Unterwegs ins Unerklärliche: Georg Kleins Erzählungsband „Im Bienenlicht“

Zum seinem 70. Geburtstag (29. März) legt uns Georg Klein einen neuen Band mit Erzählungen vor. Im Bienenlicht heißt die Zusammenstellung von achtzehn Texten, gegliedert in zwei Teile, die mit „Wachs“ und „Honig“ überschrieben sind.

In bester Tradition des phantastischen Erzählens lotet Georg Klein die Grenzen dessen aus, was mit Literatur möglich ist, und scheint sich in manchen der Texte noch einige verwegene Schritte tiefer ins Neuland vorzuwagen als in seinen bisherigen Romanen und Erzählungen.

Sich treu geblieben ist der Autor in seiner Vorliebe für das Skurrile, für das Traumhafte und Phantastische, in seinem Hang zu kunstvollen Verrätselungen, im Schaffen dichter, oft unheimlicher Atmosphären. Aus früheren Romanen und Erzählungen bekannte Themen und Motive tauchen auch in dieser Sammlung auf, zum Beispiel das Technische, die Apparate und die Symbiosen, die der Mensch mit ihnen eingeht. Technische Geräte werden gepflegt, liebevoll gewartet wie Wesen mit einer Seele. „In der Werkstatt hievten wir den gründlich geputzten Blasator vom Tisch. ‚Jetzt mach du. Dich ist er gewohnt.‘“

Vom Vertrauten ins Unerklärliche

Doch auch im Text Arbeit am Blasator darf man sich die Welt der Objekte nicht zu idyllisch vorstellen; die Atmosphäre kippt um ins Gruselige. Auf dem Kopfkissen der verstorbenen Ehefrau des leidenschaftlichen Bastlers befindet sich ein Fleck. Nicht, wie man es angesichts der zuvor eindringlich beschriebenen eisigen Temperaturen im Raum hätte erwarten können, „kaltfeucht, sondern eher lau, fast warm-feucht“ ist die Stelle auf dem Kopfkissen der schon vor Tagen Verstorbenen. Der Gast hatte sich zuvor vergewissert, dass nichts von der Zimmerdecke tropft.

Durch die nicht zusammenpassenden Temperaturen – der Kälte im Schlafzimmer des Witwers und der Wärme des Kopfkissens der Verstorbenen – führt uns der Autor aus dem Behaglichen ins Unerklärliche. Außer dem Wärme-Kälte-Empfinden sind es oft auch Gerüche, Aromen einer gruseligen Welt, die uns innehalten lassen. Die Verstorbene hat oft vor dem Einschlafen gelesen; sechzig Watt hatte die Glühbirne in der Nachttischlampe. „Am Lampenschirm kannst du den braunen Fleck sehen.“ Nach dem Zuklappen des Buchs, „meistens erst gegen Mitternacht, hat es immer schon angekokelt gerochen.“ Solche konkreten Beobachtungen machen der Reiz vieler der Texte aus, ohne dass die Geschichten realistisch daherkämen, eher mit der Eindringlichkeit eines nachlebenden Traumes.

Feindliche Dingwelt

Dinge können uns auch feindlich gegenübertreten. Das erlebt in der Titelgeschichte Im Bienenlicht der Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes an der Empfangstheke des Kanzlerinnenamtes. Kleine durchschlagstarke Kampfdrohnen, bei denen man an Ernst Jüngers Zukunftsroman „Gläserne Bienen“ aus dem Jahr 1957 denken könnte, sollen die menschlichen Personenschützer ersetzen. An seinem letzten Arbeitstag im Kanzlerinnenamt rebelliert der sich fast schon im Ruhestand befindende Mitarbeiter gegen diese Entwicklung mit Hilfe einer daheim im 3-D-Drucker erzeugten Kopie seiner Dienstpistole.

Symbiosen mit Maschinen und natürlichen Organismen

Wenn Mensch und Maschine nicht gerade aufeinander schießen, kommt es zumindest zu Missverständnissen mit unseren elektrischen Freunden, wie uns am Beispiel der eingeschränkten Kommunikation mit dem Pflegeroboter Roy in der Erzählung Das Kissen vorgeführt wird. Doch nicht nur mit der Technik geht der Mensch fragwürdige Symbiosen ein, auch mit Teilen der Natur. Die Allwurzler in der gleichnamigen Erzählung sind verdienstvolle Organismen, die sich vom Plastikmüll in den Meeren ernähren. Ihre Einsatzmöglichkeiten aber sind weitaus vielfältiger, wie der Erzähler in einer kalifornischen Spät-Hippie-Kommune feststellt. Zum Einsparen des kostbaren Wassers auf den Toiletten werden solche „Allwurzler“ auch an menschlichen Körperteilen gezüchtet. Bevorzugt dort, wo Ausscheidung zu Tage tritt, kommt es zu einer befremdlichen Intimität beider Lebensformen, und die Mitglieder der Gruppe tragen aus gutem Grund weite Kleidung.

Gründliche Überarbeitung für den Wiederabdruck

Allwurzler ist eine von vier Erzählungen, die bereits in der Literaturzeitschrift Sinn und Form veröffentlicht wurden. Doch alle Texte, die zuvor an anderer Stelle erschienen sind, wurden für den Band Im Bienenlicht erneut durchgesehen und teilweise umgeschrieben. Am deutlichsten lassen sich solche nachträglichen Eingriffe vielleicht in der Erzählung David zu Ehren feststellen, die als Edition 10 der Berliner Festspiele 2014 unter dem Titel „Der Wanderer“ erschienen war, damals zusammen mit Fotos des Filmemachers David Lynch. Die eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Fotos mit Details aus Fabriken in Berlin, Lodz und Orten in den USA verbinden sich symbiotisch mit Georg Kleins düsterer Erzählung über zwei Männer, die man sich als eine ernstere Version der Ghostbusters vorstellen kann und die in ähnlichen wie in den von Lynch fotografierten Fabriken ihr riskantes Handwerk ausüben. Gelernt haben sie ihren Kampf gegen die zerstörerischen Spukerscheinungen, „Wanderer“ genannt, von einem Lehrmeister namens David, der nun nicht mehr bei ihnen ist. Für die Aufnahme des Textes in die Erzählungssammlung hat der Autor noch einmal gründlich Hand angelegt; die Hinweise auf David Lynch, die in der Broschüre von 2014 schon durch die Fotos gegeben waren, treten dabei zurück, zugunsten anderer konkreter Benennungen, zum Beispiel des Zugangscodes zur Werkstatt der beiden Männer, der in der Erstfassung nicht aufgelöst wurde.

Es wird viel gearbeitet

Vergleiche zwischen den Erstveröffentlichungen und dem jetzt erschienenen Buch vorzunehmen, wäre eine lohnenswerte Aufgabe für die Herausgeber einer historisch-kritischen Ausgabe des Georg Kleinschen Werkes; für das Lesevergnügen von Im Bienenlicht darf die Mühe der Überarbeitung unsichtbar bleiben. David zu Ehren ist nicht die einzige Erzählung, die uns in die Welt hochspezialisierter Arbeit führt. Kunstfertig und bienenfleißig sind die Menschen in Im Bienenlicht. Oft geht es um Kunst in ihren verschiedenen Spielarten, und manche der Erzählungen weisen in die Gattung der Künstlernovelle. Handwerkliches Können wird zum Thema in Wie es gemacht wird oder in Junger Pfau in Aspik, in Die Kunst des Bauchmanns oder in Der ganze Roman.

