Wildes Wirbeln beim Klavier-Festival Ruhr – Antonii Baryshevskyi liebt es handfest

Der ukrainische Pianist Antonii Baryshevskyi, voller Konzentration. Foto: KFR

Der ukrainische Pianist Antonii Baryshevskyi, voller Konzentration. Foto: KFR

Antonii Baryshevskyi ist ein echter Typ. Urtümlich wirkt er mit dem dunklen, gewellten Haar und dem noch um einige Grade schwärzeren Vollbart. Kraft und Entschlossenheit strahlt er aus, wie er da steht auf dem Podium im Gelsenkirchener Schloss Horst. Diese Energie wird er sogleich in aufregende musikalische Bahnen lenken. Als ein junger Pianist, der mit gehöriger Souveränität „Papa“ Haydn alles Zopfige austreibt, Schumanns wilde Leidenschaften in teils rauschenden Klang gießt, mit Messiaen gen Himmel blickt und mit Mussorgsky ins Museum geht.

Baryshevskyi ist Preisträger  des Rubinstein Wettbewerbs Tel Aviv und damit als „Bester der Besten“ Gast des Klavier-Festivals Ruhr. Er weiß seinen Auftritt eindrucksvoll zu nutzen, offenbar ohne Lampenfieber, mit großen Gestaltungswillen und interpretatorischem Mut. Seine Körpersprache redet von Selbstbewusstsein. Die Sensibilität im Spiel scheint seine Sache (noch) nicht, sie entgleitet ihm bisweilen ins Buchstabieren.

Gleichwohl ist ihm große Musikalität und Präzision zu bescheinigen. Das zeigt sich bereits in Haydns später Es-Dur-Sonate, die der ukrainische Pianist mit untrüglichem Gespür dafür angeht, wie der Komponist die klassische Sonatenform dem Experiment unterwarf. Wo eben noch dunkles Legato herrschte, blitzt urplötzlich ein helles Staccato auf. Baryshevskyi präsentiert uns all diese Effekte konturengewaltig, ohne indes vor lauter Struktur das große Ganze aus dem Auge zu verlieren. Eher lässt ihn seine Emphase etwas über die Stränge schlagen, aber bei Haydn sei’s erlaubt.

Viktor Hartmanns Bildvorlage für Mussorgskys "Das große Tor von Kiew".

Viktor Hartmanns Bildvorlage für Mussorgskys „Das große Tor von Kiew“.

Ohnehin konzentriert sich des Pianisten Leidenschaft zunächst auf Schumanns 2. Sonate. Er pflügt sich geradezu durch die Verwirbelungen des Anfangssatzes, kraftvoll, aber nicht roh, doch im Stile des Lisztschen Virtuosentaumels. Baryshevskyi scheint auch im Scherzo und Rondo kaum ein Halten zu kennen, das Andantino aber gestaltet er mit schönem, wenn auch insistierenden Erzählton, mit wunderbaren Pianissimo-Atempausen.

Solcherart Rausch versagt er sich in den zwei (von insgesamt 20) „Jesusbildern“ Olivier Messiaens, gibt vielmehr der Struktur allen Vorrang. Das wird der Musik, die ja zwischen Ekstase und Kontemplation pendelt, gegossen in Klänge, die manchmal nicht von dieser Welt scheinen, nur bedingt gerecht. Für den Pianisten, so scheint’s, muss es handfestere Kost sein, die es effektvoll zu interpretieren gilt.

Da kommt ihm Mussorgskys Zyklus „Bilder einer Ausstellung“ gerade recht. Der Komponist hat überaus stimmungsvoll Gemälde seines Freundes Viktor Hartmann in Klang gegossen und dem Ganzen durch ein vielfach abgewandeltes „Promenade“-Thema Halt gegeben. Und Baryshevskyi verordnet dem Entree eine nahezu imperiale Wucht, lässt den „Gnomus“ mit messerscharfem Staccato toben, den Ochsenkarren (Bydlo) markig des Wegs rumpeln. Der Interpret steigert sich bisweilen ins Berserkertum, sodass etwa die tanzenden Küken kurz davor sind, übereinander zu purzeln. Auch seltsam abrupte Tempoveränderungen machen wenig Sinn, höchstens Effekt. Was Wunder, dass manch untergründiger Klang nichts von Geheimnis hat. Am Ende „Das große Tor von Kiew“ – der Ukrainer erweist seiner Hauptstadt alle erhabene Reverenz.




Vernarbte Seelen: Leoš Janáčeks „Jenufa“ am Musiktheater im Revier

Das Mutterglück währt nur schrecklich kurz: Jenufa (Petra Schmidt) wiegt ihr unehelich geborenes Kind (Foto: Pedro Malinowski)

Das Mutterglück währt nur schrecklich kurz: Jenufa (Petra Schmidt) wiegt ihr unehelich geborenes Kind (Foto: Pedro Malinowski)

Eine Mühle ist weit und breit nicht in Sicht. Das Korn aber türmt sich zu Bergen, rieselt in alle Ritzen, seine Leben spendende Energie unter einer harten Schale verbergend. Aus ihm entspringt in Gelsenkirchens Musiktheater eine wilde Menschentragödie: „Jenufa“, die erste große Oper des Tschechen Leoš Janáček, von Intendant Michael Schulz jetzt neu in Szene gesetzt.

Auf die tragischen Ereignisse um die verbitterte Küsterin, die das uneheliche Kind ihrer Stieftochter Jenufa tötet, wirft Schulz mehr als nur einen nachdenklichen Blick. Analytisch und klar arbeitet er die Rahmenbedingungen heraus, die das Verbrechen begünstigen, aber auch die zwiespältige Natur der Menschen, in denen Gutes und Böses miteinander kämpft. Die Bühne (Kathrin-Susann Brose) ist dabei von stählernen Gerüsten eingefasst, die mit der unbarmherzigen Rigidität der Dorfgemeinschaft korrespondieren. Die enge Wohnküche der Küsterin, in der Jenufa heimlich ihr Kind zur Welt bringt, gleicht einer Kiste ohne schützendes Dach. Jenufa muss sich in einem Verschlag unter dem Küchenboden verstecken.

Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten im ersten Akt lässt Schulz uns im zweiten haarklein miterleben, wie es zur schrecklichen Kurzschlusshandlung der Küsterin kommt. Dabei gelingt ihm eine großartige, beklemmende Verdichtung. Diese abstoßend kalte Frau, die nach dem Kindsmord scheinbar seelenruhig eine Zigarette raucht und dann eine Gans ausnimmt, ist zugleich eine Mutter, die für ihre Ziehtochter eigentlich nur das Beste will. Jenufa, die das Verbrechen ahnt und der Küsterin noch hinterher stürzen will, rüttelt in voller Panik an der verschlossenen Haustür, bevor die Nachricht vom Tod des Kindes sie buchstäblich zu Boden schmettert. Es ist unsagbar jammervoll, ihr beim Zerbrechen zuzusehen.

Die Küsterin (Gudrun Pelker) wird die schlimmen Erinnerungen an ihre eigene Ehehölle nicht los  (Foto: Pedro Malinkowski)

Die Küsterin (Gudrun Pelker) wird die schlimmen Erinnerungen an ihre eigene Ehehölle nicht los (Foto: Pedro Malinkowski)

Wovon die Worte schweigen müssen, davon spricht Janáčeks Musik. Petra Schmidt ist eine wunderbare Jenufa, die darstellerisch große Wucht entwickelt. Ihre Stimme besitzt Wärme, Glut und Zärtlichkeit. Biegsame Koketterie und hochfahrende Spitzen weichen allmählich verschatteten Tönen, aus denen zuletzt nur mehr resignierte Wehmut leuchtet. Die Neue Philharmonie Westfalen, die unter der Leitung von Rasmus Baumann abermals zur Bestform aufläuft, breitet Janáčeks expressive Partitur mit vielen feinen Farben aus, steigert sich aber auch zu ruppiger Wucht.

Vokale Defizite im Ensemble können nicht verschwiegen werden. Lars-Oliver Rühl (Stewa) kämpft immer wieder mit Höhenproblemen, der Charaktertenor von William Saetre (Laca) klingt vom Forte aufwärts dünn und unflexibel. Gudrun Pelker, die sich mit großer Intensität in die Rolle der Küsterin wirft, hat Mühe, dem schneidenden und verhärmten Duktus dieser Frau auch einmal wärmere Farben beizumischen. Sie alle spielen aber mit einem Feuer, das viele Probleme ausglüht. Diese Hingabe bringt uns Menschen nahe, die qualvoll in ihrer Haut gefangen sind: vernarbte Seelen, die kaum mehr an die Liebe glauben, nach der sie sich sehnen. Keiner ist ohne Schuld, aber in allen schlummert der Keim zu einem freieren, besseren Leben.

Es ist Jenufa, in der diese Saat endlich aufgeht. Indem sie vergibt, wächst sie über sich selbst hinaus. An ihrer Seite ringt sich auch Laca zu einer anderen Zukunft durch: „Ich habe das Böse von mir abgetan, weil du mit mir bist.“ Die erschütternde Tragödie endet mit einem Hoffnungsschimmer.

Informationen zum Stück und zu den Terminen unter: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Jenufa/

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Ihre Karriere begann in Gelsenkirchen: Die Sängerin Marilyn Horne wird 80

„Die größte Sängerin der Welt“: Was wie eine maßlose Übertreibung klingt, hat der Gesangsexperte Jürgen Kesting in seinem Standardwerk über große Sänger als Überschrift für das Kapitel über Marilyn Horne gewählt. Stimmkenner sind sich einig: Die Amerikanerin, die am 16. Januar 2014 achtzig Jahre alt wird, bleibt auf dem Feld des Belcanto ungeschlagen. Begonnen hat die Karriere der warmherzigen Frau mit den strahlend blauen Augen vor 57 Jahren in Gelsenkirchen.

Im Juli 1957 reiste die 23-jährige, in Bradford, Pennsylvania, geborenen Marilyn Horne von Wien aus ins Ruhrgebiet. In eine Stadt, die geprägt war von Bergbau und Schwerindustrie, noch versehrt von Wunden des Krieges, doch schon beflügelt vom Wiederaufbau: Das neue Theater war in Planung. Noch spielte man in der Schauburg in Buer, im Hans-Sachs-Haus, an zahlreichen Abstecherorten.

Generalintendant Gustav Deharde hat die junge Unbekannte, die Igor Strawinsky nach Wien geholt hatte, als „Zwischenfachsängerin“ engagiert. Ihre erste Rolle war die Giulietta in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“. Ende 1957 alternierte sie mit der damaligen Primadonna in Gelsenkirchen, Maria Helm, als Amelia in Verdis „Simon Boccanegra“.

Im gleichen Jahr noch realisierte Deharde ein ehrgeiziges Projekt: In Bühnenbildern des später weltberühmten Günther Schneider-Siemssen inszenierte er Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen“, mit Marilyn Horne in der Hauptrolle der Minnie. Von der späteren Karriere als Koloratur-Mezzosopran war noch nichts zu ahnen. Mit Rossinis „Italienerin in Algier“, in jenen Jahren auf dem Spielplan in Gelsenkirchen, wurde die Amerikanerin nicht betraut. Horne selbst, ihren enormen Stimmumfang bis zum hohen C nutzend, verstand sich als Sopran.

In der folgenden Saison wurde die überregionale Kritik auf die Sängern aufmerksam: Zum Händel-Jahr 1959 gab es in Gelsenkirchen eine Ausgrabung, „Ezio“, mit Horne in der Rolle der Fulvia. Auch wenn sie, wie die „Westfälische Rundschau“ maliziös vermerkte, „figürlich nicht immer ganz die zarte Römerin geben konnte“, wurde ihre Darstellung durchweg gelobt: ein „Sopran von erstaunlichem Volumen und bestechendem Timbre“, eine „warm strömende und dramatisch aufleuchtende“ Stimme, die den figurierten Stil überzeugend traf.

Ähnlich lauteten die Kritiken auch, als Marilyn Horne Tatjana in Tschaikowskys „Eugen Onegin“ übernahm und 1960, schon in neuen Haus, die Mimí in Puccinis „La Bohème“ gestaltete. Der Kritiker der WAZ bescheinigte ihr eine großartige Leistung. „Sie besitzt edles Stimmmaterial, das sie souverän einzusetzen weiß. In den großen Arien erblüht ihre Stimme zu vollem Glanz.“

Ihre „Galeerenjahre“ in Gelsenkirchen schloss Horne mit einer Aufsehen erregenden Partie ab: Sie sang die Marie in Alban Bergs „Wozzeck“. Ihre Vitalität überraschte, ihre Stimme hielt auch dem schmetternden Orchester stand, kommentierte die „Buersche Zeitung“. Die WAZ bewunderte ihr Temperament und ihre traumwandlerische Sicherheit. Ein Kritiker dieser Zeitung, Günter Engler, bewunderte ihr Temperament: „Ein Weibsbild … prallvoll von Leben. Da springt wirklich der Funke über.“ Und die „Rheinische Post“ wies damals schon darauf hin, dass man sich die Sängerin merken müsse.

Fünf Jahre später regierte Marilyn Horne gemeinsam mit der Sopranistin Joan Sutherland den Olymp des Belcanto. Danach sah es zunächst nicht aus: In San Francisco und Chicago begann sie ihre US-Karriere mit der Marie in „Wozzeck“. Ihre australische Koloratursopran-Partnerin lernte sie 1961 bei einer Aufführung von „Beatrice di Tenda“ von Vincenzo Bellini kennen. In den folgenden Jahren eroberte sich Horne das weitgehend vergessene Fach des Koloratur-Mezzosoprans. Mühelos brillierte sie mit anspruchsvollen, oft vergessenen Partien von Bellini, Rossini, Meyerbeer. Mit Montserrat Caballé, die 1965 für Horne in Donizettis „Lucrezia Borgia“ in der Carnegie Hall eingesprungen war, verband sie eine langjährige künstlerische Partnerschaft. Die Auftritte der beiden Belcanto-Sängerinnen gehörten zu den Höhepunkten zeitgenössischer Gesangskunst; die Duette aus Rossinis „Semiramide“, die Virtuosenstücke aus „Tancredi“ oder Meyerbeers „Le Prophète“ versetzten die Zuhörer in Taumel. Hornes Händel-Interpretationen ließen Tränen fließen.

Im Jahr 2000, immer noch makellos bei Stimme, beendete Marilyn Horne ihre Opernkarriere. Einige Jahre gab sie noch Liederabende mit Folksongs und populären Melodien amerikanischer Komponisten wie Irving Berlin oder Stephen Foster. Mit ihrer Stiftung, der „Marilyn Horne Foundation“, ermöglichte sie bisher in 300 Projekten über 30.000 Studenten, sich in Opern- und Liedgesang zu vervollkommnen. Sie gibt Kurse und Meisterklassen an mehreren Universitäten in den Staaten. An der „Music Academy of the West“ in Santa Barbara, Kalifornien, verantwortet sie nicht nur Meisterklassen in Gesang, sondern auch szenische Opernaufführungen. Ihre Ehrungen und Auszeichnungen füllen eine seitenlange Liste. Bewahrt hat sie sich ihre unkomplizierte, warmherzige Persönlichkeit – und ihre strahlenden Augen. Immer wieder, so wird erzählt, sei sie auf der Durchreise in Gelsenkirchen aufgetaucht und habe alte Kollegen besucht: Ihr warmes, freundliches Herz wollte sie keiner Karriere der Welt opfern.

An ihrem 80. Geburtstag am 16. Januar präsentiert die Carnegie Hall New York eine Lied-Gala mit einer Reihe weltbekannter, mit Marilyn Horne verbundener Künstler, darunter Piotr Beczala, Renée Fleming, Samuel Ramey, Federica von Stade und ihr langjähriger Liedbegleiter Martin Katz. Gleichzeitig findet die jährliche Meisterklasse der Sängerin statt – diesmal mit Christa Ludwig als Gast. Im Sommer wird die Music Academy of the West in Santa Barbara zu Hornes Ehren Bizets „Carmen“ in Szene setzen. Die Sängerin hatte 1954 in dem Film „Carmen Jones“ ihre Stimme der Schauspielerin Dorothy Dandridge „geliehen“ – Hornes erstes größeres professionelles Engagement.

 




Der Traum zum Tode: Jules Massenets „Don Quichotte“ in Gelsenkirchen

Almuth Herbst und Krzysztof Borysiewicz in Jules Massenets "Don Quichotte" am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Foto: Karl Forster

Almuth Herbst und Krzysztof Borysiewicz in Jules Massenets „Don Quichotte“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Foto: Karl Forster

Jules Massenets „Don Quichotte“ ist kein häufiger Gast auf den Musiktheaterbühnen. Dass er – nach einer Kölner Inszenierung vor zehn Jahren – in zwei Spielzeiten gleich drei Mal in Nordrhein-Westfalen zu sehen ist, darf wohl dem Zufall zugeschrieben werden.

