steht insgesamt weiter vorn, die gegnerische hingegen näher am eigenen Tor. Wer hätte das früher gedacht, als es diese stupide, Verzeihung: stupende Zahlenverschiebung noch nicht gegeben hat? Wie haben wir Fußball überhaupt verstehen und genießen können – ohne solche Informationen? Damals hat man einfach darüber geredet, heute heißt das „Analyse“.

Nun hört man ihre Zurufe beim Spiel

Manche TV-Sprecher scheinen in einem Punkt geradezu dankbar für „Geisterspiele“ in Corona-Zeiten zu sein. Seither hören sie nämlich, was Trainer und Spieler während der Partien rufen. Daraus hat sich quasi schon ein eigenes Genre der zusätzlichen Spieldeutung ergeben. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ hat vor einigen Wochen gar mehrere Seiten freigeräumt, um die zahllosen Zurufe während eines ganzen Spiels (Bayern München – Borussia Dortmund) wortwörtlich wiederzugeben. Das machen sie sonst allenfalls für Essays vom Kaliber Jürgen Habermas.

Und noch eine Novität: Neuerdings wird nach Toren eingeblendet, mit wieviel Prozent Wahrscheinlichkeit dieser Treffer gefallen sei. Damit wir uns richtig verstehen: Er ist hundertprozentig gefallen, aber ist es in genau dieser oder datenbankmäßig vergleichbarer Situation wahrscheinlich gewesen – und falls ja, w i e wahrscheinlich? Zu 13 oder zu 43 Prozent? Auf so einen Humbug muss man erst einmal kommen. Nun warten wir noch auf die einsteinsche Rechenformel zu den „Unhaltbaren“, die ein richtig guter Torhüter dann und wann denn doch hält.

Aber im Grunde sehnt  man sich nach echt abgeklärten Typen wie dem BVB-Altvorderen Adi Preißler zurück, der die ewige Weisheit geprägt hat: „Grau ist alle Theorie – entscheidend ist auf’m Platz.“




Jetzt geht es um den ganzen Lebensstil

Wenig originelles Bild zu den „dunklen Wolken, die da heraufziehen“, aber ich hab‘ in eigenen Beständen auf die Schnelle nichts Besseres gefunden. (Foto: BB)

So. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es nicht mehr um einzelne bzw. kollektive Absagen geht – sei’s auf kulturellem oder sportlichem Felde. Was soll’s denn, ob die Bundesliga-Saison nun unterbrochen oder ganz abgebrochen wird?

Es geht inzwischen um unseren ganzen Lebensstil, ja überhaupt ums Ganze. Wenn Bundeskanzlerin Merkel rät, die sozialen Kontakte auf nötigste Mindestmaß zu begrenzen, ist denn doch – bei aller scheinbaren äußeren Gelassenheit – eine ziemliche Anspannung spürbar.

Wir dachten schon, ein neues (Bionade)-Biedermeier habe sich in gewissen urbanen Vierteln längst etabliert, dabei steht erst jetzt der allgemeine Rückzug in die Stuben an. Gartenlaube revisited?

Endlich, endlich schließt auch NRW die Schulen und Kitas

Du meine Güte! Wie relativ lang hat Deutschland, hat speziell Nordrhein-Westfalen gebraucht, um sich zu Schul- und Kita-Schließungen ab kommenden Montag durchzuringen – und das im Fall von NRW als Bundesland mit den weitaus meisten Corona-Infektionen. Hätte man in diesem Sinne nicht spätestens heute gehandelt, hätte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet wohl seine Ambitionen auf CDU-Vorsitz und nachfolgende Kanzlerkandidatur gleich aufgeben können. Vielen Beobachtern galt und gilt er als „Zauderer“. Gerade hierbei hätte sich das nicht bestätigen dürfen.

Eine solche Lage hat es seit Kriegsende nicht gegeben. Frankreichs Präsident Macron zieht den historischen Bogen noch weiter und spricht von der größten medizinischen Krise seit 100 Jahren. Gemeint ist die jetzt wieder oft herbeizitierte „Spanische Grippe“, die um 1918/19 weltweit unfassbare 50 Millionen Todesopfer gefordert hat und damit, was die bloßen Zahlen anbelangt, noch verheerender gewirkt hat als die Weltkriege.

Schwindet die frohe Weltzugewandtheit?

Gerade um die italienische Lebensart (Italianità) machen sich italophile Journalisten und andere, dem Süden herzlich zugeneigte Menschen neuerdings erhebliche Sorgen. „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Nein, man erkennt es nicht mehr wieder. Stirbt hier auch schrittweise die Lebensfreude, schwindet nach und nach die frohe Weltzugewandtheit? Geht nun ausgerechnet Italien den Weg in die innere Einkehr? Oder wird all die Freude wiederkehren?

Und überhaupt: der Westen. Was wird aus der üblichen Event-Kultur, was ist mit der landläufigen Erlebnisgier, mit dem gewöhnlichen Hedonismus? Gab’s da nicht mal jenes Buch mit dem Titel „Wir amüsieren uns zu Tode?“ Lang ist’s her. Treibt es uns nun noch mehr in die vereinzelnde Digitalisierung? Oder wirkt sich die Krise gar als gesellschaftlicher Kitt aus, als Anstoß zum Zusammenhalt? Man möchte es hoffen, doch da bleiben auch große Zweifel. Wo so viele Leute ohne Sinn und Verstand Toilettenpapier horten oder sogar aus Kliniken Desinfektionsmittel klauen (in der Phantasie male ich mir passende Strafen dafür aus), ist Solidarität offenbar kein weithin praktiziertes Allgemeingut.

Drastische Maßnahmen und Galgenhumor

Trotz der (verspäteten?) Schulschließungen geht’s bei uns noch vergleichsweise moderat zu. Die Schweiz verbietet Veranstaltungen mit über 100 (nicht: über 1000) Teilnehmern, in Belgien werden auch die Restaurants geschlossen, in Österreich bleiben Geschäfte jenseits des Lebensbedarfs dicht, die Restaurants schließen um 15 Uhr; Polen und Dänemark riegeln ihre Grenzen ab. Als deutscher Staatsbürger darf man ohnehin längst nicht mehr in alle Länder des Erdballs reisen. Viele weitere drastische Beispiele ließen sich nennen. Und wer weiß, wer am Ende wirksamer gehandelt hat.

Auch Galgenhumor macht sich breit, wie eigentlich immer, wenn’s ungemütlich (oder schlimmer) wird: Just heute twittern Tausende zum Hashtag-Thema #CoronaSchlager, will heißen: Man dichtet bekannte Schlagertexte der letzten Jahrzehnte aufs Virus und seine Folgen um. Wenn’s denn der Entspannung dient und nicht ganz und gar zynisch wird…

Die Professoren Drosten und Wieler haben das Sagen

Die beinahe täglich live übertragenen Presskonferenzen von der Corona-Front lassen allmählich den Eindruck aufkommen, die Professoren Christian Drosten (Charité) und Lothar Wieler (Robert-Koch-Institut) seien inzwischen die eigentlich Regierenden im Lande. Sie haben buchstäblich das Sagen. Jedenfalls können die politisch Verantwortlichen in dieser Situation schwerlich ohne solche Fachleute auskommen. Prof. Alexander Kekulé (Uniklinik Halle) wäre demnach mit seinen deutlich abweichenden Meinungen so etwas wie die Opposition. Schon recht früh hat er gefordert, was jetzt geschehen ist: „Coronaferien“ in den Schulen und Absage größerer Zusammenkünfte.

Um nur nicht missverstanden zu werden: So weit man es als Laie und Medienkonsument beurteilen kann, machen Drosten und Wieler (mit ihren Teams) einen großartigen Job, sie bleiben angenehm nüchtern und sachlich, wobei man dennoch die Dringlichkeit ihrer Anliegen nicht verkennen kann. Das gilt übrigens auch für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der selbst nicht die medizinische Expertise haben kann, es aber offensichtlich versteht, fähige Leute als Berater heranzuziehen.

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P. S. zum Fußball: Ohne Zuschauer im Stadion macht die Kickerei eh keinen Spaß mehr, Sky & Co. haben mit den „Geisterspielen“ sozusagen leblose Materie übertragen. Meinetwegen soll die Liga jetzt mit der Saison aufhören, die Bayern halt zum Meister erklären (das sage ich als Dortmunder) oder – besser noch – diese Spielzeit ganz ohne Titel beenden, die jetzigen Tabellenplätze nur für einen künftigen europäischen Wettbewerb zählen lassen etc. Auf- und Abstieg ließen sich auch regeln, indem z. B. die 1. Liga aufgestockt würde, also niemand ohne Spielentscheidung absteigen müsste. Das alles wird sich finden und ist ganz und gar nicht lebenswichtig.

Ganz abgesehen davon ist es vielleicht ein soziales Experiment: Wirkt sich das Fehlen des Vereinsfußballs gesellschaftlich aggressionshemmend oder aggressionssteigernd aus? Anders gewendet: Befördert oder kanalisiert der Fußball die Gewaltsamkeit?




Gespenstische Premiere: Revierderby ohne Zuschauer

Massenhaft so dicht beieinander? Muss ja nicht sein. Höchstens in der Ikea-Stofftierabteilung, wo die Aufnahme entstanden ist. (Foto: BB)

Nachträgliche Anmerkung, nur der Form halber: Das Spiel ist inzwischen bekanntlich ganz abgesagt worden – ebenso wie der gesamte Bundesliga-Spieltag und wie vielleicht noch der Rest der Saison…

Seit C. (ihr wisst schon) ist kaum noch etwas, wie es vorher war, auch nicht auf sportlichem Sektor. Gerade ein „Revierderby“ zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 war bislang ohne Zuschauer, ohne mehr oder weniger fanatische Fans schier undenkbar. Am Samstag (15:30 Uhr) wird dieses gespenstische Ereignis Premiere haben.

(Erst) heute ist die Entscheidung gefallen. Sie ist natürlich hundertprozentig richtig. Die Gesundheit geht vor – und sei das Ansteckungsrisiko im Westfalenstadion* auch (vermeintlich) „überschaubar“. Wer will das schon mit Gewissheit sagen wollen?

Und was ist mit den Kneipentreffs?

Freilich haben Fans u. a. auf Twitter bereits darauf hingewiesen, dass sich das Publikum dann eben nicht unter freiem Himmel im Stadion, sondern zu gewissen Anteilen in Kneipen versammeln wird, also dicht gedrängt in geschlossenen Räumen, wo man sich womöglich noch leichter infizieren kann. Überdies dürften sich Umarmungsverbote im Falle eines Tores drinnen wie draußen schwerlich durchsetzen lassen. Auch den Mannschaften wird man etwaigen Torjubel nicht untersagen können.

Fest steht allerdings auch, dass sich Übertragungswege nach einem Kneipenbesuch immerhin etwas leichter rekonstruieren ließen, als nach einem Besuch im größten Stadion Deutschlands mit seinen über 81.000 Zuschauerplätzen und der größten Stehplatztribüne von ganz Europa, wo schon gar nicht auszumachen ist, wer genau wo gestanden hat.

Entlastung für Polizei und Verkehrswesen

Ob Parkplätze oder öffentlicher Nahverkehr – nichts wird so strapaziert werden, wie es bei früheren Derbys üblich war. Auch wird die Polizei vermutlich weitaus weniger zu tun haben als sonst, wenn BVB und S04 aufeinandertreffen. Obwohl: Man weiß ja nie, was sich Ultras und sonstige Anhänger beider Seiten so einfallen lassen. Nicht ausgeschlossen, dass sich manches Geschehen nur verlagert – vielleicht gar in den Umkreis des Stadions? Es wäre wahnwitzig.

Die Anordnung zum „Geisterspiel“ dürfte jedenfalls streng gehandhabt werden. Wie man hört, werden längst nicht alle interessierten, sondern nur ein paar handverlesene Sportjournalisten zugelassen. Eine Fernsehübertragung wird es höchstwahrscheinlich nur gegen Bezahlung geben, also beim Pay-TV-Kanal Sky. Es mag zwar sein, dass dies dem Sender ein paar Abonnenten zusätzlich beschert. Fraglich ist jedoch, ob Sky beim zu erwartenden Massenansturm auf die Server eine nahtlose und pannenfreie Übertragung gewährleisten kann. Bisherige Erfahrungen lassen daran zweifeln.

Der Meinungs-Schwenk des Oberbürgermeisters

Zweifeln kann man auch am Orientierungssinn des Dortmunder Oberbürgermeisters Ullrich Sierau (SPD). Noch vor wenigen Tagen, als in Essen bereits erste Veranstaltungen abgesagt wurden, hat er witzelnd angemerkt: „Wenn man in Essen keinen Spaß mehr haben kann, kann man nach Dortmund kommen.“ Heute klang er absolut anders, allerdings wieder nicht nach Maß und Ziel. Maßnahmen wie das Revierderby als „Geisterspiel“, so Sierau diesmal, seien eine Frage von „Leben und Tod“. Ja, er wurde noch drastischer: „Das hier ist kein Spaß (…) Es geht hier darum, dass ihr das nächste Spielüberhaupt noch erlebt.“

Selbstverständlich ist das Revierderby längst nicht das einzige Spiel, das dieser Tage ohne Publikum stattfindet oder gleich ganz abgesagt wird. Alle Spiele in Nordrhein-Westfalen sind von der Regelung betroffen, auch in den unteren Spielklassen. Andere Bundesländer werden wohl folgen, wenn die Verantwortlichen bei Trost sind. Übrigens hat die Deutsche Eishockeyliga ihre Saison komplett abgebrochen, ohne dass ein Meister ermittelt worden wäre.

Unbeweisbare Vor- und Nachteile

Der Vollständigkeit halber sei noch eine andere, vergleichsweise nichtige Frage angerissen, nämlich die, ob ein „Geisterspiel“ sich vor- oder nachteilig für bestimmte Mannschaften auswirkt. Gewiss: Beim Revierderby (und bei der Begegnung mit Bayern München am 4. April) tritt der BVB zwar in Dortmund, aber quasi nicht wie sonst als Heimmannschaft an, zumindest fehlt das eigene Publikum als Faktor. Dafür „profitiert“ man am morgigen Mittwoch beim Auswärtsspiel in der Champions League vielleicht davon, dass keine Fans von Paris St. Germain zugegen sein werden. Doch das ist im Grunde herzlich nebensächlich. Messen und beweisen kann man es eh nicht.

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* vulgo: Signal-Iduna-Park

Das allzeit lesenswerte Fußball-Magazin „Elf Freunde“ hat jetzt aus gegebenem Anlass die Geschichte der „Geisterspiele“ nachgezeichnet.




Vom religiösen Kult zum Massensport – über die Anfänge des Fußballspiels

Abgelegenes Fußballfeld in einem Dortmunder Vorort. (Foto: Bernd Berke)

Torgestänge mit Patina: abgelegenes Fußballfeld am Rande von Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Aus gegebenem Anlass zum Auftakt der Frauen-WM an diesem Wochenende: Gastautor Heinrich Peuckmann mit einem Beitrag zur Vorgeschichte des heutigen Fußballs.

Wie ist eigentlich der Fußballsport entstanden, jenes Spiel, das rund um den Erdball alle Menschen fasziniert – egal, in welchen Kulturen sie leben? Über welche Zwischenschritte hat er sich entwickelt zu jenem Spiel mit ausgeklügelten Taktiken, das  heute die Massen rund um den Globus fasziniert?

Wie so oft bei großen Entwicklungen der Menschheit liegen die Ursprünge im Kult, also in der Religion. Im 2. Jahrtausend vor Chr. gab es ihn schon in China. Tsu Chu hieß er und diente zuerst vermutlich der körperlichen Ertüchtigung der Soldaten, bevor er vom Volk übernommen wurde, wodurch sich sein Zweck Gott sei Dank änderte.

Die sanfte Variante, made in China

Ziel wurde nun die perfekte Beherrschung des Balles durch den einzelnen Spieler, der den Ball hoch halten, ihn mal mit dem einen, mal mit dem anderen Bein spielen sollte. Wertevorstellungen für ein harmonisches Zusammenleben wurden durch ihn vermittelt. Rudi Gutendorf, Weltenbummler in Sachen Fußball und zwischendurch natürlich auch Trainer in China, hat dieses ursprüngliche Ziel mehr als 3000 Jahre später leidvoll erfahren. Den Chinesen fehle der Biss, sie hätten keinen Drang zum Tor, hat er resignierend geurteilt. Es war eben Tsu Chu, die sanfte, unaggressive Variante, die er gesehen hatte, nicht Bundesliga-Fußball.

In Japan ist der Bezug zur Religion bis heute erkennbar, denn dort ist Fußball Teil des Shinto-Kultes. Kemari heißt er und wird im Tempelbezirk von Männern in ritueller Kleidung durchgeführt. Den geweihten Ball zum Spiel bringt der Priester. Auch die Mayas und Azteken kannten den Fußballsport, wo es galt, den Ball durch einen Steinring an einer Mauer zu treten.

Im antiken Griechenland finden wir Abbildungen von Fußballspielern auf Vasen und Tellern. Bei den Spartanern diente Fußball wieder zur körperlichen Ertüchtigung der Jungen, weil die Spartaner eben Wert auf kriegerische Stärke legten und nicht auf Kultur. Weshalb, als Folge dieser Ausrichtung, von ihnen wenig erhalten ist, so dass wir heute, wenn wir nach Griechenland fahren, Athen besichtigen und nicht Sparta. Irgendwie ist die Welt halt doch gerecht.

Den Ball bis ins eigene Dorf vorantreiben

Im nördlichen Europa waren seine Anfänge wirr. Beim Volksfußball in England ging es anfangs darum, den Ball ins eigene Dorf zu schießen, auf den Markplatz, durchs Stadttor oder gegen den Kirchturm. An manchen Orten soll es sogar Ziel gewesen sein, den Ball auf den Friedhof zu schießen. Tobende Jungen in wildem Durcheinander muss man sich vorstellen. Auch Shakespeare erwähnt in einem seinem Stücke dieses wilde Spiel, verständlicherweise mit abfälligem Tonfall.

Erst später wurde der heutige Kampfsport mit zwei gegeneinander spielenden Mannschaften daraus. Ziel wurde nun das Tor des Gegners, in das es fortan zu treffen galt. Die Anzahl der Spieler schwankte lange.

Häufig gab es dabei Ärger mit der Polizei, denn Zeit zum Spielen hatten die ersten Fußballer nur sonntags. Und da, fanden die Puritaner, sollte Gott verehrt werden, nicht ein Lederball oder eine Schweinsblase. Bestraft wurden aber oft nur die Zuschauer, die sich zum Spiel eingefunden hatten, die Fußballer selbst konnten der Polizei entwischen. Schnelligkeit und Kondition spielten schon damals eine Rolle.

Verheiratete gegen unverheiratete Frauen

In einem englischen Dorf war es sogar Brauch, dass einmal im Jahr die verheirateten Frauen gegen die unverheirateten antraten. Wobei, wie die Chroniken verraten, meistens die verheirateten gewannen. Sie hatten in der Ehe vermutlich gelernt, wie man sich durchsetzt. Das waren, wenn man so will, die Anfänge des Frauenfußballs. Sind die deutschen Spielerinnen bei der diesjährigen Fußball-WM eigentlich verheiratet? Wer weiß, welchen Vorteil man andernfalls verschenkt.

Die heutigen Regeln mit Abseits, Spielerzahl usw. wurden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts festgelegt, in England, wo der moderne Fußball seinen Anfang nahm. Ein Prozess von mehr als 3000 Jahren lag da hinter ihm. Von da an dauerte es nicht einmal mehr hundert Jahre, bis er seinen Siegeszug um die Welt vollendet hatte.




Warum ausgerechnet elf? Eine Fußball-Frage, die wohl niemand eindeutig beantworten kann

Oft genug passend: Inschrift auf einem Dortmunder Grabstein (Ostfriedhof). (Foto: Bernd Berke)

Oft genug passend – auch in diesem Falle: Inschrift auf einer Dortmunder Grabstätte (Ostfriedhof). (Foto: Bernd Berke)

Gastautor Heinrich Peuckmann über eine Grundsatzfrage des Fußballs:

Immer dieselben Fragen. Wer wird Meister, wer steigt ab? Schafft es die Borussia dieses Jahr oder siegen wieder die Bayern? Nur die alles entscheidende Frage stellt wieder keiner. Warum elf? Es könnten doch auch zehn sein, die in einer Fußballmannschaft spielen. Oder zwölf. Aber nein, es sind elf.

Ich sitze im Stadion, höre die Mannschaftsaufstellungen und frage mich: Warum werden nicht mehr, warum nicht weniger Namen aufgerufen?

Frage ich meinen Nachbarn nach dem Grund, gibt es jedes Mal ungläubiges Staunen. Was ist das den für einer? Was will der denn hier im Stadion?

Dabei sind Zahlen niemals zufällig, sie haben immer eine Bedeutung. Sieben zum Beispiel ist eine heilige Zahl. In sieben, nicht in acht Tagen ließen die Verfasser der Bibel Gott die Welt erschaffen. Sieben, nach der Anzahl der damals bekannten Sterne. Vielleicht aber auch, weil sie sich aus drei und vier zusammensetzt. Drei für die kleinste Form der Familie (Vater, Mutter, Kind), vier für die Elemente, in denen das Leben stattfindet (Feuer, Wasser, Wind und Erde).

Heilige 7, Fülle der 12

Zwölf ist die Zahl der Fülle. In zwölf Neumonden hat sich der Zyklus des Jahres mit säen, wachsen, ernten und ruhen erfüllt. Aus zwölf Stämmen bestand das Volk Israel. Als Jesus zwölf Jünger um sich versammelte, berief er symbolisch das gesamte Volk.

40 beschreibt die Dauer des verantwortlichen Lebens. Nach 40 Jahren Wüstenwanderung lebte keiner mehr von den Sündern mit dem „Goldenen Kalb“.

Ich starte eine Umfrage, aber Freunde, Fußballer wie Sportjournalisten, wissen keine Antwort. „Stimmt, darüber habe ich noch nie nachgedacht.“

Militärische Ursprünge?

Ein Ergebnis zeitigt die Privatumfrage aber doch. Im militärischen Bereich, besonders bei der Ausbildung, gibt es die Gruppe, die aus elf Leuten besteht. Aus 10 Mitgliedern und dem Anführer. Irgendwie hat sich diese Einheit in einer Männergesellschaft als ideal herausgemendelt. Sie ist so groß, dass sich Streithähne aus dem Weg gehen können und gleichzeitig so klein, dass sich ein Mannschaftsgefühl entwickeln kann. Eine Erfahrung, die auch die Fußball-Regelkundler gekannt haben könnten.

Ein Blick in ihr Regelwerk hilft übrigens nicht weiter. Dort steht nur, wann die die Zahl elf festgelegt wurde. Am 14. Juni 1897 war es, als Mitglieder eines internationalen Fußballgremiums bestimmten, dass in jeder Mannschaft elf Spieler kicken sollten.  Zum Warum sagen sie nichts, genau wie alle anderen Fußballbücher. Bis ich dann doch auf einen „Bruder im Geiste“ treffe. Werner Pieper heißt er und hat ein herrlich faktenreiches und gleichzeitig komisches Buch über Fußball geschrieben: „Der Ball gehört uns allen.“

Symbolik und Mystik der Zahlen

Pieper hat herausgefunden, dass schon lange vor 1897, nämlich 1863 Vertreter von elf (!) Londoner Fußballvereinen erste Regeln festgelegt haben. Sie waren, nicht untypisch für England, überwiegend Freimaurer, die Zahlensymbolik geradezu lieben. Also befragte er Zahlenmystiker, die mehrer Theorien entwickelten.

11 besteht aus 1+1, die niemals 2 werden können, sich also niemals vereinigen, sondern immer einander gegenüberstehen.

Im 19. Jahrhundert war Fußball reiner Männersport, was Parallelen zu den Ritterorden möglich macht. Bei den orientalischen Tempelrittern zum Beispiel war der höchste Grad der Einweihung in den Orden der elfte, der der Novizen einführte in das letzte Geheimnis der Männlichkeit.

Angriff und runde Form

In der hebräischen Kabbala, Freimaurern sicher geläufig, gibt es auffällige Begriffe, die in der Numerologie den Wert elf haben: „attackieren“ etwa, aber auch „runde Form“, „runde Bewegung“.

Nicht zuletzt gibt es beim Tarotspiel 22 (!) Trumpfkarten. Die Zahl elf wird dabei gleichgesetzt mit dem 11. Geheimnis, das „Kraft“ oder „Stärke“, manchmal auch „Lust“ bedeutet.

