Heimkehr von den Irrfahrten – Christoph Ransmayr und Anselm Kiefer schufen ein Buch, das überdauern wird

Odysseus ist müde und ausgelaugt, viel zu lange war er unterwegs, hat unzählige blutige Schlachten geschlagen, sich auf der Suche nach der verlorenen Heimat heillos verzettelt und ist durch das Labyrinth der Menschheitsgeschichte geirrt. Die sich um ihn und seine endlose Reise rankenden Mythen und Märchen sind ihm nur noch schnuppe und können seine Sehnsucht nicht mehr stillen.

Ausgezehrt liegt der listenreiche Städteverwüster in irgendeinem Krankenhaus, lässt seine Blutwerte noch einmal checken, wartet auf seine Entlassungspapiere und seinen Pass, sieht bereits das Meer wieder vor sich „und auf seinem Spiegel / ein gleißendes Gespinst möglicher Routen, / ein Knäuel von Routen der Heimkehr, / die am Ende vielleicht / alle zurückführen / in die Ruinen von Troja.“

Mit einem durch Zeit und Raum, Realität und Utopie irrlichternden „Odysseus“ eröffnet Christoph Ransmayr seinen neuen Band mit Gedichten und Balladen, in dem Schönheit und Schrecken, Poesie und Politik, Dichtung und Malerei sich vermählen und zu einem göttlichen Kunstwerk vereinen. „Unter einem Zuckerhimmel“ lautet der fast idyllische Titel dieses schillernden Crossover-Projekts, zu dem der renommierte Künstler Anselm Kiefer zahllose Aquarelle beigesteuert hat.

Mit Tusche, Bleistift und Kohle hat Kiefer, dessen Werk schon oft um blutige Abgründe, verdrängte Kriege und vergessene Mythen kreiste, seine Farb-Fantasien den poetischen Visionen gegenübergestellt. Was Kiefer auf Gips und Karton getupft und gespritzt hat, bebildert und kommentiert nicht die Balladen und Gedichte, sondern spricht eine eigene künstlerische Sprache, lässt mal eisig blaue, mal blutig rote Farbe auf einen Malgrund tropfen, zieht schwarze Linien und kindlich gekritzelte Buchstaben durch die erdig und steinig wirkende Landschaft.

Christoph Ransmayr lebte Jahrzehnte aus dem Koffer, machte das Unterwegs-Sein zur Lebens-Philosophie, war stets auf der Suche nach einem überraschenden Gedanken und schönen Gedicht, durchquerte Wüsten, stieg auf hohe Berge und reiste zum Nordpol, war immer ein Reisender und Suchender, der „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ und „Die letzte Welt“ besang, „Eine kurze Geschichte vom Töten“ und den „Atlas eines ängstlichen Mannes“ beschwor.

Jetzt scheint Ransmayr zur Ruhe gekommen und lebt wieder in Wien. Doch umso dringlicher erinnert er an den ruhelos durch die Geschichte irrenden „Odysseus“, sendet uns „Nachrichten aus der Höhe“ und erzählt vom „Trost des Steinschleifers“, der sich oft stundenlang verliert in den Tiefen kristalliner Strukturen und in ihnen „ein geheimnisvolles, laut- und zeitloses Bild der Welt“ sieht, „das ihn alle Sensationen und Schrecken / der Geschichte des organischen Lebens / vergessen lässt / und ihm verspricht: / Etwas von dieser Arbeit / wird überdauern. / Nicht für immer, aber länger, / viel länger als alles, / was welken, faulen / und schmerzen kann.“

Der Dichter als Steinschleifer: Auch die Balladen und Gedichte des heimatlos durch Gedankenwelten reisenden Poeten werden überdauern, noch lange weiter leben und uns den Weg dahin zeigen, wohin wir doch alle immer wieder zurück kehren wollen: nach Hause. In der „Ballade von der glücklichen Rückkehr“ ist der ziellos um den Globus reisende Dichter das Unterwegssein leid:

„Genug! Genug. Eines Tages ist es genug. // So weit sind wir gegangen, / so hoch sind wir hinaufgestiegen, immer höher, / bis uns der nächste Schritt ins Blaue geführt hätte, / in die Wolken, nur noch ins Leere“.  Erduldet hat er „Orkan. Hunger. Wunden. / Höhenwahn. Fieber. Angst. / Die Erschöpfung oder das Heimweh.“

Doch jetzt reicht es: „Eines Tages kehren wir unseren Träumen / den Rücken / und machen uns auf den Weg in die Tiefe, / zurück zu den Menschen“, wollen nur noch „nichts wie weg. / Wir wollen nach Hause!“ Doch das Zuhause muss kein Ort, kann auch eine Erinnerung sein: an die „Buchstabensuppe, deren Lettern auf dem Tellerrand von meiner Mutter zu Zeilen angeordnet wurden“, den Gedanken, dass „Verse und gesungene Strophen die vollendete Form einer Geschichte“ sein und Balladen den Krieg besingen, aber nicht bannen können:

„Wir spielen / unter einem Zuckerhimmel / Krieg, // nennen flackernde / Strohfeuer / Ewigkeit // und jede Katastrophe / einen Sieg. // Was immer auf uns niederfährt: / Wir nehmen es gelassen, / heiter // und spielen / und spielen weiter / unter einem Zuckerhimmel Krieg.“

Dass Autor und Maler sich lange schon kennen und schätzen, Ransmayr dem Freund ein literarisches Denkmal setzte („Der Ungeborene oder Die Himmelsareale des Anselm Kiefer“), der sich jetzt sich mit zeitlos-schönen Bildern revanchierte, darf man getrost einen Glücksfall nennen. Ein Prachtband zum Verweilen und Träumen, ein Buch, das man immer wieder neu lesen und anders betrachten kann. Ein Buch, das überdauern wird.

