Die Minute, da wir explodierten – Ein Fußball-Länderspiel zwischen religiöser Erwartung, Königsdrama und Farce

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Kollegen der Sportredaktion haben ihre Teil getan, nun darf auch noch das Feuilleton ‚ran. Denn natürlich ist ein Fußball-Länderspiel, wie jetzt Deutschland – USA in Dortmund, letztlich auch ein geballtes Kulturereignis. Bei der WM werden wir’s sogar multi-kulturell erleben.

Man denke nur ans ganze Drumherum, an die vielen Rituale: vom eher pflichtschuldigen Absingen der Nationalhymnen bis zur permanenten chorischen Begleitung durch die Fans; von der mitunter opernhaften Arena-Situation (mit Vorläufern wie dem griechischen Amphitheater oder dem römischen Colosseum) bis hin zur sprachlichen Bewältigung des Geschehens durch Spieler, Trainer und Journalisten.

Sodann die Spielchen mit den historisch überkommenen National-Klischees („Die Amis“, „Die Urus“ usw.), stets frisch aktualisiert durch die Typengalerie der jetzigen Mannschaften.

Überdies wabert ein ständiges Krisengerede, welches Theater und Literatur seit Hunderten von Jahren begleitet – warum also nicht auch den vergleichsweise blutjungen Fußball? Vom Glauben an Mythos und Magie (wieder weiße statt rote Hemden = erhöhte Siegchance) ganz zu schweigen. Das Spektrum großer Spiele liegt denn auch irgendwo zwischen quasi-religiösen Erwartungen, Shakespeares schroffen Königsdramen und einer grotesken Farce.

In Dortmund gibt’s fürs Nationalteam offenbar kein Verlieren. 4:1 ging es bekanntlich aus, rein rechnerisch also die exakte „Wiedergutmachung“ fürs Florentiner Italien-Debakel. Lange blieb’s freilich abermals ideenlos und uninspiriert, so ganz und gar nicht künstlerisch. Schmerzlich yermisste man die Leichtigkeit des Seins, die ein Fußball-Ensemble hervorbringen kann und die Deutschlands Sache oft nicht ist, was wiederum gern mit der gesamten Befindlichkeit des Landes kurzgeschlossen wird. Fußball als Staatsaffäre, deren Akteure sich oft furchtbar ernst nehmen.

Kein Wunder, wenn die Jungs auf dem Spielfeld verkrampfen. Doch diesmal, vor allem aber der 73. Minute, „sind wir explodiert“ (O-Ton Oliver Kahn), und es gab auf einmal die gute alte Katharsis, sprich: die befreiende Reinigung vom Übel. Das waren endlich ein paar schöne, ästhetisch befriedigende Momente.

Wie sonnig geht’s doch in derlei Erfolgsfällen beim ZDF zu: „Analysen“, wie sie Franz Beckenbauer und Johannes B. Kerner liefern, brächte wohl jeder bessere Stammtisch zu- stande. Doch es ist nahezu pervers: Irgendwie giert man ja selbst masochistisch nach dem öligen Palaver von „Kaiser Franz“ oder auch nach den eher barschen Urteilen von Günter Netzer bei der ARD. Selbst ein „Literaturpapst“ wie Marcel Reich-Ranicki dürfte seine Freude daran haben. Und Harald Schmidt sowieso.

Zum Ritus gehört auch das Erscheinen des Bundestrainers, der traditionell Rede und Antwort stehen muss. Jetzt lacht er wieder, der „Klinsi“. War es etwa nicht amüsant, wie beflissen der Regisseur Klinsmann neben dem Generalintendanten (Beckenbauer) stand; wie er diesmal „die Herren Medien“ geißelte oder wie er den „Abnutzungskampf“ beschwor? Goldig auch sein Satz über die der letzten Tage vor dem Match: „Wer mich kennt, hat mich nach wie vor lächeln gesehen.“ Wahrscheinlich war’s daheim im Keller.