Die Recherche belegt: Die Zahl elf hat ihre Bedeutungen, auch sie ist nicht zufällig. Trotzdem bleibt ein unbefriedigendes Gefühl. Ein endgültiger Beweis fehlt. Ein Spiel erobert die Welt, fasziniert alle Kulturen, aber niemand fragt nach dem Sinn seiner wichtigsten Grundregel. Alle bleiben bei der Frage stehen, wer wo spielen soll und wer am Ende Meister wird.

 




Was der Dortmunder Bildhauer Benno Elkan mit Tottenham Hotspur und dem FC Bayern München zu tun hat

Der Dortmunder Künstler Benno Elkan in seinem Londoner Exil-Atelier, im HIntergrund die Menora (monumentaler Siebenarmiger Leuchter), an der er damals arbeitete. (Foto: Tamar Hayardeni / Wikimedia Commons)

Der Dortmunder Künstler Benno Elkan (1877-1960) in seinem Londoner Exil-Atelier, hinten die Menora (monumentaler Siebenarmiger Leuchter), an der er damals arbeitete. Foto: Tamar Hayardeni / Wikimedia Commons / Link zur Lizenz: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Benno_Elkan.jpg

Querbezüge gibt’s, die gibt’s eigentlich gar nicht! So vermeldet jetzt die Dortmunder Auslandsgesellschaft  e. V. erstaunliche Dinge, die von hier aus nach München und London führen. Wir bedienen uns freihändig aus einigen Fakten der Pressemitteilung und erlauben uns diese oder jene Ergänzung bzw. Ausschmückung.

Der Reihe nach. Es geht um den Dortmunder Bildhauer Benno Elkan, dessen frühe Werke („Die Wandelnde“, „Persephone“) u. a. auf dem hiesigen Ostfriedhof zu sehen sind. Elkan war freilich nicht nur Künstler, sondern auch eine Pioniergestalt des Fußballsports. Und jetzt haltet Euch fest: Er hat eine viel beachtete Version des Kampfhahns entworfen, welcher schon seit 1901 das Wappentier des Londoner Vereins Tottenham Hotspur ist. Ob Zufall oder Fügung: Just bei den „Heißspornen“ muss morgen (Mittwoch, 13. Februar, 21 Uhr) der BVB in der Champions League antreten.

Ein silberner Kampfhahn im Auftrag der Rivalen

Der „Fighting Cockerel“ wurde, wie die Auslandsgesellschaft weiter wissen lässt, 1949/50 von Elkan im Londoner Exil geschaffen. Leider ist das aus Silber geformte Original verschollen. Weitaus mehr als eine Kuriosität: Elkan hat den Hahn im Auftrag von Arsenal London entworfen, doch dieser Verein verschenkte ihn 1950 an die „Spurs“ – als Zeichen des Dankes, weil Arsenal im Krieg (ab 1941) zeitweise Trainingsgelände und Stadion von Tottenham nutzen durfte. Die Anlagen von Arsenal hatte die deutsche Luftwaffe zerstört. Die beiden ansonsten heftig rivalisierenden Clubs aus dem Londoner Norden hielten in dieser Situation zusammen. Wenn man so will: Der Kampfhahn ist somit nicht nur aggressiv, sondern reicht, wenn es sein muss, auch die Krallen zur Versöhnung.

Knapper Rückblick: Die Familie Elkan war jüdischen Glaubens und zog in den 1870er Jahren nach Dortmund, genauer: in die Brückstraße; noch genauer: dorthin, wo heute das Orchesterzentrum NRW seinen Sitz hat. Der 1877 geborene Benno Elkan wurde in der NS-Zeit mit Berufsverbot belegt und ging 1934 ins Exil nach London. Dort schuf er in den 1950er Jahren auch jenen fast fünf Meter hohen, siebenarmigen Leuchter (Menora), der seit 1958 vor dem israelischen Parlament, der Knesset, in Jerusalem steht.

Präsentieren eine freie Nachschöpfung des Tottenham-Kampfhahns (v. li.): Gerd Kolbe (Historischer Verein, einer der besten Fußballexperten Dortmunds), KlausWegener (Präsident der Auslandsgesellschaft), Elke Strauch (Künstlerin aus Holzwickede), Jonas Becker (Verwaltungsdirektor des Orchesterzentrums NRW). (Foto:Milica Kostić / Auslandsgesellschaft)

Präsentieren die freie Nachschöpfung des Tottenham-Kampfhahns (v. li.): Gerd Kolbe (Historischer Verein, Fußballexperte), Klaus Wegener (Präsident der Auslandsgesellschaft), Elke Strauch (Künstlerin aus Holzwickede). Im Hintergrund Jonas Becker (Verwaltungsdirektor des Orchesterzentrums NRW). (Foto:Milica Kostić / Auslandsgesellschaft)

Anstöße am Genfer See

In einem Internat am Genfer See hatte Benno Elkan von englischen Mitschülern 1893/94 das Fußballspiel gelernt. Erste Folge: 1895 gründete er mit Freunden den ersten Dortmunder Fußballverein, den DFC 1895 (heute TSC Eintracht). Zweite, noch wesentlich bedeutsamere Folge: Als er an der Münchner Kunstakademie studierte, gehörte er am 27. Februar 1900 zu den Gründern des – FC Bayern München. Staunenswert, nicht wahr?

Und so zählt eine von der Künstlerin Elke Strauch (Holzwickede) angefertigte, freie Nachbildung des besagten Kampfhahns auch zu den Exponaten einer Ausstellung in der Münchner Allianz-Arena (27. Februar 2019 bis 31. Januar 2020): „Zwischen Atelier und Fußballplatz – Die Gründer des FC Bayern“ heißt die Zusammenstellung.

Mal wieder ein Zeichen dafür, dass Kicken und Künste durchaus ihre Berührungspunkte haben. Immer mal wieder. Und für diese Erkenntnis sehen wir zwischendurch auch mal ein bisschen von der Rivalität mit den Bayern ab. Sie sind ja quasi (*räusper, räusper*) auch ein Dortmunder Gewächs.




„Gefährliches Spiel“ – Heinrich Peuckmanns wahre Geschichten über Fußball mit schrecklichen Folgen

Ein Fußballspiel auf dem Roten Platz in Moskau? Es klingt wie eine skurrile PR-Idee für die bevorstehende WM in Russland. In Wahrheit traten dort wirklich einmal zwei Mannschaften gegeneinander an – mit brutalen Folgen.

Es kämpften damals, 1936, Dynamo Moskau und Spartak Moskau um den Sieg. Diktator Stalin sollte mal ein Fußballspiel zu sehen bekommen, deshalb ein Ort in unmittelbarer Nähe zum Kreml. Dass vier Spieler, die bekannten Brüder Starostin, wegen des Erfolgs von Spartak Jahre später in einen Gulag deportiert wurden, hat Stalins Geheimdienstchef Berija entschieden. Der war ein entschiedener Gegner der Siegerelf.

An diese Begegnung erinnert Heinrich Peuckmann in seinem Buch „Gefährliches Spiel“, das unter dem Gattungsbegriff Novelle erschienen ist.

Wie fatal das Zusammenspiel von Fußball und Politik sein kann, zeigt der in Kamen lebende Schriftsteller auch in der zweiten Novelle. Peuckmann beschreibt eine fiktive Begegnung des einstigen HSV-Stürmers und Kapitäns der deutschen Fußballnationalmannschaft in den 20er Jahren, Tull Harder, mit seinem ehemaligen Mannschaftskollegen Björn Halvorsen.

Täter und Opfer aus den Reihen des Hamburger SV

Es ist ein Treffen von Täter und Opfer, ließ sich doch Harder von der SS anheuern, wurde Kommandant in mehreren Konzentrationslagern und war damit auch für das KZ Neuengamme zuständig, in das die Nazis Halvorsen deportiert hatten. Der Norweger, der mit dem HSV mehrere Titel holte, war mit der Machtergreifung der Nazis in seine Heimat zurückgekehrt und hatte sich nach der Besetzung Norwegens durch NS-Deutschland dem Widerstand angeschlossen.

Der Autor zeichnet in Rückblenden nach, wie der beliebte Stürmer („Wenn er spielt, der Harder Tull, steht es bald drei zu Null“) sich von der SS ködern ließ, die ihn zum Helden stilisierte, als seine Karriere schon Geschichte war. Gern sang man auch gemeinsam deutschnationale Lieder, die ganz nach dem Geschmack des Spielers waren.

Auch wenn die Darstellung in dem Buch den Eindruck erweckt, als habe sich Harder eher überwältigt als freiwillig den Nazi-Schergen angeschlossen, wird er zu deren willfährigem Lakai. Halvorsen wiederum kam in Haft, zunächst in ein KZ in Norwegen. Nach der Deportation in ein deutsches Konzentrationslager erkrankte er an Typhus und litt auch nach Ende des Krieges bis zu seinem frühen Tod 1955 unter den Spätfolgen von Krankheit und Unterernährung.

Tull Harder wollte von seiner SS-Zeit nicht mehr hören

Das Aufeinandertreffen der einstigen Mannschaftskameraden vor der Kulisse des WM-Qualifikationsspieles Deutschland-Norwegen im Jahr 1953 geht unter die Haut. Die drängende Frage von Halvorsen, ob sein Teamkollege ihn denn nicht gesehen habe, damals im KZ Neuengamme, quittiert Harder mit dem Verweis, nichts mehr hören zu wollen von alledem. Das sei doch alles lange her.

Überhaupt betreibt der frühere HSV-Stürmer – Peuckmann zufolge – eine Geschichtsklitterung, die ihresgleichen sucht und kann sich darin auch bestätigt fühlen. Nachdem er von einem britischen Militärgericht als Kriegsverbrecher zu 15 Jahren Haft verurteilt wird und bereits nach fünf Jahren freikommt, wird ihm überall Lob und Ehre zuteil.

Peuckmann geht in dem Buch noch auf ein Begebenheit viele Jahre nach dem Tod von Harder ein, die auch zeigt, welch schwieriges Erbe der Umgang mit seiner Person darstellt: Als 1974 zur WM der HSV eine Broschüre drucken ließ, in der Harder als Vorbild für die Jugend präsentiert wurde (neben Uwe Seeler und Jupp Posipal, dem Weltmeister von 1954) hat der „halbe Vorstand“ des Vereins noch in letzter Minute vor der Veröffentlichung die Seite über den früheren Erfolgsstürmer herausgerissen.

Karlsruher Stürmer ins Exil getrieben

Im dritten Kapitel schildert Peuckmann das Schicksal von Gottfried Fuchs, der ein für die deutsche Nationalelf einen immer noch gültigen Rekord aufstellte, gelang es ihm doch, 1912 gegen Russland zehn Tore (Endstand: 16:0) zu erzielen. Auch darüber hinaus hatte Fuchs eine sehr ansehnliche Torbilanz. Der Stürmer des Karlsruher FV war jüdischer Abstammung, die er selbst gern mit gewisser Ironie betrachtete. Er sah sich dann aber mit dem Aufstieg der Nazis zur Flucht gezwungen und fand in Kanada eine neue Heimat.

Sepp Herberger, erster Bundestrainer im Nachkriegsdeutschland, wollte 1972 Fuchs zur Einweihung des Münchner Olympiastadions und zum Spiel Deutschland-Sowjetunion auf Kosten des DFB einladen. Doch die Spitze des Verbandes lehnte mit dem Hinweis ab, man würde einen Präzedenzfall schaffen und das sei angesichts der Finanzlage problematisch. Godfrey Fochs, wie er später hieß, erhielt diese Nachricht nicht mehr, er war kurz vorher gestorben. Herberger hatte sich damals übrigens an den DFB-Vize Hermann Neuberger gewandt, der als Verbandschef im Jahr 1978 über den Juntachef von Argentinien, das vor 40 Jahren WM-Gastgeber war, meinte: „Ich halte ihn für eine Taube. So wird er ja auch allgemein, glaube ich, gesehen.“ (Quelle: Süddeutsche Zeitung)

Peuckmanns Geschichten geben mancherlei Anlass, über die Rolle des Fußballs und seiner Akteure nachzudenken – übrigens auch mit Blick auf den aktuellen WM-Gastgeber Russland.

Heinrich Peuckmann: „Gefährliches Spiel. Fußball um Leben und Tod“. Kulturmaschinen-Verlag. 122 Seiten, 10,80 Euro.

Infos zum Verlag: https://kultur-und-politik.de




Schier 60 Jahre ist es her: Am 18. Mai 1958 wurde Schalke 04 zum letzten Male Deutscher Fußballmeister

Schon seit Wochen wird im Hinblick auf dieses eher unangenehme Jubiläum einschlägig gescherzt und in digitalen Fotokisten gekramt.

Die begehrte Schale für Deutsche Fußballmeister. (Foto: Florian K. / Wikimedia Commons - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Die begehrte Meisterschale, auf Schalke lange nicht mehr erblickt, also dort allmählich ein unbekanntes Objekt. (Foto: Florian K. / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Wat ham wer da gelacht: Als Schalke 04 zum letzten Male Deutscher Fußballmeister war, gab es diese und jene historischen Automodelle, solche vorsintflutlichen Telefone und dergleichen nostalgischen Kram mehr. Adenauer hatte jedenfalls noch fast fünfeinhalb Kanzlerjahre vor sich, Dwight D. Eisenhower war US-Präsident. Popmusikalisch machten beispielsweise der munter gepfiffene „River Kwai March“ und Paul Ankas Heuler „Diana“ Furore.

Jaja, genau 60 Jahre ist es her, dass die Blauen aus Gelsenkirchen ihren letzten Meistertitel errungen haben. Es war am 18. Mai 1958, als sie das Endspiel gegen den dieser Tage aus der ersten Liga abgestiegenen Hamburger SV (!) glatt mit 3:0 gewinnen konnten. In der Schalker Mannschaft standen u. a. Günter Siebert, Berni Klodt und Willi Koslowski. Klingt irgendwie kernig und authentisch, woll? Ich sach dir!

Manchmal ziemlich dicht dran

Jawohl, es war ein Endspiel. Denn die Bundesliga mit Punkten und Tabellen wurde ja erst Jahre später aus der Taufe gehoben – übrigens per Beschluss in Dortmund… Aus Jux wurde jetzt auch schon gemunkelt, dass Schalke die einstweilen abgelaufene Bundesliga-Uhr aus Hamburg übernehmen werde, um all die verflossenen titellosen Jahre anzuzeigen. Um es mal donaldistisch und comictauglich zu sagen: kreisch! schenkelklopf!

Zugegeben, seit 1958 waren die „Knappen“ immerhin ein paar Mal ziemlich dicht dran am ersehnten Erfolg. Doch genau darin liegt ein Teil des Langzeit-Witzes, dass sie es immer wieder verfehlt haben, manchmal auf geradezu groteske Art und Weise, als laste ein listiger und irgendwie auch lustiger Fluch auf ihnen. Gern nennen sie sich selbst „Meister der Herzen“. Wenn’s ihnen Freude bereitet…

Die Häme höret nimmer auf

Einmal hat ihnen auch der BVB quasi in letzter Minute den Titel vermasselt. Wie singen sie heute noch auf der schwarzgelben Tribüne, wenn’s um S04 geht: „Ein Le-heben laaaang / keine Schale in der Hand…“ Sie haben da auch schon Schlimmeres gegrölt. Anders gesagt: Wer die Schale so dauerhaft nicht hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Vor allem in und um Dortmund höret die Häme nimmer auf. Revier-Solidarität? Tja. Öh… Vielleicht ein andermal.

Zugegeben auch, dass der einst hart konkurrierende oder gar zeitweise enteilte BVB diesmal – frei nach Roman Weidenfeller – gar keine „grandios Saison gespielt“ hat und deutlich hinter dem Vize(!)-Meister Schalke zurück geblieben ist. Auch haben die Schwarzgelben das letzte Revierderby kläglich vergeigt, nahezu ohne nennenswerte Gegenwehr. Es war quälend, wie so vieles in der gottlob abgelaufenen Spielzeit. Leute, es kommen auch wieder andere Jahre. Aber es muss dringend etwas geschehen. Etwas? Nein, jede Menge.

Unverrückbare Tatsache bleibt jedoch: Der BVB hat acht Deutsche Meisterschaften eingefahren, und zwar beginnend direkt vor dem letzten Schalker Titel, also 1956 und 1957; danach noch 1963, 1995, 1996, 2002, 2011 und 2012. Hinzu kamen vier Pokalsiege und zwei legendäre europäische Triumphe (1966 und 1997). Auch in der „Ewigen Tabelle“ der Bundesliga zeigt sich der feine Unterschied: Da haben die Dortmunder 2730 Punkte gesammelt, die Gelsenkirchener deren nur 2444.

Zahlen, Herr Ober!




Wenn Vater von der Zeche kam, sagte er nur „Na, Sohnemann“ – Kindheit im Revier, geprägt von Liebe und Begrenztheit

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, mit einer Kindheitserinnerung aus dem Revier von damals:

Da ist ein Bild, ganz tief in mir gespeichert, das mich nicht loslässt mein Leben lang. Ich bin noch Kind, nicht mal zehn Jahre alt. Die Schule ist aus, wir spielen Fußball auf dem großen, freien Platz, dem Kamener Schützenhof, direkt vor unserer Haustür.

Wie aus einer anderen Zeit: in einer Wasserlache gespiegelter Zechenturm. (Foto: Christian Evertsbusch / pixelio.de)

Zeugnis einer anderen Zeit: in Wasserlache gespiegelter Zechenturm. (Foto: Christian Evertsbusch / pixelio.de)

Wir wollen Tilkowski werden, Fritz Walter oder dieser neue, dieser Uwe Seeler. Wir spielen selbstvergessen, eingetaucht in eine Welt, die ganz uns gehört und niemand sonst. Und wenn wir im Spiel auch erbitterte Gegner sind, sind doch vor allem eines, nämlich Freunde, teilweise bis heute.

Fußballbilder in Tüten vom Kiosk

Wenn die Glocken der Pauluskirche mit dem schiefen Turm dreimal läuten, schaue ich hinüber zum Ende des Platzes, von dem aus man die Geschäftsstraße unserer Stadt erreichen kann. Die alte Politz hat dort an der Ecke ihr Kiosk. Sprudel können wir dort kaufen, wenn wir völlig verschwitzt sind und vor allem die Tüten mit den Fußballbildern. „Die Politz“, sagt meine Oma, „ist deine Sparkasse.“

Gleich, um kurz nach drei, das weiß ich, wird mein Vater dort auftauchen. Er ist Bergmann und kommt immer gegen drei Uhr von Zeche Heeren mit dem Bus nach Hause. Wenn ich ihn dann sehe, unterbreche ich mein Spiel, laufe hin zu ihm und merke, wie er lächelt, wenn er mich entdeckt. „Na, Sohnemann“, sagt er, wenn ich ihn erreiche und streichelt mir über den Kopf. Immer nur dies, „Na, Sohnemann“, dazu das Streicheln mit der Hand und sein Lächeln. Sonst nichts. Ein paar Schritte gehe ich neben ihm her, fasse ihn an der Hand, dann renne ich zurück zum Fußball, wo meine Freunde, deren Väter auch Bergleute sind, auf mich warten.

Ein tief erschöpfter Mann

Meine Mutter, das weiß ich, wartet schon mit dem Essen auf ihn, Gemüse, Kartoffeln aus dem Garten hinter unserem Haus, wir haben nicht viel Geld für Lebensmittel. Und anschließend, wenn er gegessen hat, raucht er Zigaretten in der Küche, zwei, drei. Immer zu viel. Er sitzt dann weit vorgebeugt auf seinem Stuhl, raucht und stöhnt zwischendurch leise. Ein tief erschöpfter Mann, für den die Arbeit vor Kohle viel zu schwer ist. Kaufmann hatte er gelernt, aber keine Arbeit gefunden, bis er dann dahin gekommen war, wohin alle Väter meiner Freunde im Ruhrgebiet gekommen waren. In den Pütt oder ins Loch, wie meine Mutter immer sagte.

Dieses Bild begleitet mich, mein Vater, wenn er von der Zeche kommt, wenn ich ihn begrüße und er nach Hause geht. Und unser selbstvergessenes Spiel mit meinen Freunden. Eine Kindheit, geprägt von Liebe und Begrenztheit.

„Wer so eine große Zahnlücke hat…“

Manchmal, wenn ich durch unser Haus lief, hielt meine Oma mich fest.
„Mach mal den Mund auf“, sagte sie und schaute auf die Zahnlücke zwischen meinen Schneidezähnen.
„Du kommst noch mal weit rum in der Welt“, sagte sie dann.
„Warum komme ich weit rum, Oma?“
„Wer so eine große Zahnlücke hat, der kommt weit rum“, antwortete sie.

Zwei Bäume aus jener Zeit stehen noch

Was das eine mit dem anderen zu tun hat, habe ich damals nicht verstanden und weiß es bis heute nicht, aber meine Oma hat recht gehabt. Ich bin in vielen Ländern gewesen und habe dort teilweise sogar Vorträge über deutsche Literatur und Lesungen gehalten, in Ländern, die sie sich nicht vorstellen konnte.

Den Platz meiner Kindheit gibt es noch, er sieht ganz anders aus als zu meiner Zeit. Vierstöckige Gebäude, Flachdach, unten Geschäftsräume, darin inzwischen viele Leerstände, darüber Wohnungen. Zwei Bäume stehen noch aus meiner Kindheit, zwei Bäume. Eine Platane, die zum Schulhof unserer Schule gehörte, die direkt neben dem Schützenhof lag, und eine Kastanie, die im Garten des Pfarrhauses, der Schule gegenüber stand. Ich habe ein Gedicht über diese letzten Zeugen meiner Kindheit geschrieben.

In diesem Bild lebt die Liebe meiner Eltern fort, die mir Kraft gab, große Schritte zu gehen und die Enge, die mich umgab, zu überwinden. Doch da ist auch die Trauer, dass sie, meine Mutter und mein Vater, die eine Begrenztheit, die geographische, nur sehr spät und auch das nur ein wenig, überwinden konnten. In dem anderen, in ihrer Liebe, aber waren sie grenzenlos.




Konjunktur mit Fußballbildchen: Das Wunder in Tüten aus Dortmund und Unna – zur Geschichte des Bergmann-Verlags

Anno 2011 war in den Revierpassagen einmal vom heute längst vergessenen Dortmunder Pinguin-Verlag die Rede. Unser Gastautor Horst Delkus (Kamen) hat dazu noch ein paar Hintergründe und Weiterungen recherchiert. Hier sein Bericht:

Mit Autogramm: Spielerkarte des BVB-Stürmers Siggi Held, Jahrgang 1942, der zu den Europacup-Gewinnern von 1966 gehörte. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Mit Autogramm: Spielerkarte des BVB-Stürmers Siegfried („Siggi“) Held, Jahrgang 1942, der zu den Europacup-Gewinnern von 1966 gehörte. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Für uns Jungs der fünfziger und sechziger Jahre bestand das Wirtschaftswunder vor allem aus Tüten. Wundertüten. Gekauft am Kiosk – „anne Bude“ – für einen Groschen, was damals 10 Pfennig, etwa 5 Cent waren. Diese Tüten waren gefüllt mit buntem Popcorn, Karl May-Figuren, Tieren aus Afrika. Und mit bunten Fußballbildern: Mannschaften im Postkartenformat und Spielerporträts im handlichen Format von 9 mal 6 Zentimetern.

Man konnte die Bilder in Alben einkleben, die „Doppelten“ tauschen, gegen eine Hauswand „schnibbeln“ (wer seine Karte am nächsten an der Wand liegen hatte, hatte gewonnen) und mit Autogrammen veredeln. Welche Anziehungskraft diese bunten Pappbilder damals hatten, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Denn Fußballer kannte man meist nur dem Namen nach. Oder aus dem Stadion. Bilder, zumal in Farbe, waren noch selten.

Boom mit Beginn der Bundesliga

Ihren Boom erlebten die bunten Fußball-Karten mit Beginn der der Bundesliga im Jahr 1963. Beliebt wurden vor allem die Tütenbilder aus dem Bergmann-Verlag. „Der Name Bergmann“, so der „Spiegel“, „steht wie kein anderer für die Fußballbilder der sechziger und siebziger Jahre.“

Rückseite des oben wiedergegebenen Fotos von Siegfried Held. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Rückseite des oben wiedergegebenen Fotos von Siegfried Held. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Gegründet wurde Bergmann-Verlag 1964 in Dortmund. 1967 dann die Verlegung des Unternehmenssitzes nach Unna, 1975 in die Schweiz. Seitdem gab es auch die Kooperation mit Panini, dessen Bilder und Alben bis heute zur Fußball-Fankultur gehören.