„Hochkultur“ und Kunsthandwerk

Auf einen Ausflug in die Welt der Musik nimmt uns der Erzähler in Die Melodika mit. Ein Komponist Neuer Musik, auf dessen Opus magnum die Musikwelt gespannt wartet, mag einige Ähnlichkeiten mit Hans Werner Henze aufweisen, wenngleich die vom Autor gelegten Fährten schnell wieder vom Verdächtigten wegführen. In der Ausgabe von Sinn und Form aus dem Jahr 2013 (Fünftes Heft), in der Die Melodika erstveröffentlicht wurde, bezeichnet Ina Hartwig in einem längeren Aufsatz Georg Klein als einen „Vermeidungsartisten“. Doch nicht nur, was gesellschaftlich weithin als hohe Kunst angesehen wird, steht im Zentrum der Erzählungen. In Die lustige Witwe geht es beispielsweise um einen Heimatabend mit deutschem Liedgut in einem Gasthof, und besonders eindrucksvoll werden meisterliche Architektur und Holzschnitzerei in der Erzählung Lindenried einander gegenübergestellt.

Die erste Autobahnkirche in Deutschland

Der verstorbene Onkel des Erzählers hatte als junger Architekt den Auftrag zum Bau der ersten Autobahnkirche in Deutschland erhalten; es blieb der einzige Sakralbau des großen Baumeisters, der „zeitlebens an nichts“ glaubte. Hinweise auf die historisch erste Autobahnkirche – ihre Nähe zur Stadt „A.“ (Georg Klein wurde 1953 in Augsburg geboren), die teilweise parallel zur Autobahn verlaufende Bundesstraße und auch die gemeinsame Endung „-ried“ im Ortsnamen lassen auf die Autobahnkirche „Maria, Schutz der Reisenden“ an der A 8 München–Stuttgart bei der Anschlussstelle Adelsried schließen. Dann aber enden schon die Gemeinsamkeiten zwischen möglichen Kindheitserinnerungen des Autors und der Fiktion.

Architektonisch hat die von Georg Klein ausgedachte Kirche in Lindenried mit der von Raimund von Doblhoff ab 1956 gebauten und im Oktober 1958 geweihten ersten Autobahnkirche nichts gemein. Vom Umbau einer ehemaligen Tankstelle mit denkmalgeschütztem geschwungenem Dach kann bei der tatsächlichen Kirche ebenso wenig die Rede sein wie von den Robinienstämmen, die den Innenraum der fiktiven Kirche gleich Säulen gliedern. Keine Autofiktion lesen wir, sondern eine gelungene Künstlernovelle, bei der es um die Anerkennung des jungen Holzschnitzers durch den erfahrenen Architekten geht.

Ideales Lebensende?

Die Methode, eine konkrete biografische Situation aufzugreifen und sie sehr schnell in pure Phantasie zu verwandeln, wendet Georg Klein auch bei seinem Text Herzsturzbesinnung an. Tatsächlich saß Georg Klein im Januar 2019 in der Akademie der Künste auf dem Podium – anlässlich einer Veranstaltung zum 70-jährigen Jubiläum der Literaturzeitschrift Sinn und Form. Ähnlichkeiten mit den anderen am Podiumsgespräch Teilnehmenden gibt es hingegen nicht, vor allem erlitt niemand auf dem Podium einen „Herzsturz“, wie Georg Klein dieses Phänomen als eine pandemisch sich ausbreitende, unvermittelt auftretende Todesart beschreibt, bei der sich das Herz unblutig und für den Betroffenen schmerzfrei durch die Haut nach außen stülpt und die Wahrnehmung dieses Vorgangs „kaum von einem Magendrücken nach einer überreichlichen Mahlzeit“ zu unterscheiden ist – „ganz zuletzt ein helles Brennen, mittig hinter dem Brustbein.“ Ein aus der Sicht des Erzählenden möglicherweise ideales Lebensende.

Nietzsches „Zeitreisen“

Ein biografischer Ausgangspunkt ist in Georg Kleins Erzählungen nie mehr als ein Ideengeber zu einer sich bald ins Phantastische ausweitenden Geschichte. Die Erzählung A. Zett beginnt mit einem 16-jährigen Gymnasiasten, der 1969 auf einem Friedhof einen älteren Drogenfreak kennenlernt, der lange Passagen aus dem Werk Friedrich Nietzsches aufzusagen weiß, jedoch behauptet, Nietzsche, der die Kunst des Zeitreisens beherrsche, habe sie von ihm übernommen, nicht umgekehrt. Im weiteren Verlauf beweist dieser A. Zett ein erstaunliches Geheimwissen, mit dem er dem Erzähler – nun nicht mehr ganz so jung – immer weitere Zugeständnisse abnötigt. Auf drogenähnliche Erfahrungen spielt auch Die Früchte des zweiten Baumes an. Für eine Halluzination könnte man die bewegte Figur in einer Walnusshälfte halten, Frucht eines Baumes im Garten des Cousins Gunnar. Freilich bietet Georg Klein für solche ins Unwahrscheinliche, ja ins Unmögliche, greifenden Phänomene niemals realistische Erklärungen an. Im Gegenteil, einer seiner Protagonisten wird geradezu wütend, wenn jemand ihm seine Träume „vernünftig“ erklären will – so in Wein und Brot.

Gegen Traumdeutung und Interpretation

In der bereits 2005 in [SIC] – Zeitschrift für Literatur Nr. 1 (Aachen, Berlin) erschienenen Erzählung Wein und Brot besucht ein jüngerer, nicht erfolgreicher Schriftsteller den von ihm verehrten älteren, von seinem Ruhm zehrenden, Kollegen. Der große Literat vertraut ihm einen Traum an, den der übereifrige Verehrer ihm sofort erklären möchte, womit er dem Traum jeden Zauber rauben würde. „‘Unerhört!‘, brüllt ihn der Alte da an und fegt, damit der Gast ja kein weiteres Wort wage, Wein und Gläser vom brotlosen Tisch. Mit einem Schreiberling, der so erbärmlich, der so armselig wenig vom Träumen verstehe, wolle er nichts weiter zu schaffen haben, und er verweist den Adepten für immer des Hauses.“

Georg Klein gehört einer Generation an, in deren Jugend Susan Sontags wirkungsmächtiger Essay Against Interpretation (1964) die Welt der Kunst und die Kunstkritik erschütterte. Susan Sontags Appell, ein Kunstwerk sinnlich zu erfahren und nicht mit den (damals gängigen) Methoden der Kritik und Wissenschaft zu traktieren, und die heftige Reaktion des älteren Schriftstellers in Georg Kleins Wein und Brot auf den allzu sehr Bescheid wissenden jüngeren Adepten könnten gleichermaßen eine Warnung sein, in der Literatur alles erklären zu wollen.