Wuppertal zeigte im Frühjahr eine auf ein subtiles Traumspiel konzentrierte Inszenierung von Jakob Peters-Messer, im Mai 2014 folgt das Theater Hagen, wo Gregor Horres Massenets Alterswerk auf die Bühne bringt. Und jetzt hatte der groteske Ritter, der seit Cervantes‘ Roman nicht mehr aus der Weltliteratur wegzudenken ist, seinen Auftritt in Gelsenkirchen – hier verantwortet von Elisabeth Stöppler.

Die Regisseurin hat sich unter anderem am Musiktheater im Revier die Basis einer Karriere erarbeitet, die sie inzwischen an große Häuser wie die Dresdner Semperoper geführt hat. Nicht zuletzt ihre Arbeit mit Benjamin Britten – zu erinnern ist an die szenische Version des „War Requiem“ 2011 – hat dazu beigetragen. Der „Don Quichotte“ ist ein weiteres Beispiel, wie Stöppler zum Kern eines Werkes vordringt und ihn in ausdrucksstarken Bildern freilegt.

Bei Massenet ist der alternde Adlige nicht der Träger einer idealistischen Erhabenheit und eines weltzersetzenden Humors wie bei Cervantes. Er ist auch nicht der Protagonist einer Komödie, die sich aus verstiegen-bizarrer Fantasie speist. Massenet stellt auf der Basis einer Fin-de-siècle-Tragikomödie von Jacques de Lorraine die Frage nach dem Anteil von Traum und Imagination an der Liebe. Für eine Zeit, die in Rausch und Traum aufregende Welten „hinter“ der physikalisch determinierten Realität entdeckt hat, ein hochaktuelles Thema. Dale Wasserman und Mitch Leigh haben in ihrem tiefsinnigen Musical vom „Mann von La Mancha“ das Thema weitergesponnen und reflektiert, ob nicht das, was gemeinhin als die reale Welt gilt, nicht erst durch den Begriff von der Welt konstituiert wird.

Reales, Imaginäres und Erträumtes verweben sich untrennbar

Elisabeth Stöppler rückt Massenets „Don Quichotte“ in genau diese Richtung: Bei ihr ist Don Quichotte weniger ein „Träumer“ als ein Mensch, in dessen Weltbegriff Reales, Imaginiertes und Erträumtes sich untrennbar verweben. Dazu lässt sie sich von Bühnenbildner Piero Vinciguerra eine hyperrealistische Villa bauen: Küche, Sanitärräume, Wohn- und Schlafzimmer, detailliert eingerichtet. Noch bevor ein Wort fällt, baut Stöppler die szenische Spannung zwischen den Protagonisten auf: Eine Hausangestellte – Dulcinée – reinigt Bad und Toilette, während im Obergeschoss ein alter Herr in seiner Bibliothek versonnen sein Cello streicht. Das Instrument, das ja oft als Symbol des weiblichen Torsos gilt, behält die Funktion als erotische Chiffre in der Inszenierung – ein Zeichen für die Klugheit, mit der Stöppler in ihrer Bildfindung ans Werk geht.

Reales und Imgainäres verschwimmen: Krzysztof Borysiewicz als Don Quichotte. Foto: Karl Forster

Reales und Imgainäres verschwimmen: Krzysztof Borysiewicz als Don Quichotte. Foto: Karl Forster

Don Quichotte hat sich ein wenig in seine Zugehfrau verguckt. An dieser eher banalen Ausgangslage entzündet sich eine romantische Vorstellung. Sie gibt der Welt eine Bedeutungsebene, die am Ende nicht einlösbar ist: Das Gespinst aus Idee und Imagination wird schlagartig zerrissen, als Dulcinée den Heiratsantrag Quichottes brüsk ablehnt: In diesem Moment scheitert nicht nur die Konstellation, aus der die Komödie besteht – die Liebe eines versponnenen alten Mannes zu einer jungen Frau. Sondern, viel tiefer gründend, bedeutet er auch die Vernichtung des Weltbegriffs Don Quichottes. Ein Zusammenbruch, den Stöppler und Vinciguerra mit einer radikalen Reduktion der Bühne bildlich erfassen: Es bleibt nur das Sterbebett im Dunkel. Eine Szene, die über die Gestalt Don Quichottes hinaus in eine allgemeingültige Dimension wächst: Wo die Begriffe ihre gestaltende Kraft verlieren, bleiben nur noch Leerstellen: Der Mensch verliert sein Leben.

Der Weg dahin wird von Figuren flankiert, die zunächst aus der unmittelbaren Lebenswelt des Ritters kommen – seine Familie –, sich dann aber zu einer Galerie von Lebensentwürfen erweitern. Die vorzüglich agierenden Gelsenkirchener Choristen verwandeln sich in Gestalten aus Historie und Fiktion: Superman, Mutter Teresa, Fidel Castro, Fred Astaire, Elvis Presley; den Meister der dämonischen politischen Fantastik Adolf Hitler und den Schöpfer surrealer Welten Salvador Dalí. Stöppler zeigt damit, wie sich die Grenzen von Don Quichottes Weltentwurf immer weiter ins Imaginäre verschieben, aber auch, wie die Fiktion auf die Realität einwirkt – am Beispiel von Menschen, die auf welche Weise auch immer durch ihre Visionen ihre Welt geformt haben. Diese Menagerie der Geschichte ist die große Stunde des Kostümbildners Frank Lichtenberg: der fantastische Realismus seiner Entwürfe balanciert genau auf der Nahtstelle zwischen Tatsächlichkeit und Vorstellung.

Wo endet die Realität - wo beginnt die Imagination? Szene aus "Don Quichotte" mit Almuth Herbst (Dulcinée). Foto: Karl Forster

Wo endet die Realität – wo beginnt die Imagination? Szene aus „Don Quichotte“ mit Almuth Herbst (Dulcinée). Foto: Karl Forster

Wieder einmal bestätigt das Gelsenkirchener Orchester, die Neue Philharmonie Westfalen, dass es mit einem bemerkenswerten Fortschritt in seiner Klangkultur in der Oberliga in Nordrhein-Westfalen mitspielen kann. Dirigent Valtteri Rauhalammi betont nicht so sehr die veristischen Einflüsse in der eklektischen Partitur Massenets, sondern arbeitet die impressionistischen Momente heraus: Klangschattierungen und dynamische Finessen, die eher an Debussy als an Mascagni erinnern. Und er beleuchtet den „Wagnerisme“ Massenets: Momente in der Musik, die an Wagner erinnern, ohne ihn zu imitieren. Der Rang dieses Spätwerks wird hörbar.

Die Solisten auf der Bühne, darstellerisch ebenso gefordert wie musikalisch, bleiben Massenet nichts schuldig. An Stelle des in der Premiere gefeierten Krzysztof Borysiewicz sang Jongmin Lim die Titelpartie nobel zurückhaltend, auf subtile Valeurs mehr achtend als auf den Glanz der großen Töne. Den Mann, der in Don Quichottes Dasein das unlösbare Band mit der banalen Welt des Alltags verkörpert, war Dong-Won Seo: Sein Sancho Pansa, manchmal zu guttural eingefärbt, ließ nachvollziehen, wie sich jemand, der sich zunächst mit dem Vorgegebenen arrangiert, die Schönheit und Kraft einer Vision zu entdecken beginnt.

Almuth Herbst setzte einen vollen, saftigen Mezzo ein, um die Facetten Dulcinées auszudrücken: zuerst arglose Putzfrau, dann Klischeebild der verführerischen Spanierin, schließlich ungewollt verderbliche femme fatale. Berechtigte Begeisterung: Mit diesem „Don Quichotte“ knüpft das Musiktheater im Revier an seine große Tradition wegweisender Inszenierungen an und setzt einen markanten Akzent in der Rhein-Ruhr-Theaterlandschaft.

Massenets „Don Quichotte“ gibt es im Gelsenkirchen noch an sechs Abenden zwischen 28. Dezember und 15. Februar 2014.




Ausstellung im Kunstmuseum: Gelsenkirchen erinnert an die Gruppe ZERO

Blick in die Ausstellung ZERO im Gelsenkirchener Kunstmuseum. Foto: Lothar Bluoss, Copyright Kunstmuseum Gelsenkirchen

Blick in die Ausstellung ZERO im Gelsenkirchener Kunstmuseum. Foto: Lothar Bluoss, Copyright Kunstmuseum Gelsenkirchen

Vor fünfzig Jahren gab es im damals noch regen Kulturleben der Stadt Gelsenkirchen einen Höhepunkt: Die Avantgarde-Bewegung ZERO zeigte in der Künstlersiedlung Halfmannshof eine wichtige gemeinsame Ausstellung. Beteiligt waren unter anderem Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker. Das Kunstmuseum Gelsenkirchen will nun mit einer Ausstellung an das Ereignis von 1963 und an die aktive Rolle von Gelsenkirchen in der Unterstützung der Avantgardekunst in den 1960er Jahren erinnern.

In enger Kooperation mit der ZERO foundation Düsseldorf werden sieben Exponate der Ausstellung von 1963 präsentiert, dazu 18 vergleichbare Werke aus dieser Zeit von allen damals beteiligten Künstlern. Die Schau des Kunstmuseums greift das Grundprinzip der ersten Gelsenkirchener ZERO-Ausstellung wieder auf und zeigt Objekte, die durch Licht und Bewegung in den Raum greifen und diesen mit einbeziehen.

Die Ausstellung umfasst zudem einen Dokumentationsteil mit einem von Heinz Mack erstellten, erstmals ausgestellten Modell für das „ZERO-Haus“, ein der ZERO-Kunst gewidmetes Museum, das die Künstler Mack, Piene und Uecker der Stadt Gelsenkirchen zur Realisierung anboten. Vertreten sind in der Ausstellung: Pol Bury, Hermann Goepfert, Hans Haacke, Oskar Holweck, Adolf Luther, Heinz Mack, Otto Piene, Uli Pohl, Hans Salentin und Günther Uecker.

Die Avantgarde-Bewegung ZERO, die zwischen dem Ende der fünfziger und dem Anfang der sechziger Jahre unter dem Zeichen einer Reduktion künstlerischer Mittel angetreten war, erhielt ihren Namen von der 1958 durch Mack und Piene begründeten Zeitschrift ZERO.

Das 1984 eröffnete Museum zeigt außer seinen 1.300 Exponaten aus den Bereichen Klassische Moderne, Konstruktivismus, Kinetik, zeitgenössische Kunst und Graphik pro Jahr sechs bis acht Wechselausstellungen. Es ist Dienstag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Die Sonderausstellung „ZERO in Gelsenkirchen 1963/2013 – Zurück in die Zukunft“ ist bis 19. Januar zu sehen.




Vom Flug der Seele: „Schwanensee“ als brillantes Kammerspiel in Gelsenkirchen

Fragiles Wesen, ins Herz getroffen: Kusha Alexi als Schwanenprinzessin Odette (Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Fragiles Wesen, ins Herz getroffen: Kusha Alexi als Odette (Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Der schöne Hals ist grausam verdreht. Der Kopf zuckt krampfhaft, wie in Agonie. Sie ist ein trauriger Anblick, diese hilflose Kreatur, die Odette heißt und zu Beginn des Abends noch ein stolzer weißer Schwan war. Die Zaubermacht, über die sie einst verfügte, die erlösende Kraft der Liebe, hat sich auf tragische Weise gegen sie gekehrt. Da liegt sie nun, zerschmettert, vernichtet.

Es ist fürwahr ein Paukenschlag, mit dem Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner in ihre zweite Spielzeit startet. Hatte sie doch den Mut, sich mit ihrer nur 14-köpfigen Compagnie an „Schwanensee“ zu wagen, den Ballettklassiker schlechthin, märchenhaft, romantisch, opulent. Aus der Not, sprich aus dem Fehlen eines großen Corps de ballet eine Tugend zu machen, fiel Breiner dabei erst gar nicht ein. Lieber nahm sie den bekannten Stoff zum Anlass, Neues zu schaffen: ein dichtes psychologisches Kammerspiel über zwei Unglückliche, die die Liebe befreit, perfekt zugeschnitten auf ihre Compagnie und auf eine starke Primaballerina, die erfahrene Tänzerin Kusha Alexi.

Alexi ist anderer Art als die feenhaft-ätherischen Wesen im Tutu, die für gewöhnlich als Odette über die Bühne schweben. Ihre Schultern sind knabenhaft eckig; jeder einzelne ihrer stählern durchtrainierten Muskeln tritt deutlich hervor. Betont schlicht kostümiert, verkörpert sie ein wundersames Naturwesen, kraftvoll und doch bestürzend fragil. Ihrem Element unglücklich verhaftet – und darin der Nixe Undine nicht unähnlich – ist sie ständig von drei Schatten umgeben, die sie halten und heben, aber auch fesseln (kraftvoll: Joseph Bunn, Junior Demitre, Petar Djorcevski).

Das ändert sich, als Odette dem Prinzen begegnet (Ordep Rodriguez Chacon). Aus ihrem ersten Pas de deux formt Bridget Breiner ein kleines Wunder der Ballettkunst. Nicht genug damit, dass sie uns sämtliche Stadien der Annäherung zeigt, von anfänglicher Furcht und wachsender Zuneigung zur jubelnden Ekstase des Glücks. Hier, auf der Gelsenkirchener Bühne, befreien sich zwei Wesen aus deprimierender Existenz. Unverhofft finden sie ineinander die Erlösung, nach der sie bislang vergebens suchten.

Der Prinz (Orden Rodriguez Chacon) und die Schwanenprinzessin (Kusha Alexi. Foto. Sebastien Gallier/MiR)

Der Prinz (Ordep Rodriguez Chacon) und die Schwanenprinzessin (Kusha Alexi. Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Kusha Alexi und Ordep Rodriguez Chacon tanzen das mit begeisternder, kompromissloser Hingabe. Die starre Formensprache des klassischen Balletts schmilzt dahin, je mehr Feuer die beiden entwickeln. Die Bewegungen werden immer freier und fließender, die Schrittfolgen immer leichter und schneller. Die Hände streben zum Himmel, die Füße enteilen der Erdenschwere, die ausgebreiteten Arme sind endlich bereit, die Welt zu umarmen. Die Zartheit, mit der dieses Paar einander führt und berührt, sprengt jede Fessel.

Es ist kein schwarzer Schwan, sondern die Verlobte des Prinzen, die das Glück des Paars zerstört. Aidan Gibson verkörpert den denkbar größten Gegensatz zur Schwanenprinzessin: Sie ist eine perfekte Blonde, puppenhaft kühl, und natürlich beherrscht sie die den höfischen Formenkanon vollendet. Gibson führt diese Ästhetik mit großer Eleganz vor. Brillant und vergnüglich wird der Abend, wenn Bridget Breiner spöttische Seitenhiebe auf Schwanensee-Klischees einbringt. Dann macht sich die Hofgesellschaft mit albern flatternden Armbewegungen über den Prinzen lustig, und die Hofdamen exerzieren den Pas de quatre der Schwäne mit genussvoller Häme.

Die kleinen, aber quirligen Ensembles bereiten Freude, zumal Breiner eine hübsche Charakterrolle in Gestalt eines frechen Gassenjungen eingebaut hat, der sich später als Mädchen entpuppt (Maiko Arai). Und natürlich kann sie sich auf ihre Compagnie verlassen, die ihre Sicht auf Schwanensee mit allem Herzblut unterstützt. Erstaunlich organisch fügen sich drei Tschaikowsky-Lieder in den Abend ein, die Breiner für intime Seelenstudien nutzt. Die neue Philharmonie Westfalen haucht Tschaikowskys Musik unter der Leitung von Heiko Mathias Förster nach sprödem Beginn durchaus Kraft und Glanz ein. Auch intime lyrische Momente und virtuose Violinsoli lassen aufhorchen.

Der Freund des Prinzen (Valentin Juteau) und eine Hofdame (Francesca Berruto. Foto: Sebastien Gallier/MiR)

Der Freund des Prinzen (Valentin Juteau) und eine Hofdame (Francesca Berruto. Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Unterdessen muss Odette mit ansehen, wie ihr Prinz sich von der perfekten Grazie seiner Verlobten blenden lässt. Umhergestoßen und verhöhnt, wird sie Augenzeugin seines Verrats. Von diesem Augenblick an werden die Schatten zur unüberwindlichen Barriere. Vergebens, dass es Odette und dem Prinzen noch einmal gelingt, sie zu überwinden: Dieser zweite Pas de deux, er ist auch schon ihr letzter. Beide kleben am Boden, der Zauber wirkt nicht mehr, alle Leichtigkeit ist dahin. Odette liegt da wie eine Gekreuzigte, das Gesicht nach unten. Die Flügel zucken noch, aber sie sind gebrochen. Der Traum vom Fliegen ist aus.