Hervorgegangen ist der Bergmann-Verlag aus einem kleinen Dortmunder Kinderbuchproduzenten, dem Pinguin-Verlag am Westenhellweg. Der stellte Bilderbücher her wie „Der Baron Fox von Kolon“, eine italienische Lizenzausgabe. „Unbeholfen gezeichnet und gleich zu Beginn sprachlich fehlerhaft“, wie der Kulturjournalist Bernd Berke an dieser Stelle, nämlich 2011 im Revierpassagen-Blog befand, zudem eine „spindeldürre Geschichte“ von einem bösen Fuchs und einem guten Hasen mit „einer windschiefen politischen Codierung“.

Gegründet hatten den Pinguin-Verlag der Unnaer Heinz Bergmann und seine aus Italien stammende Ehefrau Maria Luisa. Neben Kinderbüchern vertrieb der Verlag seit Beginn der Bundesliga Postkarten mit deren Fußballvereinen.

Böser Fuchs, guter Hase (Copyright 1963 by editrice AMZ, Milano / Pinguin-Verlag, Dortmund)

Aus dem Vorläufer-Verlag: böser Fuchs, guter Hase in „Der Baron Fox von Kolon“ (Copyright 1963 by editrice AMZ, Milano / Pinguin-Verlag, Dortmund)

1964 erfolgte die Gründung der Bergmann GmbH als Beteiligungsgesellschaft. Mit dieser GmbH als Komplementär gründete das Unternehmerpaar die Bergmann GmbH & Co.KG. Ein Jahr später gründeten sie noch eine dritte Bergmann-Gesellschaft, die Bergmann GmbH & Co.KG Fußballbild-Vertrieb, später Sportbild-Vertrieb.

Aus Pinguin wurde Bergmann

Die Herstellung und den Vertrieb von Fußball-Bildpostkarten übernahm der Bergmann- vom Pinguin Verlag zum 1. Oktober 1964, „nachdem“, heißt es in einem Schreiben an die IHK, „ein Hamburger Verlag gegen die Herausgabe dieser Karten unter dem Namen Pinguin-Verlag protestiert hatte“. Der Pinguin-Verlag hatte bereits im ersten Jahr allein mit den Postkarten einen Umsatz von etwa 100.000 DM erwirtschaftet – bei einem Verkaufspreis von 15 Pfennig.

Legendäre deutsche WM-Siegermannschaft von 1954 als Postkarte aus dem Dortmunder Pinguin-Verlag. (Pinguin-Verlag/Sammlung Delkus)

Legendäre deutsche WM-Siegermannschaft von 1954 als Postkarte aus dem Dortmunder Pinguin-Verlag. (Pinguin-Verlag/Sammlung Delkus)

Bald wurden auch größere Bilder der Bundesligavereine sowie Karten einiger prominenter Fußballspieler vom neuen Verlag hergestellt. Die Kunden des Bergmann-Verlages bestanden anfangs aus großen Waren- und Kaufhäusern, aus Buchhandlungen und Sportvereinen sowie Schreibwaren- und Sportgeschäften, die diese Postkarten und Bilder wiederum an ihre Kundschaft verkauften. Fehlende Postkarten und Bilder konnten Sammler auch direkt über den Versandhandel des Verlages erwerben. Nicht ohne Stolz schrieb Heinz Bergmann: „Wir sind der einzige vom Deutschen Fußball-Bund lizenzierte Verleger, der die farbigen Fußball-Bildkarten herstellt und vertreibt.“ Diese Lizenz stellte sich für Bergmann schon bald als eine Lizenz zum Gelddrucken heraus.

Lukrative Kooperation mit Heinerle

Unscheinbar: das ehemalige Bergmann-Verlagshaus in Unna, Hochstraße 12. (Foto: Horst Delkus)

Unscheinbar: das ehemalige Bergmann-Verlagshaus in Unna, Hochstraße 12. (Foto: Horst Delkus)

Ein weiterer Coup gelang Heinz Bergmann, als er 1965 Hugo Hein aus Bamberg, den Erfinder der Heinerle-Wundertüten, als Kommanditisten an einer seiner drei Gesellschaften, den Sportbild-Vertrieb, beteiligte. Damit war dem Bergmann-Verlag eine neue wichtige Vertriebsschiene für die Fußballbilder gesichert. Die Firma Heinerle selbst hatte bereits seit 1959 diverse Bilder als Beilage in ihren millionenfach verkauften Wundertüten abgesetzt. Mit den Bildern von Bergmann – oder umgekehrt: mit den Wundertüten von Heinerle – gelang bald der Durchbruch auf dem umkämpften Markt der Sammelbilder. Eine Win-win-Situation, wie man heute sagt.

Das erste Bundesligaalbum des Bergmann-Verlages erschien im Jahr 1965: „Bundesliga 65/66“, damals noch mit dem Kultverein Tasmania Berlin. Bis 1984/85 kam dann in jeder Bundesligasaison ein Sammelalbum für jeweils 300 bis 400 Bilder heraus. Dazu gab es Sonderauflagen zum Beispiel zu Weltmeisterschaften. Diese Sammelalben waren neben der exklusiven DFB-Lizenz an den Bildrechten und den Heinerle-Wundertüten die dritte Säule des wirtschaftlichen Erfolges des Bergmann-Verlages. Denn ein Album sollte natürlich voll und möglichst komplett werden.

Sechs VW-Busse für die Auslieferung

Zwei Jahre nach der Gründung, Ende 1966, beschloss Heinz Bergmann, seine Verlagsaktivitäten an seinen Wohnort zu verlegen, nach Unna-Königsborn. Hier wuchs der Verlag weiter, hatte Ende 1967 sechs VW-Busse für die Auslieferung und zwölf Beschäftigte.

Die Produktpalette seines Verlages erweiterte Bergmann ständig. So erschienen Fußball-Postkarten als Reklamebilder. Für Knorr-Suppen zum Beispiel, für Aral und andere. Neben den Sammelalben gab der umtriebige Verleger auch Poster von Mannschaften heraus. Seine Rechte an den bunten Fußballbildern vergab Bergmann ebenfalls an andere Verlage, die die Bilder dann in Lizenz druckten. Auch im Fußballmagazin „Kicker“ erschienen Sammelmarken für Fußballbilder aus dem Bergmann-Verlag. Bergmann schaffte es so, zum Marktführer für Fußball-Sammelbilder zu werden.

Rückseite eines Fußball-Sammelbildes von Helmut Haller - als Werbung für Knorr-Suppen. (Sammlung Delkus)

Rückseite eines Fußball-Sammelbildes von Helmut Haller – als Werbung für Knorr-Suppen. (Sammlung Delkus)

1969 gab Bergmann gar – „mit freundlicher Unterstützung der Schallplatten-Industrie“ – ein erstes Sammelalbum über Musiker heraus, die „Schlager-Star-Parade `69“. Auch diese Bilder waren für 10 Pfennig pro Tüte am Kiosk zu kaufen.

Als die Qualität nachließ

Anfang 1975 erfolgte – aus mir unbekannten Gründen – die Auflösung der Bergmann-Gesellschaften in Unna und die Verlagerung nach Fribourg in der Schweiz – nun als Bergmann AG. Dort brachte der Verlag anstelle der Kartonbilder erstmals selbstklebende Bilder heraus. „Leider“, heißt es, „ließ die Qualität der Bildmotive stark nach. Hatte man sich bis dato mit wenigen Ausnahmen auf Porträts der Spieler beschränkt, bestimmten nunmehr lieblos fotografierte Spielszenenbilder den Eindruck. Noch dazu waren sie grobkörnig und nicht selten auch unscharf.“

…und dann trat Panini auf den Plan

1979 kam es zu einer weiteren entscheidenden Veränderung: Der Bergmann-Verlag gab in diesem Jahr das erste Bundesliga Fußball-Sammelalbum in Kooperation mit Panini heraus. Vermutlich war diese Kooperation mit dem italienischen Sammelbildhersteller der Anfang vom Ende der Eigenständigkeit des Bergmann-Verlages.

Das Aus für den Bergmann-Verlag kam dann 1984. Ironie der Geschichte für einen Verlag mit schwarz-gelben Wurzeln: Nach „80 Jahre Schalke 04“, der Jubiläumsserie für ein Faltposter, kam das Ende. „Neben vielen Spielszenenbildern der Bundesliga-Begegnung „Schalke – Karlsruhe“ aus der Saison 1983/84 umfasst die Serie Spielerporträts, welche der Verlag bereits in früheren Jahren publiziert hatte.“ Danach war es vorbei mit dem Bergmann-Verlag.

Doch Fußballbilder gibt es weiterhin. Auch heute noch sammeln und tauschen viele junge (und inzwischen alte Männer) die Bilder aus Tüten. Wen wundert`s?

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Quellen- und Literaturverzeichnis:

Westfälisches Wirtschaftsarchiv WWA, Dortmund: Signatur K1 Nr. 7841-7843; K1 Nr. 13595-98
Bergmann-Sammelalben 1965 – 1984 bei www.stickerfreak.de
Berke, Bernd: „Pinguin-Verlag in Dortmund? Nie davon gehört!“ in: www.revierpassagen.de vom 29. September 2011
Giesen, Klaus: Sammelbilder in www.sammlerforen.net/showthread.php?t=1243




Martin Schulz, der BVB und die „Geißböcke“ – ein Fan-Fake oder nur ein Ausrutscher?

So, da hätten wir den SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz also ertappt. Wobei? Ihr werdet es gleich sehen.

SPD-Spitzenmann Martin Schulz, hier beim Bundesparteitag am 19. März 2017 in Berlin. (Foto: Olaf Kosinsky / konsinsky.eu / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

SPD-Spitzenmann Martin Schulz, hier beim Bundesparteitag am 19. März 2017 in Berlin. (Foto: Olaf Kosinsky / konsinsky.eu / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Ein widerspenstiger Freund, seines Zeichens Fan des 1. FC Köln, wollte mich gestern ein bisschen ärgern und hat deshalb bei Facebook hämisch auf ein Foto von Schulz hingewiesen, das den Politiker mit einem BVB-Schal um den Hals zeigt. Nicht nur subkutane, sondern laut verkündete Botschaft: Bei BVB-Anhängern klappt’s auch nicht mit Wahlerfolgen. Und wenn man dann noch die schwarzgelben Borussen-Farben mit einer möglichen schwarzgelben Koalition in NRW zusammendenkt…

Halt! Erstens ist das natürlich reiner Unsinn und bloßes Wunschdenken eines notorischen Geißbocks. Zweitens muss man nicht einmal näher hinsehen, um zu erkennen, dass Martin Schulz mit dem BVB-Schal alles andere als froh ist. Er schaut dermaßen miesepetrig drein, als stünde der Abstieg (wessen Abstieg auch immer) unmittelbar bevor. Aus urheberrechtlichen Gründen kann ich das Bild hier nicht einfach hinsetzen, aber schaut doch bitte mal auf diesen Link.

Damit nicht genug. Drittens kommt Schulz, der in jungen Jahren eine Karriere als Fußballprofi angestrebt hat, bekanntlich aus Würselen bei Aachen. Drum stünde zu vermuten, dass sein Herz eher an dortigen Vereinen hängt. An Alemannia Aachen beispielsweise. Oder halt am 1. FC Köln. Es wabert also der vage Verdacht eines Fan-Fakes im Raum, wenn Schulz sich auf BVB-Farben einlässt.

Und siehe da! Die Suchmaschine spuckt tatsächlich sofort aus, dass Martin Schulz immer schon den Kölnern die Daumen drückt. Dabei wird er in dem entsprechenden Beitrag des Deutschlandfunks mehrmals als Vereins-„authentisch“ bezeichnet, wohingegen Altkanzler Gerhard Schröder, der in derlei Clubfragen treulose Gesell‘, nach leutseliger Lust und Laune mal den oder jenen Schal umgelegt hat.

Warum also hat Schulz sich (offenbar widerwillig) mit BVB-Schal ablichten lassen, warum hat er sich den offensichtlichen Tort angetan? Um hier noch ein paar ruhrige, westfälische und sonstige Stimmen abzufischen? Sollten bei hartnäckiger Suche etwa auch noch Schulz-Bilder mit Fanklamotten von Werder Bremen, Hertha BSC, dem VfB Stuttgart oder gar von Schalke auftauchen? Der Wahrheit die Ehre: Dergleichen habe ich einstweilen nicht gefunden. War also der BVB nur ein „Ausrutscher“?

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Hier noch ein paar hübsche Fundstücke:

Martin Schulz mit Schal von Holstein Kiel
Martin Schulz mit Trikot des 1. FC Köln
Martin Schulz mit Trikot von Rhenania Würselen

Wer findet mehr?




Zur Not kann man auch am Gegner seine Freude haben – über solche und solche Fußballfans

In dieser „englischen“ Fußballwoche geht’s gleich zweimal rund in der Bundesliga: Heute (Dienstag, 4. April, 20 Uhr) trifft der BVB im heimischen Dortmunder Westfalenstadion * auf den Hamburger SV, am Samstag (8. April, 18:30 Uhr) geht’s zu den Bayern nach München. Anlass genug für diesen Beitrag: Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, schreibt über verschiedene Arten von Fußballfans:

Dortmunder Torjubel im Westfalenstadion beim 3:0-Sieg gegen Tottenham Hotspur. (Foto: Bernd Berke)

Dortmunder Torjubel im Westfalenstadion beim 3:0-Sieg gegen Tottenham Hotspur. (Foto: Bernd Berke)

Meine drei Söhne sind brav, sie sind ihrem Vater gefolgt und Fußballfans geworden. Und weil sie auch noch gut erzogen sind, haben sie die Vorliebe ihres Vaters übernommen. Sie sind Fans von Borussia Dortmund.

Zwei Dauerkarten haben wir und gehen in wechselnden Kombinationen ins Stadion. Und dabei stellen wir immer neu fest, was wir schon vorher wussten. Fan ist nicht gleich Fan. Wir merken es beim Absingen der Fan-Lieder. „Borussia, unser ganzes Leben, unser ganzer Stolz…“ ist ein Lied, das wir nicht mitsingen können. Der Fußball ist ein schöner Teil unseres Lebens. Wie genießen die Spiele im Stadion, haben Freude an den Fernsehübertragungen, aber unser ganzes Leben ist Borussia nicht. Und stolz sind wir auf das, was wir selber schaffen, ohne es freilich übermäßig nach außen zeigen zu wollen.

Sport ist doch nicht alles…

Fußball hat für uns einen Stellenwert, aber er dominiert uns nicht. Entsprechend gehen uns Fans, für die Fußball alles ist, gehörig auf die Nerven. Irgendwann saß so ein Fan in der Kneipe neben uns, brüllte rum, kommentierte alles (ohne viel Ahnung zu haben) und sprach uns immer wieder an. Bis es meinem jüngsten Sohn endgültig reichte. „Wir interessieren uns nur für Fußball, weil uns Gespräche über Baumärkte und Autos noch mehr langweilen“, sagte er dem Mann. An das erstaunte Gesicht mit dem offenen Mund erinnere ich mich gut. Man sah dem Mann deutlich an, wie sein Männerbild zusammenbrach.

Leute, die keine Ahnung vom Fußball haben, aber umso lauter rumbrüllen, sind schwer zu ertragen. Als ein Angriff unserer Borussia mal wegen Abseits abgepfiffen wurde, sprang der Mann neben uns auf. „Schieber!“, schrie er, „das war doch kein Abseits.“
„Setz dich“, sagten wir, „das war Abseits.“ Überrascht schaute er uns an. „Und ich dachte, ihr seid Borussenfans“, sagte er. „Sind wir“, antworteten wir, „aber Regel ist Regel. Also ist Abseits Abseits. Auch für uns.“

Als Juventus über die linke Seite kam

Dafür lieben wir jene Fans, die wirklich Ahnung haben. Bei einem Europapokalspiel gegen Juventus Turin saß mal ein junger Mann neben mir im Stadion, der wirklich was von Fußball verstand. Juventus griff über die rechte Seite an und dem Mann fiel auf, was mir auch auffiel. „Guck mal, was da gerade links passiert!“, rief er. „Unsere rennen alle nach rechts, die haben noch gar nicht gemerkt, dass die Gefahr gleich von der anderen Seite kommt.“ Tatsächlich liefen dort unbemerkt zwei Juve-Spieler in Stellung, als unsere Abwehrspieler sich endgültig rechts versammelt hatten, kam der präzise Flankenwechsel und zwei Juve-Spieler standen frei. Mit 1:3 haben wir das Spiel verloren. Mein Nachbar stand nach dem Schlusspfiff auf und gab mir zum Abschied die Hand. „Wir haben heute eine gute Mannschaft gesehen“, sagte er, „schade, dass es die falsche war.“ Ein Satz, der Fairness zeigte und vor allem Verständnis von der Sache.

Drei Jahre später standen sich übrigens die beiden Mannschaften wieder gegenüber, im Endspiel um die Champions League, und diesmal waren „wir“ besser. Längst hatte unsere Mannschaft dazu gelernt.

Mit einem Buch im Dortmunder Stadion

Ich sehe die Dinge gerne zusammen. Fußball und Kultur, Fußball und Religion. Einmal habe ich ein Fußballspiel wie einen Gottesdienst geschildert, und siehe da, es funktioniert. Viele der Riten sind wie aus der Kirche übernommen.

Einmal bin ich sehr früh ins Stadion gegangen, weil ich sonst keine Karte mehr bekommen hätte. Es war noch die Zeit, als man an den Schaltern neben dem Stadion Eintrittskarten kaufen konnte. Heute gibt es die Schalter gar nicht mehr, die Karten sind immer verkauft. Immerhin über 80.000 pro Spiel! Weil ich also früh im Stadion sein würde, steckte ich ein Buch ein, Stefan Austs „Baader-Meinhof-Komplex“, das ich spannend fand.

Ich las also, während die Spieler sich unten warm machten und plötzlich bemerkte ich die scheelen Blicke meiner Nachbarn. Was will der denn hier, schienen sie zu denken, hat der sich verlaufen? Jedenfalls sprachen sie nicht mit mir, wie man das sonst ganz selbstverständlich im Stadion tut. Bis plötzlich ein Verteidiger der gegnerischen Mannschaft, der einen Mordsschuss hat, auf unser Tor zulief und nicht angegriffen wurde. „Passt auf da“, schrie ich und sprang erregt auf, aber es half nichts. Der Spieler zog ab und es stand eins zu null für den Gegner. Ich setzte mich wieder. „Hab ich´s nicht gesagt?“, sprach ich meine Nachbarn an. Jetzt schauten sie mich noch erstaunter an. Einer, der Bücher liest im Stadion und trotzdem Ahnung hat. Fortan wurde ich in die Gespräche einbezogen.

Unsere Helden Hans Tilkowski und Aki Schmidt

Mein Freund seit Jugendzeit, der frühere Pressesprecher von Borussia, ist mir in diesem Punkt ähnlich. Er sieht die Dinge auch in Zusammenhängen. Gleich mehrere meiner Romane und Sachbücher, in denen Fußball eine Rolle spielt, hat er in einer Pressekonferenz im Stadion vorgestellt. Wenn Borussia ruft, das wissen wir beide, kommt die Presse. Die Aufmerksamkeit, die auf diese Weise erzeugt wurde, hat meinen Büchern gut getan.

Seit Jugend an, er noch früher als ich, sind wir ins vergleichsweise kleine Stadion „Rote Erde“ gegangen und haben unseren Helden, den Nationalspielern Hannes Tilkowski und Aki Schmidt zugejubelt. Später wurden sie unsere Freunde und wir redeten und reden mit ihnen gerne über alte Zeiten. Wir als kleine Jungs auf der Tribüne, unsere Helden unten auf dem Rasen. Wenn ich meinen Söhnen Anekdoten aus dieser Zeit erzähle, lachen sie. „Telefon, Papa, das letzte Jahrhundert hat wieder angerufen.“

Der Stürmer, der fast alles verstolperte

Spotten tun nicht nur sie, sondern wir alle gerne, das will ich gerne zugeben. Irgendwann und irgendwo muss man seinen Frust ja ablassen. Von Gewalt, von sinnlosem Krakeelen aber sind wir weit entfernt. Es ist ein paar Jahre her, dass Borussia gegen den Abstieg spielte. Einen Stürmer hatten wir damals, der beinahe jeden Ball verstolperte. Wenn er ihn verloren hatte, grätschte er hinterher und beförderte ihn bestenfalls ins Aus. „Kämpfen tut er aber“, kommentierten die Dortmunder Fans dann, immer in der Hoffnung, dass der Junge irgendwann besser würde. Wurde er aber nicht. Als er wieder mal den vierten oder fünften Angriff durch seine Stolperei unterbrochen hatte und wieder jemand kommentierte, dass er immerhin schnell sei und kämpfen würde, sprang ein Freund von mir erregt auf und schrie: „Was ist das hier? Ist das Leichtathletik oder Fußball?“

Bei einem späteren Spiel lag dieser Spieler verletzt auf dem Rasen und mein ältester Sohn kommentierte: „Ich glaube, es geht gut aus, Papa. Er kann nicht weiterspielen.“
Überhaupt lieben wir Humor. Unser früherer Klasseverteidiger Julio Cesar, brasilianischer Nationalspieler, hat in einem Spiel mal zwei Ecken hintereinander ins Tor geköpft und wurde dann, unter dem Jubel der Zuschauer, ausgewechselt, weil das Spiel längst entschieden war. Bei der nächsten Ecke aber sprangen wir trotzdem auf und riefen: „Julio, Julio.“

Ein verbotener Vereinsname

Den Namen unseres Erzrivalen Schalke nehmen wir übrigens nicht in den Mund, auch ich zögere jetzt, ihn hier zu schreiben. Als ich mal eine Delegation aus Schuldezernenten bei einer Stadionführung in Dortmund begleitete, habe ich ihnen vorher erklärt, dass sie den Namen im Stadion nicht erwähnen sollen. Wer unbedingt von unserem Erzrivalen reden wolle, müsse von Herne-West sprechen. Die Dezernenten haben das für einen Witz gehalten, aber als Aki Schmidt bei seiner Führung ebenfalls immer Herne-West sagte, wurde ihnen bewusst, dass das absolut ernst gemeint war. Selbst bei dem Revierderby wird der Name unseres Gegners im Stadion nicht erwähnt. „Und jetzt die Mannschaftsaufstellung der Blauen …“, ruft unser Stadionsprecher ins Mikrophon.

Fußball ist schön, er ist unterhaltsam. Für meine Söhne und mich kommt ein kleines Nebenergebnis hinzu. Wir sind, wenn zwei von uns zum Stadion fahren, für drei Stunden unter uns. Wir haben Zeit, über alles Mögliche zu reden, über Fußball natürlich, aber auch über alles andere, was uns bewegt: Politik, Bücher, Religion, unsere Pläne …

Nicht das Hobby versauen lassen

Warum sich also schlagen? Warum Gewalt im Stadion bis hin zum Niederschießen eines Fans, wie das vor ein paar Jahren in Italien geschah? Straßenschlachten der Hooligans wie kürzlich gegen Leipzig? Wir wollen Freude haben, an unserer Mannschaft, die seit Jahren oft einen wunderbaren Fußball spielt, zur Not aber auch an der gegnerischen Mannschaft, wenn sie einen guten Ball spielt.

In einem meiner Krimis wird ein Fußballer ermordet, der zu den gewalttätigen Fans, die sich auch noch rassistisch äußern, gesagt hat, dass sie zu Hause bleiben sollten, weil ihr Handeln nichts mit Fußball zu tun hat. Mein Kommissar macht sich auf die Suche nach Täter und als er ihn hat, ruft er seinen Sohn von Leipzig aus an. „Wann kommst du nach Hause?“, fragt der Sohn. „Heute bleibe ich noch in Leipzig und esse in Auerbachs Keller“, antwortet mein Kommissar. „Aber morgen fahre ich ganz früh los, dann bin ich rechtzeitig zum Spiel von Borussia im Stadion. Von solchen Dummköpfen lasse ich mir doch nicht mein Hobby versauen.“

Meine Söhne lachten, als sie es lasen. „Das war wieder ganz unser Papa“, sagten sie. „Diesmal in der Verkleidung seines Kommissars.“

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* Westfalenstadion lautet der richtige Name, im Kommerz-Sprech heißt der Fußballtempel „Signal-Iduna-Park“ (Anm. Bernd Berke)




Als Amazonen bestrickend kickten: Doku zur Frühgeschichte des „Damenfußballs“ beim Dortmunder Frauenfilmfestival

Ach, du Schreck: Die jungen Frauen waren auf einmal keine daheim im Kämmerlein schmachtenden „Fußballbräute“ mehr. Sondern? „Amazonen“! Sie wagten es doch tatsächlich, selbst zu spielen, und zwar hin und wieder geradezu „bestrickend“. Sie servierten Flanken „wie aus der Luft gehäkelt“ und vollzogen rasant den Übergang „von der Haushalts- zur Ballführung“. Diese „Fußball-Suffragetten“ trugen allerdings „keine Blaustrümpfe, sondern Ringelstrümpfe“...