O abgetropfter Ball, o rundes Leder! – Ludwig Harigs Fußballsonette im Vorfeld der WM

Von Bernd Berke

Die bevorstehende FußballWM beflügelt nicht nur Sport-Kommentatoren und zig Millionen Bundestrainer, sondern auch viele Schriftsteiler. In diesem Frühjahr sind zahllose Bücher mit literarischem Kick auf dem Markt. Sehr edel gibt sichLudwig Harigs schmale Gedichtsammlung „Die Wahrheit ist auf dem Platz“.

Der Umschlag ist nicht nur satt grün wie gut gepflegter Rasen, sondern trägt auch die weißen Linien-Markierungen eines Spielfeldes. Noch dazu fühlt sich der aufwändig hergestellte Band wie Samt und Seide an. Da macht schon das Anfassen Freude.

Und der Inhalt? Mythen und Schicksale zuhauf. Harig lässt große Turniere und Spiele der letzten Jahrzehnte in einer wahrhaft erhabenen lyrischen Form aufleben: Er bedient sich des Sonetts – wie beispielsweise einst Shakespeare oder Rilke. Die klassische Strophen-Aufstellung folgt zeilenweise dem 4-4-3-3 System. Das hehre kulturgeschichtliche Erbe zieht überaus kostbare, pathetische Formulierungen nach sich:

„O abgetropfter Ball! O eingeschlenztes Leder!“

Preziöse Sprache und würdevolle Form stehen zuweilen im krassen, komischen Gegensatz zur Schlichtheit der mitgeteilten Tatsachen. Man darf wohl annehmen, dass Harig (ähnlich wie sonst ein Robert Gernhardt) diesen rhythmisch grundierten Fallhöhen-Effekt ganz gezielt einsetzt. Beispiel:

„Ein Unentschieden macht den Sieg zuschanden / und schiebt den Riegel zu für künftige Trophäen.“

Wie wahr. Ein 0:0 ist kein Sieg und zeitigt keine Triumphe. Ein andermal riskiert Harig, der auch schon mal „Böller“ auf „Völler“ reimt, einen gar kühnen Vers:

„Der Fan lehnt sich zurück und cremt sich mit Nivea, / erwartet voll Respekt das Team aus Südkorea.“

Ganz klar. Typisches Fanverhalten. Gleich der Griff zum Cremedöschen, wenn’s hart auf hart kommt.

Diverse WM- und EM-Verläufe seit 1954 werden lyrisch besungen. Zum teutonenhaften deutschen Auftreten bei der erfolglosen WM 1998 heißt es:

„Denn Ordnung, Arbeit, Kraft, so höhnt ein Journalist, / womit die Deutschen sich und alle Welt betrügen, / sind nichts als Alibi, als fromme Lebenslügen.“

Auch zur WM 2002 klingt es aus deutscher Sicht mahnend und besorgt: „Es hilft die Tugend nicht, man muß auch Fußball spielen.“ Und zur EM 2004 in Portugal: „Taugt unser Fußball noch? Das ist die Gretchenfrage.“ Das Leiden an deutscher Holzklasse ist ebenem bleibendes Thema. Doch vor Monaten, wahrscheinlich beim munteren Confed-Cup 2005, sah Harig einen Lichtstreif:

„Am Fußballhorizont ein helles Dreigestirn / mit Klinsmann, Bierhoff, Löw erleuchtet unser Hoffen.“

Die leidige Torwartfrage hat Harig unterdessen subjektiv ganz eindeutig entschieden: Jens Lehmann soll es sein! Über Oliver Kahn heißt es hingegen nach glücklosem Match geradezu schadenfroh:

„Nun kann er sich nicht mehr gebärden als Titan / und nicht erkühnen, sich die Nummer eins zu heißen.“

Überhaupt erweist sich Harig als ausgesprochen bissiger Anti-Bayer. Zitat aus „Bayern gegen Arsenal“, mit Bezug zum deutschen Torwart in Londoner Diensten:

„Kommt Lehmann an den Ball, schon pfeift die feige Meute. / Es sind die Bayernfans ein schlimmes Publikum, / Zerstören die Idee von Spiel und Menschentum. / Hier herrscht der blinde Wahn vulgär gebliebner Leute.“

Wie gut, dass Westfalen und Saarländer anders sind. Immer nur Lyrik im Kopf und stets faire Sportsfreunde. Jau!