Christoph Ransmayr: „Unter einem Zuckerhimmel. Balladen und Gedichte“, illustriert von Anselm Kiefer. S. Fischer Verlag, 208 S., 58 Euro.

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Infos:

Christoph Ransmayr, geboren 1954, lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Für seine Romane „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, „Die Letzte Welt“, „Morbus Kitahara“, „Der fliegende Berg“, „Cox oder Der Lauf der Zeit“, „Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten“ und „Atlas eines ängstlichen Mannes“ erhielt der Autor zahlreiche, auch internationale Auszeichnungen. „Unter einem Zuckerhimmel“ ist der zwölfte Band seiner Buch-Reihe „Spielformen des Erzählens“. (FD)

Anselm Kiefer, geboren 1945, zählt zu den bedeutendsten und innovativsten Künstlern der Gegenwart. Mit Malerei, Bildhauerei, Fotografie, Film und Installation versucht er immer wieder, sich der jüngeren deutschen Geschichte zu stellen, das „Nichtdarstellbare“ zu erfassen und Motive und Themen aus Philosophie und Literatur, Wissenschaft und Religion in Bilder zu verwandeln. 2008 erhielt er (als erster bildender Künstler) den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. (FD)




Predigt und Pathos – Amanda Gormans Gedichtband „Was wir mit uns tragen“

„Dieses Buch ist eine Flaschenpost“, schreibt Amanda Gorman im Gedicht  „Schiffsmanifest“, das ihren ersten großen Lyrikband einleitet, und fährt dann fort: „Dieses Buch ist ein Brief. / Dies Buch lässt nicht locker. / Dieses Buch ist wachsam. / Dieses Buch weckt auf.“

Dieses Buch, möchte man vorsichtig einwenden gegen das Übermaß an poetisch-politischem Pathos, ist vieles, aber vor allem eines: ein großes lyrisches Missverständnis. Denn „Was wir mit uns tragen“ legt Zeugnis ab von der literarischen Überforderung einer jungen Dichterin, die mit einem einzigen Auftritt die ganze (westliche) politische Welt verzauberte und zur Ikone des Aufbruchs in eine neue Zeit wurde: Als sie am 20. Januar 2021 zur Amtseinführung von Joe Biden die traurige und zugleich stolze Geschichte ihres von Rassismus gepeinigten Landes in eine poetische Predigt formte, schwer bepackt „Hügel hinauf“ kletterte („The Hill We Climb“) und stellvertretend für alle Gemarterten und Geschundenen, Vergessenen und Verlorenen das von Trump zerrissene Land wieder vereinen und heilen wollte, waren ihre Worte „Balsam für unsere Seelen“, wie Talkshow-Diva Oprah Winfrey begeistert ausrief.

Als Stil-Ikone vereinnahmt

Amanda Gorman ist die Verkörperung des neuen schwarzen Selbstbewusstseins. Wann immer sie öffentlich auftritt: Stets geht es um Gleichheit und Gerechtigkeit und darum, Rassismus und Unterdrückung ein für alle Mal in den Orkus der Geschichte zu verbannen. Dass sie nicht nur religiöse und politische Verheißungen verkünden will, sondern auch ein literarisches Anliegen hat und moderne Lyrik schreiben möchte, geriet ein bisschen in Vergessenheit. Vielleicht auch, weil sie vom Kapitalismus sofort vereinnahmt und mit ihrem gelben Mantel und roten Haarband (die sie bei der Inauguration trug) zur Stil-Ikone avancierte und sich profitträchtig vermarkten ließ.

Natürlich fehlt das coole Outfit auch nicht auf dem Cover des Buchs, das zahllose Texte enthält, aber eigentlich kaum ein Gedicht, das mehr ist als eine religiöse Litanei und politische Variation der immer gleichen Gedanken. Immer spricht aus ihrem Mund ein nicht näher definiertes „Wir“, immer fühlt sie sich als Sprachrohr einer von Leid und Schmerz befallenen Gruppe, die die Hoffnung auf ein besseres Morgen nicht aufgeben will.

Überall findet sich das „Wir“

Welche Seite man auch aufschlägt, welches Gedicht man auch liest, überall findet man solche Zeilen: „Wir haben geweint“, „Wir verschliefen die Tage“, „Wir waren schon tausende / von Toten in diesem Jahr“, „Wir hatten Zuhause satt“, „Wir strebten nach neuen Muskeln“, „Wir mussten uns erst selbst verlieren, / um zu verstehen, wir brauchen kein Königreich“, „Was sind wir, / wenn nicht der Kurs des Lichts“, „Wir gehen in ein Morgen / & tragen nichts / als die Welt.“

Mit Verlaub: das ist nicht Poesie, sondern Kitsch. Keine von sprachlicher Schönheit und gedanklicher Kraft erzwungene Literatur, sondern banales Geschwurbel und billiges Klischee. Kein widerborstiger Einfall, keine aufreizende Fantasie, nur Predigten einer jungen Frau, die jeden aufgeschriebenen Gedanken für ein gelungenes Gedicht hält: „Ein Gedicht hat kein Ende, / nur eine Stelle, wo die Seite / offen & erwartungshungrig glüht, / wie eine erhobene Hand, / gerüstet & gelassen.“

Übersetzung mit Sternchen

Ganz gelassen bemerken wir: Auch hübsch gemalte Kurven und fein gezogene Striche oder ein Gedicht in Form eines Wals (weil es auf Melvilles „Moby Dick“ anspielt), sind noch keine Lyrik, die einen bewegt oder berührt. Dass die deutschen Übersetzerinnen oft ein Gendersternchen (das es im amerikanischen Original nicht gibt) einfügen, versteht sich von selbst.