Wird im Film "Die schönste Nebensache der Welt" gezeigt: Teamfoto von Fortuna Dortmund aus der zweiten Hälfte der 50er Jahre, u. a. mit Anne Droste (ganz links), Christ Kleinhans (mit Ball) und rechts neben ihr Grete Eisleben. (Foto aus dem Provatbesitz von Christa Kleinhans)

Wird im Film „Die schönste Nebensache der Welt“ gezeigt: Teamfoto von Fortuna Dortmund aus der zweiten Hälfte der 50er Jahre, u. a. mit Anne Droste (ganz links), Christa Kleinhans (mit Ball) und rechts neben ihr Grete Eisleben. (Foto aus dem Privatbesitz von Christa Kleinhans)

Genug, genug! Das kann man ja nicht mehr mit anhören. Wer hat denn so einen Quatsch über Frauenfußball verzapft? Nun, es war der gängige Sound der frühen Jahre. Die oben kursiv gesetzten O-Ton-Zitate stammen samt und sonders aus einer Kino-Wochenschau vom März 1957, als eine (inoffizielle) deutsche Auswahl im Münchner Dante-Stadion vor sagenhaften 18.000 Zuschauer(inn)en gegen ein Frauenteam aus Holland antrat. Es war eine Begegnung, die nach dem Willen mächtiger männlicher Fußball-Funktionäre eigentlich gar nicht hätte stattfinden dürfen.

Der DFB verbot den Frauen das Balltreten

Fast genau 60 Jahre ist das nun her. Damals war das Match eine Sensation, gleichsam ein Spiel in der Grauzone, denn der von verknöcherten alten Herren geführte Deutsche Fußball-Bund (DFB) hatte 1955 höchst offiziell ein striktes Verbot des „Damenfußballs“ beschlossen. Kein Mitgliedsverein des DFB sollte eine Mädchen- oder Frauenabteilung haben dürfen, ja nicht einmal einen Platz für solch ungebührliches Treiben zur Verfügung stellen. Und kein Schiri sollte sich dafür hergeben. Die Stadt München, die den besagten Ländervergleich zugelassen hatte, bekam denn auch einen harschen Mahnbrief aus der DFB-Zentrale.

Woher ich das alles weiß? Aus dem Film „Die schönste Nebensache der Welt“. So heißt (nicht allzu originell) eine recht aufschlussreiche 56-Minuten-Doku zur Nachkriegsgeschichte des deutschen Frauenfußballs. Den bereits 2009 entstandenen Streifen von Tanja Bubbel präsentiert in Kürze das Internationale Frauenfilmfestival, das vom 4. bis zum 9. April in Dortmund (und nebenher in Köln) seinen 30. Geburtstag feiert. Es ist verdienstvoll, den Film ans Licht zu holen, der bislang zumeist im Archiv schlummerte. Warum zeigt ihn beispielsweise das WDR-Fernsehen nicht?

Pionierinnen von Fortuna Dortmund

Schon im Vorfeld des Festivals gibt es eine Voraufführung des Fußballfilms, und zwar just im Deutschen Fußballmuseum des DFB in Dortmund (Di., 28. März, 20 Uhr). Wenn man so will, leistet der Verband als Gastgeber gleichsam eine klitzekleine späte Abbitte für das unbegreifliche Verhalten seiner Altvorderen in den 50er und 60er Jahren. Dass auch höhere Chargen wie der Ex-DFB-Präsident Theo Zwanziger längst zu halbwegs selbstironischem Umgang mit dem Thema fähig sind, beweist der Anfang der Doku. Da kommentiert Zwanziger ziemlich trocken einen kurzen Diavortrag zum Damenfußball.

Der Film enthält etliche Originalaufnahmen, vorwiegend aus 50er bis 80er Jahren, und feiert gebührend die Pionierinnen des Sports mit ihren ausgesprochen haltbaren Mädels-Freundschaften. Denn natürlich ist dies auch eine Erzählung von kraftvoller Frauen-Solidarität, die sich nicht einschüchtern lässt.

Gewürzt mit Ruhrgebiets-Humor

Zwischendurch gibt es etliche elegante, aber auch ein paar unbeholfen wirkende Spielszenen zu sehen. Die Spielkultur musste sich ja auch erst langsam entwickeln. Und wer offiziell nicht einmal trainieren darf, muss schon besonderes Talent haben, um trotzdem gut zu sein. Außerdem: Bei den Herren wird oft genug auch nur gebolzt.

Der Film versammelt einige Zeitzeuginnen aus Ost und West (Ruhrgebiet, Potsdam) zu nachdenklichen Rückblicken. Im Mittelpunkt stehen dabei Veteraninnen des Clubs Fortuna Dortmund, wo ab 1955 Frauen Fußball spielten, und zwar offenbar ziemlich gekonnt. Gewürzt mit echtem Ruhrgebiets-Humor, erzählen sie aus jenen Jahren, als sie allesamt auch an (wie gesagt: verbotenen) Länderkämpfen vor erstaunlich großem Publikum teilnahmen, die legendäre Begegnung im Dante-Stadion inbegriffen.

Und wahrlich. Wenn man heute jeden 16jährigen Jungspund kennt, der irgendwo für viel Geld anheuert, so muss man erst recht diese Frauen beim Namen nennen: Christa Kleinhans, Renate Bress, Anne Droste, Inge Kwast und Grete Eisleben. Einige von ihnen kommen wohl auch zur Preview ins Fußballmuseum. Sie sind übrigens souverän genug, wegen „damals“ keine Verbitterung zu hegen, obwohl wegen ihrer Fußball-Leidenschaft auch schon mal Beziehungen und Ehen zu Bruch gegangen sind.

Ein Porzellan-Service für den EM-Titel

Welch ein bezeichnender Moment, wenn im weiteren Verlauf des Films die Bochumerin Petra Landers, die in den 80er Jahren mit Bergisch-Gladbach mehrfach die deutsche Meisterschaft errang, mit süßsäuerlicher Miene einen Teil ihrer DFB-Prämie zum Gewinn der Europameisterschaft 1989 aus dem Küchenschrank holt. Sie und ihre Mitspielerinnen bekamen – Tusch und Trommelwirbel – ein komplettes Porzellan-Service, immerhin Bone China der nicht ganz schäbigen Art… Wollen wir mal nachschauen, was Männerteams für vergleichbare Titel abgestaubt haben?

In den 50ern, aber auch noch in den 70ern ließen sich nicht alle Zuschauer von rein sportlichen Interessen leiten. Viele Männer kamen anfangs wohl, um hämisch abzulachen, um schlanke oder auch stämmige Beine bzw. wallende Brüste in knappen Trikots zu sehen oder um gar frivole Schlammschlachten auf durchgeweichten Plätzen zu erleben. Manche waren auch ganz einfach wild auf die Mädchen. Besonders Italiener waren den Dortmunder Blondinen zugetan, woran sie sich kichernd erinnern.

Lang, lang hat’s gedauert, bis dann endlich mal sachlich-fachlich über Frauenfußball geredet wurde. Erst 1970 gab der DFB halbherzig seinen Fundamental-Widerstand gegen Frauenfußball auf. Quasi in einem Gnadenakt ließ man sich zur Erlaubnis herbei. Schon beinahe (negativer) Kult ist übrigens ein ZDF-Sportstudio genau aus jener Zeit. Wim Thoelke kommentierte das Ansinnen der Frauen durchaus noch im Stil der eingangs erwähnten Wochenschau. Das hätte in seiner Drastik noch als Aufreger zu Tanja Bubbels Film gepasst.

Auch die DDR hat Frauenfußball reichlich spät zugelassen, dort ging es ebenfalls erst in den 70er Jahren voran. Was Sabine Seidel und Gisela Liedemann (ehedem Turbine Potsdam) zu berichten haben, klingt denn auch eher elegisch, aber ebenso unverstellt wie das, was man aus dem Revier vernimmt.

„Die Prinz hatte wohl ihre Periode“

Die Frauen sind indes auf ihre Art nicht zimperlich. Eine behauptet schlankweg, sie seien immer zäher gewesen als die Männer („Die wälzen sich immer gleich am Boden“). Und als der inzwischen nicht mehr ganz junge Dortmunder Damenzirkel ein Länderspiel besucht, heißt es über eine weniger gut aufgelegte Top-Spielerin auf dem Rasen: „Die Prinz hatte wohl heute ihre Periode…“ Das sollte sich ein Mann mal zu sagen trauen.

Apropos Mann. Einer prägt auch diesen Film mit – durch seine Stimme. Der Fußballkommentator Werner Hansch hat seine Meriten, hier aber ist sein salbungsvoll-samtpfötiger Tonfall nicht immer angebracht; zumal er auch schon mal treuherzig zwiespältige Sätze von sich gibt („Zum Glück gab es das DDR-Sportsystem“ – triefende Ironie oder nicht?), die am Schluss in der vermeintlich alle und alles versöhnenden Formel gipfeln, ob nun Männer oder Frauen anträten, Hauptsache sei doch, dass Deutschland gewinnt. Ach was.

Rund 120 Filme auf dem Programm

So. Schlusspfiff. Ein paar andere Filme laufen ja schließlich auch noch beim Internationalen Frauenfilmfestival. Um pauschal etwas genauer zu sein: rund 120 Produktionen aller denkbaren Sparten und Formate, dazu ein üppiges Begleitprogramm mit Diskussionen, Workshops und Performances.

Beim internationalen Spielfilmwettbewerb für Regisseurinnen geht es um einen Preis von 15.000 Euro, davon 10.000 als Vertriebsförderung für den Verleih und 5000 für die Regie. Zudem gibt’s gleich zehn kuratierte Filmreihen unter dem Gesamtmotto „In Control…of the situation / Alles unter Kontrolle“, das sicherlich nicht nur wörtlich zu nehmen ist, sondern angesichts der Weltlage auch schierer Hohn sein kann. Da lassen sich halt frauenbewegte und (nicht nur) Frauen bewegende Filme jeglicher Art unterbringen.

Eine Reihe handelt von Flucht und Migration, eine andere vom Rückzug ins Innenleben und daraus resultierenden Aufbrüchen, eine weitere von Aktivistinnen der Solidarität und des Widerstands. Kurzfilmnacht, Super-8-Filmtechnik und Bösartiges bis zum Splattermovie sind weitere Stichworte. Das mag einigermaßen unübersichtlich wirken. Also gilt es, sich vorab ein paar Schneisen durchs Programm zu schlagen. Ein bisschen Zeit ist ja noch.

Infos zum Festival (4. bis 9. April): www.frauenfilmfestival.eu
Tickets: www.westticket.de




Stand jetzt ziemlich „humorlos“ – Notizen zum TV-Fußballjargon

Über die gängigen Floskeln der Fußball-Kommentatoren im Fernsehen kann man sich – je nach Laune – immer wieder amüsieren oder echauffieren. Hier sind ein paar neuere Standard-Wendungen, die ich mir in letzter Zeit geflissentlich notiert habe:

"Der hat ein anderes Spiel gesehen als ich." (Verfremdeter Screenshot aus dem Dortmunder Stadion)

„Der Blindfisch hat ein anderes Spiel gesehen als ich.“ (Verfremdeter Screenshot einer Begegnung im Dortmunder Stadion)

Gilt es ein Foul zu bewerten, heißt es vom Reporterplatz aus gern: „Da gibt es keine zwei Meinungen“. Diese Verfügung im nahezu diktatorischen, jedenfalls keinen Widerspruch duldenden Gestus bedeutet, dass der Kommentator genau und unwiderleglich weiß, ob es regelwidrig zugegangen ist oder nicht. Könnte der Schiedsrichter ebenfalls Zeitlupen aus einem Dutzend Blickwinkeln begutachten, wäre er vielleicht ebenso oberschlau. Wenn’s denn überhaupt stimmt, was der rundum bildversorgte Fernsehmann gesehen haben will.

„Mit allem, was er hat“

Ein kompromissloser Abwehrspieler wird seit einigen Jahren bevorzugt als „humorlos“ bezeichnet. Auch seine entschlossene Grätsche ist „humorlos“. Wer also Mist baut und dem Gegner dadurch unnötige Chancen gestattet, besäße im Umkehrschluss beträchtlichen Humor. Wat hammwer da gelacht! Apropos Abwehrspieler, einige Kommentatoren gefallen sich öfter mal in der erlesenen Formulierung, einer gehe „mit allem, was er hat“ in die Szene `rein. Das muss man sich im Vortrag mit einem ganz leicht gekräuselten Grinsen vorstellen. Wie denn überhaupt weichgespülte Ironie zur Grundausstattung gehört.

Diverse Sprecher gelangen freilich eh kaum über ein pures Nachplappern dessen hinaus, was man als Zuschauer mit eigenen Augen sieht. Man möchte unentwegt „Ach was!“ murmeln: Kommt einer nicht an den Ball, sagen sie „Er kommt nicht `ran“, stehen Widersacher seinem Schuss im Wege, heißt es, er sei „geblockt“ worden. Segelt eine Flanke etwas zu weit, ist sie „gut, aber nicht gut genug“. Verfehlen Pässe ihr Ziel, mangelt es an „Präzision“. Greift eine Mannschaft an, steht sie „hoch“, zieht sie sich nach hinten zurück, steht sie „tief“. Welch‘ ein (tief)sinnig ausdifferenziertes Fachvokabular… Vorteil: Bei solchen Nullformeln kann man vielfältig andocken und zu (un)passender Gelegenheit auch mal Bescheidwisser-Schenkelklopfer wie etwa Mentalitätsmonster“ oder „Feierbiest“ einstreuen.

Als man noch von „Granaten“ sprach

Der wohl schlimmste Mikrophonquäler von allen, den ich hier nicht namentlich nennen mag (er labert für einen Bezahlsender drauflos) und mit dem verglichen selbst Béla Réthy, Tom Bartels oder Gerd Gottlob wahre Leuchten ihrer Zunft sind, überbrückt die Zeit mit Bemerkungen des Kalibers, dass es dieser (oder eben jener) Mannschaft gefallen würde, wenn sie z.B. noch ein, zwei Tore macht, die Punkte holt und gewinnt. Man hält es nicht für möglich. Da sehnt man sich heftig zurück nach einem Ernst Huberty, der auch mal eine ganze Strecke schweigen konnte. Okay, wenn dann ein entscheidendes Tor fiel, war er auch nicht vollends aus dem Häuschen. Aber das konnte man verschmerzen. Ein paar Emotionen brachte man ja selbst mit.

Immerhin knödeln sie alle heute längst nicht mehr im martialischen Jargon von früher, als stets von Bomben und Granaten die Rede war und der erfolgreichste Stürmer als „Bomber der Nation“ bezeichnet wurde. Bis tief in die 70er Jahre hinein ging das so. Es war die Zeit, als der eine oder andere tyrannische Trainer noch geschrien haben soll: „Ihr müsst Gras fressen“. Dies und das pathetische Wochenschau-Tremolo der 50er Jahre, in denen der Krieg noch nachzitterte, brauchen wir erst recht nicht mehr.

Es kommt auf die Sekunde an

Statt dessen bequatschen uns jetzt Sprachverweigerer, die nicht mehr „nach jetzigem Stand“ sagen können. Die allermeisten sagen immer nur „Stand jetzt“, auch dann, wenn es z. B. um Transfergerüchte geht. Auch bringen sie nicht „die erste Halbzeit“ über die Lippen, sondern immer nur „Halbzeit eins“ oder „Minute zehn“, um nur ja keine Sekunde zu verschenken. Die gewonnene Zeit füllen sie sodann mit aberwitzigen Statistiken. Oder sie weisen schon mal wortreich auf die anschließende „Analyse“ respektive auf eine selbstverständlich hochkarätige Expertenrunde hin, in der uns diese eben gesehene (läppische) Szene „noch lange beschäftigen“ werde.

Wo wir schon bei Minuten sind: Wenn es auf die Nachspielzeit zugeht, gibt es bei diesen Herrschaften immer zwei oder drei Minuten „oben drauf“, niemals „zusätzlich“. Pardon, ich habe eine Ausnahme vergessen: Für Bayern München gibt’s bei Bedarf natürlich mindestens 8 Minuten „oben drauf“.

Jaja, schon klar, man möchte mit diesen sich überaus wichtig nehmenden Leuten (außer womöglich beim Gehalt) auch nicht unbedingt tauschen. Unter dem Druck eines Millionen-Publikums würde jede(r) von uns gelegentlich Unsinn verzapfen. Doch was sind das für Zeiten, in denen man den arroganten und manchmal parteiischen, doch immerhin deutlich sprachbegabten Marcel Reif wieder am Mikro haben möchte? Vom unvergleichlichen Ruhri Werner Hansch mal ganz zu schweigen. Aber seit er das selbst zu sehr weiß, nervt auch er gelegentlich.

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Nachträge (werden gelegentlich aktualisiert)

„Gute Bewegung“ (Wenn einer am Gegner vorbeikommt)
„Das war kein Freistoß für die Geschichtsbücher.“
Der Ball wird „durchgesteckt“.
„Ein emotionaler Moment“ (Inflationär gebräuchlich, wenn etwas nicht ganz gleichgültig ist)

Das neueste Ding der Sport-Kommentatoren ist es, den mächtig intellektuell klingenden Begriff „Momentum“ einzustreuen. Spieler nutzen demnach nicht mehr den richtigen Moment, sondern das Momentum. Es ist zu erwarten, dass demnächst auch „Telos“ und „Kairos“ verwendet werden.

„Fix“ (Eher in Print-Produkten gebräuchlich. Bezeichnet in aller Kürze einen unzweifelhaft geschlossenen Vertrag bzw. erfolgten Transfer. Weiß der Teufel, wer zuerst darauf gekommen ist.)




Ernst Huberty wird 90 Jahre alt – Er stand für Fußball-Kommentare mit gedämpften Emotionen

TV-Legende Ernst Huberty (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=VmYQEJ_Ww8E)

TV-Legende Ernst Huberty (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=VmYQEJ_Ww8E)

Ernst Huberty, der legendäre ARD-Sportjournalist („Mister Sportschau“), wird heute 90 Jahre alt. Aus diesem Anlass noch einmal der Beitrag, der im Juni 2014 über ihn in der Revierpassagen-Reihe „TV-Nostalgie“ erschienen ist:

Wenn man Béla Réthy, Tom Bartels, Steffen Simon und Co. über Fußball palavern hört, dann sehnt man sich manchmal zurück in die alten Zeiten eines Kurt Brumme, Rudi Michel – oder Ernst Huberty. Wie nüchtern und abgeklärt wirkte das, verglichen mit heute.

Beispielsweise im Vorfeld der Fußball-WM in Brasilien fiel es 2014 wieder besonders auf, welch ein Geschrei inzwischen um den Fußball gemacht wird. Im Laufe eines Spiels werden alle möglichen und unmöglichen Statistiken geliefert, auch gibt’s schon mal neckische Anspielungen auf halb private Umtriebe der Kicker. Mal ganz abgesehen von der umfangreichen Vor- und Nachberichterstattung. Das alles war in den alten Zeiten undenkbar.

„Ausgerechnet Schnellinger“

Man höre sich noch einmal (leider nur in Ausschnitten möglich) Ernst Hubertys Fernsehkommentar zum sogenannten „Jahrhundertspiel“ zwischen Italien und Deutschland bei der Fußball-WM 1970 in Mexiko an. Lange wogte die legendäre Begegnung hin und her, es ging in eine Nerven zerreißende Verlängerung. Schließlich gewann Italien mit 4:3.

Man mag sich gar nicht ausmalen, wie heutige Sprecher bei einem solchen Match simulieren würden, dass sie von einer Ohnmacht in die andere fallen. Ernst Huberty, ab 4. Juni 1961 über Jahrzehnte der „Mister Sportschau“ der ARD (als noch keine private Konkurrenz drohte), blieb hingegen die Ruhe selbst. Ein leise, aber irgendwie doch intensiv dahingesagtes „Ausgerechnet Schnellinger“ markierte schon einen Gipfel der Gefühle.

Keine starken Gefühle zeigen

Tatsächlich wurde damals ja auch noch langsamer gespielt, so dass Huberty und Kollegen die Ballstaffetten sehr gemächlich mit bloßer Namensnennung abhaken konnten. Wenn überhaupt. Fiel ein Treffer, so reichte meist ein lakonisches „Und Tor.“ Oder dergleichen. Während des Spiels wurde oft einfach geschwiegen. Es gibt ja auch nicht immer was zu schwätzen.

Selbst das WM-Finale von 1966 (England – Deutschland 4:2) rang Rudi Michel nur begrenzte Emotionen ab. Jedenfalls trug er sein Herz nicht auf der Zunge, nicht einmal beim berühmten „Wembley-Tor“ (oder eben Nicht-Tor). „Das wird wieder Diskussionen geben“, sagte er, äußerlich seelenruhig, innerlich aber wohl bewegt. Männer durften damals noch immer keine allzu deutlichen Gefühle zeigen. Metallisch dröhnende Töne wie noch 1954 waren freilich auch nicht mehr erwünscht.

Wohltuend unaufgeregt oder langweilig?

Die Sprecher der 60er und 70er Jahre klingen für heutige Empfinden einerseits wohltuend unaufgeregt. Andererseits bringt man die Geduld für einen solchen Stil gar nicht mehr auf. Je nach Gemütszustand, möchte man Ernst Huberty am liebsten nachträglich schütteln: „Nun reg’ dich doch endlich mehr auf! Nun lass doch mal deinen Empfindungen freien Lauf!“

Es müsste mal einer ein Buch darüber schreiben, wie sich die Fernseh-Fußballreportage seit Hubertys Zeiten grundlegend verändert hat, mit Zwischenstationen wie Heribert Faßbender oder Gerd Rubenbauer – und wie sie alle hießen.

Ein Extra-Kapitel könnte man der Entwicklung widmen, dass gesellschaftliche Befunde anhand des Fußballs dingfest gemacht werden – und dass neuerdings auch mehr oder weniger subtiler Humor in Sachen Fußball erlaubt ist. Man vergleiche etwa den betulich ernsten „Kicker“ mit dem quicken und hellwachen Blatt „11 Freunde“…

Der Mann mit dem „Klappscheitel“

Ernst Huberty, der Mann mit dem unvergleichlichen „Klappscheitel“, hatte seine Laufbahn in den späten 50er Jahren begonnen. Als WDR-Sportchef und Moderator der Sportschau wurde er 1982 abgelöst, weil er es mit Spesenabrechnungen nicht so genau genommen haben soll. Man schob ihn ins dritte Programm ab.

1990 sprang Huberty beim noch neuen Bezahlsender Premiere ein und gab nebenher jungen Talenten wie Johannes B. Kerner oder Reinhold Beckmann Tipps. Doch da waren die alten Zeiten schon vorbei – und das unaufhörliche Geschrei über Fußball hatte begonnen.




Schalke vs. Bayern 0:2 – von Dusel, Revier-Solidarität und zweifelhaften Verknüpfungen

Und wieder hat’s – neben dem bekannten Können – der übliche Bayern-Dusel gerichtet. Sie haben Schalke mit 2:0 unter Wert geschlagen. Warum nur hat Huntelaar diesen unseligen Lattentreffer nicht reingemacht? Und überhaupt…

„Lewandowski macht den Unterschied“ schreibt oder palavert in derlei Fällen der gemeine Sportreporter. Wir rufen ihm spontan und beherzt zu: Halt doch den Schnabel! Morgen drücken wir uns dann etwas zivilisierter aus. Oder auch nicht.

Screenshot vom Spiel Schalke 04 - Bayern München (© Sky Bundesliga)

Screenshot vom Spiel Schalke 04 – Bayern München (© Sky Bundesliga)

Schalke hat sich eindeutig verstärkt, der neue Trainer Weinzierl scheint wahrhaftig ein Konzept zu haben. Doch was hat es heute genutzt? Die Blauen stehen ganz hinten in der Tabelle, doch das wird sich gründlich ändern.