Ludwig Harig: „Die Wahrheit ist auf dem Platz. Fußballsonette“. Hanser Verlag, 80 Seiten, 12,50 Euro.

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ZUR PERSON

Passionierter Saarländer

  • Ludwig Harig wurde 1927 in Sulzbach/Saar geboren.
  • Zunächst war er als Grundschullehrer tätig, seit 1974 ist er freier Schriftsteller.
  • Besonders viel Beachtung fand seine Romantrilogie mit den Bänden „Ordnung ist das ganze Leben“, „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“ und „Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf“.
  • Harig hat sich auch mit experimenteller Lyrik einen Namen gemacht.
  • Fußballthemen hat der passionierte Regionalist (Buch „Die saarländische Freude“) mehrfach aufbereitet.
  • Schon 1967 war sein Hörstück „Das Fußballspiel“ gesendet worden. Und zur Fußball-WM 1974 leistete er mit Dieter Kühn den literarischen Beitrag „Netzer kam aus der Tiefe des Raumes“.



„Bloß nicht in Schönheit sterben“ – Interview mit Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa über Programme und Perspektiven

Von Bernd Berke

Dortmund. Auch das Dortmunder Konzerthaus kommt nicht an der Fußball-WM vorbei. Direkt vor dem Auftakt des sportlichen Großereignisses wird die einschlägige brasilianische Tanzproduktion „Maracana“ in der Westfälischen Philharmonie gastieren. Doch nicht nur darüber sprach die WR mit Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa (40).

Frage: Konzerthaus und Kicken – wie geht das zusammen?

Benedikt Stampa: Berechtigte Frage. Ich bin Fußballfan, und ich bin Kulturfan. Aber im Prinzip bin ich kein großer Freund der Verbindung zwischen Kultur und Fußball.

Warum nicht?

Stampa: Es passt oft nicht. Es funktioniert bestenfalls auf einer höheren Gedanken-Ebene. Die musikalischen Versuche schlagen meistens fehl. Auch gibt es kaum einen authentischen Fußball-Spielfilm. Die Schauspieler sind fast immer schlechte Fußballer und umgekehrt. Am besten geht es wohl gerade im Tanztheater-Bereich. Hier spielt Athletik ohnehin eine große Rolle. Und der Fußball hat ja seine spezielle Choreographie, die allerdings auch vom Zufall bestimmt wird.

Wie muss man sich „Maracana“ vorstellen?

Stampa: Die Hamburger Premiere sehe ich selbst erst am Donnerstag. Fest steht: 16 Tänzerinnen und Tänzer sind dabei. Die Musik ist eine Mischung aus Samba, HipHop und Funk. Der Rasen wird zu sehen sein – in Form einer grünen Wand. Es wird ein „Spiel“ geben, mit Fouls und Fallrückziehern. Als ich hörte, dass diese Produktion entsteht, dachte ich gleich: Die müssen wir nach Dortmund holen. Schließlich spielen die brasilianischen Fußballer ja auch hier. Das wird ein Highlight: Drei Tage vor der WM, wenn die Spannung auf dem Siedepunkt ist, geht es los. Die Tanztruppe gastiert vom 6. bis zum 8. Juni bei uns. Dann werden auch viele Journalisten aus aller Welt hier sein…

Wir freuen uns drauf. Mal was anderes: Wie sehen die aktuellen Auslastungszahlen im Konzerthaus aus?