Der Mensch ist genial, wenn er träumt, und Georg Klein hat immer schon eine Liebe zum Surrealen und eine hohe Affinität zum Reich der Träume bewiesen. Wie in allen seinen Büchern kann auch in Im Bienenlicht die Distanz schaffende, nicht alltägliche Sprache, mit der Georg Klein seine Welten baut, genossen werden. Seine Kunst, sich in sicheren Schritten über unsicheres Terrain zu bewegen, ist zu bewundern. Auch aus seinem neuesten Erzählungsband dürften manche Bilder und Stimmungen lange nachwirken.

Georg Klein: „Im Bienenlicht“. Erzählungen. Rowohlt, Hardcover, 240 Seiten, 24 Euro.




Bleibt geheimnisvoll: Georg Kleins Roman „Bruder aller Bilder”

Wer anhebt, einen Mystery-Roman zu lesen, erwartet nicht die Auflösung eines Rätsels. In diesem Genre wirken in der alltäglichen Welt geheimnisvolle Kräfte; manche Figuren sind mit der Fähigkeit ausgestattet, sich in das Innere einer anderen Seele einzuschleichen; mitunter besucht der Tod höchstpersönlich die Akteure, führt sie in Zwischenreiche, in denen sich die Lebenden von den Toten nicht immer unterscheiden lassen. Wer Mystery-Romane liest, möchte die Grenzen des Verstehens ausloten und ist geneigt, sich mit dem Unvorstellbaren anzufreunden.

Selbstverständlich schreibt Georg Klein keine Genre-Literatur, er hat sich in der Vergangenheit aber immer wieder Themen und Formen unterschiedlicher Gattungen bedient, um sie in die Hoch-, und es wäre nicht übertrieben, von Höchstliteratur zu sprechen, einzuspeisen. Er beherrscht das Spiel mit Genres wie dem Agentenroman (Libidissi, 1998), der Detektivgeschichte (Barbar Rosa, 2001), dem Horrorroman (Die Sonne scheint uns, 2004), dem Arztroman (Sünde Güte Blitz, 2007), der Science-Fiction (Die Zukunft des Mars, 2013, und Miakro, 2018).

Sein neuestes Werk Bruder aller Bilder dürfte auch ein Stück weit als Heimatroman durchgehen. Wird der Name der Stadt im Roman zwar nicht genannt, gehört seine Identifizierung doch nicht zu den vielen großen und kleinen Rätseln, mit denen das Buch aufwartet. Durch detailreich beschriebene und benannte Schauplätze wie das inzwischen unter Denkmalschutz gestellte Rosenaustadion oder der Siebentischwald am Stadtrand lässt sich Georg Kleins Geburtsstadt deutlich erkennen – wenn auch, wie schon in seinem Roman unserer Kindheit (2010), stellenweise ins Surreale verzerrt, ins Phantastische gesteigert.

Vom Vertrauten ins nicht mehr Vertraute

Zunächst holt uns der Autor in einer leicht nachvollziehbaren Situation ab. Moni, eigentlich Monique, doch diesen Namen überlässt sie gern ihrer Katze, hat ein Praktikum bei einer Lokalzeitung absolviert und daraufhin ihren ersten Ein-Jahres-Vertrag erhalten. Ihre Artikel in der Allgemeinen zeichnet sie mit dem Kürzel MoGo, und so nennt sie auch der Autor. Das Ressort, in dem sie eingesetzt wird, hat jüngst eine Erweiterung erfahren, die etwas an die Unart erinnert, mit der verschiedene deutsche Landesregierungen das Wort „Kultur“ in einem Ministerium einbetten, in diesem Fall heißt das Ressort „Sport, Kultur und Leben“. Gerade der letzte Begriff bereitet dem Redakteur Kopfzerbrechen, und MoGos Artikel über Trachtenmode verheißt ihr eine Chance auf eine längerfristige Einstellung. Zuvor wird sie aber von einem größeren Platzhirsch des Blattes, dem allseits beliebten Sportreporter Addi Schmuck, fünf Tage gebucht, für einen Auftrag, dessen Ziel unbekannt bleibt. Soweit die überschaubare Ausgangssituation. Aber wohin wird der Autor uns Lesende und seine Protagonistin MoGo führen? Das lässt sich auch nach zweihundert Seiten keineswegs absehen.

Eine Halle am Stadtrand

Geheimnisvoll wird es schon bald, wenn Addi Schmuck die junge Kollegin zu einer Halle am Stadtrand mitnimmt, wo er sie einem Mann vorstellt, der ebenso wie Addi bereits „ein arg abschüssiges Alter“ erreicht hat. Sein Name wird ihr und uns Lesenden vorenthalten; Addi nennt ihn den „Auskenner“, aber auch diese Bezeichnung sollte MoGo besser nicht in seiner Gegenwart benutzen. Womit er sich auskennt? Unter anderem mit Tauben, Fledermäusen, Eulen, Ulmen, Fernbedienungen, Münztelefonen; doch darin allein, vermuten wir bei fortschreitender Lektüre, kann sich sein legendärer Ruf als „Auskenner“ nicht erschöpfen. Über Militärstiefeln, die er offen und ohne Socken trägt, folgt eine dreiviertellange Lederhose, und zum Ausgehen zieht er über das weiße Unterhemd eine alte Fliegerjacke mit pelzverbrämtem Kragen. Seine „erst in wenigen Strähnen graumelierte, fahlblonde Mähne“ korrespondiert „auf eine schwer durchschaubare, irgendwie untergründig verwandtschaftliche Weise“ mit Addis „bis an die Grenze der Kahlheit geschorenem Schädel.“ Die hier nur angedeutete Verwandtschaft konkretisiert sich im Verlauf der Handlung durch eine gegenseitige Anrede mit „Bruder“ und „Brüderchen“. Ist der Auskenner der Bruder, den wir im „Roman unserer Kindheit“ als einen begnadeten Witzeerzähler kennenlernen durften?

Schweigsame Protagonistin

Während sich die beiden Männer unterhalten und immer wieder ins Englische wechseln, um sich gegenseitig Titel und Zeilen aus älteren Songs, beispielsweise der Beatles oder der Doors, zuzurufen, sind MoGos Gedanken woanders. Überhaupt redet sie im gesamten Roman so wenig, dass der Rezensent irgendwann zurückblättert, um sich ihrer Sprechfähigkeit zu vergewissern. Doch, ja, sie hat ihren Nachbarn – in wörtlicher Rede wiedergegeben – nach der Uhrzeit gefragt. Aber meistens erraten die sie umgebenden Menschen ihre Gedanken, auch ohne dass sie etwas aussprechen muss. Das gilt nicht nur für Addi und den Auskenner; auch Frauen wie die Eigentümerin der Allgemeinen (mit einem Namen scheinbar adeliger Herkunft), die stets gut informierte Redaktionssekretärin Elvira Küppers oder MoGos vor kurzem gestorbene Mutter scheinen immer zu wissen, was gerade in ihrem Kopf vorgeht.