Was vorher geschah: Kaum war die Bundesliga nach schier ewig anmutender Pause endlich wieder gestartet, hatte es gleich diese zwei dämlichen Länderspiele gegen Finnland und Norwegen gegeben. Welch eine unsinnige Planung. Umso mehr dürstete man nach Fortsetzung der wahren Kicks – und die gab’s heute gleich mit der ziemlich hoch anzusiedelnden Partie FC Schalke – Bayern München.

Als Dortmunder und BVB-Anhänger tut man sich gerade mit dieser Begegnung ziemlich schwer. Instinktiv möchte man zu beiden n i c h t halten und möglichst beiderseits je null Punkte und null Tore vergeben. Aber das geht ja nun mal nicht.

Außerdem ist dies schließlich eine Nagelprobe auf die Revier-Solidarität. Wenn schon, dann muss man es in solchem Falle wohl mit den Schalkern halten. Die altgediente und gar oft ausgekostete Rivalität an Ruhr und Emscher muss dabei einmal hintan stehen; übrigens in umgekehrter Richtung auch morgen, wenn’s für den BVB gegen diesen seltsamen Retorten-Club aus Leipzig geht.

Wo wir gerade bei Leipzig sind: In Dortmund und Gelsenkirchen spielen selbstverständlich jeweils „Elf Freunde“ (plus ein paar weitere Kumpel) ohne Ansehen des Kommerzes. Einfach aus Spaß an der Freud’. Gut, nech?

Aber mal im Ernst: Dass etliche BVB-Fans an diesem Wochenende lieber den eigenen Amateuren zuschauen und das Bundesliga-Match gegen Leipzig nur kollektiv im Radio hören wollen, das hat doch was.

Noch’n kleiner Einschub: Auf Dauer nervt es ein wenig. Im Ruhrgebiet wird selbst bei vielen journalistischen Kultur-Terminen auf die Konkurrenz zwischen Schalke 04 und BVB 09 abgehoben. Nichts geht ganz ohne Fußball. Und wer zählt die Leute, die an stinknormalen Tagen im sündhaft teuren BVB-Trikot durch die Straßen gehen? Von ballonseidenen Trainingsklamotten ganz zu schweigen.

Aber ich verplaudere mich. Ganz gegen meine Gewohnheit.

Schalke – Bayern also. Tagsüber hatte schon die Nachricht für netzweite Häme gesorgt, dass der Vereinsstatus des FC Bayern juristisch angefochten wird, vielleicht droht sogar eine Löschung aus dem Vereinsregister mit eventuell weit reichenden Folgen. Vielen wär’s gerade recht.

Schalker Fans hielten vor dem Anpfiff Transparente hoch, auf denen sie ihre „alten Helden“ von Kuzorra über Klodt und Libuda bis Wilmots priesen. Wer hat, der hat. Auch wenn es schon lange her ist.

Im Spiel begann Bayern stärker, doch Schalke fuchste, fudelte und wurschtelte sich relativ rasch `rein, wurde dann hie und da wirklich gefährlich, um nicht zu sagen: streckenweise ebenbürtig.

Bayerns Hummels holte sich früh eine gelbe Karte ab, was ihm beim BVB so gut wie nie passiert ist. Das sollte ihm zu denken geben.

Fast schon niedlich, wie sie immer noch ihren Ex-Torhüter Manuel Neuer auspfeifen, der schon vor Jahren zu den Bayern gegangen ist.

Schiedsrichter Manuel Gräfe verletzte sich und bekam einen königsblauen Wadenverband. Wenn das mal nichts zu bedeuten hatte…

Doch nein. Der letztmalige Meister des Jahres 1958 (S 04), der mit Gazprom und dem Fleischfabrikanten Clemens Tönnies nicht gerade sympathische Wirtschaftsverbindungen geknüpft hat, hat es wieder einmal dem BVB et al. überlassen, die Bayern in der Liga zu bremsen – wenn’s denn dazu kommt. Denkt euch an dieser Stelle zwei bis drei tiefe Seufzer.




In der Zone von „dazn“: Es lockt ein neuer Streaming-Dienst für Sport

Ich gehöre zu den Männern der ersten Stunde. Nun gut, es ist nicht, was ihr vielleicht denkt. Keinesfalls habe ich eine veritable Pionierleistung vollbracht. Weder habe ich Neuland entdeckt noch ein gefährliches Abenteuer bestanden oder gar die Weltformel gefunden. Nein, ich zähle nur zu den ersten paar Tausend Mitgliedern eines Streaming-Dienstes, der erst diesen Monat seinen Betrieb in den deutschsprachigen Ländern aufgenommen hat. Und jetzt alle, ganz enttäuscht: Oooooch…

Screenshot von dazn-Angeboten auf der Homepage des Dienstes. (© dazn)

Screenshot von dazn-Angeboten auf der Homepage des Dienstes. (© dazn)

Zur Sache. dazn (www.dazn.com) heißt die Chose – und an der Erklärung, wie sich dieses rätselhafte Buchstabengebilde ausspricht, haben sich schon andere verhoben. Angeblich soll es sich wie „da zone“ anhören, also „the zone“ und ergo „Die Zone“ bedeuten. Hä? Na, egal. Wir Gimpel haben gedacht, die Zone hätte sich mit Wende und Mauerfall erledigt.

Albernen Spaß beiseite. Der neue, als deutscher Ableger der Londoner Perform-Gruppe in Ismaning bei München ansässige Anbieter verspricht massenhaft werbefreien Live-Sport via Streaming, angeblich rund 8000 Ereignisse pro Jahr – und das zu einem Lockvogel- oder Kampfpreis von 9,99 Euro im Monat. Eine entsprechende App gibt’s auch. Wer hätte das gedacht?

Und nein: Ich habe k e i n e n kostenlosen Pressezugang oder dergleichen korruptives Zeug beantragt, wie es vielleicht der eine oder andere Kollege versucht hätte. So komme ich auch nicht in Versuchung, vorab zu jubeln. Ich probiere es als gewöhnlicher Privatkunde mit einem anfänglichen Gratis-Monat aus, zumal jederzeit monatlich gekündigt werden kann. Schau’n mer mal. Vielleicht bin ich ja auch bald wieder `raus aus der Nummer.

Spitzenfußball aus England, Spanien usw.

Was gibt’s denn anfangs „für umme“ und nach der Probezeit für die 9,99 Euro? Bei dazn empfängt man (laut Anbieter auf PC, Mac, Tablet, Handy, netztauglichem Smart-TV und Spielkonsolen) zuvörderst Fußballspiele der englischen, spanischen, italienischen und französischen Ligen, folglich – von der Bundesliga einmal abgesehen – die Crème des europäischen Kickertums. Vieles lässt sich auch als „Re-Live“ (vulgo: Wiederholung) ausgiebig nachschmecken. Besser dann, wenn man das Resultat noch nicht kennt.

Rund um Bayerns Hauptstadt muss ein Nest sein: Ganz in der Nähe von Ismaning, in Unterföhring bei München, sitzt der Sportsender Sky, der bisher so unangefochten seine Kreise zog. Jetzt hat ihm dazn die so attraktive englische Premier League mit Typen wie Klopp, Guardiola, Pogba, Rooney, Mkhitaryan, Gündogan und all den anderen multimillionenschweren Stars weggeschnappt. In Spanien treten bekanntlich kaum schlechtere Sportler vor den Ball – und da reden wir nicht nur von Messi, Ronaldo und Bale.

Mehr noch: dazn darf auch Zusammenfassungen der Bundesliga zeigen – ab 2017 bereits 40 Minuten nach Abpfiff, also vor der ARD-Sportschau. Klingt nicht so übel. Okay, Sky bringt einstweilen noch die komplette 1. und 2. Bundesliga live, außerdem die Champions League und die Europa League. Aber dafür kassieren sie auch kräftig. Fragt mal die Kneipenwirte. Oder einzelne Fans.

Auch Ukraine, Korea und Angelsport

Sogar belgischen und skandinavischen Fußball (Dänemark und Schweden) gibt’s bei dazn obendrein. Wenn ich’s recht gesehen habe, sind überdies Partien aus Schottland, Serbien, Kroatien, der Ukraine und Südkorea zu haben. Die meisten Bewohner Deutschlands, der Schweiz und Österreichs könnten darauf wohl leichten Herzens verzichten. Je nun.

Aber ein paar interessante Partien dürften im Gesamtpaket immer mal wieder zu finden sein. Auch die Handball-Bundesliga nebst Pokalspielen ist für manchen „nicht ohne“.

Wer’s denn braucht, kann sich zudem an diversen Wettkämpfen im American Football (NFL), Basketball (NBA), Tennis (WTA- und ATP-Turniere), Motorsport (allerdings nicht Formel 1), Pferderennen, Rugby, Kampfsport sowie – aufgemerkt – Bowling, Darts und Sportfischen ergötzen. So viel passiven Sport braucht eigentlich kein Mensch. Sei’s drum. Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich die Offerten im Laufe der Zeit verändern und ob sie sich verteuern.

Die Bilder ruckeln manchmal noch

Um schon mal erste Eindrücke zu vermelden: Die Seite könnte noch etwas übersichtlicher gestaltet („layoutet“) und mit Schwerpunkten versehen werden. Vor allem aber sind die Streams noch längst nicht immer ruckelfrei. Das schmälert das Vergnügen mitunter erheblich. Man kann nur zuversichtlich hoffen, dass diese technischen Probleme rasch behoben werden, die sich abends, wenn viele zugeschaltet sind, zu häufen scheinen. Wer will schon in entscheidenden Momenten „eingefrorene Bilder“ empfangen?

Zukunft des Zuschauens

Die fußballerischen Begegnungen (selbst jene aus Belgien und Korea) sind in aller Regel mit deutschen Kommentaren (nicht vor Ort, sondern im Studio eingesprochen) versehen, was für ein Mindestmaß an Orientierung sorgt. Völlig verstummte Spiele mag man denn doch nicht unbedingt haben – und wenn man sich noch so sehr über manchen Dummbatz am Mikro ärgert. Vertrackt genug: Der Zorn ist mitunter Teil des Vergnügens, denkt nur an Béla Réthy. Womit aber noch gar nichts über die Kommentar-Qualität bei dazn gesagt sein soll. Die kann man summarisch erst nach einer gewissen Zeit beurteilen. Ob man für den vergleichsweise schmalen Preis Spitzen-Journalismus und tiefgreifende Analysen verlangen kann, sei einstweilen dahingestellt.

Andere Sportarten wie American Football, Tennis, Basketball, Rugby und Darts werden – wie man schon ahnt – mit englischem Kommentar geliefert. Das geht in Ordnung. Wer z. B. Football sehen will, sollte schon ein paar Brocken dieser Sprache verstehen.

Derlei Dienste sind jedenfalls die Zukunft dessen, was einmal „Fernsehen“ geheißen hat, weitere Stichworte anderer Genres lauten Netflix und Spotify. Die Zeiten, in denen zig Millionen Leute zeitgleich dieselbe Sendung geschaut haben, sind – von ganz großen Fußballpartien und bestimmten „Tatort“-Folgen abgesehen – endgültig vorüber. Ach. Das habt ihr schon gewusst? Dabei gibt es doch (Stichtag übrigens heute!) das Internet erst seit schlappen 25 Jahren…

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(mit angelesenen Infos von dpa und der Süddeutschen Zeitung)




Island – das Wort der Stunde

Island ist das Wort und das Land dieser Tage. Fast niemand, der nicht die neueste Mode mitgemacht hätte, jeden Begriff mit einem angehängten „sson“ zu islandisieren.

Islands Kapitän Aron Gunnarsson, abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild.

Islands Kapitän Aron Gunnarsson, heute abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild.

Doch heute haben die sympathischen Nordländer bei der EM eine ehrenwerte 2:5-Packungsson (harrharr) gegen Frankreich kassiert und sind ausgeschieden. Schade, aber sicherlich auch verdient.

Die Zeiten, als das Wünschen – frei nach Peter Handke – noch geholfen hat, sind vorüber. Auch haben die Isländer ihre anfängliche Unbefangenheit verloren. Sie haben sich wohl aufs Gewinnenwollen versteift und sind dabei verkrampft. Es war zu erwarten.

Keine Gazette, die jetzt nicht ein Island-Special in ihre Spalten gerückt hätte. Beliebte Frage: Wie ticken die Wikinger? Naja. Jedenfalls wird man sich vor allem auch daran erinnern, wenn in zehn oder zwanzig Jahren von dieser EM noch einmal kurz die Rede sein sollte. War das nicht dieses Turnier mit den beherzt kickenden Trollen? Das, was bleiben wird, stiften die Geysire. Oder so ähnlich. Huh!

Es war ja auch ein schöner Traum. Erst haben sie in der EM-Qualifikation die Niederländer heimgeschickt. Dann haben sie bei dieser ansonsten oft so bräsigen EM den Favoritenschreck gegeben. Danke.

David gegen Goliath, das mag man allenthalben. Und ich bin ziemlich sicher: Auf dieses Island können sich insgeheim mancherlei politische Fraktionen einigen. Die Linke mag den Underdog, die Rechte die kernigen „Germanen“. Überschneidungen inbegriffen. So ungefähr. Oha!

Schon jetzt haben sich die Touristenzahlen des ehedem nur recht selten besuchten Eilands immens erhöht. Spätestens im nächsten Jahr dürfte auch so mancher Depp, der bislang nicht einmal die geographische Lage erahnt hat, aus bloßen Gründen des Trends dort einfallen. Arme Isländer. Man möchte schon jetzt um Entschuldigung bitten. Ballermann goes Reykjavik…




Eine eher missmutige Zwischenbilanz zur Fußball-EM 2016 in Frankreich

Doch, doch: Vorab hatte ich mich aufs EM-Turnier in Frankreich gefreut. Allen Bedrohungen zum Trotz. Ich habe mir sogar eines dieser Vorschau-Hefte gekauft. Doch dann hat (nicht nur) mich das vielfach uninspirierte Ballgeschiebe ein ums andere Mal ziemlich abgeschreckt.

Ihr wisst schon, was ich meine: Dieses (vom dämlichen Austragungsmodus begünstigte) leidenschaftslose Taktieren, das inzwischen die allermeisten Spiele prägt, zersetzt den Geist des Fußballs. Findet ihr nicht?

Der kroatische Angreifer Ivan Perisic (vormals Borussia Dortmund & VfL Wolfsburg) mit Nationalfarben am Kopf. War's ein Pflaster oder ein Tattoo? War's aufgeklebt oder aufgebügelt? Egal. Es ist wohl ein Zeichen der Zeit. (Abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild, Rechte wahrscheinlich bei der UEFA oder so)

Der kroatische Angreifer Ivan Perisic (vormals Borussia Dortmund & VfL Wolfsburg) mit Nationalfarben am Kopf. War’s ein Pflaster oder ein Tattoo? War’s aufgeklebt oder aufgebügelt? Egal. Es ist wohl ein Zeichen der Zeit. (Abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild, Rechte wahrscheinlich bei der UEFA oder so)

Kleinmütiges Gekicke überwiegt. Jeder Einwurf und jede Ecke werden beiderseits reklamiert. Von Fouls ganz zu schweigen. Und immer sind die Anderen schuld. An allem. Keine filigrane Kunst, nur Bollwerk und Riegel. Keine Dramen, keine Tragödien. Und niemand, der bereit wäre, notfalls einmal mit fliegenden Fahnen „unterzugehen“.

Stand 25. Juni, nach Beendigung des ersten Achtelfinal-Spieltags am späten Abend: Wenn ich richtig gezählt habe, haben schon zwölf (!) Spiele nach 90 Minuten (plus x) mit dem gähnträchtigen Ergebnis 1:0 geendet, ein zumeist fades 2:1 gab’s in fünf, ein vielfach bräsiges 1:1 in sechs Fällen (davon eines, das per Elfmeterschießen entschieden werden musste), dazu kamen vier torlose Begegnungen. Das Prädikat „aufregend“ haben allenfalls zwei bis drei von bislang 39 Partien verdient.

Bestens bezahlte Jubler (vulgo: TV-Kommentatoren) reden die meisten Szenen dennoch schön oder suchen künstlich Spannung zu beschwören. Dieses pseudo-maskulin hervorgepresste Gefasel. Dieses dürftige Standard-Vokabular („geblockt“ für abgewehrt). Dieses immergleiche Crescendo, wenn einer mehr oder weniger gefährlich vor dem Tor auftaucht („Gommeeeeeez“).

Ansonsten sind sie als Künder des Offensichtlichen am Werk, ganz nach dem Muster: „Ronaldo kommt nicht ran.“ Oder: „Der Freistoß war gut. Aber nicht gut genug.“ Ach was. Man mag’s nicht mehr hören. Aber mit ihnen tauschen möchte man auch nicht, mit wohlfeiler Kritik vom Sofa aus ist es nicht getan. Hier müsste grundsätzlich etwas passieren. Lasst meinetwegen Lyriker ans Mikrofon. Oder Satiriker.

Wie auch immer: So manches Match schaue ich mir gar nicht mehr an oder lasse es nur nebenher mitlaufen. Das Fieber hält sich bis dato in engen Grenzen und übersteigt die 37-Grad-Marke nur äußerst selten.

Das Drumherum tue ich mir schon lange nicht mehr an. Mit dem Abpfiff zur Halbzeit wird sofort ausgeschaltet, ca. 15 Minuten später wieder ein und mit dem Schlusspfiff ist eben auch Schluss. Kein endloses Gelaber über „Packing“ und dergleichen. Erst recht keine spätabendlichen Gruseltreffs wie bei Beckmann, die ich gottlob nur vom Hörensagen kenne. Das reicht schon. Es ist offenbar der absolute Tiefpunkt des Fernsehjahres. Und das bei einem öffentlich-rechtlichen Sender. Zweckdienliche Verwendung der Gebühren sieht anders aus.

Aber jetzt beginnt das Turnier doch erst richtig, oder? Nun, falls man hoffnungsfroh auf die K.o.-Runde gesetzt haben sollte, wird man von den bisherigen Partien ebenfalls enttäuscht. Nun gut, die Schlussphase von Kroatien vs. Portugal hatte was. Schade ums kroatische Team.

Man soll den Fußball nicht immer gleich politisch interpretieren, aber insgesamt man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, bei dieser EM den sportlichen Elaboraten eines Kontinents in Erstarrung zuzusehen, Insel-Anhängsel inbegriffen. Wo wäre da ein befreites, seiner selbst gewisses oder auch nur unbekümmert frohgemutes Aufspielen? Nein, das womöglich liebenswerte Gewurschtel isländischer Prägung oder muntere irische Fangesänge können uns den wahren Spielzauber nicht ersetzen. Sorry.

Ach so. Heute (Sonntag) um 18 Uhr spielt die deutsche Elf gegen die Slowakei. Nein, nicht gegen Slowenien. Und auch nicht mit Gewinn-Garantie.

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P.S. am Sonntag, 26. Juni, 22:09 Uhr abends: Nun, das lässt sich schon besser an. Ein durchaus beachtlicher deutscher Auftritt gegen die (allerdings erbärmlich abwehrschwachen) Slowaken, dazu die phasenweise putzmunteren Belgier. Und Frankreich – Irland soll auch ganz nett gewesen sein, wie ich höre. In diesem Stile darf’s von nun an gern weiter gehen.

Aber jetzt bitte nicht gleich wieder in den altbekannten Modus der deutschen Titel-Euphorie wechseln! Italien oder Spanien wartet.




Ratlos in Hannover – und überhaupt

Ich möchte kein Politiker sein. Ich möchte kein Polizist sein. Ich möchte kein…

Ist Deutschland ein feiges Land? Das überaus gefährdete Fußballspiel England – Frankreich im Wembley-Stadion wird ausgetragen. Die Begegnung Deutschland – Niederlande in Hannover wird hingegen rund 90 Minuten vor Beginn abgesagt. Aber wer möchte verantwortlich sein, wenn Hinweise auf einen Anschlag vorliegen? Und diese Hinweise müssen schon sehr konkret gewesen sein. Wer weiß.

Screenshot vom Spiel England - Frankreich im Wembley-Stadion.

Screenshot vom Spiel England – Frankreich im Wembley-Stadion.

Bemerkenswerte Einlassung des Bundesinnenministers Thomas de Maizière in seiner Hannoveraner Pressekonferenz: Wollte er alle Journalistenfragen wahrheitsgemäß beantworten, so könnten manche Antworten die Bevölkerung verunsichern…

Was sollen wir nun denken?

Während ich im NDR die Pressekonferenz mit de Maizière, dem niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD) und dem Dortmunder Bundesliga-Chef Reinhard Rauball verfolge, schaue ich im Netz aus den Augenwinkeln auf Szenen der Begegnung in London. Wie nebensächlich der Fußball geworden ist, fast schon ein sinnfreies Gehampel!

Und schon fragt man sich, ob nicht die gesamte Bundesliga gefährdet sein könnte. Und die Premier League. Und die Primera Division. Das alles darf doch nicht wahr sein. Damit wären diverse Geschäftsmodelle bedroht. Und damit ginge es ans Eingemachte des Westens.

Gänsehaut-Bekundungen aller Arten mag ich eigentlich nicht. Aber als Franzosen und Engländer in London gemeinsam die Marseillaise („Aux armes, citoyens, formez vos bataillons“) gesungen haben, war das schon wahrlich „something to be“… Ach, Europa!

Wie ich gerade sehe, läuft im NDR schon wieder ein alter „Tatort“. Na, dann. Kann man ja wohl beruhigt schlafen, oder?




Integration (nicht nur) auf dem Rasen – Fußball war im Ruhrgebiet stets eine verbindende Kraft

Der folgende Beitrag macht klar, warum Fußball gerade im Ruhrgebiet so ungemein wichtig ist. Ein Text unseres Gastautors Heinrich Peuckmann, Schriftsteller aus Bergkamen:

Wenn Borussia Dortmund gegen Schalke 04 spielt, steht das halbe Ruhrgebiet Kopf. Unglaubliche Emotionen werden frei, bei den Verlierern fließen Tränen, bei den Siegern brechen Jubelstürme aus. Kaum jemand, der das Revier nicht kennt, versteht, warum der Fußballsport hier eine so große Bedeutung hat. Man muss ein Stück in die Geschichte des Ruhrgebiets zurückgehen, um einleuchtende Erklärungen zu finden.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war das Ruhrgebiet eine eher verschlafene Region, die Städte waren klein, Landwirtschaft und bescheidener Handel entlang des Hellwegs prägten das Leben der Menschen. Dann setzte mit Macht und ungeheurem Tempo die Industrialisierung ein, Kohle und Stahl bestimmten für über 100 Jahre die Arbeitswelt. Und dafür mussten Arbeitskräfte angelockt werden, nicht ein paar, sondern gleich Hunderttausende.

Wäre 1955 fast ins Finale um die Deutsche Meisterschaft vorgedrungen: die Herner Vorort-Mannschaft des SV Sodingen.

Wäre 1955 fast ins Finale um die Deutsche Meisterschaft vorgedrungen: die Herner Vorort-Mannschaft des SV Sodingen.

Innerhalb weniger Jahre schwollen die Städte zwischen Ruhr und Lippe, Dortmund, Bochum, Essen und Duisburg zu Großstädten an. Aus Süddeutschland kamen Zuwanderer (bis heute gibt es im Ruhrgebiet „Bayern- oder Alpenvereine“, bei deren Festen tatsächlich in Lederhosen getanzt wird), aus Schlesien und Ostpreußen. Im Ruhrgebiet war man traditionell protestantisch, nun kamen viele Katholiken hinzu, etwas, was damals von großer Bedeutung war. Die Neuen sprachen anders, sie hatten auch andere Namen: Szepan, Konopczinski, Tilkowski, Nowak… Die „Pollacken“ nannte man sie damals durchaus abfällig im Revier.

Wie deutlich zwischen den Menschen, aber auch den Schichten unterschieden wurde, kann man bis heute an einer Gastwirtschaft in der kleinen Gemeinde Bönen ablesen. Bei „Timmering“ gab es rechts einen Eingang für die Steiger der Zeche und für ihre Frauen, die beide einen eigenen Raum in der Wirtschaft hatten. Den Haupteingang, zwei kleine Steintreppen hoch, nahmen die Bergleute, aber links gab es noch einen dritten Eingang. Der war für die Zuwanderer bestimmt, für die „Pollacken“ eben, mit denen sich die Einheimischen lange Zeit nicht gemein machen wollten. Im Keller befanden übrigens die Umkleidekabinen für den Fußballverein VfL Altenbögge, und weil der kurz nach dem Krieg in der obersten Liga spielte, haben sich dort alle großen Stars von Schalke, Westfalia Herne und Borussia Dortmund irgendwann mal umgezogen. Die Sitzbänke stehen noch da, man sollte sie unter Denkmalschutz stellen.