(Informationen und Termine: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Ballett/Schwanensee/)




Flügellahmer Firlefanz: Rossinis „Italienerin“ landet in Gelsenkirchen im Regenwald

Ab nach Hause: Die Italiener haben die Nase voll vom Dschungel (Foto: Pedro Malinowski)

Ab nach Hause: Die Italiener haben die Nase voll vom Dschungel (Foto: Pedro Malinowski)

Die Stärken von Gioacchino Rossinis komischen Opern verkehren sich im heutigen Theaterbetrieb leicht in ihr Gegenteil. Wo der erfindungsreiche Bonvivant aus Pesaro einst mühelos unterhielt, wo er mit geschliffener Ironie und funkelnder Spottlust zu Felde zog, holpern und stolpern Neuproduktionen oft mühsam zwischen lahmen Gags, derben Schenkelklopfern und platten Aktualisierungsversuchen. Dann wird aus turbulenter Komik eine bunte Klamotte, aus geistreichem Vergnügen eine alberne Farce.

So ist es jetzt im Gelsenkirchener Musiktheater geschehen, das für die temporeiche Komödie „Die Italienerin in Algier“ eines der aufwändigsten Bühnenbilder hat aufbauen lassen, die es je an diesem Hause gab. Der zerborstene Flugzeugrumpf, dessen Teile in einem dichten Regenwald liegen, wanderte nach seiner Premiere im französischen Nancy in vielen Einzelteilen ins Ruhrgebiet. Seit dem Sommer wurde er hier zusammengesetzt und mit diversen Konstrukten aus Bambus umbaut. Denn Isabella und ihr Lindoro versuchen nicht aus Algier zu fliehen, sondern von einer fiktiven Südseeinsel, deren einfältiger Regent namens Mustafà sich häuslich in dem aufgerissenen Flieger eingerichtet hat.

Ein spektakulärer Anblick ist dies, verwirklicht durch den MiR-Bühnenbildner Rifail Ajdarpasic. Und doch hat er der Regie einen Bärendienst erwiesen, denn das tonnenschwere Wrack erdrückt die gesamte Produktion. Regisseur David Hermann, der Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an der Deutschen Oper Berlin eindrucksvoll in Szene setzte, bleibt in Gelsenkirchen kein Raum für Feingeistiges – und schon gar nicht für Eleganz. Ohne sie schmeckt aber selbst ein jugendlicher Geniestreich wie die „Italienerin“ eher nach Hausmannskost als nach Trüffelleber.

Quintett im Flugsessel: Carola Guber, Hongjae Lim, Alfia Kamalova, Krzysztof Borysiewicz und Piotr Prochera (v.l., Foto: Pedro Malinowski)

Quintett im Flugsessel: Carola Guber, Hongjae Lim, Alfia Kamalova, Krzysztof Borysiewicz und Piotr Prochera (v.l., Foto: Pedro Malinowski)

Beim Zusammenprall der Kulturen geht es absehbar derb zu: Die einen haben dem Kannibalismus noch nicht ganz abgeschworen, die anderen saufen die Bordbar leer, bevor sie zu Rossinis vorwärts treibenden Crescendo-Walzen das Tanzbein schwingen. Die Kostümabteilung zieht alles aus dem Fundus, was nicht niet- und nagelfest ist: Südseemasken, Federfummel, Seiden-Saris, Uniformen, Muschelketten, Goldschmuck, Orden, Sonnenbrillen, Macheten und vieles mehr. Um Mustafà zu betören und schließlich zu übertölpeln, muss Carola Guber (Isabella) fortwährend Schultern und Hüften schwingen, obgleich ihre Statur mehr einer Brünnhilde zuneigt als einer Salomé. Immerhin bietet das Finale des ersten Aktes einen Moment köstlich überdrehten Unsinns. Da reicht ein Statist Kühlelemente von Bord, damit die Köpfe des völlig verwirrten Sextetts nicht gänzlich überhitzen.

Gesungen wird ansprechend, wenngleich nicht brillant. Isabella Guber ist koloratursicher und behält die Fäden sicher in der Hand. Piotr Prochera vereint als Taddeo sonore Stimmqualitäten mit südländischer Quirligkeit. Alfia Kamalova (Elvira) und Anke Sieloff (Zulma) sind verlässliche Partner. Als Lindoro überrascht Hongjae Lim immer wieder mit Bögen voller Belcanto-Schmelz und Strahlkraft. Einzig der Bass von Krzysztof Borysiewicz zeigt bei der Premiere wenig Kern: Sein Mustafà bleibt ein blasser Tölpel, der sein Macho-Gehabe stimmlich nicht untermauern kann. Der Finne Valtteri Rauhalammi, seit August 2012 erster Kapellmeister des Hauses, dirigiert einen heiteren Rossini, der zuweilen recht brav und kultiviert klingt. Mancher mag da anarchischen Witz vermissen; andererseits verzichtet Rauhalammi auf krachende Effekte.

Für ihre Flucht bekommen die Italiener den flügellahmen Vogel am Ende angeblich wieder flott. Schade, dass wir davon nicht ein bisschen mehr bemerkt haben.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.musiktheater-im-revier.de)




50 Jahre Bundesliga: Die persönliche Geschichte einer Nicht-Liebe

Heute geht’s wieder los: 9. August 2013, 20.30 Uhr, München. Der FC Bayern tritt an gegen Borussia Mönchengladbach. Und am Sonntag wird die neue Bundesliga-Saison für das Ruhrgebiet in Gelsenkirchen eröffnet: FC Schalke 04 gegen den Hamburger SV. 50 Jahre alt wird die höchste deutsche Spielklasse: Am 24. August 1963 startete der erste Spieltag der neuen Bundesliga.

Von Anfang an mischten Revier-Vereine kräftig mit: Dortmund, der Meidericher SV und Schalke gehören zu den sechzehn Gründungs-Clubs. Das erste Tor der Fußballgeschichte gehört mittlerweile fast schon zum Allgemeinwissen: Der Dortmunder Timo Konietzka schoss es nach nur 58 Sekunden. Auch der erste Tabellenführer kam aus dem Pott: Der Meidericher SV hatte sich mit einem 4:1 in Karlsruhe den ersten Platz gesichert.

Das Ziel: Die Meisterschale. Wo wird sie in der Jubiläums-Saison bleiben? Foto: DFL

Das Ziel: Die Meisterschale. Wo wird sie in der Jubiläums-Saison bleiben? Foto: DFL

50 Jahre Bundesliga: Für viele dürfte das Jubiläum ein Anlass sein, sich zurückzuerinnern, an glanzvolle Siege und bittere Niederlagen, an persönliche Fußball-Erlebnisse, Begegnungen, Adrenalinstöße in Stadien oder vor dem Fernseher, im Kreis von Fans und Freunden. So auch für den Autor dieser Zeilen – der sich freimütig zur Geschichte einer Nicht-Liebe bekennt …

Die wilden Gründerjahre: Das Ritual am Rundfunk

50 Jahre Bundesliga – das ist für mich, ich gestehe es, die Geschichte einer Nicht-Liebe. Das Fußballfieber hat mich höchstens als temporäre Temperaturerhöhung gestreift, nie mit heftigen Zwei-Mal-Fünfundvierzig-Minuten-Schüben in anhaltende Hitze versetzt. Trotzdem habe ich mir das „Kicker“-Sonderheft „50 Jahre Bundesliga“ gekauft. Aber warum?

Als die „wilden Gründerjahre“ begannen, war ich gerade mal zehn. Bundesliga bekam ich mit dank väterlichen Hörens der Live-Spielberichte am Samstagnachmittag: die aufgeregt sich überschlagenden Stimmen der Kommentatoren, das rhythmisch Auf und Ab des Gebrülls der Zuschauer. Bei uns in Würzburg, in der Fußballprovinz, war Bundesliga eine Sache ferner Orte: Nürnberg war der nächste – und der ordentliche Franke war Anhänger vom „Glubb“: Dieser, der 1. FC Nürnberg, trat mir in der Schule in Gestalt eines Mitschülers leibhaftig entgegen. Winfried war ein echter Fan. Hatte der Club gewonnen, ertönte am Montag Jubelgeschrei. Hatte er verloren, hing mein Kumpel apathisch in der Bank. Manchmal gab’s sogar Tränen.

Emma und die Rote Erde

Und wie sich der erblühende Jungmann ein Weib wählen soll, spürte der Knabe am Gymnasium den sozialen Druck der Pflicht, einen Lieblingsverein zu küren. Ich hatte keine Ahnung und wählte einfach Borussia Dortmund. Vielleicht, weil der Name des Stadions einen Hauch von Exotik verbreitete. Kampfbahn „Rote Erde“, das erzeugte Bilder von tapferen Recken, die im sonnendurchglühten roten Staub in gewaltigen Turnieren streiten. Vielleicht war es auch die Ferne: Der Nürnberger Club war wie das sommersprossige Nachbarsmädchen mit Zöpfen. In das verliebt man sich nicht. Aber die ferne, geheimnisvolle, unerreichbare Schönheit, die fesselt die schwärmerische Zuneigung. Vielleicht kamen auch die Fußballbildchen dazu, die es damals zum Sammeln gab. Ich erinnere mich genau: Ich besaß ein Bild von Lothar Emmerich. „Emma“ war einer der Dortmunder Superstars der sechziger Jahre, Torschützenkönig 65/66 und 66/67.

Impressionen am Dortmunder Stadion, dem größten in Deutschland. Wie andere Stadien auch ist es nach einem Finanzier benannt. Foto: Häußner

Impressionen am Dortmunder Stadion, dem größten in Deutschland. Wie andere Stadien auch ist es nach einem Finanzier benannt. Foto: Häußner

Dann gab es noch die Münchner „Löwen“ – und wir Kinder konnten mitsingen, wenn Torwart Petar „Radi“ Radenkovic, der mit seinem TSV 1860 München die Meisterschaft 65/66 gewann, in einem Schlager bekannte: „Bin i Radi, bin i König, alles and’re stört mich wenig …“. Fußballerschicksale sind manchmal grausam: Später hat wohl der Torwart des konkurrierenden FC Bayern selbst den Hit umgedichtet zu: „Bin i Radi, bin i Depp, König ist der Maier Sepp“.

Das war in den unruhigen Jahren 1968/69: Der Newcomer Bayern München war zum ersten Mal Meister, der junge Franz Beckenbauer Fußballer des Jahres und Gerd Müller mit sagenhaften 38 Treffern auf Platz eins der Torjägerliste. Und Nürnberg, der Meister von 1968, musste schmählich absteigen. Nicht nur Winfried tat das weh: Irgendwie war der Franke ins Herz getroffen, als den „Glubb“ der erste seiner zahlreichen Schicksalsschläge traf. Als 13-jähriger zeigt man so etwas nicht, sondern lässt seinen kleineren Bruder, dem die Verwandtschaft die Nürnberg-Begeisterung eingepflanzt hatte, Häme und Spott spüren. Naja, zugegeben, Dortmund hatte sich auf Platz 16 auch nur gerade so retten können …

Uwe Seeler in Schwarz-Weiß

Inzwischen war auch der Schwarz-Weiß-Fernseher in den Haushalt eingezogen und die 1966er-Weltmeisterschaft war das erste mediale Fußball-Ereignis: Uwe Seeler kickte sozusagen direkt im Wohnzimmer. Aber so langsam setzte bei mir die Distanzierung ein. Brot und Spiele für die Massen – das war nichts für den Heranwachsenden, der sich gerne intellektuell gab. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich; das Dortmunder Schicksal – der Abstieg 1971/72 – besiegelte mein Interesse am Fußball ebenso wie der erste Geld-Skandal 1971. Denn damals wurde auch klar: Bundesliga, das ist das große Geschäft. Fünf Jahre später wurde für Roger van Gool die erste Ablöse-Million gezahlt, aus heutiger Vierzig-Millionen-Perspektive ein „Peanut“. Die Zeiten, in denen der Lauterer Torwart nebenbei die Vereinswirtschaft betrieb, die gingen zu Ende. Die Professionalisierung war unvermeidbar, die Begleiterscheinungen traurig.

Eine zaghafte Rückkehr zum Fußball – wann kam die? Vielleicht 2001, als Schalke die Schale schon sicher in Händen wähnte – und dann „brutal aus seinem Meisterjubel gerissen wurde und ins Tal der Tränen stürzte“. Das war so ein Moment, der zeigt: Fußball ist doch nicht nur das kalte Geschäft, sind nicht nur die Spielermarionetten, die von PR-Abteilungen mit fertig vorgestanzten Sätzen programmiert werden. Fußball hat doch etwas mit großen und tiefen Emotionen zu tun. Mit Zugehörigkeit. Mit Schicksal. Manche fußballskeptischen Freunde meinen, ich sei altersmilde geworden. Kann sein. Aber vielleicht eben auch altersweise.

Wallfahrtsort für Schalke-Fans - muss man nicht weiter vorstellen ... Foto: Häußner

Wallfahrtsort für Schalke-Fans – muss man nicht weiter vorstellen … Foto: Häußner

Seither hege ich eine solidarische Sympathie für die Gelsenkirchener. Und habe meine alten Dortmunder wiederentdeckt – nicht erst seit dem glanzvollen Meisterschaft-Doppel 2011/12. Geht gar nicht, sagen meine Freunde im Ruhrgebiet: Man kann nicht gleichzeitig für die Blau-Weißen und für die Schwarz-Gelben sein. Ist mir wurscht, sage ich als an der Ruhr gastierender Franke. Als solcher ist mir – und damit ist meine persönliche Fußball-Trias komplett – auch der „Club“ nicht ganz egal. Immerhin habe ich in Nürnberg mein erstes Bundesligaspiel live erlebt. Warten wir die Jahre ab: Wer weiß, wie sich die Fußball-Fieberkurve noch entwickelt. Wenn ich doch den Anfall kriege, weiß ich schon das Gegenmittel: Ich kauf‘ mir ein Ticket, am besten, wenn der Club auf Schalke spielt – oder in Dortmund…




Passionsspiele in Gelsenkirchen

Jesus von Rotthausen

Jesus von Rotthausen

Um Aufsehen zu erregen, muss sich jeder heutzutage was einfallen lassen, vor allem der Theatermensch. Da gibt’s kaum noch Möglichkeiten zum Skandal und ein Fernsehpromi ist auch nicht jeder Zeit zu bekommen. Und wenn, dann muss er namens- und nicht nur gesichtsbekannt sein.

Was tun? Ganz einfach: Man macht was, was nicht so recht ins Ruhrgebiet passt. Man lädt ein zur „Passion“ und wenn das noch aus Gelsenkirchen kommt, dann werden die Medien aufspringen müssen. So geschehen in dieser Woche. „Passionsspiele in Gelsenkirchen-Rotthausen“ hieß es da. Die „Bühne im Revier“ unter der Leitung von Elmar Rasch kündigt die 1. Gelsenkirchener Passionsspiele an. Die ersten – wohlgemerkt – dahinter verbirgt sich der Anfang einer Traditionsgeschichte.

Oberammergau ist überall

Weltweit kennt man die Passionsspiele von Oberammergau, wo seit 1680 alle zehn Jahre alle Dorfbewohner auf den Beinen sind, die letzten fünf Tage von Jesus Christus auf die Füße zu stellen. Dadurch wollte man damals von der Pest verschont bleiben. Am 22. Februar 1990 wurde durch Gerichtsentscheid den Oberammergauer Frauen die volle Gleichberechtigung bei der Mitwirkung an den Passionsspielen verschafft. Eine halbe Millionen Zuschauer aus aller Welt sehen die ca. 100 Aufführungen zwischen Mai und Oktober. Da kommt so einiges an Umsatz zusammen. Devotionalien aller Art finden reißenden Absatz.

Pilgerort Gelsenkirchen

Sollte eines Tages das Passionsspiel in Rotthausen den Stadtteil Schalke als Touristenziel übertreffen? Aber der 10-Jahreszyklus wäre für die Stadt ein zu visionärer Ansatz. Doch man fängt ja gerade erst an mit immerhin 14 Vorstellungen in der evangelischen Kirche an der Steeler Straße. Pastor Rolf Neuhaus ist zuversichtlich, die Stadt unterstützt die Unternehmung und die Sparkasse lässt sich auch nicht lumpen.