Elemente der Gattungen Horror und Mystery

Verschiedene aus Filmen und Literatur bekannte Elemente der Gattungen Horror und Mystery weiß Georg Klein für sich zu nutzen. Da wäre zunächst die Albtraumbegabung der Protagonistin; ferner die den Menschen oft aggressiv begegnenden Vögel, seit je geheimnisvolle Wesen zwischen Himmel und Erde; Maisfelder etwa sind in Horrorfilmen Legion, und ein solches steuert auch in Bruder aller Bilder teilweise die Geschicke von Verkehrsteilnehmern; manchmal trennt nur ein Vorhang die für wirklich gehaltene Davor-Welt von der Twilight Zone dahinter – so auch in der vom Auskenner bewohnten Halle.

Wie Addi und der Auskenner in Zitaten reden, möchte der Rezensent bei seiner Lektüre dem Autor permanent Filmtitel zurufen, etwa Wait Until Dark, wenn beispielsweise in der finsteren Halle, deren Lichtschalter die Protagonistin nicht findet, das Licht aus dem Kühlschrank als einzige Beleuchtung dient. Doch Georg Klein inszeniert, wie wir es von ihm kennen, stets seinen ganz eigenen Carnival of Souls. Der Autor verfügt über subtile Mittel, seine Leserinnen und Leser auf die Folter zu spannen.

Immer wieder Medien

In seinem Werk spielen immer wieder Medien – zunächst in einem technischen Sinne – eine wesentliche Rolle. In Bruder aller Bilder sind sowohl Addi als auch der Auskenner von mehreren ausrangierten Kommunikationsmedien umgeben, wie einem Münzfernsprecher aus einer längst demontierten Telefonzelle, einem Anrufbeantworter mit Magnetband-Kassetten, einem Videorekorder oder einem klotzigen Röhrenfernseher. In der vom Auskenner ausgebauten Wohnhalle gibt es keinen Mobilfunkempfang, was von seinem Bewohner eher als ein Segen denn als Manko empfunden wird. Auf der 2007 von Thomas Böhm und Klaus Sander aufgenommenen Doppel-CD Schlimme schlimme Medien (supposé Verlag) äußerte sich Georg Klein über die „Unkontrollierbarkeit des Telefons“: „Ich halte es für möglich, dass aus dem Telefon das absolut Unerwartete kommt, und wenn ich jetzt das Telefon abhebe, und es würde sich zum Beispiel eine verstorbene Person melden, ich glaube nicht, dass ich wirklich überrascht wäre.“ In seinem neuen Roman ist es eine gläserne Fernbedienung, über die eine ähnliche Kontaktaufnahme erfolgt.

Der „dichte Film“

Der Auskenner erweist sich als äußerst hilfreich in der Handhabung des Mediums, das MoGos Mutter den „dichten Film“ nennt. Georg Kleins Leserinnen und Leser könnten sich an das „weiche Glas“ der Bildschirme erinnert fühlen, in denen die Männer im „mittleren Büro“ des Romans Miakro ihr Weltwissen ertasten. Vielleicht gleicht der „dichte Film“ auch der „Hefeseele“, dem Teig, der nie tot sein darf, aus der von Addi Schmuck bevorzugten Bäckerei, in der MoGos lange vor der Mutter verstorbener Vater seine Meisterschaft unter Beweis gestellt hatte.

Neben- oder Miteinander der Toten mit den Lebenden

Unaufgeregt emotional baut der Autor seinen bilderreichen Roman auf; eine Erzählweise, die eine Stimmung beschreibt, mehr als dass sie nach thematischer Einheit sucht. Georg Klein benötigt dazu nicht die Handlungsspannung eines Thrillers oder Horrorfilms. Die energetische Aufladung speist sich aus anderen Quellen und entlädt sich beispielsweise bei der Übergabe eines Schlüssels in der legendären Backstube. In seinem Tanz der toten Seelen gibt es nicht das Böse, das bekämpft und besiegt werden muss; kein Tontaubenschießen auf Zombieköpfe. Erst recht nicht geht es – wie beispielsweise im Krimi – darum, eine kurzfristig aus den Fugen geratene Ordnung am Ende wiederherzustellen. Es herrscht vielmehr ein eher einvernehmliches, wenn auch oftmals mit beträchtlicher Verstörung oder zumindest mit einem gewissen Fremdeln sich vollziehendes Neben- oder Miteinander der Toten mit den Lebenden. Wie wir es aus weltweit verbreiteten Formen der Ahnenverehrung kennen, wohnen im Jenseitigen unsere Verbündeten, die uns mit diskreten Hinweisen vor größerem und kleinerem Übel beschützen möchten, so auch MoGos verstorbene Mutter.

Abgabe der Kontrolle an die Sprache

Georg Klein erzählt das alles mit großer Selbstverständlichkeit, als sei Schreiben die Abgabe der Kontrolle an die Sprache. Wer könnte sagen, welche der vielen im Roman angelegten Vorzeichen in falsche Fährten mündeten? Nicht einmal nach Ende der ersten Lektüre haben wir Gewissheit. Als Erfolgsgeheimnis für Addi Schmucks Sportkolumnen hatte der Leiter der Redaktion „Sport, Kultur und Leben“ die Formel gefunden: „Sehnsucht plus Wehmut plus X“. Bei Georg Kleins Roman Bruder aller Bilder handelt es sich um eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Bleibt am Ende vieles unbeantwortet? Macht nichts. Das Leben ist kein Rätsel, das man lösen muss.

Georg Klein: „Bruder aller Bilder. Roman. Rowohlt Verlag, 270 Seiten, 22 Euro.




Entzifferung einer fremden Welt: Georg Kleins Roman „Miakro“

Miakro – der Romantitel lässt vermuten, dass es um eine Verschmelzung von Mikro und Makro gehen könnte, doch beim Lesen lassen die bestätigenden Indizien auf sich warten. Wie überhaupt die Ungewissheit, das Mutmaßen und Mitdenken zu den beglückenden Wesenheiten dieser Lektüre gehören.

Den Anfang bildet ein Tableau einer Arbeitswelt, das zugleich mehr zu sein verspricht. Im „Mittleren Büro“ stehen Männer wie die Musiker der Gruppe Kraftwerk an ihren Pulten, allerdings in hellblauen Overalls, die Hände in die obersten der fünf Schichten ihres Bildschirms eingetaucht, und interpretieren die von rechts nach links vorüberfließenden Bilder und Zeichen. Ihr gesamtes Weltwissen beziehen sie aus dem „weichen Glas“.

Büroarbeit als Höhlengleichnis

Es sind unscharfe, schemenhafte Bilder; und ähnlich wie die Gefangenen in Platons Höhlengleichnis die auf der Wand vorüberziehenden Schatten zu deuten versuchen, wollen auch die „höchstnützlichen Idioten“, wie sie genannt werden, sich einen Reim darauf machen, was die Welt ist. Worin ihre Nützlichkeit besteht, ob Karl Marx ihr Tun als Arbeit in einem produktiven Sinne definiert hätte, bleibt fraglich. Vermutlich würde eine Consulting-Firma ihre Arbeitsplätze wegrationalisieren. Aber sie deuten, die „Büroler“. Sie versuchen die Welt – die Außenwelt ebenso wie die eigene Binnenwelt – zu verstehen. Nicht zuletzt, weil ihr Überleben davon abhängt, wo das Glas ihnen den nächsten Nährflur aufzeigt.