Das Trennende zwischen den Menschen wog also schwer, umso wichtiger wurde daher das, was sie verband. Und das war vor allem der Fußball. Dieser oder jener war zwar ein „Pollacke“ und katholisch war er auch noch, aber er schwärmte wie seine Arbeitskollegen von der Zeche für Hamborn 07 oder den SV Sodingen. Also gab es Berührungspunkte, also kam man sich näher.

Es waren damals noch nicht die Großvereine, sondern kleine Vereine in jeder Stadt, sogar in jedem Stadtteil, die die Menschen, über alle Unterschiede hinweg, zusammenführten. Und erfolgreich waren diese Vereine noch dazu. Der SV Sodingen zum Beispiel im Vorort von Herne hatte sein Stadion auf dem Gelände der Zeche „Mont Cenis“ und mit der Schließung dieser Zeche begann auch sein Abstieg.

1955 aber wäre der SV Sodingen beinahe in das Endspiel um die deutsche Meisterschaft vorgedrungen, das dann mit hauchdünnem Vorsprung der 1. FC Kaiserslautern mit seinen Weltmeistern Fritz und Ottmar Walter erreichte. In dieser Zechenmannschaft spielten gleich mehrere Nationalspieler und wenn man ihre Namen aufzählt, merkt man, woher sie stammten: Sawitzki, Adamek, Konopczinski (B-Nationalmannschaft), Cieslarczyk. Aber auch Nationalspieler wie Jupp Marx oder Gerd Harpers standen in den Reihen des SV. Die Namen verraten, hier fand eine funktionierende Integration statt, die eben nicht auf das Spielfeld beschränkt blieb, sondern sich auf die Zuschauerränge und damit in der Folge auch auf den Arbeitsplatz übertrug.

„Hännes“ (Johann) Adamek, echter polnischer Landadel, war damals bei allen so berühmt, dass irgendwann der katholische Priester bei einer Predigt die Sodinger als gottloses Volk beschimpfte. Sie würden niemals von Gott reden, beklagte er, sondern immer nur von „Hännes“ Adamek. Wie sehr darin Religiöses mitschwang, nämlich das grundsätzliche Einverständnis mit dem Mitmenschen, egal von welcher Herkunft, hat er nicht kapiert. Wie weit diese Zuwanderung damals ging, belegt eine Geschichte, die gerne im Ruhrgebiet kolportiert wird. Als die Schalker Mannschaft mal zu einem Gastspiel nach Polen fuhr, fragte der dortige Fußballverein an, wie viele Zimmer man denn im Hotel reservieren solle. Die Antwort war ganz einfach: „Eines für den Trainer, die Spieler schlafen bei ihren Verwandten.“

Der Zusammenhalt im Schmelztiegel Ruhrgebiet ist also mit der Zeit gewachsen, der Fußball als Sozialkitt hat einen erheblichen Teil dazu beigetragen. Im Grunde waren Solidarität und Hilfsbereitschaft sowieso existentiell nötig, denn die Arbeit unter Tage war gefährlich. Jeden Tag konnte die Situation eintreten, dass ein Bergmann in Gefahr, oft genug in Lebensgefahr geriet. Da musste man sich auf den Kumpel (auch so ein Wort, das Verbundenheit ausdrückt) verlassen können. Da spielte es keine Rolle, ob evangelisch oder katholisch, ob „Pollacke“ oder nicht.

Aber ist das nicht alles Geschichte? Wirkt das tatsächlich bis heute nach?

Dazu ein Beispiel aus jüngster Zeit. Der Düsseldorfer Bürgermeister Elbers machte sich noch im Juni diesen Jahres über das Ruhrgebiet lustig. Dort, urteilte er, wolle er nicht tot über dem Zaun hängen. Dann kam das schwere Unwetter und in Düsseldorf brach der Notstand aus. Die Bäume ganzer Straßenzüge wurden umgeweht. Und wer half? Die Feuerwehren aus dem Ruhrgebiet. Ganz selbstverständlich, ohne Häme. „Hört mal, der Bürgermeister hat uns doch lauthals beschimpft!“ „Egal, die kannst du doch nicht im Stich lassen, wenn sie in Not sind.“ Genau, Solidarität ist etwas, das man im Ruhrgebiet mit der Muttermilch eingeflößt bekommt. Den Rest erledigten die Düsseldorfer selber und wählten Herrn Elbers ab. Klar, das Mitleid hielt sich in Dortmund und Umgebung in Grenzen.

Hans Tilkowski, ehemaliger Nationaltorhüter, berühmt geworden durch das Wembley-Tor von 1966, dessen Vater ebenfalls Bergmann war, spricht gerne vom Wir-Gefühl. Das muss die Menschen untereinander prägen, egal ob in einer Fußballmannschaft oder sonst wo. Sein Vater hat es, als er für drei Tage verschüttet wurde, auf der Zeche erlebt; sein Sohn Hans in den Mannschaften, in denen er gespielt hat.

Und wie ist es heute mit den türkischstämmigen Mitbürgern? Fragt man die Jungen nach ihrem Lieblingsverein, bekommt man oft zwei Antworten. Einmal nennen sie einen Istanbuler Verein, Besiktas, Galatasaray, Fenerbahce, dazu kommen dann Schalke oder Borussia. Eine symbolträchtige Antwort, die viel über die Integration aussagt. Ganz geglückt ist sie noch nicht, aber immerhin, ein Stückchen ist geschafft. Und sie läuft weiter.

Inzwischen nutzt auch der DFB die integrierende Kraft des Fußballs und sendet zum Beispiel Spots, in denen der Vater von Boateng, die Mutter von Özil und andere Spielereltern zusammen grillen und ihr Zusammensein dann unterbrechen, um das Spiel ihrer Kinder zu sehen. Das Ruhrgebiet hätte dabei Pate stehen können.

Der Fußball errichtet Symbole, Leuchttürme in dieser Welt. Im Ruhrgebiet weiß man, wie viel der Fußball als so ein Leuchtturm bewirken kann.




Schmerzlicher Abschied: Jürgen Klopp verlässt nach der Saison den BVB

Wie ärgerlich, dass mal wieder die „Bild“-Zeitung die Nachricht zuerst hatte: BVB-Trainer Jürgen Klopp hat um Auflösung seines bis 2018 reichenden Vertrages gebeten.

Soeben hat Jürgen Klopp die Nachricht offiziell in einer Pressekonferenz bestätigt – sichtlich bewegt, zeitweise zaudernd, mit stockender Stimme. Der Entschluss falle ihm „unglaublich schwer“, aber die Entscheidung habe jetzt getroffen werden müssen, damit der Verein die nächste Saison planen könne. Es sei somit die „absolut richtige Entscheidung“, fernab von aller Sentimentalität und Romantik.

In aller Bescheidenheit sei’s gesagt: Vor einigen Monaten hatte ich an dieser Stelle für einen Neuanfang auf Sparflamme plädiert – möglichst mit neuem Trainer und nicht mehr mit lauter millionenschweren Stars, sondern mit dem Rüstzeug fürs solide Mittelfeld. Hernach kann man ja immer noch auf Höheres aus sein. Ein solcher Weg der kleineren Schritte scheint nun eingeschlagen zu werden. Es wäre nur vernünftig.

BVB-Trainer Jürgen Klopp am 9. August 2014 (©Foto: Tim.Reckmann/Wikipedia - Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

BVB-Trainer Jürgen Klopp am 9. August 2014 (©Foto: Tim.Reckmann/Wikipedia – Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Da Borussia Dortmund in der kommenden Spielzeit voraussichtlich an keinem europäischen Wettbewerb teilnehmen wird (und wenn doch, dann allenfalls an der nur mäßig attraktiven Europa League), empfiehlt sich finanzielle Zurückhaltung auf jeden Fall. Auch sollte klar sein, dass vorerst Vereine wie Wolfsburg, Gladbach oder Leverkusen in der Bundesliga hinter den Bayern rangieren.

Gleichwohl möchte Klopp, wie er heute sagte, mit dem BVB noch die verbleibenden Maximalziele erreichen und möglichst noch einmal mit dem Lastwagen rund um den Borsigplatz fahren. Voraussetzung dafür wäre der Pokalsieg… Und man kann sich vorstellen, dass Klopp und die Mannschaft angesichts des bevorstehenden Abschieds noch einmal ungeahnte Reserven ausschöpfen.

Zurück zu jetzigen Realität. In den Blickpunkt ist jüngst auch das Wirken des Dortmunder Sportdirektors Michael Zorc gerückt, der für die Einkaufspolitik verantwortlich zeichnet. Zunächst hatte er vielfach eine glückliche Hand, doch in letzter Zeit sind ihm einige derart kapitale Fehleinschätzungen unterlaufen, dass man durchaus an ihm zweifeln darf.

Besonders die beiden Spieler Ciro Immobile (für 19,4 Mio. Euro aus Turin geholt) und Henrikh Mkhitaryan (Ablöse 27,5 Millionen Euro)* haben nicht einmal ansatzweise die Erwartungen erfüllt. Auch die anfangs frenetisch gefeierte Rückholung des Japaners Shinji Kagawa aus Manchester erwies sich als falsche Maßnahme.

Man könnte noch weitere Namen nennen. Doch zuletzt haben auch das ganze Gefüge der Mannschaft und der Draht zum Trainer nicht mehr funktioniert, so dass man nicht nur einzelnen Akteuren die Schuld zuweisen darf. Trotzdem sollten einige Spieler sich bald andernorts umschauen, wo sie vielleicht Besseres bewirken können.

Jürgen Klopp hat ersichtlich resigniert, er wirkte an der Seitenlinie oft kläglich hilflos – ganz anders als in früheren Tagen. Es ist wohl nur konsequent, wenn er im Sommer eine „Auszeit“ nimmt und danach neue Herausforderungen z. B. in der englischen Premier League sucht, in London oder Manchester. Wer weiß, vielleicht nimmt er dann den BVB-Kapitän Mats Hummels gleich mit auf die Insel. Oder der macht dort schon mal vorher Quartier. In der heutigen Pressekonferenz bestritt Klopp freilich, konkrete Pläne für seine Zukunft als Trainer zu haben.

Ob der angebliche Nachfolger Thomas Tuchel, der auch schon in Mainz in Klopps Fußstapfen trat, nach Dortmund und zur Borussia passt, könnte sich beizeiten weisen. Brennenden Ehrgeiz brächte er jedenfalls mit. Über Sympathien ließe sich später immer noch streiten. Übrigens: Fragen zur Klopp-Nachfolge wurden heute beim BVB aus Prinzip nicht beantwortet.

Mit dem Abgang von Klopp, der 2008 zum BVB kam, geht in Dortmund eine große Fußballzeit dem Ende entgegen. Er hat mit dem BVB nicht nur zwei deutsche Meisterschaften und einen Pokalsieg errungen, sondern auch international für Aufsehen gesorgt, indem er das Finale der Champions League erreichte. In einer Stadt, der der Fußball so viel bedeutet wie keiner zweiten im Lande, ist Klopp ein (zunächst imaginares) Denkmal sicher. Der dauerhafte Dank aller BVB-Fans ist ihm eh gewiss.

Zeitweise sah selbst der FC Bayern München, verglichen mit Borussia Dortmund, ziemlich dürftig aus. Die Herrschaften von der Säbener Straße reagierten – wie üblich – vor allem mit pekuniären Mitteln, indem sie die BVB-Protagonisten zu sich holten: Götze wurde weggekauft, Lewandowski mit besten Aussichten weggelockt. Inzwischen sind die Südlichter längst wieder die Chefs auf dem Rasen. Aber eines schönen Tages…

(* Ablösesummen laut www.transfermarkt.de)




Aus der Traum vom brasilianischen Fußball

Nein, das ist jetzt aber auch fast schon gar zu viel. 7:1 fürs deutsche Team in einem WM-Halbfinale gegen den Gastgeber Brasilien…

Das ist einerseits unglaublich, wunderbar, was auch immer in dieser Richtung. Nicht zu fassen! Welch eine Demütigung, wenn man denn in solchen Kategorien denkt. Davon wird man noch in vielen Jahren sprechen.

(ZDF-Fernsehbild)

(ZDF-Fernsehbild)

Andererseits werden da auch ein paar Träume zerstört. Die Träume, die man vom brasilianischen Fußball seit den Tagen von Pelé und Garrincha hegte und die nicht zuletzt von einer entgrenzten Ästhetik gehandelt haben.

Erst hat die so „unbrasilianische“ Spielweise bei dieser WM die schönen Erinnerungen arg gedämpft. Dann fielen auch noch Neymar und Thiago Silva aus, zwei tragende Säulen der brasilianischen Auswahl. Doch es kann wohl nicht nur daran gelegen haben. Wer erklärt es uns? Ach, diese hilflosen „Analysen“ im Fernsehen.

Alles, aber auch alles ging schief für Brasilien, alles lief wie geölt für Deutschland. Man möchte (nicht) wissen, welche geheimnisvollen Kräfte da im Spiele gewesen sind.

Die „Schland“-Euphorie wird nun erst einmal kein Ende haben wollen. Und wer weiß, was sich jetzt – nach dieser bitteren Enttäuschung – in der Gesellschaft Brasiliens zuträgt.

Derweil eskaliert im Nahen Osten der kriegerische Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Doch nur eine Minderheit wird morgen in Deutschland darüber reden. Es ist eine surreal grausame Welt.




Husaren, Helfersyndrom, Hahn im Korb, Huberty – noch ein paar Zeilen zur Fußball-WM

Ja, ist es denn zu glauben? Nur noch acht Partien, dann ist auch diese Fußball-WM schon wieder vorbei. Gegen derlei Flüchtigkeit muss man sich stemmen und wenigstens ein paar Kleinigkeiten festzuhalten suchen.

Ach, man könnte herrlich schwelgen in ausgelutschten Sätzen wie „Es gibt im Weltfußball keine leichten Gegner mehr“ oder „Es gibt auch interessante 0:0-Spiele“. Ja, diese WM gibt das alles her und sorgt somit für allzeit gut gefüllte Phrasenschweine.

Als es mal wieder in die Verlängerung ging - hier das Team aus Argentinien. (Foto: abgeknipst vom TV-Bildschirm)

Als es mal wieder in die Verlängerung ging – hier das Team aus Argentinien. (Foto: abgeknipst vom TV-Bildschirm)

Alle „Großen“, alle Favoriten haben sich bislang enorm schwer getan. Spielverlängerung ist die Regel. Es wird also keinen Weltmeister geben, der durchweg strahlend gespielt hätte. Aber gab es je solch einen unumwunden glänzenden Gewinner? Blättert mal ruhig in den Annalen, auch heute ist ein spielfreier Tag.

Ich habe ja gut reden, aber: Ich würde mir oft mehr bedenkenlosen „Husaren-Stil“ wünschen statt des gegenseitigen Belauerns und der rundum kontrollierten Taktik. Doch der Zwang zum zählbaren Erfolg überlagert die Spielfreude. Auf ein Match mit reichlich genialen Phasen, in denen alles ins Schweben geriete, warten wir einstweilen noch. Aber immerhin entgleisen manche Situationen in glühendes Chaos.

Fragen über Fragen: Hat Deutschland gegen Algerien tatsächlich „schlecht“ gespielt oder „hat es der Gegner nicht anders zugelassen“? (Noch’n Fünfer ins Phrasenschwein). Und weiter: Ist Joachim Löw stur oder nur konsequent? Hat er grundsätzlich etwas gegen Spieler aus Dortmund? Warum zieht er Lahm nicht in die Verteidigungslinie zurück, warum bringt er bisher weder Großkreutz noch Durm? Man könnte endlos schwadronieren. Und man tut es. Schließlich ist man ebenfalls privat bestallter Bundestrainer. Wie alle anderen auch.

Zuvor haben vor allem zahlreiche Frauen das Ausscheiden von Chile und Mexiko zutiefst bedauert. Es sind sozusagen die „Weltmeister der Herzchen“. Manche Damen halten es eben prinzipiell gern mit den vermeintlichen Außenseitern und Schwächeren, ohne alle fußballerischen Erwägungen.

Doch wehe, wenn sich dieser im Prinzip schöne Zug, wenn sich also die Ausprägung des Helfersyndroms auch noch mit der Ausschau nach „schönen Männerbeinen“ und dergleichen Qualitäten verknüpft, wobei der Latino schon als solcher Hahn im Korb ist. Dann tut sich doch wieder der tiefe Graben zwischen den Geschlechtern auf. Es soll Männer geben, die sich schon wieder nach der Bundesliga sehnen, die Welt- und Europameisterschaften genau deshalb nicht mögen, weil in diesen vier Wochen auch Frauen übers Kicken mitreden wollen. Ist ja unerhört!

Für Sekunden im "Weltbild" des Fernsehens: Anhängerin Argentiniens. (Foto: abgeknipst vom Fernsehbildschirm)

Für Sekunden im „Weltbild“ des Fernsehens: Anhängerin Argentiniens. (Foto: abgeknipst vom Fernsehbildschirm)

Man müsste generell mal untersuchen, warum jemand (abgesehen vom Team des Herkunfts- oder Einwanderungslandes) diese oder jene Mannschaft vorzieht. Man würde sicherlich nicht nur edle Motive finden, sondern auch Ressentiments. Wenn man das alles ausformulieren wollte…

Bemerkenswert, dass die vier Nachbarn Frankreich, Belgien, Holland und Deutschland noch dabei sind. Das heißt, auf ein paar (global betrachtet) recht kleinen Fleckchen Erde steht es offenbar nicht so übel um die Ballkünste und ums zugehörige Glück. Und nein: Das kann man jetzt wirklich nicht nur den Schiedsrichtern anlasten. Wie? Jaja, sicher, der Begriff „Nation“ muss heute eh ganz anders gefüllt werden. Geschenkt.

Jetzt also „gegen Frankreich“. Mon dieu! Allein dieser Benzema, dessen Namen ich mir immer hessisch ausgesprochen vorstelle, damit er nicht so erschröcklich wirkt. Nun, wir werden sehen.

Unterdessen geht das Kommentatoren-Elend mit anschwellenden Stimmen auf breiter Front weiter. Gewiss: Wer weiß, was wir alle vor einem Millionenpublikum verbal verzapfen würden. Wer sich da couchkartoffelig hinfläzt und dem Kommentator jede, aber auch jede missglückte Redewendung ankreidet, der soll sich was schämen.

Doch ach, es sind ja beileibe nicht nur einzelne Phrasen. Da stimmt oft der ganze Duktus nicht, die Haltung zum Spiel und zu den Zuschauern ist vollends verkorkst. Nein, man wünscht sich nicht die Namens-Aufzählerei aus Hubertys Zeiten zurück.

Doch ab und zu sollten Béla Réthy, Gerd Gottlob und Kollegen einfach mal den Schnabel halten und den Ball laufen lassen. Unser zeitweiliger Dank wäre ihnen gewiss. Wir müssten dann nicht bei jedem – auf welche Weise auch immer – abgewehrten Ball erfahren, er sei „geblockt“ worden. Wir müssten nicht bei jeglichem Fehlpass hören, es fehle noch an Präzision. Auch sollen uns diese Beschwörer des Offenkundigen nicht allweil sagen „Er kommt nicht dran“, wenn einer den Ball nicht erreicht.

Apropos Fernsehen: Ist da noch jemand, den das sogenannte „Weltbild“ nicht nervt, wenn haltlos jubelnde Fans entdecken, dass sie „drauf“ sind und wie verrückt winken, worauf die Regie rasch woanders hin schaltet? Es ist wie ein Katz-und-Maus-Spiel. Als dann freilich ein (bekleideter) „Flitzer“ mit einem Protest-Shirt auf den Rasen lief, hat die Weltregie noch ungleich schneller weggezappt. Die 15 Minuten Weltberühmtheit, die Andy Warhol einst jedem Erdbewohner prophezeite, wird man also auf anderem Wege bewerkstelligen müssen.

Übrigens: Kein Wort mehr zum Interview mit Per Mertesacker. Aber bitte auch nicht mehr so viele Interviews mit ihm, jedenfalls nicht von diesem koddrigen Kaliber. „Cool“ fand ich den zornigen reichen Mann nicht. Keineswegs. Einige Herren haben sich offenbar an Streichelbefragungen à la Katrin Müller-Hohenstein gewöhnt. Und was soll nur aus den wunderbar sinnfreien „Ja gut, äh“-Dialogen werden, wenn es jetzt beim leisesten Reporter-Zweifel immer gleich Saures gibt?

Aber jetzt wirklich kein Wort mehr darüber.

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TV-Nostalgie (18): Ernst Huberty – Fußball ohne Geschrei

Wenn man dieser Tage Béla Réthy, Tom Bartels, Steffen Simon, Marcel Reif und Co. über Fußball palavern hört, dann sehnt man sich manchmal zurück in die alten Zeiten eines Kurt Brumme, Rudi Michel – oder Ernst Huberty. Wie nüchtern und abgeklärt wirkte das, verglichen mit heute.

Im Vorfeld der Fußball-WM in Brasilien fällt es wieder besonders auf, welch ein Geschrei jetzt um den Fußball gemacht wird. Im Laufe eines Spiels werden alle möglichen und unmöglichen Statistiken geliefert, auch gibt’s schon mal neckische Anspielungen auf halb private Umtriebe der Kicker. Mal ganz abgesehen von der umfangreichen Vor- und Nachberichterstattung. Das alles war in den alten Zeiten undenkbar.

„Ausgerechnet Schnellinger“

Man höre sich noch einmal (leider nur in Ausschnitten möglich) Ernst Hubertys Fernsehkommentar zum sogenannten „Jahrhundertspiel“ zwischen Italien und Deutschland bei der Fußball-WM 1970 in Mexiko an. Lange wogte die legendäre Begegnung hin und her, es ging in eine Nerven zerreißende Verlängerung. Schließlich gewann Italien mit 4:3.

TV-Legende Ernst Huberty (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=VmYQEJ_Ww8E)

TV-Legende Ernst Huberty (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=VmYQEJ_Ww8E)

Man mag sich gar nicht ausmalen, wie heutige Sprecher bei einem solchen Match simulieren würden, dass sie von einer Ohnmacht in die andere fallen. Ernst Huberty, ab 4. Juni 1961 über Jahrzehnte der „Mister Sportschau“ der ARD (als noch keine private Konkurrenz drohte), blieb hingegen die Ruhe selbst. Ein leise, aber irgendwie doch intensiv dahingesagtes „Ausgerechnet Schnellinger“ markierte schon einen Gipfel der Gefühle.

Keine starken Gefühle zeigen

Tatsächlich wurde damals ja auch noch langsamer gespielt, so dass Huberty und Kollegen die Ballstaffetten sehr gemächlich mit bloßer Namensnennung abhaken konnten. Wenn überhaupt. Fiel ein Treffer, so reichte meist ein lakonisches „Und Tor.“ Oder dergleichen. Während des Spiels wurde oft einfach geschwiegen. Es gibt ja auch nicht immer was zu schwätzen.

Selbst das WM-Finale von 1966 (England – Deutschland 4:2) rang Rudi Michel nur begrenzte Emotionen ab. Jedenfalls trug er sein Herz nicht auf der Zunge, nicht einmal beim berühmten „Wembley-Tor“ (oder eben Nicht-Tor). „Das wird wieder Diskussionen geben“, sagte er, äußerlich seelenruhig, innerlich aber wohl bewegt. Männer durften damals noch immer keine allzu deutlichen Gefühle zeigen. Metallisch dröhnende Töne wie noch 1954 waren freilich auch nicht mehr erwünscht.

Wohltuend unaufgeregt oder langweilig?

Die Sprecher der 60er und 70er Jahre klingen für heutige Empfinden einerseits wohltuend unaufgeregt. Andererseits bringt man die Geduld für einen solchen Stil gar nicht mehr auf. Je nach Gemütszustand, möchte man Ernst Huberty am liebsten nachträglich schütteln: „Nun reg’ dich doch endlich mehr auf! Nun lass doch mal deinen Empfindungen freien Lauf!“

Es müsste mal einer ein Buch darüber schreiben, wie sich die Fernseh-Fußballreportage seit Hubertys Zeiten grundlegend verändert hat, mit Zwischenstationen wie Heribert Faßbender oder Gerd Rubenbauer – und wie sie alle hießen.