Es ist kalt, die Kirche ist bei der Premiere zu drei Vierteln besetzt. Leise klingt sakrale Musik. Keine Bühnenaufbauten, der Raum wird so genutzt wie er auch zu normalen Gottesdiensten benutzt wird. Der Pfarrer spricht, dann der Bezirksbürgermeister. Er weist auf Oberammergau hin und hofft tatsächlich, dass seine Stadt zu einem Mekka für Passionsfreunde wird. Am Anfang war das Wort. So fängt es dann auch an, das Spiel der Laien, Halb und Vollprofis. Johannes der Täufer ruft zur Taufe und die in „zeitgemäße“ Kostüme gehüllten Damen und Herren stehen an. Skeptiker würden sagen: „Andere taufen auch nur mit Wasser.“ „Seid füreinander da!“ ruft Jesus, gespielt von einem jungen Mann namens Jesse Krauß. Es scheint, als habe er sich auch äußerlich der Rolle verschrieben. Man sieht eine große Schar von Menschen „wie Du und ich“ als Volk. Wir sehen Schergen und Kostüme und kennen die Geschichte, die sich hier aufblättert vor dem Altar. Und natürlich geht Jesus langsamen Schritts die Gänge entlang. Keine Hektik! Der Heiland wirkt hier entschleunigend modern.

Keine Spur von Monty Python

Wer Monthy Python erwartet, wird enttäuscht sein. Es gibt keinen Jux zu vermelden. Eine Frau soll gesteinigt werden. Jesus nimmt einen davon und hält ihn dem Kirchenpublikum entgegen: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“  Auch hier in Gelsenkirchen meldet sich niemand, der von sich behauptet, er sei sündenfrei.  Es gibt also auch nichts Neues zu vermelden, außer, dass es jetzt Passionsspiele in Gelsenkirchen gibt. Holla, die Waldfee. Schade, dass die Kulturhauptstadt schon vorbei ist.

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Gelsenkirchen, Ev. Kirche, Steeler Straße 48. Karten 15 Euro. Die nächsten Vorstellungen im Februar: 15. Feb. (19 Uhr), 17. (17 Uhr), 22. (19 Uhr), 24. (17 Uhr). Weitere Termine im März. Internet-Infos: www.buehneimrevier.de (Tel.: 0209/149 79 866)




Geschundenes Teufelsweib: Schostakowitschs „Lady Macbeth“ in Gelsenkirchen

Katerina Ismailowa (Yamina Maamar) wird von ihrem tyrannischen Schwiegervater unterdrückt (Tomas Möwes, Foto: Karl Forster)

Katerina Ismailowa (Yamina Maamar) wird von ihrem tyrannischen Schwiegervater unterdrückt (Tomas Möwes, Foto: Karl Forster)

26 Jahre alt war Dmitri Schostakowitsch, als er es wagte, Stalins Sowjetunion erneut den Spiegel vorzuhalten. Mit den Mitteln der Groteske wirft seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ grelle Schlaglichter auf brutale Herrschaftsstrukturen und den viehisch verrohten Menschenschlag, den sie hervor bringen. Das Gelsenkirchener Musiktheater zeigt das tollkühne Meisterwerk jetzt in der Fassung, die Hausherr Michael Schulz vor anderthalb Jahren für die Bühne des Staatstheaters Kassel erarbeitete.

Die Schwärze der menschlichen Abgründe, in die Schostakowitsch uns blicken lässt, hebt sich trefflich von Dirk Beckers weißer Bühne ab, in der ein paar junge Birken Natur andeuten. Im Schlussbild senkt sich die Decke herab: Ihre kreisrunde Öffnung zum Himmel verwandelt sich dann zur Mauer eines Konzentrationslagers. Weshalb die Titelheldin Katerina Ismailova und ihr Geliebter Sergej letztlich dort enden, erzählt Michael Schulz mit klarem Blick auf die desolaten Verhältnisse und sicherem Gespür für die Psychologie der Figuren.

Katerina, dieses lebenshungrige Teufelsweib, lauert wie ein Tier hinter dem Gazevorhang, vor dem ihr tyrannischer Schwiegervater patrouilliert wie ein drohender Schatten. Sie muss morden, wenn sie leben will, findet ihrer Verbrechen wegen aber keinen Frieden. Ihren Weg vom Opfer zur Täterin, die abermals benutzt und gebrochen wird, arbeitet Schulz mit reduzierten Mitteln gekonnt heraus. Er holt die Blechbläser auf die Bühne, auf dass ihre wüsten Fanfaren uns die ganze Geilheit und Falschheit dieser Welt in die Ohren trompeten.

Schwach wird die schlüssige Inszenierung nur dann, wenn sie der Satire zusätzliche Lustigkeit aufpfropfen will. Dann spielt eine Turnsportgruppe mit einer Stalin-Büste Fangen, und die Komsomolzen-Parade im dritten Akt schwenkt statt roter Fahnen plötzlich Luftballons. Solche Clownerien fordern ein glucksendes Lachen heraus, das angesichts der Millionen Opfer von Stalins blutigem Zirkus besser im Halse stecken bliebe.

Schier Unglaubliches klingt dafür aus dem Orchestergraben. Von dort hämmern uns orgiastische Ausbrüche und wüst rammelnde Rhythmen entgegen. Vulgarität und Rohheit spritzen aus der Partitur, verzerrte Operetten-Zitate träufeln ätzende Ironie hinein. Die Musik höhnt und stöhnt, aber die Neue Philharmonie Westfalen flankiert die erschreckenden Exzesse mit zärtlichsten Rusalka- und Tristan-Klängen, wenn Katerina ihr kurzes Liebesglück genießen darf. Der bereits viel gerühmte Aufschwung, den das Orchester unter der Leitung von Rasmus Baumann genommen hat, ist nach dieser Premiere endgültig als Sensation einzustufen.

Große Klanggewalt entfalten auch Opern- und Extrachor des Theaters. In der Titelpartie zeigt der Sopran von Yamina Maamar neben glutvollem Trotz und fordernder Leidenschaft zuweilen Schärfen, berührt aber in den leisen Momenten, in denen Katerina die Ausweglosigkeit ihrer Lage begreift. Lars-Oliver Rühl klingt als Sergej häufig statisch, gleicht Defizite aber durch schauspielerische Vehemenz aus. Als völlig verhärteter Gutsbesitzer, der gleichwohl Sorgen kennt, überzeugt Tomas Möwes mit charakterstarkem Bariton.

Wenn Katerina diesen grausamen Schwiegervater vergiftet, ahnt sie ihr eigenes Ende noch nicht. Denn so tief kann der Mensch offenbar nicht sinken, dass er keinen noch Elenderen fände, um ihn zu treten und zu schinden.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Nähere Informationen zum Stück/Karten: www.musiktheater-im-revier.de)




Unter dem Brennglas: „Don Carlos“ am Musiktheater Gelsenkirchen

Frankreichs weiße Lilie: Elisabeth (Petra Schmidt) wird bald nach ihrer Ankunft im Escorial in ein steifes schwarzes Kleid gezwängt (Foto: Pedro Malinowski/ MiR)

Frankreichs weiße Lilie: Elisabeth (Petra Schmidt) wird bald nach ihrer Ankunft im Escorial in ein steifes schwarzes Kleid gezwängt (Foto: Pedro Malinowski/ MiR)

Gott, welch Dunkel hier. Alle tragen schwarze Kleidung, als seien sie fortwährend in Trauer. Der Escorial, von Philipp II. als Schloss- und Klosteranlage erbaut, gleicht einer fensterlosen Gruft, einem Gefängnis mit nackten Wänden.

In dieser düsteren Szene zeigt Regisseur Stephan Märki wie unter einem Brennglas, was die Figuren in Giuseppe Verdis Oper „Don Carlos“ umtreibt. Seine Neufassung am Gelsenkirchener Musiktheater erreicht dabei schneidende Intensität.

In schlichter, aber höchst wirkungsvoller Schwarz-Weiß-Ästhetik zeigt Märki einen elementaren Kampf: Unschuld, Liebe und Hoffnung gegen Gewalt, Furcht und Depression. Die stufenweise ansteigende Spielfläche ist niederschmetternd kahl (Bühne: Sascha Gross). Hier umkreisen sich die Akteure, belauern sich misstrauisch. Schattenrisse flackern auf, Spannungen werden beinahe mit Händen greifbar. Unter dem alles erstickenden Schwarz brodeln die Emotionen. Märki kanalisiert die unterdrückte Energie, bis die Figuren förmlich zu vibrieren beginnen. Hinter den individuellen Dramen leuchten die großen Menschheitsfragen auf. Welchen Preis hat die Macht? Was kostet die Freiheit?

Abseits der spannungsvollen Personenführung findet die Regie immer wieder zu klaren, kraftvollen Bildern. Ein kleines Mädchen, das zu Beginn im weißen Kleid über die Bühne hopst, kehrt im Autodafé als „Stimme vom Himmel“ wieder. Elisabeth sinniert vor einem Altar mit Totenschädel über Wahn und Eitelkeit der Welt. Die verblühten Rosen, die sie ergreift, treiben den Stachel ihrer Wehmut noch tiefer. Unterdessen quält sich der einsame Monarch durch eine schlaflose Nacht, die durch schemenhaft erkennbare Leichen im Bühnenhintergrund vollends gespenstisch wird. Überzogen dargestellt wirkt indes der Machtanspruch des Großinquisitors, den Märki im zweiten Teil als Christusfigur samt Dornenkrone und Wundmalen auftreten lässt.

Musikalisch hebt die Produktion unter Dirigent Rasmus Baumann zu Höhenflügen ab. Die Neue Philharmonie Westphalen begeistert durch eine Motivarbeit, die in psychologische Tiefen führt. Dämonisch finsteren Ausbrüchen steht eine teils glühende, dann wieder beglückend fein gesponnene Italianità gegenüber. Präzise Blechbläser und Streicher, die eine vielschichtige Piano-Kultur entwickelt haben, lassen immer wieder aufhorchen. Dies kommt wiederum dem durchweg gut besetzten Sängerensemble entgegen. Daniel Magdal entwickelt als Don Carlos trotz einiger greller Farben und Schluchzer beachtliche Strahlkraft. Renatus Mészár gibt Philipp II. stählerne, aber auch warme Klänge, die er im depressiven Sprechgesang der Arie „Sie hat mich nie geliebt“ zu erschütterndem Melos steigert. Carola Guber trumpft als Eboli glamourös, zunächst aber etwas kalt auf, bevor sie sich der Königin in glühender Reue zu Füßen wirft. Petra Schmidt gelingt als Elisabeth die Gratwanderung zwischen Stolz, Wehmut und Verletzlichkeit. Und Michael Tews ist ein Großinquisitor, dessen Bass einen das Fürchten lehrt. Wahre Triumphe feiert der von Berlin als Gast zurück gekehrte Günter Papendell, der sein Rollendebüt als Marquis Posa mit kraftvoll und mit warm timbriertem Bariton meistert.

Zu erleben ist mithin ein Drama, das alles bis auf die Grundmauern unserer Existenz nieder brennt. Wir erfahren von zerschellten Hoffnungen, von Unterdrückung und Heldenmut, von der unstillbaren Sehnsucht nach Freiheit, ja nach einer besseren Welt. Und es ist, als lächle Verdis Genie uns mitleidsvoll zu.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Termine und Informationen: www.musiktheater-im-revier.de)




Musikalischer Jugendstil: Sophia Jaffé mit Erich J. Wolffs Violinkonzert

Der Begriff des „Jugendstils“ ist in der Geschichte der bildenden Kunst nicht unproblematisch; in der Musik leistet er wenig mehr als die Zuordnung eines Werks zu einer Zeitepoche, die von gärenden Aufbrüchen und von schönheitstrunkener Weltflucht, von inspirierter Moderne wie von zähem Festhalten an alten Idealen und Traditionen geprägt war. Es war eine Epoche, die für sich – auf der Suche nach einer neuen Ursprünglichkeit – die „Natur“ lieben lernte. In Erich J. Wolffs Violinkonzert aus dem Jahre 1909 entdeckt der staunende Zuhörer außer einer stupend versierten Komponistenhand auch jene Ranken, aufkeimenden Triebe und aus zarten Knospen wachsenden Blütenwunder, die den floralen Jugendstil in der Kunst kennzeichnen.

Wolff, 1874 in ärmlichen jüdischen Verhältnissen in Wien geboren und 1913 in New York an den Folgen einer Mittelohrentzündung gestorben, gehört zu den großen Unbekannten der Epoche eines Gustav Mahler, Alexander von Zemlinsky oder jungen Arnold Schönberg. Mit ihnen war er freundschaftlich verbunden; Wolffs Lieder wurden damals von vielen Sängern interpretiert.

Heute wäre Wolff komplett vergessen, gäbe es nicht „Schatzgräber“ wie Peter P. Pachl, der das Konzert ausfindig gemacht und neu ediert hat. Pachl sorgte auch für die Ersteinspielung einer Reihe von Wolffs Liedern mit der Sopranistin Rebecca Broberg. Das Violinkonzert wurde nun erstmals in modernen Zeiten – wenn nicht sogar überhaupt zum ersten Mal – in der Reihe der Sinfoniekonzerte der Neuen Philharmonie Westfalen in Recklinghausen, Gelsenkirchen und Kamen aufgeführt.

Als treffliche Wahl erwies es sich, das Konzert der Geigerin Sophia Jaffé anzuvertrauen, die seit fünf, sechs Jahren nach einer Reihe von Wettbewerbserfolgen ihre Karriere ohne viel Getöse aufbaut. Schon der dunkel-sämige Ton des Beginns weckt die Ohren auf: Er kündigt einen Geigenton an, der genau in die lyrische Schwarmwelt des fin de siècle passt. Jaffé kann das blühende Schwellen, das sanfte Ersterben des Tons, seine zärtliche Fülle und sein jubelndes Entfalten hervorrufen.

Sie findet nach einem ersten Forte zum ruhevollen Dialog mit der Harfe, schraubt sich in melodischem Rankenwerk in ein bemerkenswert erfülltes Piano in der Höhe, lässt die Gischt kurzer, sanfter Staccati in filigranem Schaum zerstieben. Die Sinnlichkeit ihres Legatos erinnert an Tschaikowsky; dazu zittern die Orchesterviolinen wie von einem Sommerwind bewegt. Jaffé holt die erlesen-poetische Schönheit dieser musikalischen Linien und Ornamente ein – und lässt ganz nebenher nicht spüren, welche enormen technischen Probleme Griffe und Bogenführung, Lagenspiel und Tongebung der Solistin aufgeben. In der originalen Kadenz des ersten Satzes muss sie bis zur Dreistimmigkeit gehen und meistert auch diese Aufgabe ohne Anflug hörbarer Anstrengung.

„Jugendstil“ also: Rankende Modulationen, allmähliche Mutationen von Motiven, Verschlingungen, Aufblühen und Versinken, manchmal auch wuchernde Steigerung in scheinbar endlosen Imitationen; Naturlaute in der Begleitung der (freilich manchmal plumpen) Bläser, feine Lichtwechsel, ferne Horn- und freundlich-sanft ersterbende Klarinettenklänge – all das erinnert an die geheimnisvollen Frauen eines Alfons Mucha, die dem Betrachter aus Blättern und Blumen entgegenwachsen. Dieses Konzert, bei dem man allenfalls das Fehlen dezidierter Kontraste der Sätze untereinander kritisieren könnte, verdient es, ins Repertoire aufgenommen zu werden.

Wie bereichernd die Musik Wolffs für uns sein kann, zeigte die kluge Zusammenstellung des Konzertprogramms: GMD Heiko Mathias Förster hatte es der Siebten Sinfonie Gustav Mahlers vorangestellt. Was bei Wolff noch in ungebrochener Schönheit blüht, verwandelt sich bei Mahler in dunkel-wehmutsvolle Erinnerung; wo Wolff ganz bei sich ist im innigen Gefühl, brechen Mahlers Klänge auseinander, zerreißt das duftige Gewebe, wird die Idylle zum Zitat. Was bei Wolff noch inneren Zusammenhalt genießt, fliegt bei Mahler in Fetzen vorbei.

Für die Neue Philharmonie, die bei Wolff an einigen Stolpersteinen nicht vorbeigekommen war, geriet die Siebte zur Probe auf orchestrales Niveau, der sie nicht ausweichen musste. Es gab glänzende Stellen, etwa bei den Celli, und ungeachtet einiger Ausrutscher einen untadeligen Klang. Förster dirigierte mit klaren Zeichen, stets wach für die „Schaltstellen“ der Musik. Aber die preußische Präzision hat auch ihren Haken: Sie lässt die Übergänge steif werden, nimmt der Phrasierung ihre flexible Form, macht das Metrum mechanisch.