Nährflure und Materialschächte

Gab es im Ritterroman Witiko von Adalbert Stifter die nahrungtragende Flur, ist es im Roman von Georg Klein der Nährflur. Gewöhnlich sondert die bleiche Wand „Dicksprossen“ ab, seltener Süßkartoffeln in unterschiedlichen Graden der Genießbarkeit. Aber auch nicht-essbare Dinge werden in ständig neuen sich öffnenden und schließenden Materialschächten „ausgewandet“, sozusagen von der organischen Wand geboren, seien es hellblaue Overalls oder die begehrten Sandalen, sei es eine Gabel, die später ein Eigenleben führen wird, oder ein Schockstock als Waffe, der im weiteren Verlauf der Handlung gegen eine Maus eingesetzt wird, mit möglicherweise fatalen Folgen, nicht nur für die Maus.

Die von silbernem Haardraht durchwucherte weiche Wand versorgt die sich in ihren Kojen erholenden Arbeiter über „Zapfstummel“, an denen sie jederzeit saugen können, mit Trinkwasser. Auch ihre Arbeitstische sind Organismen – zehn Tage benötigt solch ein Pult mit weichem Glas, bis die schrumpeligen Knospen auf Hüfthöhe herangewachsen sind, und je nach dem Bauchumfang ihrer Bediener, der aber nur bei einem von ihnen ausgeprägt ist, bildet sich eine Mulde im Display. Als ein totgeglaubter, auf einem früheren Streifzug zur Materialbeschaffung wie in einer Art rückgängiger Geburt von der Wand eingesogener Kollege über das „weiche Glas“ Lebenszeichen sendet, bricht aus dem Büro eine Vierergruppe zu einer Expedition an den Rand der „wilden Welt“ auf, um den Verschollenen zu suchen.

Aufbruch zur Heldenreise

Für den ehemaligen Büroleiter Nettler, den erfahrenen Guler, den kräftigen Axler und den schönen Schiller beginnt, sobald sie die Schleuse mit den blauen Blitzen hinter sich gelassen haben, eine ritterliche Quest, eine Âventiure oder Heldenreise, wobei sie sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die fremde Welt bewegen, als müssten sie sich nur rückbesinnen. In jeder Situation wissen sie, was zu tun ist, ohne zu wissen, woher sie ihr Wissen beziehen. Allen voran ist es Guler, der sich an ein früheres Stadium, ein vorausgegangenes Leben vor dem Eintritt ins Mittlere Büro erinnert; konkret ist es das Schulungsjahr im „Hohen Büro“. Er, der versierte Materialkundler, ein guter Diagnostiker der Zustände, muss immerzu achtgeben, sich nicht durch vorlautes Bescheidwissen zu verraten.

Die „wilde Welt“ ist die Domäne der Beute jagenden „Volksfrauen“, aber auch der in langen Kutten gekleideten „Wandler“, eine Art Kaste von Heilern, hochspezialisierten Technikern oder Schamanen, die jedoch unfähig sind, das Mienenspiel ihres Gegenübers intuitiv zu erfassen. Einmal bringen sich die vier Ausreißer in den Genuss einer Flasche aus dunkelgrünem Glas, die sie einem schlafenden Wandler entwenden. Das Trinken des Inhalts ruft bei ihnen die verschiedensten Reaktionen hervor: Heiterkeitsausbrüche durch wortloses Verstehen, das Bedürfnis nachzudenken, Regression ins Krabbelalter, eine besondere Aufmerksamkeit für das blaue Licht und überhaupt veränderte Sinneswahrnehmungen, oder auch wie bei Guler Schwatzlust oder Neugier, „die das Maß des bürolich gewohnten Wissenwollens“ unangenehm überschreitet.

Über einen Aufzug gelangen sie in das dritte Stockwerk – wie leicht lässt sich im stumpfen Spiegel des Aufzugs das „E“ für Erdgeschoss, wohin sie eigentlich wollten, mit einer Drei verwechseln. Sie fahren jedenfalls nach oben, in eine Welt, wo ihnen die wirklichen Dinge begegnen, die sie bislang nur als unzureichende Abbilder von ihren Bildschirmen kannten. „Breitbeinig stehen sie da, genießen unübersehbar, dass alles, restlos alles um sie herum verheißt, auf eine andere Art präsent zu sein.“

Papiertaschentuch in der Ur-Jeans

Zunächst begegnet ihnen ein Stück Laminat, in der Außenwelt als Pseudoholz oder Falschholz bezeichnet. Von Nettler aber wird der ihm zuvor nur als unvollkommenes Abbild begegnete Gegenstand weihevoll wie ein Kultobjekt angesprochen. In einem Umkleideraum öffnen sie einen Spind, finden einen Pullover. „Dann greifen Nettlers Finger nach der Hose, die, ebenso ordentlich gefaltet wie dieser, unter dem Wollpullover gelegen hat. Ihr Stoff ähnelt dem ihrer Overalls, ist aber nicht ganz so glatt, ihr Blau ist ungleichmäßig dunkel, man könnte glauben, die Zeit, in der sie sich um die Hüften und Schenkel ihres Trägers spannte, hätte mit einem ihr eigenen Durst an gewissen Stellen einen Teil der Farbe wie eine Flüssigkeit herausgesogen.

Findet er dann in einer Tasche des bestaunenswerten Urbilds einer Blue Jeans – sozusagen der Jeans an sich – ein Papiertaschentuch, wird ihm wie durch platonische Anamnesis sogleich der Verwendungszweck klar, und er, der ebenso wenig wie seine Kollegen in der hermetischen Bürowelt auch nur den Anflug einer Krankheit kennengelernt hat, schnäuzt sich vor den Augen der ihn entgeistert angaffenden Kameraden. Manchmal verdankt es sich aber auch einem Unfall, wenn einem von ihnen „eine Rückschau in ihr Herkommen glückt“.

Ein eher unverbindliches Sterben

Im oberen Stockwerk stößt die Gruppe an die Grenze zur Außenwelt. Nun wechselt die Perspektive; eine mit militärischem Gerät ausgestattete Truppe observiert ein Objekt, ein quaderförmiges Industriegebäude, das von Riesenpilzen mit bläulichen Kappen durchwirkt ist – ein beängstigendes Wuchern, das mit einer ganzen Hundertschaft bekämpft werden muss. Frau Fachleutnant Xazy, die zugleich Naturkontrollagentin ist, erweist sich als eine toughe und kompetente Vorgesetzte, die vor dem Alleingang in das sich bedrohlich ausformende Objekt, das „Unding“, nicht zurückschreckt.

Zuvor hatte sich ein kleiner Stoßtrupp vorgewagt, der, auch was die Namen der Beteiligten betrifft, in einer verzerrten Spiegelung der anderen Gruppe ähnelt, die ihnen aus dem Inneren des organischen Baus entgegenkommt. Obwohl zahlreiche Todesopfer zu beklagen sind, kann nicht behauptet werden, hier würde ein Krieg mit allen seinen Gräueln geschildert. Gestorben, wenn überhaupt, wird eher unverbindlich wie in Computerspielen.