Amanda Gorman: „Was wir mit uns tragen / Call Us What We Carry“. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Kraft und Daniela Seel. Hoffmann & Campe, Hamburg 2022, 432 Seiten, 28 Euro.




Von Sarah Kirsch bis Samuel Beckett – ein paar Buchhinweise für gedehnte, gestauchte und gewöhnliche Tage

Hier noch vier kurze Lektüre-Hinweise, nicht nur für die weiterhin womöglich etwas längeren Tage ohne Restaurantbesuche, Live-Konzerte, Theaterabende, echte Kinoerlebnisse (nix Netflix) etc.; zumal heute auch noch der „Welttag des Buches“ begangen wird:

Dichterische Dachbodenfunde

Politisches, Privates und Naturerfahrung hat die Dichterin Sarah Kirsch (1935-2013) schon seit jeher subtil und wechselwirksam miteinander verwoben. Davon zeugt auch der posthume Band mit dem lapidaren Titel „Freie Verse“, der u. a. auch neunzehn bisher unveröffentlichte Gedichte enthält, die tatsächlich auf einem Dachboden entdeckt worden sind und dem bislang bekannten Werk noch einmal neue Nuancen hinzufügen.

Es gibt hier zwar idyllische Momente, aber es sind beileibe keine naiven Idyllen. In den insgesamt 99 Gedichten zeigt sich wieder und wieder, dass und wie die Gesellschaft Menschen und Natur zutiefst prägt, so dass man zwar widerstehen, aber niemals ganz entkommen kann. Derlei Befunde erschöpfen sich allerdings niemals in bloßer Feststellung, sondern sie werden in poetischen Fügungen ästhetisches Ereignis.

Nur ein wortkarges Beispiel:

Epitaph

Ging in Güllewiesen als sei es
Das Paradies beinahe verloren im
Märzen der Bauer hatte im
Herbst sich erhängt.

Sarah Kirsch: „Freie Verse“. Manesse. 126 Seiten, 20 Euro.

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Briefwechsel Kirsch / Wolf

…und noch einmal Sarah Kirsch, diesmal in nahezu 30 Jahre umfassenden Briefwechsel-Dialogen mit Christa Wolf (1929-2011). Zwei herausragende weibliche Stimmen aus der einstigen DDR also, beide Trägerinnern der vielleicht renommiertesten aller deutschen literarischen Auszeichnungen, des Georg-Büchner-Preises. Und doch so verschiedene Charaktere…

Von 1962 bis 1992 spannt sich der Bogen der persönlichen und postalischen Begegnungen sowie der politischen Auseinandersetzungen, also über die Jahre der deutsch-deutschen „Wende“ hinaus. In den ideologischen Wirrnissen jener Jahre haben sich beide geistig auseinandergelebt. Auch das dokumentiert dieser (reichlich mit Anmerkungen, Bibliographie und Register versehene) Band ebenso lehrreich wie schmerzlich.

Sarah Kirsch / Christa Wolf: „Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt. Der Briefwechsel“. Suhrkamp, 438 Seiten. 32 Euro.

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Durch eine gespenstische Welt

Die Sonne schien, da sie keine Wahl hatte, auf nichts Neues.“ So lautet ein berühmtes und charakteristisches Zitat von Samuel Beckett. Auch in seinem Werk dürfte es nichts Unbekanntes mehr zu entdecken geben. Oder etwa doch?

Nun, es gibt eine Erzählung von 1933, die erst 2014 auf Englisch und nun auf Deutsch veröffentlicht worden ist. Im Ursprungsjahr war der Text, der eigentlich als Ergänzung zu „Mehr Prügel als Flügel“ („More Pricks Than Kicks“) gedacht war, dem Lektor gar zu chaotisch vorgekommen.

Das Werk des damals 27jährigen Beckett heißt „Echo Knochen“ (Original „Echo’s Bones“) und ist in der Tat alles andere als eine eingängige Lektüre. Diese überaus anspielungsreiche Prosa erlaubt aber gleichsam einen Blick ins frühe Werden des Beckettschen Themen- und Figureninventars. Wie der Übersetzer Chris Hirte im Nachwort verrät, hatte er seine liebe Not mit diesem ungeheuren Text, der – mit vielen Bruchlinien – durch eine wirre Traum- und Gespensterwelt führt. Empfehlenswert für wahre und mit beharrlicher Geduld gesegnete Beckett-Exegeten bzw. überhaupt für avancierte literarische Tüftler.

Samuel Beckett: „Echos Knochen“. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Mark Nixon, Übersetzung aus dem Englischen und ein Nachwort von Chris Hirte. Suhrkamp Verlag, 123 Seiten, 24 Euro. 