Schon im ersten Akt stehen Klanggruppen unverbindlich nebeneinander, stellt sich die Mahler’sche Zerrissenheit nicht ein. Das Changieren zwischen Idylle und Düsternis im zweiten Akt fangen Förster und seine Leute ein; auch die bizarren Episoden des dritten Satzes gelingen. Doch dem letzten Satz mit seiner verlogen-triumphalen Geste fehlt der doppelte Boden. Da lässt Förster auftrumpfen, aber in Glanz und Gloria fehlt das falsche Gleißen. Und damit eine entscheidende Dimension dieses bestürzenden Mahler-Ungetüms.




Schwungvoller Start: Gelsenkirchens neue Ballettchefin im „Ersten Gang“

Wenn Drei um Eine buhlen: Szenenfoto aus Bridget Breiners Choreographie „Sirs“ (Copyright: Costin Radu)

33 Jahre lang stand der Name von Bernd Schindowski für den Tanz in Gelsenkirchen. Nun ist der Wechsel da: Die gebürtige US-Amerikanerin Bridget Breiner wirkt fortan als Ballettdirektorin am Musiktheater im Revier (MiR). Sie arbeitet mit einer zwölfköpfigen Compagnie und mit Gästen, die als Residenzkünstler an das Haus gebunden sind.

Von vielen neuen Gesichtern ist daher zu berichten, von frischem Schwung und von einem vielversprechenden Anfang. Der erste Tanzabend, mit dem Breiner und ihre Compagnie sich jetzt vorstellen, bietet unter dem Titel „Der erste Gang!“ nicht weniger als zehn verschiedene Choreographien. Ein „bunter Strauss“, wie von Intendant Michael Schulz angekündigt, wurde zum Glück nicht daraus. Vielmehr reihen sich kleine Piècen von namhaften Choreographen zu einem kurzweiligen Abend, der den künstlerischen Anspruch der neuen Ballettchefin gleichwohl deutlich formuliert. Die in Ohio geborene Künstlerin errang Solisten-Positionen am Bayerischen Staatsballett, am Ballett der Dresdner Semperoper und am Stuttgarter Ballett, bevor ihr Weg ins Ruhrgebiet führte. Tief im klassischen Repertoire verwurzelt, vermag sie Spitzentanz und modernes Bewegungsvokabular mit glücklicher Hand zu verbinden.

Wie leicht ihr das gelingt, zeigt ihre Choreographie „La Grande Parade du Funk“ gleich zu Beginn. Aidan Gibson und der ungemein athletische Joseph Bunn wirbeln in einem Pas de Deux über die Bühne, der glamouröse Eigendarstellung durch selbstironische Coolness unterläuft. Es ist dieser intelligente, zuweilen durchaus freche Humor, der den Abend auch im weiteren Verlauf immer wieder einen Zentimeter vom Boden abheben lässt. Wenn drei Tänzer in „Sirs“ um eine kokette Dame buhlen (Maiko Arai), kommt das ritualisierte Cowboy-Gehabe fließend, synchron und herrlich lässig über die Bühnenrampe.

Aber Breiners Compagnie fächert viele weitere Facetten auf. Aufregend kraftvoll tanzt der Brasilianer Junior Demitre das Solo „Cultural Cannibalism“ von Luiz Fernando Bongiovanni. Seine raumgreifenden, von starker Rhythmik geprägten Bewegungen wirken wie ein Manifest des Machismo: hochfahrend und selbstsicher, lässig und provokant. Mächtig legen auch Kusha Alexi und Iván Gil Ortega los, die „In the Middle, somewhat elevated“ von William Forsythe mit Energie aufladen, bis es wie gefahrvoller Wechselstrom zwischen ihnen fließt.

Die ruhigen Stücke des Abends hinterlassen keinen geringeren Eindruck. Mit abgezirkelten, bis in die Fingerspitzen kalkulierten Bewegungen durchmisst Bojana Nenadovic die „Architektur der Stille“ von Edward Clug. Gemeinsam mit Wieslaw Dudek weitet sie Renato Zanellos Pas de Deux zum berühmten „Adagietto“ von Gustav Mahler zu einer berührenden Studie über Aufbruch und Ermattung, Sehnsucht und Resignation. Bridget Breiner selbst stellt sich mit dem Solo „Tué“ von Marco Goecke vor.

Zu hektischen, quasi hyperventilierend gesungenen Chansons von „Barbara“ tanzt sie mit flatterhaften, frenetischen Bewegungen, die dieser Musik bis ins Detail entsprechen. In ihrer neuen Choreographie „Blau Blue Bleu“ zum „Amerikanischen Quartett“ von Antonin Dvořák, inspiriert von Yves Kleins Gemälden im Foyer des Musiktheaters, versetzt Breiner den Traditionen des Klassischen Balletts freche Seitenhiebe. Die eindrucksvolle, ungemein ästhetisch beleuchtete Bühne von Jürgen Kirner lässt dazu Kunstnebel in einem Glaskasten zirkulieren.

„Der Erste Gang!“ war für Bridget Breiner und ihre Compagnie ein voller Erfolg. Wir sind gespannt auf Weiteres.




Entstelltes Genie: Kurt Weills „Street Scene“ am Musiktheater in Gelsenkirchen

Leben in einer schäbigen Mietskaserne: Das Ehepaar Maurrant (l. Joachim Gabriel Maaß und Noriko Ogawa-Yatake) und Tochter Rose (Dorin Rahardja, r. Foto: MiR/Pedro Malinowski)

Den Blick für das Leid der Unterprivilegierten, Unterdrückten und Verfolgten verlor der Komponist Kurt Weill auch nach seiner Flucht aus Nazi-Deutschland nicht. In den USA musste der Schöpfer der „Dreigroschenoper“ sich freilich anpassen, um Erfolg zu haben.

Nach intensiven Studien amerikanischer Folksongs und der Jazzmusik unternahm der Einwanderer das Wagnis, eine originär „Amerikanische Oper“ schaffen zu wollen, die für ihn nur aus der populären Musik des Landes hervorgehen konnte.

Mit größter Energie arbeitete Kurt Weill an „Street Scene“, inspiriert vom gleichnamigen Drama von Elmer L. Rice, das 1929 den Pulitzer Preis erhielt. Die Handlung, Mitte der 40er Jahre in den Slums von New York angesiedelt, zeigt Amerika als „Melting pot“ der Nationen, aber auch die Deformation der Menschen durch materielle Not. Im Mittelpunkt steht die Familie Maurrant: Anna betrügt ihren Ehemann Frank, während Tochter Rose mit dem jüdischen Intellektuellen Sam Kaplan anbandelt. Unter den Augen klatschsüchtiger Mietskasernen-Bewohner spitzen sich die Dinge zu, bis es zu einem Doppelmord aus Eifersucht kommt.

Das Gelsenkirchener Musiktheater legt „Street Scene“ zur Saisoneröffnung in die Hände von Gil Mehmert, Musical-Professor an der Folkwang-Universität Essen und Regisseur für die Eröffnungsshow des Kulturhauptstadtjahrs Ruhr.2010. Diese Entscheidung ist schwer verständlich, zumal das Programmheft das „vermeintliche Musical“ als „Große Oper“ lobt. Mehmerts Zugriff ist zu sehr auf Unterhaltung bedacht und verniedlicht die sozialen Schärfen des Dramas. Statt der im Programmheft versprochenen „aufregenden Gesellschafts- und Sittenschau“ sehen wir eine bunte, zahnlose Revue, in der das Publikum sogar beim grausigen Doppelmord noch amüsiert gluckst.

Lys Symonettes deutsche Übersetzung der Songtexte von Langston Hughes sträubt sich gegen den Fluss der Musik, die vom jazzigen Swing zu Wagner’scher Emphase, von der schwelgerischen Puccini-Arie zum flotten Schlager und von der Kavatine zum Blues gleitet. Die dafür nötige Geschmeidigkeit kann Dirigent Heiko Mathias Förster den Musikern der Neuen Philharmonie Westfalen nur bedingt vermitteln. So gut es gelingt, zarte Momente wie die Ode an den Fliederstrauch mit subtilem Klangzauber zu unterlegen, so oft scheint sich das Holpern der deutschen Texte im Orchestergraben fortzusetzen. Hoffnung stiftende Ansätze von US-amerikanischem Schwung geraten immer wieder ins Straucheln.

In Erinnerung bleibt das Bühnenbild von Heike Meixner, die uns einen halb umgestürzten Hochhausblock von unten zeigt, und ein Ensemble, das an diesem Abend mehr Spielfreude denn sängerische Glanzleistungen bietet. Glaubhaft zeigen Joachim Gabriel Maaß und Noriko Ogawa-Yatake die fortschreitende Verhärtung und Verhärmung des Ehepaars Maurrant durch einen gnadenlosen Alltag. Weicher und hoffnungsvoller ist Tochter Rose, der Dorin Rahardja warme und wandlungsfähige Soprantöne gibt. Lars-Oliver Rühl verleiht Sam Kaplan Puccini-Farben, nicht immer ohne Mühe. Umgeben sind diese Hauptakteure von einem Typenkabinett, das zuweilen am Rande des Tingeltangel-Theaters agieren muss. Kurt Weill, dieses geniale musikalische Chamäleon, begegnet uns quasi in Turnschuhen, behängt mit einer Federboa aus prallbunten Klischees. Wie sollen wir ihn da ernst nehmen?

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.musiktheater-im-revier.de)




Kleine Nixe mit großer Sehnsucht – Dvořáks Märchenoper „Rusalka“ in Gelsenkirchen

Wasser ist ihr Element: Petra Schmidt als Nixe "Rusalka" in der gleichnamigen Märchenoper von Antonin Dvorak. (Copyright: Pedro Malinowski/MiR)

Wasser ist ihr Element: Petra Schmidt als Nixe „Rusalka“ in der gleichnamigen Märchenoper von Antonin Dvorak. (Copyright: Pedro Malinowski/MiR)

Worte eines ewig Unbehausten komponierte Franz Schubert einst seinem „Wanderer“ in die Kehle. „Die Sonne dünkt mich hier so kalt / die Blüte welk, das Leben alt / Und was sie reden, leerer Schall / Ich bin ein Fremdling überall.“

Ähnlich sieht Elisabeth Stöppler die Titelheldin aus Antonín Dvořáks Märchenoper „Rusalka“. Die Regisseurin, viel gerühmt für ihre Britten-Deutungen am Gelsenkirchener Musiktheater, nimmt sich dort jetzt der kleinen Nixe mit der großen Sehnsucht nach der Menschenwelt an. Wie diese Welt aus der Perspektive eines Naturwesens aussieht, zeigt Stöppler in einem verstörenden, zunehmend düsteren und blutigen Bilderbogen. Rusalka sucht Glück und erfährt Leid, übt Treue und erntet Verrat, schenkt Liebe und leidet Gewalt.

Das reizende Wasserwesen hat in der Gelsenkirchener Neufassung von Beginn an keine Heimat. Rusalka begegnet uns nicht in einem See, sondern eingesperrt in einer klinisch weißen Zelle. Wasser kommt als Element nur am Rande vor. Nixenschwestern und Wassermann scheinen sich aus Tilman Knabes Essener „Rheingold“-Inszenierung verlaufen zu haben: ein aufreizendes Damentrio auf Stöckelschuhen, gejagt von einem lüsternen Wassermann (sonor: Dong-Won Seo) in blauer Arbeitsmontur. Keusch und rein wirkt in diesem triebgesteuerten Umfeld allein Rusalka. Barfuß und in ein weites weißes Hemd gekleidet, hockt sie unbeteiligt in der Ecke und sehnt sich fort.

Mit dem Auftritt der Hexe Jezibaba (nicht ohne Schärfe: Gudrun Pelker) und des Prinzen (angenehm wenig forciert: Lars-Oliver Rühl) rückt die problematische, teils plakative Ästhetik der Produktion ins Blickfeld. Während die Hexe mit übertrieben viel Pelz und Perücke durch die Szene wallt, fallen beim Prinzen rasch die Hüllen. Die Regie übersetzt Natur und Natürlichkeit mit Nacktheit; die Zivilisation kommt mit Lippenstift und hohen Hacken daher. Diese allzu naheliegende Lösung wird mit grobem Strich durchgeführt. Die harsche Zivilisationskritik bringt diverse Seltsamkeiten hervor, zum Beispiel eine Putzkolonne in Schutzanzügen, die aussieht, als säubere sie gerade einen havarierten Reaktorblock.

Konträr zu solchen Grellheiten steht die intensive, oft berührend einfühlsame Personenführung. Der dritte Akt endet in einer wahren Farbschlacht: Alles und alle sind befleckt und verschmiert, sei es mit schwarzem Matsch oder mit Blut. Die geschundene Kreatur wiegt sich in traumatisierten Schaukel-Bewegungen. Immerhin gibt es Szenenapplaus für das eindrucksvolle Schlussbild (Bühne: Annett Hunger).

Sanfte Naturklänge, aber auch Pracht und Pomp höfischer Tänze erfüllen die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen mit sinfonischem Glanz. Erneut läuft das Orchester unter der Leitung von Rasmus Baumann zu Hochform auf, zieht viele farbenreiche Klang-Register, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Die Musiker breiten ein feines Netz von Leitmotiven aus, das die Sänger trägt: Darunter Majken Bjerno als verführerische fremde Fürstin, sowie Petra Schmidt, die in der Titelpartie einen großen Erfolg feiert. Mit feinem Gefühl fächert die Sängerin die Seelenwelt der Nixe vor uns auf. Traumverloren besingt sie den Mond, keusch und kühl und innig zugleich. Ihr Sopran kann mädchenhaft hell klingen, entwickelt bei der Darstellung von Schmerz und Leidenschaft aber viel innere Glut. Trotz der physischen Vehemenz, mit der Petra Schmidt sich in das Spiel wirft, verliert ihre Stimme nie das Ebenmaß. Alles klingt wunderbar warm, kultiviert und geschmeidig. An dieser starken Leistung gibt es nichts zu rütteln.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Weitere Informationen: www.musiktheater-im-revier.de)




Großstadt-Triptychon in Gelsenkirchen: Glanz und Elend der Zwanziger Jahre

Menschen auf engem Raum: Szene aus „Leben in dieser Zeit“ von Edmund Nick auf Texte von Erich Kästner (Foto: MiR/Pedro Malinowski)

So geht es den Trägern berühmter Namen: Was einerseits Türen öffnen kann, weckt andererseits Erwartungen, die nicht selten zur hohen Messlatte werden. Im Gelsenkirchener Musiktheater stand jetzt das Großstadt-Triptychon des Malers Otto Dix Pate für einen gleichnamigen Abend, der drei Opern-Einakter verschiedener Komponisten mit Hilfe des Tanzes zu einem Panorama der goldenen Zwanziger Jahre verbinden sollte.

Dabei haben „Zeus und Elida“ von Stefan Wolpe, „Leben in dieser Zeit“ von Edmund Nick und das „Mahagonny-Songspiel“ von Kurt Weill kaum mehr gemein als die Entstehungszeit. Stefan Wolpes 1928 uraufgeführtes Werk ist eine Groteske, in der Zeus auf der Suche nach Europa mitten auf dem Potsdamer Platz in Berlin landet und sich in den Wirren einer modernen Zeit verheddert. Wolpe hat dazu eine expressionistische, hoch komplexe Musik geschrieben, in der Anleihen aus der Tanz- und Unterhaltungsmusik der Zwanziger grell aufleuchten.

Ganz anders der Kästner-Freund Edmund Nick, seinerzeit Hauskomponist beim Schlesischen Rundfunk Breslau und nach dem Krieg beim WDR in Köln. Seine lyrische Suite „Leben in dieser Zeit“ (1929) ist ein unterhaltsames Hörspiel, dessen Chansons und Chöre fast einschmeichelnd glatt ins Ohr gehen. Meilenweit ist diese Musik von den geschärften Klängen des „Mahagonny Songspiels“ (1927) von Kurt Weill entfernt, der aus einem kleinen Instrumentarium ein Maximum an Biss und Schmiss heraus holt.

Gelsenkirchens neuer Ballettchefin Bridget Breiner oblag das Experiment, diese Trias zu einem Gesamtkunstwerk zu schmieden. Aber aus dem Nebeneinander von Sängern und Tänzern will lange kein Miteinander werden. Im Bühnenbild von Jürgen Kirner, der mit zugespitzten Hochhaus-Silhouetten und beengten Wohn-Zellen arbeitet, belebt der Tanz zwar die Szene, bleibt aber meist nur Beiwerk. Unbeholfenheiten lassen die Produktion an immer neuen Stellen haken und holpern. Mal droht „Zeus und Elida“ in eine Kostümparade abzurutschen, mal ist die Personenführung unglücklich wie im Falle von Thomas Möwes, der als Zeus leider nur stimmlich eine gute Figur abgeben darf. Dann wieder nimmt die zu oft ungenaue Rhythmik des Sprechgesangs (Joachim G. Maas) Kästners Versen in „Leben in dieser Zeit“ viel von ihrer Wirkung.