Ein Extra-Kapitel könnte man der Entwicklung widmen, dass gesellschaftliche Befunde anhand des Fußballs dingfest gemacht werden – und dass neuerdings auch mehr oder weniger subtiler Humor in Sachen Fußball erlaubt ist. Man vergleiche etwa den betulich ernsten „Kicker“ mit dem quicken und hellwachen Blatt „11 Freunde“…

Der Mann mit dem „Klappscheitel“

Ernst Huberty, der Mann mit dem unvergleichlichen „Klappscheitel“, hatte seine Laufbahn in den späten 50er Jahren begonnen. Als WDR-Sportchef und Moderator der Sportschau wurde er 1982 abgelöst, weil er es mit Spesenabrechnungen nicht so genau genommen haben soll. Man schob ihn ins dritte Programm ab.

1990 sprang Huberty beim noch neuen Bezahlsender Premiere ein und gab nebenher jungen Talenten wie Johannes B. Kerner oder Reinhold Beckmann Tipps. Doch da waren die alten Zeiten schon vorbei – und das unaufhörliche Geschrei über Fußball hatte begonnen.

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), „Wünsch Dir was“ (17)




Den Papst in der Tasche: Warum Paderborn (wahrscheinlich) in die Bundesliga aufsteigt

Aus fußballerischen Gefilden ist Bemerkenswertes zu vermelden: Nicht nur, dass überwiegend katholisch geprägte Städte die Schlussrunde der Champions League weitgehend unter sich ausmachen (Madrid, München); auch beim Aufstieg in die Erste Bundesliga sind sie führend.

Dass der 1. FC aus der rheinischen Domstadt Köln dabei ist, durfte man erwarten. Nun aber klopft auch die Mannschaft aus der westfälischen Domstadt Paderborn ans Tor des Oberhauses, um mal kreuzbrav im Jargon der landläufigen Sportberichterstattung zu bleiben. „Stand jetzt“ (auch so eine Floskel) müssen sie sich nicht einmal durch die Relegation quälen, um sich zu qualifizieren.

Tabellen lügen nicht

Tabellen lügen nicht

Zu dieser gelinden Sensation fallen einem schnell diverse Sprüchlein ein. Sicherlich haben demnach die Kölner und Paderborner Kicker „den Papst in der Tasche“. Leute, die ihnen weniger wohl gesonnen sind, mögen spotten: „Mit die Doofen is’ Gott.“ Und was dergleichen gackernder Spontanblödheit mehr wäre.

Auffällig ist es jedenfalls, dass zwei solch ausgeprägt katholische Kommunen in die höchste deutsche Spielklasse vordringen. Eigentlich fehlt jetzt noch Preußen Münster, doch die dümpeln irgendwo derart weit unten herum, dass wir lieber nicht genauer nachschauen wollen. Hält der gegenwärtige Trend an, so darf man aber wohl fest damit rechnen, dass sich statt dessen segensreiche Teams aus Altötting und Telgte einen Weg nach ganz oben bahnen werden.

„Geld schießt keine Tore!“ heißt es (meist fälschlich), wenn Missgunst auf die reichsten Vereine mit den teuersten Stars sich Luft schaffen will. Wer aber netzt für Paderborn ein? Wir wollen da lieber nicht weiter spekulieren, sonst wär’s am Ende noch lästerlich. Vielleicht hat ja die Flügelzange, äh, die parallele Heiligsprechung zweier Päpste noch einmal die letzten Reserven mobilisiert, hat somit mehr Doppelpässe und Flanken gelingen lassen als sonst. So rein mental jetzt.

P.S.: Bliebe noch nachzutragen, dass die Protestanten aus Hamburg, Braunschweig und Nürnberg aufs Högschte abstiegsbedroht sind. Noch Fragen?




Supporting Fans – ein Stimmungsbild aus Dortmund

Schotten, Dänen und Schweden sind in der Stadt. Dudelsackspieler dominieren den Sound in der City. Wir sind in Dortmund. Es ist zwölf Uhr mittags. Das „Roadcorner“ ist aufgebaut und macht sich bereit für die mehr oder weniger trinkstarken Fans. Papiersammler säubern den Platz, machen ihn fotografiersauber für die internationalen Gäste.

Vor dem BVB-Fanshop stehen Verkäuferinnen in standesgemäßem Outfit und rauchen. Später werden sie dazu nicht mehr kommen, denn auch der auswärtige Fan will Souvenirs haben oder seine Zugehörigkeit demonstrieren. „Ich bin vom Stamm der Gelbschwarzen.“

Schotten sind da

Schotten sind da

Wir schreiben Mittwoch, den 6. November 2013. Heute findet das Rückspiel in der Champions League zwischen dem BVB und Arsenal London statt. Nicht einmal das Achtelfinale, nein, ein Vorrundenspiel.  Und hier ist nicht die Rede von den berüchtigten englischen Fans, den Hooligans mit den roten Köpfen und Bier statt Blut in den Adern. Nein, hier geht es um die „Supporters“.

Dänen hängen ein Banner vor ein Restaurant. „Arsenal Denmark“ steht da drauf. Die Dänen besetzen also ein Stück Deutschland. Welch ein Coup! Vor einer Kneipe wird ein nächstes Banner angebracht:  „Arsenal Scotland“. Aha! Schottische Fans in Kilts begleiten eine Londoner Truppe. Das ist so, als würd eine Gebirgsblaskapelle aus Bayern die Auswärtsspiele des BVB begleiten. Oder gibt es so was? Auf Schalke habe ich so was mal entdeckt, ist aber lange her. Das war eine Mädchengruppe aus Regensburg, die Olaf Thon so toll fand.

Hier blasen Schotten in den Dudelsack, dass die Reinoldikirche den Sound in ihren dicken Mauern speichern wird und man noch in Jahren, wenn man genau horcht, Dudelsacksounds hören wird. Es ist das lauteste Analog-Instrument der Welt. Wieder wird ein Banner an einer Markise angebracht. Hier heißt es „Costa del GOONERS“, was immer das sein mag. Auf jeden Fall gröhlen die Fans auf Englisch. Zwischen den Texten sieht man die Grafik einer Kanone. Das ist sicher sportlich gemeint. Gunners, aha!

StadtmusikErste Mannschaftswagen beziehen Stellung. Die Polizisten tragen grüne Kampfanzüge mit der Aufschrift „Polizei“. Ohne diesen Hinweis könnte man sie für die Armee irgendeines Schurkenstaates halten. Schulpflichtige Jugendliche tauchen auf. Sie tragen Plastiktüten. Wie lange darf man das noch? Schulranzen wäre konsequenter. Inzwischen – Gesänge an allen Ecken. Londoner wurden noch nicht gesichtet, auch keine äußerlich erkennbaren Borussen. Die Supporters sind die Vorhut. Warten wir ab, welche Reihenfolge nach dem Spiel stattfindet. Dänen, Schweden und Schotten feiern auf jeden Fall, denke ich. Thanks to German Beer.

(Fotos:Dman)




Deutschland – Österreich: Die alte Hassliebe – diesmal völlig unaufgeregt

Lange nicht mehr einen solch leidenschaftslosen Fußballabend erlebt wie diesen. Das Resultat beim alten Hassliebe-Duell Deutschland gegen Österreich war mit 3:0 klar wie Kloßbrühe.

Das Münchner Stadionpublikum blieb denn auch vergleichsweise still. Und der ZDF-Kommentator Oliver Schmidt fiel allenfalls durch Zurückhaltung auf. Der Mann versucht gar nicht erst zu glänzen oder aufzutrumpfen. Ob er es im Fall des Falles könnte, lassen wir mal dahingestellt.

Ein Duo zwischen Krampf und Komik

Das Geplänkel vor dem Spiel tue ich mir in der Regel nicht an. Da wird doch meistens enorm viel heiße Luft in den Äther geblasen. Diesmal mussten Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein und Experte Oliver Kahn (unterstützt von optisch aufgemotzten Einspielfilmchen) rund eine halbe Stunde bis zum ersehnten Anpfiff überbrücken.

ZDF-Fußballexperte Oliver Kahn (Foto: ZDF/Sascha Baumann)

ZDF-Fußballexperte Oliver Kahn (Foto: ZDF/Sascha Baumann)

Dieses Duo wirkt immer ein wenig verkrampft. Während sie die Tendenz hat, leichthin über alles hinwegzutraben, windet und kämpft er sich mühsam zu Meinungen durch, die meist darin gipfeln, dass Oliver Kahn „mehr Aggressivität“ von den Spielern einfordert. Im Zusammenspiel sind die beiden hin und wieder unfreiwillig komisch.

Gerne einer Meinung mit „Jogi“

Ansonsten bestätigt Kahn immer gern die Meinung des Bundestrainers Löw oder rudert sogar eilends zurück, falls er mal nicht mit „Jogi“ übereingestimmt hat. Dass der Ex-Bayer Kahn vor allem im Dortmunder Mats Hummels (der heute auf der Ersatzbank blieb) einen Sündenbock für Defensiv-Defizite ausgemacht hat – geschenkt! Löw hatte Hummels ja nicht aufgestellt, also konnte Kahn quasi nach Herzenslust über den BVB-Spieler herziehen.

Eine Bemerkung zwecks größerer Transparenz: Ja, das sage ich als Dortmunder, aber nicht von ungefähr. Kahns Bayern-Lastigkeit ist ebenso nachvollziehbar wie überprüfbar. An seinem ARD-Pendant Mehmet Scholl (ebenfalls ein Bayer) könnte er sich in jeder Hinsicht ein Beispiel nehmen.

Irgendwann begann das Spiel dann endlich. Es war nicht übel, aber eben auch nicht allzu spannend. Insofern konnte man auch vom Kommentator keine emotionalen Ausbrüche erwarten. Allerdings hätte er in einem Match, in dem die Ellenbogen derart häufig und gesundheitsgefährdend eingesetzt wurden, diese arg rustikale Spielweise thematisieren müssen.

Die altbewährte Namens-Sirene

Stellenweise war man allerdings schon froh, dass das ZDF diesmal nicht den sonst allzeit präsenten Béla Réthy einsetzte, so dass einem dessen oft unsinnige Prosa erspart blieb. Immerhin pflegt Oliver Schmidt eine Marotte, nämlich das unnötig eingeschobene „Ja“. Beispielsatz: „Deutschland und Österreich, zwei Länder, die sich – ja – sehr nahe sind.“ Größere Chancen quittiert er mit der altbewährten Namens-Sirene: „Öziiiiiil…“ Und wenn er auf Bayerisch „dahoam“ (daheim) sagen will, hört sich das an wie verunglücktes Englisch.

Nach dem Spiel lobte Oliver Kahn – na, was wohl – die „Aggression“ der deutschen Mannschaft, aber auch die „Kreativität“. Katrin Müller-Hohenstein rief abermals aus, Miroslav Kloses 68. Länderspieltor sei etwas „für die Geschichtsbücher“. Kann jemand der Frau bitte mal erklären, was wirklich geschichtsträchtig ist?

Zum Ritual eines Länderspielabends gehört es seit jeher, das Statement des Bundestrainers abzuwarten. Doch auch das blieb diesmal ziemlich blass und farblos. Alles in allem: eine Partie, nach der man vollkommen ruhig schlafen kann. Und das ist doch auch etwas!

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50 Jahre Bundesliga: Die persönliche Geschichte einer Nicht-Liebe

Heute geht’s wieder los: 9. August 2013, 20.30 Uhr, München. Der FC Bayern tritt an gegen Borussia Mönchengladbach. Und am Sonntag wird die neue Bundesliga-Saison für das Ruhrgebiet in Gelsenkirchen eröffnet: FC Schalke 04 gegen den Hamburger SV. 50 Jahre alt wird die höchste deutsche Spielklasse: Am 24. August 1963 startete der erste Spieltag der neuen Bundesliga.

Von Anfang an mischten Revier-Vereine kräftig mit: Dortmund, der Meidericher SV und Schalke gehören zu den sechzehn Gründungs-Clubs. Das erste Tor der Fußballgeschichte gehört mittlerweile fast schon zum Allgemeinwissen: Der Dortmunder Timo Konietzka schoss es nach nur 58 Sekunden. Auch der erste Tabellenführer kam aus dem Pott: Der Meidericher SV hatte sich mit einem 4:1 in Karlsruhe den ersten Platz gesichert.

Das Ziel: Die Meisterschale. Wo wird sie in der Jubiläums-Saison bleiben? Foto: DFL

Das Ziel: Die Meisterschale. Wo wird sie in der Jubiläums-Saison bleiben? Foto: DFL

50 Jahre Bundesliga: Für viele dürfte das Jubiläum ein Anlass sein, sich zurückzuerinnern, an glanzvolle Siege und bittere Niederlagen, an persönliche Fußball-Erlebnisse, Begegnungen, Adrenalinstöße in Stadien oder vor dem Fernseher, im Kreis von Fans und Freunden. So auch für den Autor dieser Zeilen – der sich freimütig zur Geschichte einer Nicht-Liebe bekennt …

Die wilden Gründerjahre: Das Ritual am Rundfunk

50 Jahre Bundesliga – das ist für mich, ich gestehe es, die Geschichte einer Nicht-Liebe. Das Fußballfieber hat mich höchstens als temporäre Temperaturerhöhung gestreift, nie mit heftigen Zwei-Mal-Fünfundvierzig-Minuten-Schüben in anhaltende Hitze versetzt. Trotzdem habe ich mir das „Kicker“-Sonderheft „50 Jahre Bundesliga“ gekauft. Aber warum?

Als die „wilden Gründerjahre“ begannen, war ich gerade mal zehn. Bundesliga bekam ich mit dank väterlichen Hörens der Live-Spielberichte am Samstagnachmittag: die aufgeregt sich überschlagenden Stimmen der Kommentatoren, das rhythmisch Auf und Ab des Gebrülls der Zuschauer. Bei uns in Würzburg, in der Fußballprovinz, war Bundesliga eine Sache ferner Orte: Nürnberg war der nächste – und der ordentliche Franke war Anhänger vom „Glubb“: Dieser, der 1. FC Nürnberg, trat mir in der Schule in Gestalt eines Mitschülers leibhaftig entgegen. Winfried war ein echter Fan. Hatte der Club gewonnen, ertönte am Montag Jubelgeschrei. Hatte er verloren, hing mein Kumpel apathisch in der Bank. Manchmal gab’s sogar Tränen.

Emma und die Rote Erde

Und wie sich der erblühende Jungmann ein Weib wählen soll, spürte der Knabe am Gymnasium den sozialen Druck der Pflicht, einen Lieblingsverein zu küren. Ich hatte keine Ahnung und wählte einfach Borussia Dortmund. Vielleicht, weil der Name des Stadions einen Hauch von Exotik verbreitete. Kampfbahn „Rote Erde“, das erzeugte Bilder von tapferen Recken, die im sonnendurchglühten roten Staub in gewaltigen Turnieren streiten. Vielleicht war es auch die Ferne: Der Nürnberger Club war wie das sommersprossige Nachbarsmädchen mit Zöpfen. In das verliebt man sich nicht. Aber die ferne, geheimnisvolle, unerreichbare Schönheit, die fesselt die schwärmerische Zuneigung. Vielleicht kamen auch die Fußballbildchen dazu, die es damals zum Sammeln gab. Ich erinnere mich genau: Ich besaß ein Bild von Lothar Emmerich. „Emma“ war einer der Dortmunder Superstars der sechziger Jahre, Torschützenkönig 65/66 und 66/67.

Impressionen am Dortmunder Stadion, dem größten in Deutschland. Wie andere Stadien auch ist es nach einem Finanzier benannt. Foto: Häußner

Impressionen am Dortmunder Stadion, dem größten in Deutschland. Wie andere Stadien auch ist es nach einem Finanzier benannt. Foto: Häußner

Dann gab es noch die Münchner „Löwen“ – und wir Kinder konnten mitsingen, wenn Torwart Petar „Radi“ Radenkovic, der mit seinem TSV 1860 München die Meisterschaft 65/66 gewann, in einem Schlager bekannte: „Bin i Radi, bin i König, alles and’re stört mich wenig …“. Fußballerschicksale sind manchmal grausam: Später hat wohl der Torwart des konkurrierenden FC Bayern selbst den Hit umgedichtet zu: „Bin i Radi, bin i Depp, König ist der Maier Sepp“.

Das war in den unruhigen Jahren 1968/69: Der Newcomer Bayern München war zum ersten Mal Meister, der junge Franz Beckenbauer Fußballer des Jahres und Gerd Müller mit sagenhaften 38 Treffern auf Platz eins der Torjägerliste. Und Nürnberg, der Meister von 1968, musste schmählich absteigen. Nicht nur Winfried tat das weh: Irgendwie war der Franke ins Herz getroffen, als den „Glubb“ der erste seiner zahlreichen Schicksalsschläge traf. Als 13-jähriger zeigt man so etwas nicht, sondern lässt seinen kleineren Bruder, dem die Verwandtschaft die Nürnberg-Begeisterung eingepflanzt hatte, Häme und Spott spüren. Naja, zugegeben, Dortmund hatte sich auf Platz 16 auch nur gerade so retten können …

Uwe Seeler in Schwarz-Weiß

Inzwischen war auch der Schwarz-Weiß-Fernseher in den Haushalt eingezogen und die 1966er-Weltmeisterschaft war das erste mediale Fußball-Ereignis: Uwe Seeler kickte sozusagen direkt im Wohnzimmer. Aber so langsam setzte bei mir die Distanzierung ein. Brot und Spiele für die Massen – das war nichts für den Heranwachsenden, der sich gerne intellektuell gab. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich; das Dortmunder Schicksal – der Abstieg 1971/72 – besiegelte mein Interesse am Fußball ebenso wie der erste Geld-Skandal 1971. Denn damals wurde auch klar: Bundesliga, das ist das große Geschäft. Fünf Jahre später wurde für Roger van Gool die erste Ablöse-Million gezahlt, aus heutiger Vierzig-Millionen-Perspektive ein „Peanut“. Die Zeiten, in denen der Lauterer Torwart nebenbei die Vereinswirtschaft betrieb, die gingen zu Ende. Die Professionalisierung war unvermeidbar, die Begleiterscheinungen traurig.

Eine zaghafte Rückkehr zum Fußball – wann kam die? Vielleicht 2001, als Schalke die Schale schon sicher in Händen wähnte – und dann „brutal aus seinem Meisterjubel gerissen wurde und ins Tal der Tränen stürzte“. Das war so ein Moment, der zeigt: Fußball ist doch nicht nur das kalte Geschäft, sind nicht nur die Spielermarionetten, die von PR-Abteilungen mit fertig vorgestanzten Sätzen programmiert werden. Fußball hat doch etwas mit großen und tiefen Emotionen zu tun. Mit Zugehörigkeit. Mit Schicksal. Manche fußballskeptischen Freunde meinen, ich sei altersmilde geworden. Kann sein. Aber vielleicht eben auch altersweise.

Wallfahrtsort für Schalke-Fans - muss man nicht weiter vorstellen ... Foto: Häußner

Wallfahrtsort für Schalke-Fans – muss man nicht weiter vorstellen … Foto: Häußner

Seither hege ich eine solidarische Sympathie für die Gelsenkirchener. Und habe meine alten Dortmunder wiederentdeckt – nicht erst seit dem glanzvollen Meisterschaft-Doppel 2011/12. Geht gar nicht, sagen meine Freunde im Ruhrgebiet: Man kann nicht gleichzeitig für die Blau-Weißen und für die Schwarz-Gelben sein. Ist mir wurscht, sage ich als an der Ruhr gastierender Franke. Als solcher ist mir – und damit ist meine persönliche Fußball-Trias komplett – auch der „Club“ nicht ganz egal. Immerhin habe ich in Nürnberg mein erstes Bundesligaspiel live erlebt. Warten wir die Jahre ab: Wer weiß, wie sich die Fußball-Fieberkurve noch entwickelt. Wenn ich doch den Anfall kriege, weiß ich schon das Gegenmittel: Ich kauf‘ mir ein Ticket, am besten, wenn der Club auf Schalke spielt – oder in Dortmund…




Frauenfußball – ganz gemächlich: Wie die EM im Fernsehen präsentiert wird

In der elend langen Bundesliga-Sommerpause darf jetzt mal wieder der Frauenfußball die Lücken füllen, immerhin mit einer Europameisterschaft in Schweden. Doch es ist im Fernsehen immer noch kein Vergleich zu den Partien der Männer-Nationalelf. Da hätten sich die Medien seit Wochen hochgeschaukelt. Sind die Damen am Ball, geht es im TV ungleich gemächlicher zu.

Für die Bier-Werbeblöcke beim Frauen-Match Deutschland – Niederlande sorgten, wenn ich richtig mitgezählt habe, gleich viermal Jogi Löw und seine Jungs. Offenbar hat noch niemand die Damen aus dem Team von Bundestrainerin Silvia Neid für Reklame auf der Rechnung; noch nicht einmal im Umfeld der Frauen-EM.

Auf Distanz zum Geschehen

Ich gebe zu: Für Frauenfußball begeistere ich mich bislang noch nicht übermäßig. Als nicht mehr ganz junger Mensch ist man da seit Sepp Herbergers und Helmut Schöns Tagen biographisch geprägt. Mir war – ehrlich gesagt – auch noch nicht bewusst, in welchen Maße Spielerinnen-Transfers mittlerweile über die europäischen Grenzen vonstatten gehen. Aber derlei (zuweilen sympathisierende) Distanz oder meinetwegen auch Ignoranz habe ich wohl mit den meisten Leuten aus den Fernseh-Sportredaktionen gemeinsam. Man kann sich irgendwie nicht vorstellen, dass der Einsatz für Damenfußball einen dort in der Hierarchie wesentlich voran bringt – eher im Gegenteil. Und so scheint denn der Frauenfußball immer noch ein wenig das unbekannte Wesen zu sein. Pikant übrigens, wenn man bedenkt, dass ARD und ZDF soeben eine wichtige Bastion beim Männerkicken an den Privatkanal RTL verloren haben, nämlich die Qualifikationsspiele zur EM 2016 und zur WM 2018. Bleibt den öffentlich-rechtlichen Sendern eines Tages etwa nur das Frauenteam?

Expertin fürs ZDF: Ex-Nationaltorhüterin Silke Rottenberg (© ZDF/Rainer Rüffer)

Expertin fürs ZDF: Ex-Nationaltorhüterin Silke Rottenberg (© ZDF/Rainer Rüffer)

In den Fall müssten sie deutlich nachlegen. Der männliche Kommentator Norbert Galeske bemühte sich in Växjö (Schweden) hie und da halbwegs um Emotionen, doch wenn’s zum Schwur kam, wirkte er seltsam unengagiert. Ein verweigerter Elfmeter regte ihn letztlich ebenso wenig auf wie etwa gelbe Karten, erstaunliche Hackentricks oder ein Handspiel. Man vergleiche das mit der Aufregung, die jede halbwegs markante Szene in einem mittelprächtigen Herren-Länderspiel hervorruft.

Die Männer als Maß der Dinge

Unscheinbare Reporter-Bemerkungen à la „fast wie bei den Männern“ oder „Ihre Spielweise erinnert an Philipp Lahm“ zeigen, dass die kickenden Herren nach wie vor das Maß aller Dinge sind. Auch würde man sich bei einem Länderspiel der Männer nie und nimmer mit einer bloßen Viertelstunde Vorlaufzeit bis zum Anstoß begnügen. Dann könnte man ja nicht alles und jeden durchhecheln oder hochtrabende „Analysen“ von sich geben. Allein der Umstand, dass sechs deutsche Stammkräfte fehlen, hätte bei den Herren wahrscheinlich eine Stunde Sendezeit gefüllt. In manchen Punkten haben die Spielerinnen leider tatsächlich bei den männlichen Kollegen gelernt: Einige von ihnen spucken nun ebenfalls auf den grünen Rasen, tragen Tätowierungen (oder Zungen-Piercings, wie genüsslich gezeigt wurde) und reden bei Interviews ähnlich gestanzt daher.

Immerhin durfte im ZDF eine Frau als Expertin mitmachen, nämlich die Ex-Nationaltorhüterin Silke Rottenberg, die freilich in ihren Aussagen ziemlich trocken blieb. Recht ordentlich zog sich hingegen der Moderator Sven Voss aus der Affäre, der ohne jederlei Herablassung die sachlich richtigen Fragen stellte.

Übrigens: Die Begegnung war ziemlich spannend und endete 0:0, was für die Deutschen, die fünfmal hintereinander (!) die EM gewonnen haben, allemal eine Enttäuschung bedeuten musste. Hätten die Männer in den letzten 20 Jahren derart viele Titel gesammelt, so hätten die Medien sie längst zu „Helden“ hochgejubelt.