Der Roman ist jedoch keine rein gedankliche Versuchsanordnung. Neben allem erlösenden Lachen, das die abstruse Handlung, aber auch die vielen geglückten Formulierungen bei einer Vielzahl der Leserinnen und Lesern auslösen dürften, wird auch gefühlvoll eine subtile Erotik angedeutet – zwischen einigen der Männer, zwischen dem Bürovorsteher und einer der „Volksfrauen“; in der Region der äußeren Welt auch zwischen Frau Fachleutnant Xazy und dem ihr untergebenen Hauptmann Blank. Aber: „Das Geschlecht hat sich im Griff“ – wie sich Guler, alias Guhl, an einen der während seiner Schulung im Chor gebrüllten Merksätze erinnert. Vielleicht ließe sich auch die Liebe in Miakro als platonisch bezeichnen.

Langsames Lesen lohnt sich

Miakro lädt ein, ein fremdes System, das dem unseren womöglich nicht so unähnlich ist, schrittweise zu verstehen. Tauchen, verbunden mit einer „Flussverlangsamung“, einzelne Buchstaben im Bilderstrom des „weichen Glases“ auf, ist bei den Bürolern hohe Konzentration gefordert. Parallel dazu sind in der etwa ab der Mitte des Romans beschriebenen Außenwelt die Bibliotheken zwar mit einigen Büchern ausgestattet, aber das systematisch gepflegte Vorlesen der mit wenigen Wörtern und hilfreichen Bildern bedruckten Buchseiten geht nur mit Improvisationskunst vonstatten. Die fünfblättrige Kladde mit einem Einband aus dünnem Holz gilt bereits als Herausforderung.

Möglicherweise steht die Entzifferung der Welt, Wort für Wort – mühsames Buchstabieren ist kein neues Motiv in Georg Kleins Romanen; man denke an Die Sonne scheint uns – als Metapher einer Leseempfehlung auch für Miakro. Langsames Lesen lohnt sich, Zurückblättern fördert Erkenntnisse, die im schnellen Lesefluss unterzugehen drohen.

Dem reduzierten Wortschatz der „Büroler“ (bei Tieren etwa kennen sie allenfalls die Gruppen wie Vögel oder Fische, nicht aber Gattungen oder Arten) setzt der Autor einen immensen sprachlichen Erfindungsreichtum entgegen. Hinreißende Formulierungen laden ein, sie sich auf der Zunge zergehen zu lassen, wäre da nicht zugleich der starke Sog der Erzählung, der uns in die Handlung hineinzieht, tiefer in die Dekodierung des rhizomartigen Baus, des wuchernden Pilzes oder der Innenansicht eines Gehirns.

Avancierte Technik geht in dieser Welt mit Archaismen einher, beispielsweise bei den Längenmaßen, die sich am ungefähren Vergleich mit Körperteilen orientieren. Befehle spielen eine große Rolle, sowohl im Sinne von Programmierung als auch im Militärischen. Dabei herrscht eine Art höherer Gerechtigkeit.

Das Staunen über die ersten Dinge

Als Dystopie gelesen, würde der Roman wenig Schrecken bereithalten. Eher entsteht der Eindruck, es folgten alle Wesen und Dinge ihrem eigenen Programm, im Sinne – um einmal von Platon zu Aristoteles zu springen – einer Vorstellung von Entelechie, also der Eigenschaft von Individuen, ihr Ziel (Telos) in sich selbst zu tragen. Es ist das Staunen über die ersten Dinge, die Georg Klein die Leserinnen und Leser miterleben lässt. Wie es an einer Stelle, aus der Perspektive eines „Wandlers“ gesprochen heißt: „Vor allem ihrem Adjutanten, der so eindrucksvoll staunen konnte, hätten Xazy und wir, die das Selber-Staunen noch Schritt für Schritt erwerben müssen, ein Hiersein und damit eine weitere Innigkeit gegönnt.

Der Autor verschafft uns viele solcher Innigkeiten. Denn was dem Suchtrupp aus dem Mittleren Büro bei der Konfrontation mit der Außenwelt widerfährt, und umgekehrt der Außenwelt mit dem unheimlichen Wesen, dürften wir mehr oder weniger alle irgendwann zum ersten Mal erlebt haben oder noch erleben. Wie eine erkenntnisbegünstigende Substanz hilft Georg Kleins Roman der Wiedererinnerung auf die Sprünge. Wir, die wir verstehen wollen, deuten im besten Sinne verwundert, was der sanfte Meister uns zu sagen hat.

Georg Klein: „Miakro. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek. 336 S., 24 Euro.




Viel Steine gab‘s – Georg Kleins Roman „Die Zukunft des Mars“

Wenn neben dem literarischen Hochgenuss ein zweiter Grund genannt werden müsste, warum sich die Lektüre von Georg Kleins neuem Roman „Die Zukunft des Mars“ unbedingt lohnt, dann vielleicht, weil wir durch ihn die „Gute Alte Zeit“, in der wir heute leben, neu schätzen lernen könnten.

Vladimir Nabokov hatte in Stadtführer Berlin einen Sinn schöpferischer Literatur darin gesehen, „alltägliche Dinge so zu schildern, wie sie sich in den freundlichen Spiegeln künftiger Zeiten darbieten werden.“ Georg Klein verfügt über diesen besonderen Blick auf das kuriose, später sicher einmal museumswürdige Spielzeug, mit dem wir uns heute vergnügen. Oder auf das Stückchen Weihnachts-Geschenkpapier, das sich in einem unzugänglichen Gebiet der Marsoberfläche verliert. In „Die Zukunft des Mars“ ist unsere Gegenwart längst Geschichte geworden, und wir Menschen von heute sind die Bewohner einer legendären, einer untergegangenen Welt.

978-3-498-03534-1.jpg.666368Anstatt aber wie die Rezensentin im Feuilleton einer überregionalen Tageszeitung von einem „friedfertig pessimistischen Zukunfts-Thriller“ zu sprechen, könnte ebenso gut der Optimismus hervorgehoben werden, der in der kriegerisch verwickelten Lage eines postdesaströsen Europas den Alltag der Romanfiguren durchwirkt, bis hin zur kindlichen Vorfreude auf das Weihnachtsfest.

Pessimistisch bzw. dystopisch ist der Roman allerdings, was den Fortbestand von Nationalstaaten und Demokratien betrifft, ebenso im Hinblick auf intakte Telefonverbindungen, die Erwartung von mehr Fernsehkanälen als täglich zwei Stunden Regierungsprogramm, das nur gemeinschaftlich an wenigen Empfängern geschaut werden kann, oder die Zukunft von Kaffeekultur. Dafür werden die noch verbliebenen Alt-Alkoholika wie das Danziger Goldwasser oder die mehr schlecht als recht funktionierenden elektronischen Geräte, die den „Ewigen Winter“ überstanden haben, hoch gehandelt. Was in Georg Kleins Roman die Gegenwart der Zukunft ist, dürfte nur sehr spezielle Typen erwartungsfroh stimmen, etwa Elektrobastler, wie „Opa“ Spirthoffer einer ist, oder Charaktere mit Alleinherrscher-Phantasien wie Don Dorokin, der sich das Freigebiet Germania mit zwei Rivalen aufgeteilt hat.