Gelungenes findet sich erst im zweiten Teil des Abends, der dann doch noch an Dichte gewinnt. In „Leben in unserer Zeit“ vermittelt Lars-Oliver Rühl als „Herr Schmidt“ viel von der Ohnmacht und Einsamkeit des Durchschnittsmenschen. Christa Platzer berührt als Chansonette mit dem Lied einer Mutter, die an der physischen und emotionalen Ferne des erwachsenen Sohnes leidet. Zum Song „Man müsste wieder 16 sein“ choreographiert Bridget Breiner einen Pas de deux von zauberhaft schwebender, unbekümmerter Leichtigkeit. Wo es um den Zorn der sprachlosen Mehrheit geht, steigert sich ihre elegante Tanzsprache zu kraftvollen und kämpferischen Gesten.

Das „Mahagonny Songspiel“ ist ohnehin zu stark, um seine Wirkung gänzlich zu verfehlen. Wo der Benares-Song so schön nach Katzenjammer klingt und der Mond von Alabama den Gesetzlosen scheint, schimmert auch das Versprechen auf, das Bridget Breiner den Gelsenkirchener Tanzfreunden macht.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Info: www.musiktheater-im-revier.de)




„La Traviata“ in Gelsenkirchen: Von der Unbarmherzigkeit der Menschen

Am Boden: Die Kurtisane Violetta Valéry (Alexandra Lubchansky), Titelheldin aus Verdis Meisterwerk "La Traviata" (Foto: MiR/Karl Forster)

Wie vor einer Aussätzigen wechselten die Menschen die Straßenseite, wenn Giuseppina Strepponi durch das norditalienische Städtchen Busseto ging. Niemand sprach mit ihr, aber alle über sie: Über die Sängerin mit diversen Affären und drei unehelichen Kindern, die an Schwindsucht litt und ohne Trauschein mit dem Komponisten Giuseppe Verdi zusammen lebte. Vielleicht war sie „die wahre Traviata“, wie Gaia Servadio in seiner gleichnamigen Biographie behauptet. Die unbarmherzige Härte der bürgerlichen Gesellschaft bekam die Strepponi jedenfalls zu spüren.

Um diese Grausamkeit geht es Gelsenkirchens Opernintendant Michael Schulz, der die Titelheldin aus Verdis „La Traviata“ in seiner jüngsten Inszenierung gleichsam von Schuld freispricht. Fragwürdig erscheint ihm weniger die Kurtisane als eine amüsierwütige Gesellschaft, die unempfindlich für fremdes Leid ist und erschreckend rasch im Verachten. Die Personen zeichnen sich vor allem durch ihr Nicht-Handeln aus: Sie werden zu Zaungästen, zu Gaffern, zur bloßen Staffage. Die karge Ausstattung betont das realistische Element der musikalischen Erzählung (Bühne: Dirk Becker). Ein drehbarer, aufgeschnittener Kasten ist der schillernden Hauptfigur Bühne und Gefängnis zugleich. Das zweite Bild zeigt kein trautes Heim, sondern einen öden Hof. Nicht einmal ein Bett hat Violetta im letzten Akt, um aus dem Leben zu scheiden. Wie ein Geist steht sie am Orchestergraben, lauscht einsam und verloren den ätherischen Klängen, die sich von dort ins Nichts verströmen.

Es sind herrliche Pianissimo-Wunder, die sich unter der Leitung von Dirigent Rasmus Baumann ereignen. Die Neue Philharmonie Westfalen, die ihre Tugenden bereits im Britten-Zyklus eindrucksvoll unter Beweis stellte, erreicht in dieser „Traviata“-Produktion einen neuen Gipfel. Die Musiker lassen die Festszenen quirlig und spannungsvoll moussieren, erfüllen Violettas verzweifeltes „Amami Alfredo“ mit heißer Glut und begleiten ihr Sterben mit einer gläsernen Transparenz, die beinahe unstofflich klingt. Eine fabelhafte Leistung, belohnt mit frenetischem Beifall.

In der Hauptrolle zeichnet Alexandra Lubchansky, die in Darmstadt jüngst unverschuldet ins Zentrum eines Opernstreits geriet, Glanz und Elend der Kurtisane facettenreich nach. Ihr beweglicher Sopran kann kalt auftrumpfen und glutvoll flehen, aber auch mädchenhaft fragil klingen. Ihr gelingt das sensible Porträt einer leidenden Frau, die weder Mitleid noch Hilfe zu erwarten hat. Neu im Gelsenkirchener Ensemble ist der Rumäne Daniel Magdal, der als Alfredo einen achtbaren Einstand gibt. Sein Tenor gewinnt nach etwas sprödem Beginn an Glanz, zeigt Kraft ohne Kraftmeierei und versagt auch in leiseren Nuancen nicht den Dienst. Ein regelrechter Coup gelingt Günter Papendell, der aus Alfredos Vater Giorgio Germont endlich einmal mehr macht als einen hölzernen Moralisten. Papendell findet für das Schwanken zwischen Strenge und Mitleid wunderbar warme und lebendige Nuancen, für die er vom Premierenpublikum stürmisch gefeiert wurde.

Mag Intendant Michael Schulz zuweilen auch etwas ausgiebig Geld regnen lassen, um die Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen zu verdeutlichen: Er hält seinen Regie-Ansatz konsequent durch und steigert sich zu einem erschütternden Schlussbild. So verlassen wie unter diesen Menschen, so die Botschaft, kann Violetta wohl nirgends sein.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Info: www.musiktheater-im-revier.de)




„Merlin“ – Isaac Albéniz‘ wirrer Opernschinken in Gelsenkirchen

König Arthur (Lars-Oliver Rühl) hält das Schwert des Mächtigen. Foto:MiR/Beu

Endlich mal keine „Carmen“, „Traviata“ oder „Zauberflöte“ – allesamt Opernhits, die landauf, landab heruntergenudelt werden. Dafür bekommen wir „Merlin“. Das ist der Zauberer aus der Artus-Sage. Das ist hehrer Stoff, große Oper, ja großes Kino. Da hat sich schon Richard Wagner prächtig bedient, haben sich unzählige Literaten, später Filmemacher inspirieren lassen.

„Merlin“ also. Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) lädt zur Deutschen Erstaufführung einer Oper, die indes schon über 100 Jahre alt ist. Sie stammt von dem Spanier Isaac Albéniz. Geschrieben auf das Libretto eines reichen Briten namens Francis Burdett Money Coutts. Ein exzentrischer Kauz und glühender Wagnerianer, der sich im wahnhaften Wetteifern mit dem Bayreuther Meister an einer Artus-Trilogie abarbeitete.

Albéniz wiederum, als meisterlicher Pianist in Europa eine Größe, als Komponist vor allem mit Klavierwerken glänzend, wollte in den 1890er Jahren die Oper für sich entdecken. Vielleicht war auch da ein wenig Geltungsbedürfnis im Spiel, der unbedingte Wille, als Spanier im Konzert des mitteleuropäischen Musikdramas mitzumischen. In London jedenfalls fanden Albéniz  und der „Literat“ zusammen. Leider: Denn dieser Begegnung bedurfte es in der Musikgeschichte nun wirklich nicht.

Das Ergebnis nämlich war „Merlin“: schrecklich unbeholfen im dramaturgischen Verlauf, unsäglich das Libretto, krude und wüst in der musikalischen Gestaltung. Albéniz serviert uns Wagner light in Verbindung mit übersteigertem Verismo. Eine Melange, die oft in pur Plakativem mündet. Offenbar hatte der Komponist wenig Gespür dafür, die Szenerie klanglich differenziert zu zeichnen. „Merlin“ ist ein wirrer „Schinken“, der an Richard Strauss’ wenig später erschienene „Salome“ nicht mal kratzen kann.

Trotz allem hat sich das MiR an die Ausgrabung gewagt, acht Jahre nach der Uraufführung in Madrid. Hat das Werk mutig eingekürzt auf drei konzentriert gefasste Akte. Und hat sich an diesem „Schatz“ gehörig verhoben. Regisseur Roland Schwab präsentiert Archetypen, keine Charaktere. Ausstatter Frank Fellmann zeigt im wabernden Nebel oder mystischen Blau eine Straße ins Nirgendwo, einen gestrandeten Wagen. Merke: Die Sehnsucht nach dem Sagenhaften ist auch der Moderne nicht fremd.

Blonder Racheengel: Nivian (Petra Schmidt) tötet Merlin (Björn Waag). Foto: MiR/Beu

Die Ritter kommen hingegen ritterlich daher (Kostüme: Renée Listerdal), wenn Artus, wie ein tumber Siegfried, das Schwert aus dem Stein zieht und König wird. Nach dem Krieg mit den Anhängern der grundbösen, verräterischen Morgan sehen wir aufgespießte Köpfe. Im Schlussakt plötzlich Merlins Ende, blutig gerichtet von seiner Sklavin Nivian.

Wahn, überall Wahn. Die Regie hat den Figuren vor allem aufgesetzte, exaltierte Posen verordnet. Bjørn Waag (Merlin), Lars-Oliver Rühl (Arthur) und Majken Bjerno (Morgan) singen überwiegend am oberen Ende der Ausdrucksskala, was den Stimmen nicht bekommt.  Einzig Petra Schmidt (Nivian) verströmt bisweilen lyrische Wärme in differenzierter Dynamik. Dirigent Heiko Mathias Förster wiederum führt Chor und Neue Philharmonie Westfalen einigermaßen unfallfrei durch die wüste Partitur.

Am Ende haben wir gegen zehn Uhr die Oper verlassen und wähnen uns um die Mitternacht. Wir hören „Iberia“ – wunderbarer Albéniz.

 




Open-Air-Saison im Ruhrgebiet: Der Graf und Grönemeyer

Die Saison ist eröffnet. Mit gleich zwei hochkarätigen Konzerten wartete Gelsenkirchen in der vergangenen Woche auf. Den Anfang machte der unheilige Graf im Amphitheater, zwei Tage später unser aller Grönemeyer auf Schalke. „Ja, und? Wie war et denn? Isser noch derselbe wie imma?“ Zwei ganz unterschiedliche Konzerte, eine Frage. Anscheinend muss ich et ja wissen, so oft wie mir diese Frage gestellt wurde. Die Karriere von Unheilig verfolge ich seit Jahren und mein erstes Grönemeyer Konzert erlebte ich 1986. Also, wie war et?

Zunächst der Graf. Er ist noch immer derselbe.  Es ist sein Publikum, welches sich geändert hat.  Die Erwartungen der rund 6000 Zuschauer gingen bunt durcheinander. Um diejenigen abzuzählen, die sich in gräflichem Outfit in die Menge wagten, braucht es nicht mehr als eine Hand.

Im Konzert folgen Unheilig dem Weg ihres Konzeptalbums „Grosse Freiheit“. Mit einem hölzernen Schiffsbug als Erhöhung der Bühne im hinteren Drittel, nehmen sie ihr Publikum „Abwärts“ mit „über’s Meer“ und in ferne Galaxien aus früheren Alben. Die „Lichter der Stadt“ (das für 2012 angekündigte Album) schimmern erfolgversprechend durch. Unter der Flagge des Grafen wurde getanzt, gesungen, aber auch andächtig bei den ruhigeren Balladen verharrt. Zumindest von den meisten. Der Graf startet die „Maschine“ wie immer, aber mein Eindruck war: Mit diesen Massen kann er nicht so wirklich umgehen, ein Stück weit fehlt ihm Chuzpe und Frechheit. Noch ist es ihm nicht gegeben, „O wie ist das schön“ oder gerne auch „Einer geht noch“ Rufen anders als mit Verlegenheit zu begegnen. Die Geister, die er rief – er wird sie nicht mehr los und langjährigen Fans stellt sich immer drängender die Frage, ob diese Geister noch gut sind für die Band und ihre Musik. Der Graf singt seine unheiligen Texte mit heiligem Ernst, fast missionarisch beseelt. Alleine – nicht jeder ist da, um sich beseelen lassen. Rockigere Stücke rufen bei einem gut Teil des Publikums Befremden und Irritation hervor. Ernstere traurige Lieder dienen vielen als Gelegenheit zum Schlangestehen beim Biermann. Viele Künstler haben bewegende Momente, in denen sie sich mit dem Publikum gemeinsam besinnen möchten. Bei den Toten Hosen ist es „Nur zu Besuch“, bei Grönemeyer war es „der Weg“, bei Unheilig ist es „An Deiner Seite“. In Gelsenkirchen war das Publikum bei diesem zwar älteren, aber sehr persönlichem Stück nicht an seiner Seite und bereit, sich mit ihm gemeinsam zu besinnen. Für diejenigen, die es gerne getan hätten, ein unwürdiger, ein unheiliger Moment.

Ganz anders dagegen letzte Woche Dienstag bei Grönemeyer. Auch in der Arena galt: Mitgrölen kann eine kathartische Wirkung haben. Auch seine Bühne ist einem Schiff nachempfunden, der Blickfang jedoch ist pure Selbstironie. Unübersehbar in der Mitte ein großes HRBRT! Weiß der geneigte Grönemeyer Fan doch spätestens seit CRRYWRST: Vokale sind völlig überschätzt.

HRBRT also. Ist er noch derselbe? Ja. Unprätentiös, bodenständig und mit nach wie vor ausbaufähigem Tanzstil. Und nein. Er hat sich verändert. Der Mann, der in der Arena 50.000 Menschen in seinen Bann zog, ist ein anderer. Älter, klar. Und entspannter. In sich selber ruhend. Grönemeyer muss niemandem mehr etwas beweisen. Er weiß, was er kann und er weiß, was er will. Feuilletonisten mögen fragen, ob Textzeilen wie „Ich will mehr – Schiffsverkehr“ kryptisch genial oder sinnentleert sind, ob sich Ruhr auf Ur reimen muss. Ihn kümmert es nicht.  Was HRBRT knödeln will, knödelt er.

Das Konzert ist natürlich die Heimreise, auf die Ruhrstadt wirklich gewartet hat. Drei Stunden, die Sperrstunde der Veltins-Arena ignorierend und Konventionalstrafen in Kauf nehmend, feiert Grönemeyer mit den 50.000. Stücke vom neuen Album kommen nicht zu kurz, ebenso wie auch seine Klassiker. Er bleibt der „Mensch“, wie er lebt und liebt bei „Vollmond“ und mit „Flugzeugen im Bauch.“ Auch wenn die Atmosphäre der Veltins Arena richtige Konzertstimmung schwer aufkommen lässt, seine Fans feiern nicht nur mit ihm, sie würdigen auch seine sehr persönlichen Balladen wie eben „Der Weg“ oder das zeitlos schöne „Halt mich“ angemessen. Und wenn ein ganzes Stadion das Steigerlied mitsingt, um danach hymnisch „Tief im Westen“ anzustimmen – kann sich trotz der Dixie Klos im Innenraum kaum einer der Magie entziehen.

Es zeigte sich deutlich, Grönemeyer ist mehr als nur ein Sänger. Er ist eine Institution, eine gehörte Stimme in unserem Land und unserer Zeit. Wohin die Heimreise des Grafen letztendlich führt, wird sich erst weisen. Sein früheres Publikum hält sich spürbar zurück, sein neues passt noch nicht richtig zu ihm und seinem Anliegen.

Ein Wort zur Security: Nicht wenige äußerten im Amphitheater Bedenken ob versperrter Fluchtwege und unbeholfen ordnender Ordner. Wie es richtig geht, konnte man in der Veltins Arena besichtigen. 50.000 Zuschauer, kein Stau, kein Chaos, freie Fluchtwege, entspannt geordnet. Das war vorbildlich.




Wrestling beim Wacken Open Air – Lesung beim Rock Hard Festival

Während das Wacken Open Air Wrestling ins Programm übernommen hat, versucht es das Rock Hard Festival mit Literatur. Am Pfingstwochenende stellen die beiden Autoren Christian Krumm und Holger Schmenk ihr Buch „Kumpels in Kutten – Heavy Metal im Ruhrgebiet“ den Festival-Besuchern im Gelsenkirchener Amphitheater vor. Ein guter Anlass, um mit Christian Krumm zu sprechen, der bereits an einem Buch über die Plattenfirma Century Media arbeitet.