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Auf die Freuden des Lebens

Ehrlich gesagt: Das große Gewese um Wiglaf Droste (1961-2019) habe ich nie so ganz verstanden. Was er geschaffen hat, ist sicherlich schätzenswert, aber nach meiner Auffassung doch nicht so herausragend und kultverdächtig, wie viele zu meinen scheinen. Ich persönlich würde (je nach Stimmungslage) im komischen Genre andere Hochbegabungen vorziehen – allen voran Max Goldt. Aber das ist nun meine Sache.

Egal. Droste hatte und hat nun mal seine Fangemeinde und vor allem der sei der pralle Gedichtband „Tisch und Bett“ ans Herz gelegt. Die Lyrik aus den letzten Jahren seines allzu kurzen Lebens erweist sich vorwiegend als Lob der guten Dinge auf Erden, es sind freilich unfeierliche Strophen auf die Freuden des sinnlichen Daseins. Und gegen solche Diesseitigkeit ist ja nun wirklich nichts einzuwenden.

Wiglaf Droste: „Tisch und Bett“. Gedichte. Verlag Antje Kunstmann. 256 Seiten. 18 Euro.

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P. S.: Und bitte daran denken: Kauft oder kaufen Sie nach Möglichkeit am Ort. Unterstützt den lokalen Buchhandel. Gerade jetzt. Versprochen?




Der Mensch ist nur ein flüchtiger Schatten – Lars Gustafssons letzte Gedichte: „Etüden für eine alte Schreibmaschine“

Es ist, als solle einen schon der Titel unserer Zeit entrücken: „Etüden für eine alte Schreibmaschine“ heißt der (erst) jetzt bei uns erschienene Lyrikband von Lars Gustafsson. In Schweden ist das schmale, doch gehaltvolle Buch bereits 2016 herausgekommen, also im Todesjahr Gustafssons, der am 3. April 2016 gestorben ist. Diese Gedichte sind kein großes Vermächtnis, sondern wirken wie ein letzter, elegischer, wissend lächelnder Abschiedsgruß, der eben schon auf andere Sphären verweist.

Das erste Gedicht „Der Mann, der Hund, die Schatten“ lässt vage, schattenhafte Erscheinungen vorüberhuschen. Auch die weiteren Seiten enthalten vielfach Zeilenfolgen, die sich beinahe im Nichts verlieren und entschwinden, vor allem in nächtlichen und winterlichen Landschafts-Kulissen.

Etliche Gedichte sind so federleicht wortsparsam wie Haikus. Bloß nichts Überflüssiges hinsetzen! Unscheinbar, bescheiden, ja nahezu demütig und wie nebenher verfasst kommen einige dieser kleinen Schöpfungen daher. Aber das kann ja nicht stimmen. Der Dichter hat gewiss noch einige Mühen darauf verwendet. Das lyrische Ich sucht dabei nicht zuletzt Orte der Kindheitserinnerungen auf. Wie es gegen das Ende hin so zu sein pflegt.

Auf den Titel des Bandes kommt ziemlich früh das äußerlich fassbarere Gedicht „American Typewriter“ zurück. Es beschwört den länger zurückliegenden Augenblick, in dem am Metropolitan Desk der New York Times eine einsame Remington-Schreibmaschine betätigt wurde, nein: „…in einer Kaskade von Anschlägen aufbrauste“. Sodann heißt es:

„Es war eine Zeit,
als man die Menschen
noch denken hörte.“

Ja, es war noch eine ganz andere Materialität im Spiel, als beim vergleichsweise „lautlosen“ Geklapper auf Computern, bei dem freilich inhaltlich oft genug Getöse herauskommt.

Ansonsten geht es luftiger zu. Da erahnen wir beispielsweise: Verlassene Dinge, vorzugsweise in der schwedischen Provinz, von denen die Farbe abgeblättert ist; den Möglichkeits-Moment, bevor ein Solist im Konzert den ersten Ton spielt; die längst „erledigten“, niemals eingelösten Verheißungen abgelaufener Kalender; die Buchstelle, die ein vergilbtes Lesezeichen von 1929 noch markiert und hinter der vielleicht eine ganze Lebensgeschichte aufscheint…

Mehrfach werden Grenzgelände erwähnt: Grenzen des Erzählens, Grenzen der Galaxis, des Universums gar. Hinaus, hinaus ins Endlose? Im allerletzten Gedicht, dem „Epilog für die Ratlosen“, lesen wir jene Aufforderung, die in eine andere Welt führen könnte:

„Komm, müder Körper!
Komm, müde Seele!“

Und wie vergänglich waren Tun und Trachten im Leben! Gustafsson resümiert sein Metier, seine viele Jahrzehnte währende, wahrlich fruchtbare Autorenschaft im lyrischen Zuschnitt so lakonisch:

„Ich habe mein Leben damit verbracht
die Buchstaben des Alphabets
auf verschiedene Arten zu ordnen.“

Mehr noch: Einem anderen Gedicht zufolge scheint die ganze – ziemlich groteske – Geschichte der Philosophie sozusagen hinter Schneegestöber zu verschwinden. Ist denn alles Geistige nur ein Sortiervorgang oder flüchtige Illusion? Sollte auch jeder Mensch nichts als ein letztlich einsamer Schatten sein, wie es im Gedicht „Solipsismus“ heißt?

Kein Wunder, dass in diesem Band entscheidende Fragen angeschnitten werden, die (eventuell) letzten Dinge betreffend, allerdings mit Drall zur Komik:

„Ich frage mich:
Wenn man also in der Hölle ankommt, woher weiß man, dass man wirklich in der Hölle angekommen ist?
Und nicht nur in einer Ecke des Üblichen?“

Lars Gustafsson: „Etüden für eine alte Schreibmaschine“. Gedichte. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Carl Hanser Verlag. 80 Seiten, 18 Euro.