Die Welt nach einer großen Umwälzung

In dieser Robinsonade nach einer politischen, wirtschaftlichen und offenbar auch klimatischen Umwälzung, die die ehemals deutsche Hauptstadt an den westlichen Rand der chinesischen Protektorate gerückt hat, versucht sich die mit ihrer Tochter Alide aus dem sibirischen Novonovosibirsk eingewanderte Lehrerin Elussa unter (aus unserem Wohlstandsdeutschland betrachtet) eher armseligen Bedingungen durchzuschlagen – nicht zuletzt, indem sie die Russischkenntnisse des hundertjährigen Herrn Spirthoffer aufzufrischen hilft.

Doch auch die Überlebenskämpfe im Nachkriegs-Germania spielen sich im Vergleich zu den Sorgen der Mars-Bewohner unter privilegierten Bedingungen ab. Allein schon die Artenvielfalt, die auf der „blauen Mutterkugel“ weiterhin existiert, wäre auf dem roten Planeten unvorstellbar. Von den Tieren im Freigebiet Germania seien hier nur zwei genannt: der aus Sibirien eingewanderte Marderhund und der aus dem untergegangenen Amerika herübergeschwommene Waschbär, die sich im Erkennen ihrer physiognomischen Ähnlichkeit tödlich ineinander verbeißen – eine zutreffende, vielseitig anwendbare Metapher. An solchen und anderen Einfällen ist der Roman reich.

Auf dem Mars gibt es fast nichts als Steine, diese aber in allen Farben und Formen. Mit einfachsten Werkzeugen, jedoch spezialisierten handwerklichen Fertigkeiten, werden Steine zu Mehlen zermörsert, aus denen zum Beispiel der als Arznei taugliche Blausteinbrei angerührt wird. Aus demselben Blaustein kann unter größten Sicherheitsvorkehrungen aber auch verbotenerweise Tinte gebraut werden. Steinschmalz wird für die Produktion von Kerzen verwandt. Glanzsteine dienen als Spiegel. Aus bräunlichem Steinglas werden Guckfenster geformt. Und orangener Warmstein heilt fast alles.

Allesmacher, Neubastler, Nothelfer

Neben den Steinbrechern und Glasmachern gibt es Altfinder, die nach verwertbaren Resten aus der Siedlerzeit graben, und Berufe wie Allesmacher, Neubastler, Nothelfer oder – eine besonders hoch angesehene Gruppe – Mockmock-Beobachter. Das in der Tiefe des Bodens beheimatete Wesen namens Mockmock, über das hier nichts weiter verraten werden soll, trägt außer den Steinen und seltenen Funden aus der Zeit der Erstbesiedlung entscheidend zum Überleben der Marsianer bei.

Jeder hat seinen festen Platz in der Gesellschaft, der ähnlich vorbestimmt zu sein scheint wie in Platons Staatsideal. Ab einer bestimmten Anzahl grauer bis weißer Haare kann man in den Panik-Rat aufgenommen werden und sich aktiv am „Großen Palaver“ beteiligen, das man sich als eine Tradition nicht-kodifizierter Gesetze und Handlungsrichtlinien vorstellen kann. Denn lesen und schreiben können nur zwei der Marsbewohner, und die müssen ihr Geheimwissen sorgsam vor den Anderen verbergen. Die sechsundfünfzig „Heiligen Bücher“, die noch von der Erde stammen, gelten als unlesbar, genießen jedoch kultische Verehrung.

Der Schreibfertigkeit des Marsbewohners Porrporr verdanken wir im ersten von vier Romanteilen erkenntnisreiche Einblicke in den Alltag der postkolonialen Marsmenschen. Er schreibt zum Beispiel über die Freude, wenn die Herstellung einer in ihrer Transparenz auch noch so getrübten Glasscheibe gelingt, oder über die notwendigen, aber mitunter lustvollen Fahrten mit dem Doppeltretroller über glatte Lavafelder. Der Berichterstatter wertschätzt die einfachen Dinge und gibt uns Erdenmenschen beim Blick in die Ferne das Staunen aus den Anfängen von Zivilisationen zurück.

„Schändliche Unlust“ als gefürchtete Krankheit

In der lebensfeindlichen Steinwüste tauchen aber auch Krankheiten auf, wie man sie auf der Erde nicht kennt. Eine der gefürchtetsten ist die „Schändliche Unlust“. Wer davon in einem fortgeschrittenen, unheilbaren Stadium befallen ist, wird, egal ob er sich noch bewegen kann oder nicht mehr, in den Purpurspalt entsorgt. Jedoch breitet Georg Klein kein Schreckensszenario aus. Vielmehr wird in aller Selbstverständlichkeit und ohne unnötige Erklärungen von der Mühsal wie von den Freuden des Marsdaseins erzählt. Ebenso wie es auch auf unserer guten alten Erde nicht verwundert, wenn der Partner im Bett von einem fremden Planeten stammt.

Im ironischen Spiel mit einem Genre, in dem sonst munter hin und her teleportiert wird, muss auch die Überbrückung der Distanz nicht im technischen Sinne erklärt werden. Gleichwohl lässt der Autor uns die „Höllenkälte“ mitempfinden, wenn etwa Elussa auf dem Weg durch den Weltraum die Fingernägel in den Rücken eines mitreisenden Buches presst. Neben ihr ist es die fürwitzige Tochter Alide, die den oftmals tödlichen Transfer nicht nur unbeschadet überlebt, sondern sich mit den Marsbewohnern – die aus plausiblen Gründen russisch sprechen – auch gleich unbekümmert unterhält.

Ina Hartwig hat in der „Zeit“ auf die Anspielungen auf Alexej Tolstois Roman „Aëlita“ hingewiesen, aus dem Georg Klein ein Zitat als Motto dem vierten Teil seines Romans voranstellt. Zukünftige Forscher – auf welchem Planeten auch immer – werden aus den vielen im Roman versteckten Hinweisen gewiss alle sechsundfünfzig Bücher zu identifizieren wissen, die auf dem roten Planeten als heilig gelten, sowie das siebenundfünfzigste, an dem sich Elussa auf ihrem Weg durch den frostigen Raum festklammert. Nicht auszuschließen, dass auch der schöne Gegenstand aus dem Rowohlt Verlag eines Tages unter die „Heiligen Bücher“ eingereiht werden wird. Bis dahin sei jedem, der noch zu lesen versteht, eine vergnügliche Lektüre gewünscht.

Georg Klein: “Die Zukunft des Mars”. Roman. Rowohlt Verlag, 384 Seiten, 22,95 €




Von Goethe bis zum Groschenheft: Dem Schriftsteller Georg Klein zum 60. Geburtstag

„Eigentlich bin ich der Meinung, dass alle, die mit dem Wort arbeiten, irgendwie vom selben Fleisch sind“, antwortete der Autor während der diesjährigen Leipziger Buchmesse seinem Interviewpartner am Stand der Leipziger Volkszeitung. Georg Klein wird heute (29. März) sechzig Jahre alt. Sein Verlag, Rowohlt, hat zu diesem Anlass einen Band mit 77 seiner Texte publiziert, die zuvor größtenteils in Tageszeitungen erschienen waren.