Am Pfingstwochenende habt ihr vier Lese-Termine beim Rock Hard Festival. Das ist schon etwas Besonderes?

Christian Krumm: Definitiv. Es ist so etwas wie ein Ritterschlag, denn hier ist die Ruhrpott-Szene versammelt und somit gehören wir auch dorthin. Es ist ein einzigartiges Event und wir freuen uns sehr über diese Möglichkeit.

Hören die Metal-Fans in einem Umfeld von lauter Musik und viel Bier überhaupt zu?

Christian Krumm: Wie es auf dem Rock Hard Festival wird, ist natürlich noch schwer zu sagen, denn das ist eine ganz andere Veranstaltung als unsere bisherigen Lesungen. Mit Bobby und Gerre als Gäste wird es vielleicht auch mehr Show als einfache Lesung, aber das Wichtigste ist, dass die Leute Spaß haben.

Wie war die bisherige Resonanz auf das Buch?

Christian Krumm: Wir hatten sicher mit einigen Resonanzen gerechnet, aber was seit der Veröffentlichung passiert ist, hat uns schon überrascht. Neben vielen, fast ausschließlich positiven R ezensionen überraschte besonders die Unterstützung aus der Szene für unser Buch. Die Verkäufe haben entsprechend ziemlich schnell unsere Erwartungen übertroffen.

Vergangenes Jahr habt ihr euer Buch bereits beim Wacken Open Air der Presse präsentiert. Seitdem seid ihr auf Lesereise – mit einigen prominenten Gast-Lesern. Gibt es einen Gast, den ihr besonders in Erinnerung behalten habt?

Christian Krumm: Da kann man sicher niemanden wirklich hervorheben. Wenn Tom Angelripper am Tag nach der Release-Party von „In War And Peaces“ (letztes Sodom-Album) sich mittags um zwölf Uhr mit uns trifft und sich die Zeit nimmt mit uns zwei Lesungen zu machen, dann sagt das viel über die Bodenständigkeit und Leidenschaft für die Szene von Tom aus. Andererseits arrangiert es Bobby von sich aus, ohne dass wir davon wussten, dass auch Gerre bei den Lesungen auf dem Rock Hard dabei ist und macht bei einem Video für Rock Hard Online Werbung dafür. Für wen soll man sich da entscheiden?

Kannst du denn sagen, welcher Ort für euch der schönste war?

Christian Krumm: Das war sicher das Café Nord. Die Kneipe ist seit zwanzig Jahren ein fester Bestandteil der Szene und als wir dort gelesen haben, mit einem Unplugged-Gig von Layment als besonderen Bonus, waren fast 200 Leute da. Das hat schon eine Menge Spaß gemacht.

Aktuell arbeitet ihr an einem spannenden Projekt – der Biografie der Plattenfirma Century Media. Wie ist es dazu gekommen?

Christian Krumm: Das gehört auch zu den positiven Resonanzen auf „Kumpels in Kutten“. Nicole Schmenk – die Ehefrau von Holger – hat zuletzt einen eigenen Verlag gegründet, der sich unter anderem auf Metal spezialisiert. Auf der Suche nach guten Buchthemen kam der Kontakt mit Robert Kampf, dem Chef von Century Media, zustande. Der zeigte sich begeistert von unserem Buch und schnell waren sich alle einig, dass wir die Geschichte der Plattenfirma aufarbeiten werden.

Ein Buch aus der Sicht der Musikindustrie ist selten. Was erwartet ihr an Reaktionen?

Christian Krumm: Das wird sehr spannend. Dieses Buch wird definitiv Geschichten enthalten, die man nicht so einfach in Magazinen oder anderen Szene-Büchern nachlesen kann. Musiker haben oft ein kompliziertes Verhältnis vom Geschäft, wollen vielfach damit so wenig wie möglich zu tun haben. Aber natürlich ist die Arbeit einer Plattenfirma enorm wichtig und ist ebenso ein Teil der Szene. Die Mitarbeiter sind fast ausschließlich selbst Fans, die sich mit Enthusiasmus und viel Herzblut engagieren und einiges dazu beitragen, dass zum Beispiel ein Album ein Klassiker wird, dass Bands das Beste aus sich herausholen oder auch nicht an Konflikten zerbrechen. Diesem speziellen Teil der Szene ist das Buch gewidmet und ich hoffe, dass die Fans sich auch für diesen Aspekt der Musik interessieren und begeistern können.

Vielen Dank an Jörg Litges für die Fotos




Bildmächtiger Antikriegs-Appell

Der Erfolg des Britten-Zyklus’ am Musiktheater in Gelsenkirchen ist maßgeblich das Werk der Regisseurin Elisabeth Stöppler. Die in Hannover geborene 34-Jährige, die das Regiehandwerk unter anderem bei Götz Friedrich und Peter Konwitschny in Hamburg studierte und einst Assistentin von Johannes Schaaf und Stefan Herheim war, schilderte in „Peter Grimes“ die gnadenlose Hetzjagd auf einen Außenseiter und formte „Gloriana“ zu einer bildstarken und packenden Studie über die Auswirkungen der Macht.

Mit dem Versuch, Brittens „War Requiem“ für die Gelsenkirchener Oper in eine Bühnensprache zu übersetzen, geht Elisabeth Stöppler jetzt einen tollkühnen Schritt weiter. Fasziniert vom aufrüttelnden Antikriegs-Appell dieser Totenmesse, die Britten für die symbolträchtige Einweihung der wieder aufgebauten Kathedrale zu Coventry komponierte, versucht sie dem Werk eine Handlung abzulauschen und seine ohnehin eindringliche Botschaft weiter zu verstärken. Dabei greift sie die dialogische Anlage des Werks auf: So wie Britten den lateinischen Text der Messe mit Berichten des im 1. Weltkrieg gefallenen Frontsoldaten Wilfred Owen verschränkt, so spielen Szene und Videoprojektionen in ihrer Inszenierung ineinander. Die Gesangssolisten verkörpern Einzelschicksale, die Chöre eine anonyme Masse.

Sie alle geraten in einen absurden Kreislauf von Gewalt, als der Krieg über das Fernsehen in die Welt einer kleinen Familie bricht. Ein verletzter Soldat platzt durch den Wandschrank mitten ins Wohnzimmer, wo er vor aller Augen stirbt. Vater, Mutter und die Kinder reagieren darauf nachhaltig verstört. Der eben noch tote Soldat steht wieder auf und erschießt ein Kind. Das Kind steht wieder auf und erschießt seinen Bruder. Der Bruder steht wieder auf und droht seinerseits Amok zu laufen. So geht es fort und fort in der Welt, mit der die Regie uns konfrontiert. Die Opfer stehen auf, um ihrerseits zu Tätern werden.

Es liegt auch am gravitätischen Fluss der Musik, wenn dieser Kreislauf bald ermüdend wirkt. Die von Elisabeth Stöppler für dieses Experiment erfundene Handlung bleibt Stückwerk: Es kommt kein Erzählfluss auf, vielmehr ertrinkt das Bühnengeschehen zunehmend in einer Flut symbolträchtiger Bilder. Manche davon sind auf düstere Weise großartig. Vielfach und namenlos ist das Leid, das die Chöre verkörpern. Elisabeth Stöppler lässt sie auf düsterer Szene schwanken und fallen, als sei Hyperions Schicksalslied grässliche Realität geworden (Bühne und Kostüme: Kathrin-Susann Brose). Rauch steigt auf und weht über Körper. Ob per Video eingespielte Kunstblut-Orgien die Wucht des „Dies Irae“ noch verstärken ist indes eine Frage, zu der es verschiedene Meinungen geben kann. Aus dem grundlegenden Dilemma, dass der Regisseurin mehr nach dem Werk verlangte als das Werk nach einer Regie, gibt es offenkundig keinen Ausweg.

Sängerisch ragt Petra Schmidt aus einem mehr soliden denn glanzvollen Ensemble heraus. Opernchor, Extrachor und Kinderchor des MiR haben maßgeblichen Anteil am musikalischen Erfolg, für den Rasmus Baumann am Dirigentenpult der Neuen Philharmonie Westfalen verantwortlich zeichnet. Der wohlmeinende Versuch des Publikums, die Premiere zum nächsten Erfolg der Regisseurin hochzujubeln, geht indes an der Sache vorbei. Elisabeth Stöppler ist in Würde an einem Experiment gescheitert, das nicht gelingen konnte.

Das Programm des Musiktheater im Revier findet sich unter http://www.musiktheater-im-revier.de




Wenn Schalke mit Borussia singt: Franz Wittenbrinks Lieder-Revue „Männer“ in Gelsenkirchen – und bald in Dortmund

Von Bernd Berke

Gelsenkirchen/Dortmund. Zum Theater geht’s über die Autobahn A 42, Abfahrt Gelsenkirchen-Schalke. Für manchen Fan der Dortmunder Borussia ist dies fußballerisches „Feindesland“ und „verbotene Stadt“. Just die uralte Rivalität der Revierclubs prägt das musikalische Bühnenspektakel „Männer“.

Allerdings haben bei dieser Inszenierung (tribünentauglich gesprochen) die Schattenparker und Warmduscher das Sagen, denn es herrscht tendenziell Versöhnung zwischen Schwarzgelb und Blauweiß. Kleinere Rangeleien lösen sich rasch in Wohlgefallen auf. Es ist eben eine ausgewogene Produktion für zwei WM-Städte: Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier und das Dortmunder Schauspielhaus mögen es schiedlich-friedlich. Mit einem lauen 0:0 endet denn auch ein anfänglich geschildertes Bundesliga-Match.

In Gelsenkirchen hatte das 90minütige Sangesspiel jetzt Vorab-Premiere, teilweise noch unter Probenbedingungen. Bald wird das Ganze auch in Dortmund zu sehen sein, dann wohl hoffentlich etwas ausgefeilter. Vor allem Beleuchtung und Tontechnik wären noch zu justieren.

Notdürftig auf Revier-Verhältnisse umgemodelt

Vorlage ist einer jener Liederabende des Franz Wittenbrink, notdürftig auf Ruhrgebiets-Verhältnisse umgemodelt. Und was drängt sich da heftiger auf als das ewige Derby zwischen dem BVB und Schalke 04, das hier angereichert wird mit der alten „Romeo und Julia“- bzw. „West Side“-Story. Sprich: Liebe über die Grenze verfeindeter Clans hinweg, Borussen-Fan verguckt sich in Schalke-Mädel. Diese pikante Liaison bleibt freilich eher episodisch in all dem Sängerwettstreit, der da anhebt.

Tribüne als Bühne: Hie der Schalker Block mit fünf, dort die BVB-Ecke mit vier Fans. Im munteren Wechsel schmettern die Darsteller Schlachtgesänge, vor allem aber Evergreens: lauter Einblicke in hahnenstolze, doch oft auch waidwunde Männerseelen. Man hört Kracher von Westernhagen („Sexy“), Grönemeyer („Currywurst“, „Alkohol“), Maffay („Und es war Sommer“) oder Udo Jürgens („Mit 66 Jahren“) sowie Beatles-Songs („Yesterday“, „Let it be“).

„We Will Rock You“ mit Heintje-Text

Ausflüge in deutsche Schlager-Tradition („Ich brech‘ die Herzen der stolzesten Frau’n“) wechseln mit fetzigen Rock-Einlagen („Wild Thing“). Und dass der urzeitliche Stampf-Rhythmus des „Queen“-Klassikers „We Will Rock You“ mit Heintjes „Mama“-Text gefüllt werden kann, ist wirklich verblüffend. Auswahl, Abfolge und Arrangement sind der eigenschöpferische Anteil in Wittenbrink gut geölter Wiederaufbereitungs-Anlage.

Was ist das nun? Liederabend, Nummernrevue, Musical mit Karaoke-Charme? Von allem etwas. Jedenfalls macht es Spaß. Denn Regisseur Andreas Wrosch hat im gereiften Ensemble (Schwerpunkt bei „50 plus“) die richtigen Typen versammelt. Profis sorgen fürs musikalische Gerüst, und eigens gecastete Revier-Originale geben er Aufführung authentischen Anstrich.

Alle einigen sich auf Anti-Bayern-Song

Gerade dann, wenn sich nicht alles in glatter Perfektion erschöpft, kommt die geheime Wahrheit mancher Lieder zum Vorschein. So etwa bei Willibald Zumpe (64), früher Bergmann in Dortmund-Mengede, seinerzeit im Chor der Zeche Hansemann und jetzt auf der Bühne als BVB-Altrocker zugange.

Am Schluss haben sich die Fan-Blöcke auf zwei Nenner geeinigt. Erstens darauf: Wahre Liebe kann alle Vereins-Schranken überwinden. Und zweitens auf jene güldene Parole, die sich in bierseliger Gemeinsamkeit grölen lässt: „Wir werden nie zum FC Bayern München geh’n!“

Gelsenkirchen (Musiktheater) 22. April, 15., 29. Mai. 1., 3. Juni. Tel.: 0209/40 97 200 / Dortmund (Schauspiel) 25. April, 22., 30., 31. Mai, 7. Juni. Tel.: 0231/50 27 222.

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ZUR PERSON

Häufig nachgespielt

  • Franz Wittenbrink (Jahrgang 1948) war von 1993 bis 2000 musikalischer Leiter am Deutschen Schauspielhaus Hamburg.
  • Die von ihm thematisch zusammengestellten und arrangierten Lieder-Programme werden landauf landab nachgespielt, z. B. „Sekretärinnen“, „Mütter“, „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ und „Männer“ (1997 uraufgeführt).
  • Die Fassung von Gelsenkirchen/Dortmund wird musikalisch geleitet von Bill Murta und Jochen Hartmann-Hilter.



Essenz des Reviers mit Kassenbrille: Herbert Knebel stellt seine neue CD „Live in Gelsenkirchen“ vor

Von Bernd Berke

Gelsenkirchen. Pressekonferenz mal anders: „Besorcht euch mal da drüben Schnittkes, dann könnter zwei Sachen zugleich tun: fressen und fragen“. So locker springt Herbert Knebel mit Journalisten um. Anlaß: Im Dunstkreis des Schalker Parkstadions will er Appetit auf seine neue CD wecken.

„Herbert Knebel – Live in Gelsenkirchen“ heißt das neue Werk des oft saukomischen Comedy-Mannes, der vor allem als ewig nörgelnder Frührentner den Ruhrgebiets-Humor bereichert hat. Die 13 Sketche tragen lakonische Titel wie „Zahnschmerzen“, „Hundescheiße“, „Spaßbad“ und „Vampire“. Bis zum 16. August müssen die Fans freilich auf die Scheibe warten.

Wenn Knebel (bürgerlich: Uwe Lyko, wohnhaft in Essen) seine Requisiten (Prinz-Heinrich-Mütze, Kassenbrille) absetzt, erkennt man ihn kaum. Sobald er aber verkleidet ist, wächst er von selbst in seine Rolle hinein. So auch gestern „auf Schalke“. Originalton Knebel: „Meine CD kannze so wechhören, da lachße dich scheckig, echt“.

Die „Knechte von Sony“ (Knebel), Leute von der Plattenfirma also, lassen eine kurze Kostprobe hören: Jener Frührentner begibt sich samt Enkeln ins Spaßbad zu Herne-Wanne („Wanne hattense also schon, mußte nur Wasser rein“), das ihm allerdings wie ein „Terrorbad“ vorkommt, denn ein kleiner Steppke klaut ihm die Brille. Knebel wankt blindlings aufs Dreimeterbrett – und dann beginnt das Chaos, das eben keiner so schräg erzählen kann wie er.

Warum Gelsenkirchen? Weil die Schalker (allen voran Fußballmanager Rudi Assauer, der Knebel zur Seite sitzt) so nett sind, „da können sich die Schwatzgelben aus Dortmund ’ne Scheibe von abschneiden“. Außerdem sei Gelsenkirchen „die Essenz des Reviers“.

Von Musicals („Jupp‘ m Essen – is doch Seh…“) hält Knebel ebenso wenig wie vom Strukturwandel im Revier, der sei vielfach das Werk seelenloser Technokraten. Und der Wandel entzieht, so mag man hinzufügen, seiner Rentnerfigur ein wenig den Wurzelboden.

Sportlicher Schlußpunkt: Fußballfan Knebel, als Jugendlicher bei Hamborn 90 am Ball („Ganz gemächlich im Mittelfeld – wie Effenberg“), tritt auf Schalke zum Torwandschießen gegen einen anderen Revier-Komödianten, Piet Klocke, an. Sie treffen beide nicht.