„Wir leben in geheimnislosen Städten“ – Durs Grünbeins neuer Gedichtband „Zündkerzen“

Wollen wir einem Dichter das Sprachvertrauen schenken, der solche Reime verfertigt: „…in ihren Booten / Vor den Lofoten.“ Einem, der zudem wohnen auf Ikonen reimt, Basar auf Gefahr, Verkehr auf Maschinengewehr?

Nein, wir befinden uns dabei nicht in der satirischen Überlieferung oder in der Nonsens-Tradition. Besagte Reimpaare irritieren auf den ersten Blick umso mehr, als sie von einem der höchstdekorierten Lyriker deutscher Sprache stammen: von Durs Grünbein, dem Träger des Nietzsche-, des Hölderlin- und des Büchner-Preises sowie etlicher anderer Auszeichnungen. Von ihm erwartet man folglich nichts Geringeres als das Außerordentliche.

Besonderes Formbewusstsein

Und tatsächlich finden sich hier viele, viele Texte, die gerade von besonderem Formbewusstsein, metrischer Meisterschaft und Rhythmusgefühl zeugen, wie sie heute längst nicht mehr selbstverständlich sind. Hierzu nur ein einziges, ganz kurzes Beispiel, dem man schon etwas ablauschen kann:

Wir leben in geheimnislosen Städten,
In Straßen ohne Gnade und Grandezza…

Jemandem, der so schreibt, „unterlaufen“ vermeintlich schwächere Reime nicht einfach, er setzt sie vielmehr willentlich ein; beispielsweise just, um (im Gedicht „Die Reise nach Jerusalem“) die touristische Banalisierung der heiligen Stätten schmerzlich fühlbar werden zu lassen.

Durs Grünbeins neuer Gedichtband heißt schlichtweg „Zündkerzen“. Wie alle anspruchsvolle Poesie, so muss man auch diese mehrfach lesen – um sich anfangs womöglich übersehene Feinheiten zu erschließen, um zu erkunden, welche thematischen oder sonstigen „Fäden“ durchs Ganze gewoben sind. Und überhaupt, um alle Fügungen genauer nachzuempfinden.

Flüchtigkeit der Existenz

Was also zeigt sich da? Welche Gefühlsvaleurs und Gedankenfiguren kehren wieder? Nun, den gesamten Band durchzieht Wehmut übers Vergehen, die Flüchtigkeit der Existenz, die menschliche Einsamkeit im unendlichen All und im Alltag, die ungestillte Sehnsucht (nicht nur im „Sumpf der Paarungen“), das grundsätzliche Ungenügen der Worte. Zitat:

Nicht viel wird gehoben mit Worten, nicht viel.
Der größere Teil eines Menschenlebens bleibt schattenhaft
Unterm Wasserspiegel, undeutbar für immer.

Aus dem Gedicht „Decolleté“, angesichts eines offenbar zauberhaften, die Sinne verwirrenden Schlüsselbeins:

Und Schmerz flammt auf
Über allen Verzicht und Verlust
In einem Menschenleben.
Nun zeigt sich: Es ist sehr kurz,
Gleich vorüber die Hauptsaison.
Vergeben die Chancen, Avancen.
„Letzte Runde“, ruft der Kellner…

Wenn Worte schon wenig ausrichten, versagen auch die Gerätschaften, auf die der Mensch so unsinnig viel hält:

Technik, der kleine titanische Irrtum, ist
Nichts, was den Menschen vor sich bewahrt.

Der Alltag und die Katastrophen

Hin und wieder klingt das tiefe Erschrecken vor dem unentwegten weltweiten Tauschhandel an, der sich alles gespenstisch einverleibt und es entleert. Und so manche(r) langjährige Angestellte kann sicherlich diesen Seufzer nachvollziehen:

Wer ersetzt mir die lichtarmen Jahre,
In den Büroetagen vergeudet? Der Tag
Begann dann immer, wie er geendet hatte,
Mit grauen Bilanzen, aussichtslosen Vakanzen.

Grünbein lässt sich jedoch „inhaltlich“ nicht so leicht festlegen, dazu sind seine Gedichte selbst aus zu flüchtigem und filigranem Stoff. Freilich ist hier auch der gewöhnliche Alltag gegenwärtig, in den häufig – schleichend oder rasend – kleine und große Katastrophen eindringen. Ein Gedicht handelt von einem Autounfall und trägt den schon fast unverschämt knappen Titel „Peng!

Vielfach setzen die Texte bei ganz einfachen Dingen an, der Buchtitel „Zündkerzen“ lässt es schon ahnen. Allerdings sind derlei Objekte Anstoß für ungeahnte Weiterungen, das Vorhandene wird entschieden überschritten oder gar transzendiert. Doch wird eben auch die soziale Wirklichkeit aufgerufen, etwa das Dasein entwurzelter Migranten und Bettler in den Städten. Grünbein hat keineswegs die Bodenhaftung verloren. Ein Gedicht heißt ja auch ganz explizit „Der Sturz aus dem Elfenbeinturm“. Übrigens: Bildungspartikel werden gelegentlich in die Zeilen gestreut, aber sorgsam und sinnvoll; niemals so, dass es penetrant wäre.