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Am liebsten schön schräg und schrill: „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“

Wer etwas auf sich hält, bereitet Fußballhistorie längst nicht mehr bierernst mit Ergebnislisten und Tabellen auf. Die bloße Nacherzählung und die kreuzbrave 1:0-Berichterstattung sind mausetot. Erst recht ist der feierliche oder gar pathetische Tonfall passé; selbst dann, wenn bedeutsame Jubiläen anstehen.

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Die (inzwischen etablierte) Avantgarde packt den Fußball ironisch, popkulturell und liebend gern aus schrägen Blickwinkeln an, ohne deshalb die Leidenschaft für diesen Sport aufzugeben. Im Gegenteil: Hier kommt oft erst der wahre Kult zum Vorschein, der eben auch etliche schrille Seiten hat. Den Takt geben in dieser Hinsicht derzeit das Fußballmagazin „11 Freunde“ und eine TV-Sendung wie „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“ vor. Sie beweisen, dass man auch intellektuelles Vergnügen am Kicken und all seinen Begleitumständen haben kann.

Im Fernsehen kredenzen uns manche Fußball-Kommentatoren, die den Schnabel nicht ein Minute lang halten können, zwischendurch als Füllmasse die absurdesten Statistik-Ergüsse – ohne jedes Gespür für die Komik solcher Mitteilungen. Christoph Biermann und Philipp Köster (beide aus der besagten „11 Freunde“-Chefredaktion) wissen hingegen genau, welche abenteuerlichen Kuriosa sie uns in ihrem Band „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“ mitunter vorsetzen.

Wer dieses halbe Jahrhundert allen Ernstes aufarbeiten wollte, müsste einen enzyklopädischen Vielbänder herausbringen. Im vorliegenden Buch werden zwar Dekaden und Liga-Jahrgänge kurz einordnend skizziert, doch die Autoren gehen davon aus, dass die Leser(innen) in groben Grundzügen orientiert sind und beweisen Mut zur Lücke. Deshalb picken sie unscheinbare, gleichwohl prägnante Einzelheiten auf und präsentieren sie vorwiegend in staunenswerten Listen, Grafiken, knackigen Kurztexten und Foto-Fundstücken – weit abseits jeder fanatischen „Helden“-Verehrung. Es ist eine kleinteilige, durchweg kurzweilige Lektüre, die man zwischendurch jederzeit beiseite legen kann. Doch man wird sie rasch wieder hervorholen.

Da werden beherzt so grundlegende Fragen beantwortet wie die, welche Farbe in allen bisherigen Liga-Trikots am häufigsten vorkam (Rot vor Blau), ob man mit satten 76 Punkten die Meisterschaft verfehlen kann (Ja! Schalke in der Saison 1971/72), aus welcher weitesten Distanz ein Tor direkt erzielt wurde (73 Meter) oder in welchen Bundesländern noch nie ein Erstliga-Spiel angepfiffen worden ist (Schleswig-Holstein, Thüringen, Sachsen-Anhalt).

An einigen Stellen wird es auf herrlich alberne Weise beinahe magisch: Ein gewiss mühevoll erstelltes Diagramm verzeichnet getreulich, wie viele Schnauzbartträger im Lauf der Jahre 1977 bis 2000 in der Liga aufgelaufen sind. Mit einer Art Windrose wird graphisch exakt dargestellt, in welche Himmelsrichtungen die einzelnen Stadien ausgerichtet sind; ein anatomisches Schema zeigt punktgenau und unmissverständlich an, welche Spielernamen (Gansauge, Maul, Kastrati, Woodcock) notfalls an Körperteile denken lassen.

Und natürlich purzeln Zahlen über Zahlen: Torhüter mit den meisten Gegentreffern (Eike Immel, 829), größte Stadt ohne Erstligateam (Bonn, 325000 Einwohner), effektivster Torschütze (immer noch Gerd Müller mit 0,85 Treffern pro Spiel).

Wer will die schrillsten Frisuren oder Wohnungseinrichtungen der Liga-Historie sehen? Wer will wissen, wie die größten Exzentriker, die originellsten Sponsoren und legendäre Spielerfrauen hießen? Wer mag unfreiwillig lustige Mannschaftsfotos, wer will sich bizarre Zitate von Brehme oder Matthäus und die dollsten Spieler-Doppelnamen (Jan-Ingwer Callsen-Bracker) auf der Zunge zergehen lassen?

Ja, ja und nochmals ja? Alle rufen „Hier, ich!“? Na, dann schaut doch mal in dieses Buch!

Christoph Biermann / Philipp Köster: „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“. Kiepenheuer & Witsch (Kiwi-Paperback), 224 Seiten, viele Illustrationen. 12,99 Euro.




Regina Schmekens Fotos von der Ästhetik eines Spiels namens Fußball

Fußball ist Geometrie. Die Beine gehören Toni Kroos. Foto: Regina Schmeken

Als Fredl Fesl, eine Art bayerischer Hippie der sanft-spöttelnden Natur, 1976 sein Lied von den „44 Fußballbeinen“ singsprechend zur Gitarre anstimmte, mochte ein wenig Gesellschaftskritik dahinter stecken (Heute würde das wenig nett gemeinte „Millionäre in kurzen Hosen“ bemüht). Doch eher ging es ihm wohl um das Beschreiben einer Sportart, die den einen Kult ist, anderen hingegen als sinnlose Rennerei vorkommt. Dass es sich um ein Spiel handelt, das gar ästhetische Komponenten in sich birgt, scheint der öffentlichen Wahrnehmung absolut fremd (geworden).

Hier nun hat sich die Fotografin Regina Schmeken zu Wort gemeldet. Mit aussagekräftigen Bildern, die nicht auf Action ausgerichtet sind, sondern auf Schönheit und (skurrilen) Witz. Die bisweilen Rätsel aufgeben, weil der Betrachter gerade nicht weiß, wo etwa der Ball ist. Weil er überhaupt nur Beine sieht, die sich in Verbindung mit Mittelkreis oder Seitenlinie zu einem grafischen Konstrukt formen. Keine Gladiatoren betreiben hier knallharten Sport, sondern der spielende Mensch gewinnt oder verliert in Schönheit.

Schmekens Fotos sind zurzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Großformatige Schwarzweiß-Studien, denen das Wort Fußballfieber fremd scheint. Eher verbinden sich mit ihnen die Begriffe Ruhe, Kontemplation, ja Intimität. Davon spricht jedenfalls Oliver Bierhoff. Ihm ist es zu danken, dass die in Gladbeck geborene Fotografin die Nationalmannschaft von März 2011 bis zum Juni dieses Jahres begleiten durfte. Die 40 ausgestellten Exponate fallen dabei vor allem durch eine choreographische Note auf. Und das kommt nicht von ungefähr.

Denn die Fotojournalistin hatte nicht nur selbst Ballettunterricht, sondern suchte stets tänzerische Elemente in ihren Bildern. Berühmt wurde eine Aufnahme vom Weltwirtschaftsgipfel 1992 in München. Da waren Staatsmänner in quirliger Unordnung offensichtlich auf der Suche nach ihrem rechten Platz fürs Gruppenfoto – heiter wirkende Wuselei abseits des steifen Zeremoniells.

Schmekens Fußballbilder also: eingefrorene Bewegungen, gruppendynamische Momente, Szenen abseits des Brennpunktes namens Strafraum. Da liegt etwa der Ball im Netz, und Torwart Ron Robert Zieler mit fragendem Blick daneben: Wie ist die Kugel bloß dahin gekommen? Oder Sami Khedira: Liegt da im patschnassen Gras und schaut offenbar versonnen aufs Regenwasser in seinen Händen.

Vier Beine und ein Kopf oder: Klose und Podolski. Foto: Regina Schmeken

Geradezu skurril die Aufnahme, in der sich Klose und Podolski nach dem Ball bücken: Perspektivisch so eingefangen, dass wir vier Beine, aber nur einen Kopf sehen. Manchmal winden sich Arme umeinander, tänzeln zwei Füße mit dem Spielgerät. Regina Schmeken blickt auf Details, wo der Zuschauer – im Stadion – nur ein Gesamtbild hat. Fans hat die Fotografin übrigens auch abgelichtet: Konzentriert dreinblickende, angespannt sitzende Menschen im deutschen Nationaltrikot, vielleicht in Erwartung eines Freistoßes.

Brutalität aber, randalierende Fans, schimpfende Spieler oder Trainer, brutale Fauls gar sind nicht Schmekens Welt. Man mag ihr Abkehr von der Realität vorhalten, von der Tatsache, dass es letztlich um eine Menge Geld geht und somit wichtige Dinge auf dem Spiel stehen. Doch was ist dagegen zu sagen, dass sie auf die Ästhetik eben jenes Spiels hinweist, zu dem 44 Fußballbeine gehören?

Berlin, Martin-Gropius-Bau, Regina Schmeken, bis zum 6. Januar 2013.

http://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/gropiusbau/ueber_uns_mgb/aktuell_mgb/start.php




Fußball? Nicht mehr ohne Maske!

Branchentypische Witzbolde sprechen vom „Maskenball“. Ballack hat eine getragen, Huntelaar und Subotic desgleichen. Dante, Höwedes, Mertesacker, Metzelder, Olic und Schürrle ebenfalls. Und so mancher andere. Es scheint geradezu ein Zeichen der Zeit zu sein: Kaum noch eine Begegnung in der Fußball-Bundesliga, bei der nicht wenigstens ein Spieler mit Maske aus Karbon aufläuft. Was hat das zu besagen?

Gewiss: Die Kicker wollen sich vor weiteren Gesichtsverletzungen schützen. Doch eine andere Botschaft ist ungleich stärker. Denn zugleich dokumentieren die Masken, dass der Träger die vorherige Blessur – etwa einen Nasenbeinbruch – noch gar nicht richtig auskuriert hat, aber trotzdem schon wieder am Ball ist. Ergo sendet er das Signal aus, zu den besonders harten Hunden des Gewerbes zu gehören. Das kommt an in den Fanblöcken, das steigert vielleicht sogar den Marktwert, wer weiß. Ja, bei den simpel Denkenden erstickt es unter Umständen auch die Frage, ob der und jener Recke vielleicht schwul sei.

Überdies sehen die Spieler mit solchen Schutzmasken nicht mehr wie verletzliche Individuen aus, sondern sie erscheinen als anonyme Monster. Denkt da jemand an die Guy-Fawkes-Masken der „Occupy“-Bewegung? Nun, wir sind hier wohl auf ganz anderem Gelände. Seit Zorro gab’s zahllose Figuren der Populärkultur, die hier insgeheim und ungewollt mitzitiert werden – bis hin zu Darth Vader oder den Furcht erregend muskulösen Kampfmaschinen mit ihren technoiden Panzerungen, die Teile der Comic- und Spielzeugwelt bevölkern. Mit derlei „body modification“ kann vielleicht gar den Gegenspielern unterschwellig Angst eingejagt werden.

Bevor ich das Phänomen überinterpretiere, fällt mir eine andere Erscheinung auf Fußballplätzen ein – jene Nasenpflaster der 90er, deren Verwendung bei der EM 1996 kulminierte. Sie sollten angeblich die Atem- und Laufleistung erhöhen, sind dann aber nach Studien, die diese Annahme widerlegten, sehr schnell in den Mülleimern verschwunden. Drum sollte man auch diesen Beitrag zügig gelesen haben, sonst ist der Gegenstand womöglich schon wieder hinfällig.




Das Wort zum Wochenende

 

Westfalenstadion Dortmund, Südkurve, beim Spiel BVB - Hannover 96 am 2. April 2011 (Foto: Bernd Berke)

Westfalenstadion Dortmund, Südkurve, beim Spiel BVB - Hannover 96 am 2. April 2011 (Foto: Bernd Berke)

Es waren die Wochenenden, die vor langer Zeit viel erlebnisreicher waren.

Schon freitagabends ging es los, meist pünktlich um 20.30 Uhr. Bis zum Sonntagabend hielt dieses schier unbeschreibliche Gefühl an. Es waren junge Männer, die uns in den Bann zogen. Junge Männer in kurzen Hosen und Kniestrümpfen, farbenfroh gekleidet, im liebevollen Umgang mit einer Lederkugel. Dazu pfiff ein gestrenger Herr ein fröhliches Liedchen. Man nannte ihn zärtlich „Schiri“.

Wer erinnert sich nicht mit viel Wehmut an Szenen, wenn z.B. einer dieser tüchtigen Kerls seinen Schlappen ausfuhr zur Blutgrätsche? Oder gar den Ellenbogen in Richtung Halsschlagader? War das ein heiteres Bodychecken (Körpertasten)! Wir saßen alle um das bengalische Feuer, zusammen mit eifrigen Kuttenträgern, die ihrerseits ebenfalls immer bereit waren zum intensiven Körpertasten. Stimmungsvolle Choräle begleiteten das festliche Hochamt.

Die Messe dauerte in der Regel 90 Minuten, unsere Monstranz nannte sich Tabelle. Wir alle waren tiefgläubig.

Nun sind die Wochenenden trist und leer. Schon seit langer Zeit sind wir auf der Suche. Wo ist der Sinn, der Halt, der Anstoß?

Oh Herr, gibt sie uns zurück! – die LIGA!




Revierderby

Über das Derby an und für sich ist eigentlich alles gesagt. Die Formkurvenverläufe von Borussia Dortmund und Schalke 04 sind ebenso bekannt wie die jeweilige Verletztenliste. Alle Statistiken wurden abermals umgewälzt und liegen abrufbereit in den Datenspeichern. Mit teils absurdem Zahlenstoff füllen TV- und Hörfunkreporter dann wieder das Vakuum, wenn eine Palaver-Pause „drohen“ sollte. Ach, wie gut könnte man da auf manchen Wortschwall verzichten!

Auch die Prähistorie des Fußballklassikers im Revier ist wahrlich hinreichend aufgearbeitet worden. Heute finden sich, vorzugsweise in der regionalen Presse, mal wieder Rückblicke bis in die Vorkriegszeit, als Schalke dominierte. Seit den späten 40er Jahren hatte Dortmund meist mehr Erfolg. Doch wem sage ich das?

Zum Ritual gehört das ständige Kokettieren mit der alten Rivalität. In den Tagen vor dem Derby gibt es z. B. erfahrungsgemäß bei jeder hiesigen Pressekonferenz (wovon sie auch immer handle) eine neckische Anspielungen aufs Match, auch bei den meisten anderen Zusammenkünften ist dies eine Standardsituation. Selbst fußballfernste Geister geben sich auf solch augenzwinkernde Weise leutselig und volksnah. Man muss dann nur ganz arglos Worte wie „Gelb“ oder „Blau“ sagen – und schon wird wohlig wissend gefeixt.

Gelb vs. Blau - hier mit Fingerfarben (Bild: Bernd Berke)

Gelb vs. Blau - hier mit Fingerfarben (Bild: Bernd Berke)

Mal eben Schluss mit dem preiswerten Grinsen. Um das Selbstverständliche zu sagen: Gewalt zwischen beiden Fangruppen ist von Übel. Neuerdings trifft man ja feinsinnige Unterscheidungen etwa zwischen Hooligans und Ultras. Bitte, bitte, wenn es der soziologischen Wahrheitsfindung dient… Es ist allerdings gleichermaßen schmerzhaft; egal, von wem es was auf den Schädel gibt. Schon das Unwort „Zecken“, mit dem viele Schalker den BVB belegen, müsste gebannt werden. Klar doch: Beim Widerpart klingt auch nicht alles zivilisiert.

Freilich sollte man die traditionelle Gegnerschaft nicht weichspülen oder verwässern. „Der Bessere möge gewinnen“ ist der ewige Schnarchsatz für Schlafmützen. Natürlich sollen „unsere“ den Sieg davontragen. Wer denn sonst?!




Monegassische Hochzeiten

Briefmarken, Fußball und Skat als Einbürgerungshilfen eines Ösi im Revier

Den Übergang vom Ösi zum Wösi (damals hieß das noch nicht so) schaffte ich mit 10 bei den etwa Gleichaltrigen durch das Fußballspielen, das ich im Essener Norden auf der Bleiche hinter unserem Kruppschen Wohnblock spielerisch lernte – und auf den abgeteilten Wiesen hinter den Häusern gegenüber, sowie auf unserer kaum befahrenen Sackgasse zwischen diesen Häusern, der Heegstraße nämlich, die heute zu einem großen Teil der in den 70er Jahren neuen Straßenführung von Essen nach Bottrop zum Opfer gefallen ist, und mit ihr die Häuser natürlich auch. Wenn wir heute mit dem Auto von Bottrop nach Essen fahren, fahren wir gleichsam durch unser Schlafzimmer. Virtuell natürlich. Aber wer weiß noch davon?

Skatspielen war auch wichtig. Das lernte ich ebenfalls mit 10 und durfte sehr bald (welch hohe, welch wirkliche Auszeichnung!) mit den alten Kruppianern und staublungigen Bergleuten, Rentnern und Frührentnern also, nach Herzenslust mitspielen. Und zwar immer bei uns, in der von meinem Opa, dem aus Ostpreußen stammenden und ebenfalls und maßgeblich Skat mitspielenden ehemaligen Walzwerker, gezimmerten Laube, die vordem ein Hühnerstall war. Da ging’s hoch her! Und auch meine Einbürgerung bei den Erwachsenen war hierdurch gelungen.

Als Konstante hatte ich meine Briefmarkensammelleidenschaft aus Salzburg mitgebracht. Damals sammelten noch viele Kinder und Jugendliche und Erwachsene Briefmarken. Und so gab es auch hier Anknüpfungspunkte und Übergangshilfen. Naheliegenderweise sammelte ich schwerpunktmäßig österreichische und deutsche Marken; lernte dadurch viel Geschichte, Erdkunde und vieles andere Wissenswerte kennen; sammelte aber auch Motivmarken aus dem Bereich vor allem der Tier- und Pflanzenwelt und des Sportes; nachdem ich zuvor eine ganze Zeit lang alle Briefmarken, die mir irgendwie in die Finger gekommen waren, also gestempelte und ungestempelte, geschnittene und gezackte, dreieckige und viereckige, aus welchem Land und aus welcher Zeit auch immer, in meine Sammlung einbezogen hatte.

Als ich vor einigen Tagen nun aus den Fernsehnachrichten, da bildbegleitet, wie nebenbei erfuhr, dass bei der aktuellen Fürstenhochzeit in Monaco ein Block Briefmarken mit dem neuvermählten Paar herausgegeben würde, fühlte ich mich sofort an meine einstige Sammelleidenschaft erinnert. Ich holte seit langem mal wieder meine alten Briefmarkenalben heraus und stieß gezielt auf meine monegassischen Marken der 50er-Jahre. Die drei Marken mit der Einzelansicht des Fürsten Rainier III fielen mir gleich ins Auge, auch die monegassischen Marken zu den Olympischen Spielen von Helsinki 1952 usf., vor allem aber, die fünf Briefmarken, die ich eigentlich gesucht hatte: die Marken mit dem damals Schlagzeilen beherrschenden Hochzeitspaar vom 19. April 1956. Dennoch war und bleibt das Jahr 1956 in meinem Gedächtnis vor allem das Jahr des am Radio von mir bewusst mitbekommenen Ungarnaufstandes und der fast gleichzeitigen Suezkrise, von der ich nur ein wenig zeitversetzt – in wieder aufgeweckter Erinnerung daran – ägyptische Briefmarken mein eigen nennen durfte.




Gestern im Skatverein – Stichprobe zu Medienbehauptungen in Sachen Frauenfußball

Gestern im Skatverein Johannestaler Buben Bottrop e. V.; viele dort sind fußballinteressiert oder -begeistert; alle davon schauen, na klar doch, die Frauenfußballweltmeisterschaft, einige sogar alle Spiele. Keine Spur von männlicher Arroganz, Herablassung oder Häme. Ganz anders als verschiedentlich in den Medien oder bei Facebook behauptet. Ganz entspannt und teils mit unverkennbarer Hochachtung werden die Spiele besprochen und begutachtet. Ganz selbstverständlich wechselt das Gespräch zum Montagsspiel der U17 der Männer gegen England und ganz selbstverständlich wieder zurück zu den Frauen. Gleichberechtigung im Fußball ist hier kein Thema.

(Foto: Bernd Berke)




Erfüllter Wunsch

So ist das vielleicht mit allen erfüllten Wünschen: Auf einmal fehlt der ganz große Glanz, der schon seine funkelnden Vorboten ausgesandt hatte und den man sich vorher aus der Ferne erhofft hatte.

Nicht, dass nun alles schal schmeckte. Doch man muss von den ersehnten 100 Prozent etwas abziehen. Wieder mal keine Apotheose. Die Vorlust war abermals größer als die die Erfüllung.

Wer wird denn da an Erotik denken?

Es sei dargetan am banalen Beispiel: Gesetzt den Fall, man hätte die ganze Saison über, Spiel für Spiel, mit einem Fußballverein gefiebert (nennen wir ihn mal probehalber Borussia Dortmund), und der würde am Ende tatsächlich obsiegen, so wird sich in alle Freude etwas ernüchternd Prosaisches mengen. Kann es sein, dass viele just eine Ahnung dieses Gefühls mit Alkohol betäuben? Dass sie die keimende Enttäuschung niedergrölen?

Sowieso hat der gute Goethe auch dazu seinen Senf gegeben. Oft zitiert, nie erreicht: „Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen.“ Was soll man dagegen einwenden? Der Teufelskerl hat’s mal wieder auf den Begriff gebracht. Und Schopenhauer hat steigernd gewusst: „In einem Schlaraffenland würden die Menschen zum Teil vor langer Weile sterben oder sich aufhängen.“ Zum Teil.

Deutsche Meisterschaft im Fußball. Bei Licht betrachtet, mag es reichlich läppisch sein. Es gilt doch, die Welt vorm Niedergang zu retten. Utopien harren der Verwirklichung, so dass Tore, Punkte und Tabellen vergleichsweise kläglich gering anmuten. Ja, sagt das mal den Leuten, die jetzt bis in den Morgen feiern.

Ich habe heute in dieser Stadt viele glückliche Gesichter gesehen. Auch bei Menschen, die sonst wahrlich nichts zu lachen haben. Selbst ein Mann, der seine ganze Habe in einer Tüte mit sich tragen kann, lächelte selig vor sich hin. Besitzt er auch so gut wie nichts, so bleibt ihm doch diese frische Zuversicht. Ihm solche Spurenelemente von Lebensmut nehmen zu wollen, wäre zynisch. Doch kann es nicht dabei bleiben. Doch muss da erheblich mehr kommen. Doch reicht das beileibe nicht aus.

Ach, wie unvermischt war unsere Freude noch, als wir Kinder gewesen sind. Wie sehr waren wir jäher Absturz und erneutes Auffahren! Was ist daraus geworden?

Und jetzt?




Fuchteln für den Vorteil

Eine Fußball-Untugend geht mir zunehmend auf den Geist, auch weil sie weit über den Sport hinausreicht und vom Zustand der Gesellschaft zeugt.

Ist eine Szene noch im Gange oder gerade vorbei, wird sofort (in Zehntelsekunden-Schnelle) ein Vorteil für die eigenen Farben reklamiert. Schon vollends automatisiert sind die Gesten, mit denen Spieler immer gleich lauthals Einwurf, Ecke oder gar Elfmeter „für uns“ fordern. In hitzigen Spielphasen wird fast in jeder Situation derart wild gestikuliert und dramatisch gefuchtelt. Also nicht, weil die Protagonisten tatsächlich glaubten, sie lägen richtig, sondern just, weil der Schiedsrichter beeinflusst werden soll. Auch will man so die Emotionen der eigenen Fans anstacheln. Die wahrhaftigen Anhänger, so wäre zu hoffen, sähen ihr Team lieber ohne solche Hampelei gewinnen. Es wirkt ja auch doppelt lächerlich, wenn sich stets alle Hände recken und simultan für beide Teams Freistöße & Co. anmahnen.

Ebenso ist es nach rüden Fouls international kläglich üblich, mit beiden Händen eine Kugelform anzudeuten. Will heißen: „Ich habe doch den Ball getroffen, da hinten rollt er.“ Mag sein. Doch daneben windet sich der ebenfalls oder ausschließlich getroffene Gegenspieler. Es sei denn, der hätte (um mal eben zwei Vogelarten ins Spiel zu bringen) lediglich eine „Schwalbe“ vollführt und mimte den „sterbenden Schwan“. Ich fürchte, dass schon manche erfolgshungrigen Kindermannschaften darauf getrimmt werden, auf solch hinterhältige Art Vorteile zu schinden.

So. Das wär’s. Nur eins noch: Rote Karten für alle fiesen Widersacher und ein paar Elfer ohne Torwart für mich, mich, mich! Sonst gibt’s was auf die…