„Tegtmeier“ lebt nicht mehr – Ruhrgebiets-Komiker Jürgen von Manger mit 71 Jahren in Herne gestorben

Von Bernd Berke

Für alle Auswärtigen war er die idealtypische Verkörperung des Ruhrgebiets-Kumpels: Jürgen von Manger, der mit 71 Jahren in Herne gestorben ist, erfand 1962 seine Figur „Adolf Tegtmeier“ – und verschmolz nahezu mit dieser Rolle.

Landauf landab verbinden die Menschen das Revier mit seinen Auftritten und glauben zu wissen, wie die Leute hierzulande reden. Was „Tegtmeier“ von sich gab, war allerdings niemals echtes Revier-Deutsch, sondern ein Kunstdialekt.

Tegtmeier war jener „kleine Mann“ von der Straße, der sich freilich bildungsbeflissen gab, sich möglichst gepflegt ausdrücken wollte – und dabei immer wieder in arge Sprachnöte geriet. Komischer Kontrast: Gerade wenn ihm eigentlich die Worte fehlten, war dieser Tegtmeier höchst mitteilungsfreudig. Und er hätschelte seine gesammelten Vorurteile, als seien es Weltweisheiten.

Mit Schiller trieb er besonders viel Schabernack

Besonders am hohen und pathetischen Ton eines Friedrich Schiller konnte sich dieser Tegtmeier regelrecht aufreiben. Unvergessen sein Bericht von einer „WaIlenstein“-Aufführung („Dat is von dem, der auch Schillers Räuber geschrieben hat“). Ähnliche Wirkung erzielte er mit eigenwilligen Deutungen von „Maria Stuart“ und ..Wilhelm Teil“.

Tegtmeier hatte natürlich auch das Patentrezept gegen jeden Bildungsballast parat: „Bleibense Mensch'“ empfahl er stets. Mit anderen Worten: Nur nicht zu weit abheben, alles halb so hoch hängen. Und das war nun wiederum ganz nach Art des Menschenschlags im Ruhrgebiet.

Jürgen von Manger stammte jedoch gar nicht aus dem Revier, er wurde am 6. März 1923 in Koblenz geboren. Seine Schulzeit erlebte er dann allerdings bereits in Hagen, wo er das Humanistische Gymnasium besuchte und im Jahr 1941 Abitur machte. Der Sohn eines Staatsanwalts studierte von 1954 bis 1958 in Köln und Münster Rechtswissenschaften, hatte aber zuvor schon erste Bühnenerfahrungen gesammelt, zunächst als Statist.

Nach einer soliden Schauspiel- und Gesangsausbildung wirkte er an den Bühnen in Hagen (bis 1947), Bochum (1947 bis 1950) und Gelsenkirchen (1950 bis 1963). Dabei spielte er auch unter dem legendären Bochumer Theaterchef Saladin Schmitt.

Die Markenzeichen gepflegt

Jürgen von Manger bekam im Theater zwar mitunter einige ernste Rollen, war aber schon bald als Spezialist für das Fach „Charakter-Komik“ gefragt.

Wie jeder bekannte Komiker, so pflegte auch Jürgen von Manger seine Markenzeichen. Da waren Schnauzbart und Kappe (die er angeblich wegen seiner „Maläste mitte Ohren“ trug), der immer irgendwie schiefgestellte, die Buchstaben geradezu genüßlich-quälerisch mahlende Mund, der so recht ahnen und mitfühlen ließ, wie Tegtmeier nach Worten rang, wenn er uns Gott und die Welt nach seinem Strickmuster erklären wollte; da war das listige Blinzeln unter den buschigen Augenbrauen, und da waren schließlich die immer wiederkehrenden Formeln und Floskeln wie das berühmte „Also äährlich!“

Hinter der etwas biederen Maskierung entfalteten sich manchmal ganz schön makabre Gedanken, zum Beispiel, wenn Jürgen von Manger einen seiner bekanntesten Sketche zum besten gab: den vom „Schwiegermuttermörder“. Dieser Mörder („Da hab‘ ich se gesäächt“) war weder teuflisch noch reumütig, sondern schilderte ganz beiläufig die Einzelheiten seiner Tat, so als gehe es um das Selbstverständlichste von der Welt. Es war übrigens eines der allerersten „Stücksken“ von Manger, mit dem er eigentlich nur die Wirkung beim Publikum testen wollte. Sie war durchschlagend, und er kam von der Figur nicht mehr los.

Makabre und peinliche Situationen

Manger ließ Tegtmeier fortan in alle möglichen und unmöglichen peinlichen Situationen geraten – von der Fahrschulprüfung („Hier hat die Omma Vorfahrt“) bis ins Eheinstitut (wo er eine Dame „mit dicke Oberaahme“ suchte), von der Delinquentenzelle bis in den Lehrgang für Unteroffiziere: „Womit wäscht sich der Soldat? – Mit Seife, Herr Unteroffizier! – Nein, mit nacktem Oberkörper.“ Tegtmeier geriet jedenfalls immer vom Regen in die Traufe, stolperte von einer Kalamität in die nächste. Doch er wurstelte sich immer irgendwie durch.

Großen Anklang fanden nicht nur Mangers insgesamt zwölf Langspielplatten, sondem auch seine Fernsehreihen wie zum Beispiel „Tegtmeiers Reisen“ mit gelegentlich hintersinnigen Plaudereien an den Orten des Massentourismus, wo er auch schon mal einen besonders schönen Kartoffelsalat und Übernachtungen in Jugendherbergen empfahl.

Im August 1985 erlitt Jürgen von Manger einen schweren Schlaganfall und war seither halbseitig gelähmt. Auch das Sprachzentrum wurde in Mitleidenschaft gezogen. Tapfer kämpfte er gegen die Krankheit an und hatte sogar schon bald wieder Pläne für neue Auftritte. Doch er mußte die Pläne aufgeben. Er hat sich nie wieder ganz erholt. Zuletzt lebte der Opern- und Antiquitäten-Kenner sehr zurückgezogen mit seiner Frau Ruth in Herne.




Kunst gefällig? Museen verleihen Meisterwerke – Mit Leasing könnten Institute den Etat aufbessern

Von Bernd Berke

Im Westen. Das „Phantom der Oper“ treibt seit Jahren in den Musical-Palasten der Welt sein Unwesen. Jetzt scheint es auch ein „Phantom der Museen“ zu geben – und es betätigt sich vorzugsweise im Ruhrgebiet. Die Rede ist von einem eigentlich pfiffigen Kunst-Leasing-Projekt, dessen Früchte aber noch nicht so recht sprießen wollen.

Zwei Frankfurter hatten die Idee: Ulrich Schanda und Reinhold Brunner (beide 35) dachten sich, es sei doch schade, daß so viele Kunstschätze in Depots vor sich hin dämmern. Statt dessen könne man sie (gegen Gebühr) an zahlungskräftige Kundschaft ausleihen. Beispiel: Ein Bild hat einen Versicherungswert von 100 000 DM. Will z. B. ein Unternehmer es in seine Geschäftsräume hängen, sind davon jährlich 10 Prozent Leihgebühr fällig, macht also 10 000 DM – je 5000 DM würden an die Vermittler Schanda/Brunner und ihre „ulyssis art broking GmbH“ sowie an das Geber-Museum fließen. Die Transportkosten gehen zu Lasten der Frankfurter Broker.

Eine verlockende Sache, besonders für Kunsthäuser des Ruhrgebiets, die so ihre schmalen Etats etwas aufbesgern könnten. Denn die Gebühren würden als Spenden oder Beiträge deklariert, so daß keine Stadt die Extra-Erlöse ohne weiteres vom Budget abziehen könnte. Kein Wunder also, daß man hierzulande besonders aufgeschlossen war und daß fast die Hälfte der beteiligten Museen im Revier zu finden ist: Das Städtische Museum Gelsenkirchen ist ebenso dabei wie die Kunsthalle Recklinghausen, das Märkische Museum Witten und das Osthaus-Museum in Hagen. Renommierte Häuser in Nürnberg, Mannheim, Hannover und Ludwigshafen vervollständigen die Liste der Interessenten.

Doch die ganze Sache „hakt“. Dr. Michael Fehr, Chef des Hagener Osthaus-Museums: „Die Idee ist ja ganz gut. Doch wir haben seit einem halben Jahr nichts mehr davon gehört. Das Projekt ist offenbar ,gestorben‘.“ Kein einziges Bild habe den Weg zu einem UNternehmen gefunden.

Die gleiche Auskunft bekam die WR bei der Kunsthalle Recklinghausen: „Die Industrie spielt wohl nicht mit.“ Das Sprengel-Museum in Hannover ist sogar „vorübergehend“ aus dem Verleiher-Pool ausgestiegen. Erst wenn sich Erfolge einstellen, will man wieder mitmachen.

Immerhin, hört man aus Hagen, will das „heute-Journal“ im ZDF über das Projekt berichten. Bis jetzt ist der Beitrag zwar noch nicht gelaufen, doch schöpft man neue Hoffnung, nachdem endlich auch der erste Bild-Transfer geklappt hat. Reinhold Lange vom Städtischen Museum Gelsenkirchen meldete Vollzug: Aus „seinem“ Fundus trat das Bild „Fliegende Formen“ des (nicht am Erlös beteiligten) 86jährigen Konstruktivisten Anton Stankowski die Reise nach Berlin an. Es schmückt nun einen Geschäftsraum der Firma Eternit. Lange: „Ein willkommener Zuschuß für uns.“

Vielleicht bleibt es also doch kein „Phantom“. Über 150 Kunstwerke sind mittlerweile im Angebot – mit Versicherungswerten zwischen 15 000 und 900 000 DM (Spitzenpreis: ein Bild von Max Pechstein). Die Quote der Leihgebühren bewegt sich zwischen 7 Prozent für die teuersten und 15 Prozent für die preiswertesten Arbeiten.

Kunst-Makler Reinhold Brunner beteuert unterdessen im Gespräch mit der WR die seriöse Geschäftsgrundlage. Vor einer eventuellen Leih-Aktion schaue man sich die Geschäftsräume der Unternehmer sehr genau an. Man überprüfe Klima-, Licht und Sicherheits-Bedingungen und ermittle, ob in den Zimmern geraucht wird und wann die Sonne durch welches Fenster scheint. Bei ausgesprochen teuren Werken rede man ausführlich über Bewachung und Alarmanlagen. Natürlich werde aus eine Extra -Versicherung abgeschlossen. Brunner: „Und falls die Museumsleute Bedenken haben, bekommen sie Zutrittsrecht“.

 




Endlich ein neues Museum für Gelsenkirchen

Von Bernd Berke

Gelsenkirchen. Seit Beginn der 60er Jahre bestand Bedarf, die Kunstsammlung Gelsenkirchens in angemessenem Rahmen zeigen zu können. Jetzt wird die Geduld belohnt: Mit einern großen Volksfest, das am Samstag um 11 Uhr beginnt, wird im Stadtteil Buer (Horster Straße 7) der 8,5 Mio. DM teure Neubau des Städtischen Museums eröffnet.

Damit findet eines der jüngsten Museen des Reviers (Gründungsbeschluß 1950) endlich eine würdige Heimstatt. Nahezu 60 Prozent der Bestände aus Klassischer Moderne und Gegenwartskunst können nach langem Magazin-Dasein der Öffentlichkeit präsentiert werden.

In Gelsenkirchen ist nicht etwa der große Wohlstand ausgebrochen: Ursprünglich als Kommunikationszentrum mit Museum und Bibliothek geplant, schrumpfte das Bauvorhaben angestehts leerer Stadtkassen. Auch mußte wegen der Baukosten ein Null-Etat für Neuanschaffungen in Kauf genommen werden. Museumsdirektor Reinhold Lange hofft, daß diese „Trockenlegung“ des Museums mit dem nachsten städtischen Haushalt ein Ende findet.

Der jetzt verwirklichte Museumsneubau (Nutzfläche über 2600 Quadratmeter) wurde mit einem Übergang an seinen Vorläufer, eine alte Villa, angeschlossen. Die Villa wird künftig vom Kunstverein für Wechselausstellungen genutzt. Den Reigen eröffnet am Wochenende die Künstlergruppe „JMBH“.

Das Eingangsforum mit Brunnen soll Besuchern die Schwellenangst vor dem Bildungsgut „Kunst“ nehmen. Einen ähnlichen Effekt erhofft man sich von Leuchtskulpturen (u.a. eine Neon-lnstallation von Kriwet), die weithin sichtbar nach draußen strahlen. Der Bau selbst windet sich mit gegeneinander versetzten Geschoßebenen, die im Innern Durchblicke gestatten und Querbezüge verdeutlichen, rund um den für Skulpturen geeigneten Museumsgarten, dessen Baumbestand erhalten blieb.

Das Untergeschoß beherbergt die Erd- und Kulturgeschichtlichen Sammlungen. Oben findet man auf mehreren Halb-Etagen die sehenswerte Kunstsammlung mit Schwerpunkten auf dem deutschen lmpressionismus (Liebermann, Slevogt, Corinth) und dem Expressionismus („Brücke“-Maler). Beispiele neuerer Kunst (z. B. Yves Klein, Gerhard Richter, Konrad Klapheck) dokumentieren, daß in Gelsenkirchen seit Mitte der 60er Jahre der Hauptakzent auf Werken der Zeitgenossen liegt.




Immer Kohlestaub auf dem Zeichenpapier – Künstler Alfred Schmidt arbeitete vier Monate lang unter Tage an einem Großbild

Von Bernd Berke

Gelsenkirchen. „Nimm lieber ’ne Schippe und verdien dir dein Geld richtig!“ Solche Schmähungen mußte Alfred Schmidt (53) über sich ergehen lassen, als er die ersten Male auf Zeche „Hugo“ in Gelsenkirchen-Buer einfuhr. Seit über 100 Jahren wird auf „Hugo“ Kohle abgebaut, doch ein Maler war noch nie vor Ort.

Alfred Schmidt ließ sich nicht verdrießen: Vier Monate lang war er jeweils mit der Mittagsschiebt unter Tage – Staffelei, Zeichenpapier, Rohrfeder und Tusche immer dabei. Schmidts Dauerstandort: Schacht V, Sohle 7, in 940 Meter Tiefe. Dort kommen praktisch alle 3500 Kumpel vorbei, die bei „Hugo“ unter Tage arbeiten.

Nach und nach gewöhnte man sich an den Künstler, der mit Helm, Stahlkappenschuhen, Schienbeinschutz und Geleucht einfahren mußte und die Schutzhandschuhe beim Zeichnen ablegte. Das Ergebnis der Ze(i)chenarbeit liegt jetzt, nach dem Riesenverbrauch eines Viertelliters Tusche, vor: Ein 2,40 Meter breites und 1,06 Meter hohes Bild auf Büttenpapier, bei dem kleinste Einzelheiten stimmen. Alfred Schmidt: „Da gehe ich jede Wette ein“. Seine Überzeugung: „Den Bergbau kann man nur dann richtig abbilden, wenn man mit unter Tage ist, wenn immer eine Schicht Kohlestaub auf dem Papier liegt. Da unten haben mir die Kumpel ständig mit Anregungen und Kritik geholfen.“

Das Bild kommt in die neue Filiale der Gelsenkirchener Stadtsparkasse, die im Schatten der Zeche „Hugo“ entstand und nach dem Bergwerk benannt wird. Wunschkundschaft: die Bergarbeiter. Vermutet Hermann Mähr (55), „Hugo“-Betriebsdirektor für Personal- und Sozialfragen: „Mancher wird Frau und KInder mit in die Filiale mitnehmen, auf das Bild zeigen und sagen: Da arbeite ich!“

Eine fast formatgetreue Kopie des Großbilds hing gestern im Zecheneigangsbereich nahe der Horster Straße. Immer wieder blieben Kumpel davor stehen, kommentierten fachmännisch, bewunderten die Detailtreue. Am kommenden Samstag will Schmidt (der vor der Düsseldorfer „Schickeria“ floh und in eine Marler Zechensiedlung umzog) die Kopie beim „GE-Spektakel“ vor dem Musiktheater im Revier zeigen.

Der Künstler, der seit 1975 ausschließlich Szenen aus dem Bergarbeiterleben darstellt und 1981 mit einem Bilder-Wagen 750 Kilometer weit quer durch die Zechensiedlungen des Reviers zog, „um dem einfachen Mann die Kunst nahezubringen“, steckt voller Pläne. „Möglichst bald“ will er in Bergkamen (Haus Aden / Grimberg III-IV) ein noch größeres Untertage-Werk beginnen. Schmidt: „Es gibt dort ein Füllort mit gewaltigen Ausmaßen.“ Schmidt will dort – er plant eine Masssenszene in Lebensgröße – vor allem Gesichter festhalten, die Gedanken und Gefühle des Bergmanns widerspiegeln.