Ein Lyriker durch und durch

Um auf die „geheimnislosen Städte“ zurückzukommen: Grünbein lebt überwiegend in Rom und Berlin, Metropolen also, die denn doch die eine oder andere Anregung bereithalten dürften. So finden sich vor allem auch einige römische Impressionen in diesem Gedichtband. Es lastet dort aber dermaßen viel Vergangenheit auf den gar nicht so Gegenwärtigen („Vielleicht gibt es uns nicht“), dass schier alles vorbei und vorüber zu sein scheint. Mit den Worten des Dichters: „In einer Stadt, verwüstet von Wiederkehr“. Noch dazu wird dieses Rom – wie so viele Flugziele – überflutet von chinesischer Billigware.

Überhaupt machen Orts- und Reisebilder einen nicht unwesentlichen Teil der Sammlung aus. So gibt es auch Exkurse nach Locarno, Ljubljana, Piräus und Israel. Die staunenswerte formale Vielfalt reicht sodann bis hin zur Gedichtsequenz „Sieben Pinien“, in der sich der Autor vergnüglich in spielerischen, geradezu parodistisch anmutenden Alliterationen ergeht.

Durs Grünbein ist Lyriker durch und durch. Das wird umso deutlicher, wenn er einmal nicht in gebundener Sprache spricht. In wenigen Passagen des Bandes verfällt er in Prosa und sinniert etwa über unsere Vorfahren, die Menschenaffen. Doch ohne die spezifischen Mittel des Gedichts scheint er nicht so weit zu gelangen. Da klingt seine Stimme gelegentlich gar tonlos, ein wenig nach bravem Aufsatz.

Kulturpessimistische Ängste

In einem Langgedicht („Das Photopoem“) ist die Rede von Lyrik als bedrohter, wenn nicht bereits verschwundener Gattung:

Am Ende des letzten Jahrhunderts
War Lyrik ein Unwort geworden, Bezeichnung
Für eine Nichtigkeit, ein Nebenprodukt,
Schlimmstenfalls ein soziales Minus.

Nicht nur dieser Lyrikband wendet und stemmt sich – schon durch seine bloße Existenz – naturgemäß gegen solche kulturpessimistischen Befürchtungen.

Merkmale eines guten, gediegenen oder auch großartigen Gedichtbandes sind, dass man gern sehr viel zitieren möchte (was nicht nur seine urheberrechtlichen Grenzen hat) und: dass man nach und nach Passagen findet, die einen in Sonderheit ansprechen. Einstweilen sind dies bei mir „Monatsblut“ über das schier geisterhaft spurlose menschliche Leben und „Sperlingssommer“, ein einfacher, schmuckloser Gesang auf wilde Tage einer längst verwehten Pubertät. Bei fortgesetzter Dritt- und Viertlektüre werden sicherlich noch einige kostbare Texte hinzukommen.

Durs Grünbein: „Zündkerzen“. Gedichte. Suhrkamp Verlag. 144 Seiten. 24 Euro.




Gemischte Gefühle beim Abschied von sämtlichen Dingen: „Später Spagat“ – die letzten Gedichte von Robert Gernhardt

Von Bernd Berke

Robert Gernhardt ist kein purer Spaßvogel gewesen. Der kürzlich an Krebs verstorbene Dichter hat zuletzt immer öfter auch tieftraurige Töne anstimmen müssen. Wenn einer reihenweise Chemotherapien erduldet, steht jeglicher Humor auf existenzieller Probe.

Mit den erschütternden „K-Gedichten“ hatte Gernhardt bereits 2003 einige Bezirke der drei großen „K“-Fragen durchschritten: Krankheit, Krieg und Komik. Jetzt liegt seine letzte Lyrik unter dem Titel „Später Spagat“ vor. Manche Zeile scheint schon von verzweifelter Entkräftung zu zeugen, doch viele Verse sind zum Heulen gut.

Gewiss: Der Hang zur Komik und die Freude an Wein und Weib regen sich noch, doch es wächst und wächst die unmittelbare Angst vor dem Sterben. Aus diesem Spagat zwischen „Standbein‘ und „Spielbein“ (so heißen die beiden Hauptteile des neuen Bandes) ergeben sich immer wieder andere Mischverhältnisse. Mal überwiegt dunkle Furcht, dann wieder grimmig lachlustiger Trotz oder unbändige Unsinnslaune. Häufig durchdringen die Gemütszustände einander, bis hin zum Aufglühen der Gegensätze. In einigen Passagen scheint es so, als könne eine überaus gelungene sprachliche Form sogar den Schrecken des Todes mildern.

Freilich erinnert irgendwann alles ans nahende Ende, nach und nach wird’s ein Abschied von sämtlichen Dingen: Sowohl das Vergehen als auch das Aufblühen der Natur in seiner geliebten Toscana gerinnen hier zu Mahnzeichen der Vergänglichkeit. Der kundige Traditionalist Gernhardt greift derlei Gedankengut auch schon mal in passend barocken Fügungen nach Art eines Paul Gerhardt auf – wie er denn überhaupt den Formenvorrat zwischen Choral und Sonett bedient (zuweilen auch lustvoll zerfasern lässt), dass es gelegentlich noch mal richtig rauscht.