Stampa: Nun, das Haus hat die Gründungsphase mit einigen – auch schmerzlichen – Erfahrungen hinter sich. Die Zahlen haben sich stabilisiert und beginnen allmählich zu steigen. Wir liegen jetzt alles in allem bei 63 Prozent Auslastung. Wir wissen, dass etwa50 Prozent der Besucher aus Dortmund selbst kommen – ein guter Wert. Aber wir strahlen auch weit in den Kreis Unna, ins Sauerland und Münsterland aus. Wichtig ist die gute Mischung aus Abonnements und freiem Verkauf.

Manche Musikfreunde beklagen, dass Sie zu wenig Kammermusik anbieten.

Stampa: Wir werden auf diesem Feld künftig mehr machen – im wirtschaftlich vernünftigen Rahmen. Kammermusik ist ja die Grundlage des sinfonischen Schaffens.

Trügt der Eindruck, oder haben Sie das Programm in letzter Zeit popularisiert?

Stampa: Wenn man ihn richtig versteht, kann ich am Begriff „populär“ nichts Nachteiliges finden. Wir haben einen Bildungsanspruch, aber wir wollen nicht „in Schönheit sterben“. Übrigens bietet ein Dirigent wie Christian Thielemann, der gerade zweimal mit den Münchner Philharmonikern bei uns gastiert und unter anderem Brahms gespielt hat, auch eine Art Mainstream. Aber eben auf höchstem Niveau. Und es gibt natürlich eine Untergrenze.

Wo liegt die denn? Wen würden Sie nicht einladen?

Stampa (lacht): Das werde ich Ihnen nicht konkret sagen. Aber schau’n Sie einfach mal, wer nicht bei uns auftritt…

Sie haben lange in Hamburg gearbeitet und sind jetzt seit Herbst 2005 in Dortmund tätig. Wie unterscheidet sich das westfälische Publikum vom hanseatischen?

Stampa: Das Publikum in Dortmund ist wesentlich neugieriger, es geht mehr mit. Das hat mir auch Christian Thielemann bestätigt. In Hamburg gibt es eine alte, ehrwürdige Musiktradition. Viele Leute haben dort schon vieles gehört und sind vielleicht ein wenig saturiert.

Ihre bislang schönsten Dortmunder Konzert-Erlebnisse?

Stampa: Es gab einige. Die erwähnten Thielemann-Auftritte gehören unbedingt dazu. Aber natürlich auch das Gastspiel von Anna Netrebko.

Wird sie irgendwann erneut nach Dortmund kommen?

Stampa: Ich habe ihr gesagt, dass alle Türen offen stehen. Eigentlich singt sie am liebsten in Konzerthäusern. Die Frage ist nur, ob sie künftig zu Auftritten in großen Stadien und Arenen gedrängt wird.

Konkurrieren Sie mit Dortmunds Oper ums Publikum?

Stampa: Wohl weniger. Die Last des kulturellen Lebens einer Stadt kann nicht nur auf einem einzigen Haus ruhen. Wenn es gut läuft, ziehen wir uns gegenseitig hoch.

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HINTERGRUND

„Fußballer sind die besten Tänzer der Welt“

  • Die brasialianische Tanzproduktion „Maracana“ ist benannt nach dem weltgrößten Fußballstadion in Rio de Janeiro (Fassungsvermögen heute etwa 120 000 Zuschauer).
  • Die Auftrags-Produktion, offizieller Beitrag zum FIFA WM-Kulturprogramm, hat just heute in Hamburg Weltpremiere und gastiert vom 6. bis 8. Juni im Dortmunder Konzerthaus. Einziger weiterer Spielort in NRW ist Köln (ab 9. Februar).
  • Die renommierte Choreographin Deborah Colker (43) aus Brasilien ist nicht nur ausgebildete Tänzerin, sondern auch Pianistin und überdies Diplom-Psychologin.
  • Ausgiebig studierte sie für ihr Tanzstück die Bewegungsabläufe im realen Fußball. Ihr Eindruck: „Fußballer sind die besten Tänzer der Welt.“