„Durch die Landschaft meiner Niederlagen…“

Mit Gott, an den er wohl nicht hat glauben können, hat der sterbenskranke Gernhardt gehadert. Zornesruf zum (leeren?) Firmament hinauf: „Der sich das erdachte, war furchtbar / Sein Denken ging einzig darauf, daß die Menschheit voll Furcht war…“

Womöglich aufkeimendes Selbstmitleid bekämpft Gernhardt mit bitteren Scherzen:

„Nach dem Befund: / `s liegt Darmkrebs vor‘ / leckt keiner sich die Finger. / Auch Lebermetastasen sind / nicht grad der Riesenbringer…“

Angesichts des Todes befällt selbst den schöpferischen Gernhardt das Gefühl, im Leben fast nichts vollbracht zu haben: „Durch die Landschaft meiner Nîederlagen / gehe ich in meinen alten Tagen.“ Und dann rechtet er streng mit sich selbst: Als Maler und Zeichner habe er nie die volle Wirklichkeit des Lichts und der Farben bannen können. Herrje, was sollen wir alle da einst sagen?

Im „Spielbein“-Teil erprobt Gernhardt noch einmal mit geradezu kindlicher Freude Formen wie den Schüttelreim, der bis in absurde Wortschöpfungen getrieben wird: „Was seh ich, Weib? Ein Tränlein quillt? / Das trocknet, eh das Quänlein trillt.“

Dann aber wieder der Schatten des Todes – und dieses genial einfache Gedacht für künftige Lesebücher:

„Ich bin viel krank. / Ich lieg viel wach. / Ich hab viel Furcht. / Ich denk viel nach. /

Tu nur viel klug! / Bringt nicht viel ein. / Warst einst viel groß. / Bist jetzt viel klein.

War einst viel Glück. / Ist jetzt viel Not. / Bist jetzt viel schwach. / Wirst bald viel tot.“

Robert Gernhardt: „Später Spagat“. Gedichte. S. Fischer Verlag. 121 Seiten, 14,90 €.




Über den Wolken muß der Umsatz wohl grenzenlos sein – Kristiane Allert-Wybranietz und ihre millionenfach verbreiteten „Verschenk-Texte“

Von Bernd Berke

Imageberater würden Frau Kristiane Allert-Wybranietz vielleicht einen griffigen Künstlernamen empfehlen, den sich das Publikum merken kann. Doch das hat diese Frau längst nicht mehr nötig. Sie hat Erfolg – und wie!

Die Auflage ihrer zahllosen Gedichtbändchen geht in die Millionen, und die Autorin aus Obernkirchen bei Hannover dürfte zu den materiell am meisten gesegneten der Republik zählen. Wie schafft sie das nur?

Ihre Bücher heißen beispielsweise „Du sprichst von Nähe“, „Dem Leben auf der Spur“ oder „Willkommen im Leben“, sie geben sich also im Titel ganz lebensnah – und werden doch niemals konkret. Vielleicht ist es ein Erfolgsgeheimnis: Über den Wolken muß der Umsatz wohl grenzenlos sein. Und der/die Leser(in) wird leichter eingelullt.

Den Oberbegriff „Verschenk-Texte“, der auf jedem Umschlag prangt, darf man nicht wörtlich nehmen. Natürlich bekommt man diese Bändchen nicht gratis, sondern – als Taschenausgabe in der entsprechenden Reihe des Heyne-Verlags – für je 16 DM. Der Käufer oder die Käuferin sind’s, die diese Texte verschenken sollen.

Poesiealben der Betroffenheit

Auch die neueste Hervorbringung der 1955 geborenen Autorin (Titel: „Heute traf ich die Sehnsucht“) ist ein Poesiealbum der sanftmütigen Betroffenheit. Gedichtnamen wie „Bewahr dich dir selbst“ oder „Ich will die Tiefe spüren, ich will die Tiefe aushalten“ entstammen einem abgenutzten Psycho-Jargon und deuten wohl schon auf den lebensgeschichtlichen Hintergrund hin, der mit Selbsterfahrungs-Exerzitien im Stil der 70er Jahre innig zu tun haben dürfte.

Jede, aber auch wirklich jede Zeile, die Kristiane Allert-Wybranietz (offenbar im Fließbandtempo) zu Papier bringt, ist sicherlich lieb und gut gemeint. Immer will sie Mut machen und alle Verzagten zur Rückkehr ins Leben aufrufen. Solche tröstlichen Handreichungen für den Alltag hat man einmal „Verständigungstexte“ genannt.

Daß die Autorin just das Gegenteil von Beunruhigung oder gar Provokation im Sinn hat und nirgendwo anecken will, zeigen die häufigen Relativierungen, die sie in Klammern hinter ihre eh schon maßvollen Behauptungen zu setzen pflegt. Vorsicht ist die Mutter der Verkaufszahlen.

Es ist gar keine wirkliche Lyrik

Aus der lyrischen Fabrik kommt freilich gar keine wirkliche Lyrik. Es ist nur die Aufteilung in Einzel-Zeilen, die den optischen Eindruck „Aha, ein Gedicht“ erweckt. Ansonsten könnte man exakt dieselben dürren Worte genau so gut in Prosa drucken.

Typisches Beispiel: „Steine, Barrieren und / andere Hindernisse / finden wir zuhauf / in unserem Alltag, / so daß wir unser Dasein / nicht auch noch selbst mit / Wenns und Abers / pflastern müssen!“ So kraftlos ist dieser Text, daß er das Ausrufezeichen am Ende bitter nötig hat. Und dann plätschert es, fern von jeder lyrisch verdichteten Sprache, so daher: „Das Heucheln in unserer Gesellschaft ist / es, was jedem und besonders jedem / feinfühligen Menschen / (wenn er nicht schon / abgestumpft mitmacht) / schwer zu schaffen macht. / Viele Probleme, Verletzungen und / Traurigkeiten / wären nicht vorhanden, / wenn wir Menschen zueinander / offen wären…“

Wer würde da inhaltlich zu widersprechen wagen?

Lebendigkeit – besser als Erstarrung…

Die unablässig sich von Zwängen befreiende „Menschin“ spricht zu uns aus solchen abstrakten Zeilen. Ist’s der gute Rat einer Freundin am Kaffeetisch oder nicht doch der unterschwellig anmaßende Tonfall einer strengen Gesetzgeberin, wenn sie Sätze schreibt wie diesen: „Eingeschliffene Elemente / sollte man / aus der Partnerschaft / entfernen.“

Es klingt mühsam und doch eilig hingeschludert, so daß Stilblüten nicht ausbleiben: Unter dem Titel „Tu Es !“ lernen wir: „Es ist lebendiger, / als dem Blut der Liebe / den Motor des Lebens abzuwürgen.“

Ansonsten ist diese Seel(ch)en-Welt sehr übersichtlich und stets mehrheitsfähig: Liebe und Vertrauen sind immer gut, Haß und Mißtrauen schlecht, Lebendigkeit ist immer begrüßenswert, Erstarrung hingegen nicht.

Das Wort „Leben“, ganz pauschal und nebelhaft eingesetzt, bildet den Kern all dieser formelhaft geleierten Beschwörungen. Mal gilt es, das „lebendige Leben“ forsch „auf Teufel komm raus zu leben“, dann wieder will das lyrische Ich nur ein wenig „unbeschwerter leben“. Das „Leben sollte bunt sein und facettenreich“, man muß „Raum und Zeit ausfüllen / mit intensivem Erleben“ oder sich wenigstens „ins Leben einbringen“.

So viel Sehnsucht nach Leben, so viele leblose Buchstaben…




Enzensbergers neue Verse: Der Mensch im Gestrüpp der Gegenwart

Von Bernd Berke

Lyrik in Moll: Hans Magnus Enzensberger stimmt im neuen Gedichtband „Kiosk“ melancholische Töne an. Milde Alterweisheit oder Resignation?

Zunächst glaubt man einen Stümper am Werke zu sehen, der z. B. in dem Gedicht „Audiosignal“ lustlos Worte aneinanderreiht: „Lispeln Nuscheln Schwafeln Munkeln / Näseln Flöten Säuseln Mümmeln…“ So geht das auch weiter. Doch Enzensberger hat nicht etwa die Schreibkunst verlernt. Bei genauerem Lesen merkt man, wie sich aufschlußreiche Strukturen bilden und verzweigen, als seien es Gewächse. Das gilt für den ganzen, sinnreich komponierten Band: Jedes Gedicht vertieft die Perspektive der vorigen. Sie alle klingen schließlich zusammen wie eine Sinfonie.

Der Titel „Kiosk“ steht für ein Leitmotiv: die im vielfältigen Medien-Angebot abgebildete, ungeheure Unübersichtlichkeit der Welt, die jede Wissenschaft übersteigt und jede Planung über den Haufen wirft: „An der nächsten Ecke / die drei ältlichen Schwestern / in ihrer Bretterbude. / Zutraulich bieten sie / Mord Gift Krieg / einer netten Kundschaft / zum Frühstück an.“

Die immer wieder neue Mischung des Geschehens durchkreuzt menschliche Vorhaben, bis man „vor dem Strudel der Erscheinungen kapituliert“: „Absichten zählen kaum“ im wirren Weltgetriebe, verläßlich ist nur der ständige Wandel: „Bei dem, was der Fall ist, / bleibt es nicht.“ Nicht einmal die Krankheiten von ehedem haben Bestand („Keine Rede mehr von Stockflüssen, Herzkuchen und Vapeurs“), die Körper-Chemie hat sich windschnittig der Jetztzeit angepaßt. Wie denn überhaupt die rauschende Gegenwart auch jene erfaßt, die sich ihr entziehen wollen. Das festumrissene Ich verblaßt und mit ihm alles, was gestern und früher war. Der Renaissanceforscher, tagsüber mit alten Schriften befaßt, macht Feierabend: „Dann löscht er das Licht, / öffnet die magische Schranke / und fährt über den Freeway nach Haus / im glühenden Natriumdampf / der Peitschenlanlpen.“ Hört sich an wie ein Überfall.

Da wird der Erdbewohner auch schon mal des Treibens furchtbar müde, wird er von Anfällen apathischer Verweigerung heimgesucht, doch danach geht’s wieder „zurück / zu den ewigen Werbespots / für Mord und Totschlag.“

Kein Ausweg im Jammertal? Doch, es gibt in diesem zuweilen fast religiös, oft aber auch sarkastisch getönten Buch jene winzigen Momente der Hoffnung, der Tröstung, gar des Wunders. Beim Innehalten an der roten Ampel: der flüchtige Gedanke, einen ganz anderen Weg einzuschlagen. Oder jene Beobachtungen im stillen Abseits, bei denen man sich wieder sammelt. Und schließlich das „unbemerkte Mirakel“ der Unversehrtheit mitten in der Gefahr, als schreite jeder Mensch unbeschadet „über den See Genezareth“.

Hans Magnus Enzensberger: „Kiosk“. Neue Gedichte.“ Suhrkamp, 133 Seiten. 34 DM.