Angesichts der in „Schund & Segen“ versammelten Textsorten lag die Frage des Ressortleiters Kultur der LVZ, Peter Korfmacher, nach dem Verhältnis von Journalismus und Schriftstellerei nahe. Georg Klein reicht dem Journalisten die Hand, indem er über den jeweiligen Redakteur, der ihn um einen Beitrag für sein Blatt bittet, laut denkt: „Das ist auch so einer wie ich; bloß ich habe mehr Freiheit. Dafür hat er ’ne feste Stelle – also, es gleicht sich auch wieder ein bisschen aus.“

Zu den einfacheren, nicht allzu viel Mut erfordernden Freiheiten Georg Kleins gehört es, in einem Zeitungsartikel auch mal „ich“ sagen zu dürfen, was angehenden Journalisten meistens schon im Praktikum oder Volontariat ausgetrieben wird. Der Journalist im Dienst sei zur Sachlichkeit und zur emotionalen Auskühlung verpflichtet; er als Schriftsteller könne auch schon mal auf die emotionale Tube drücken, so Klein.

Die 77 von ungefähr 360 über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren entstandenen „abverlangten“ Texte, die für das Buch ausgewählt wurden, haben so unterschiedliche Gegenstände und Personen zum Thema wie Rolf Dieter Brinkmann, Raymond Chandler, Daphne du Maurier, Umberto Eco, Michael Ende, William Gaddis, Heinrich Heine, Robert A. Heinlein, Franz Kafka, Michael Jackson, Mick Jagger, Stephen King, Wolfgang Koeppen, Ursula Le Guin, Udo Lindenberg, Stanlisław Lem, Jonathan Littell, die Biene Maja, Märklin-Modelleisenbahnen, Josefine Mutzenbacher, Edgar Allan Poe, Gerhard Schröder, Gustav Schwab, Robert Louis Stevenson, Jules Verne oder das alte Kinderspiel „Der Kaiser schickt seine Lakaien hinaus!“

Manche der Artikel waren bereits auf einer älteren, weiterhin verfügbaren Website des Autors veröffentlicht; der hohe Anteil an Science-Fiction-Autoren verdankt sich unter anderem einer Serie der Neuen Zürcher Zeitung. Aber wie kam es dazu, dass Klein auf diese unterschiedlichen Themen von den Zeitungen angesprochen wurde? Weiterhin am LVZ-Stand gibt der Autor Auskunft: „Es entsteht auf der anderen Seite, also bei den Redakteuren, ein Bild davon, wofür man Spezialist sein könnte. Ich wehre mich mit Händen und Füßen dagegen; ich will überhaupt kein Spezialist sein. Aber es hat sich irgendwie herauskristallisiert, dass ich der Spezialist für das Zwielichtige oder für das nicht so ganz Koschere oder für das Schundige oder Trashige bin. Das bin ich schon auch, aber ich schreibe auch gern über Goethe, und nicht nur über Udo Lindenberg.“

Verlage, Medien und der Buchhandel benötigen Schubladen, doch Georg Klein wäre nicht er selbst, erfüllte er lediglich die in ihn gesetzten Erwartungen und hätte er nicht auch mit größeren Überraschungen aufzuwarten. Der Volkssänger Heino etwa sei, wie Georg Klein und sein Interviewer am Messestand der Leipziger Volkszeitung übereinstimmend feststellen, „vermintes Gelände“. Man könne nur entweder Heinos treue Anhängerschaft verprellen oder sich unter Intellektuellen und solchen, die sich dafür halten, lächerlich machen. Dass es etwas Drittes gibt, ohne kompromisslerisch zu werden, beweist der Artikel „Die Sehnsucht der Anderen“, der, ohne sich billig über „die Stimme der Heimat“ zu mokieren, den Geschmack der Menschen ernst nimmt, „die wir brauchen und schätzen“. Rumhacken wäre schäbig.

Der gleichermaßen an Arno Schmidt wie an Groschenheften geschulte Schriftsteller wagt den jeweils frischen Ansatz oder eine Perspektivenverschiebung; oft findet er einen unverbrauchten Zugang zu seinem Thema. Die vom Markt vorgegebenen Formate, wie Ehrungen zum sechzigsten, siebzigsten, achtzigsten Geburtstag oder auch Nachrufe, füllt er kreativ, mitunter geradezu experimentell aus, wie etwa im Vergleich des toten Stanlisław Lem mit dem Aussterben der Mammuts. Die „Pietätsstarre auflösen“ nennt Georg Klein das im Interview mit Tina Mendelsohn im 3sat-Forum am Leipziger Buchmesse-Freitag.

Als Antwort auf die Literaturkanon-Debatte verteidigt er „das wilde Lesen, das uns das richtige Buch im richtigen Moment in den Schoß wirft.“ Er glaube, dass er schlechten Büchern oder dem Fernsehen, das ja auch nicht immer den Ruf der Hochkultur habe, unglaublich viel verdanke, sagt Georg Klein in dem vom Sender 3sat aufgezeichneten Gespräch. Als Beispiel nennt er Hildegard Knefs Schicksalsroman „Das Urteil“, der ihn als sechzehnjährigen, noch weichen Leser damals mit aller Vehemenz getroffen habe. „Warum sollte ich hochnäsig verspotten, was mir viel gegeben hat?“, fragt er in einem Interview in der letzten Ausgabe der Zeitung für Literatur „Volltext“ (Nr. 1/2013).

Eine Sympathiebekundung für eine Politikerin mag den Leser von „Schund & Segen“ gleichermaßen wie die Redaktion der „Berliner Zeitung“ überrascht haben. „Wir kennen Angela Merkel nicht; aber wir zweifeln nicht an ihrem Humor“, heißt es in seinem Artikel über die „Schutzpatronin der Verdrossenen“. Humor? Angela Merkel? „Ich habe mir gedacht: ich verkläre sie. Ich verkläre sie zu dem, was sie vielleicht bestenfalls ist“, sagt Georg Klein in seinem dritten öffentlichen Interview am Buchmesse-Freitag, diesmal im ARD-Forum im Gespräch mit Jörg Schieke.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines Artikels im September 2009 hatte Georg Klein die Gelegenheit, die Kanzlerin abseits des Medienzirkus in kleinem Kreis kennenzulernen, und fand, wie er bekennt, den vermuteten Humor mehr als bestätigt: „Die Frau ist hinreißend witzig.“ Geistreich, humorvoll – „Es ist ein Glück, Zeit mit ihr zu verbringen.“

Neben ihrem Humor sind es vor allem Ausdauer und Redlichkeit, was Georg Klein an der Kanzlerin schätzt – Tugenden, die auch die seinen sind.
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Georg Klein am Buchmesse-Stand von 3sat am 15.03.2013; Foto: W. Cz.

Georg Klein am Buchmesse-Stand von 3sat am 15.03.2013; Foto: W. Cz.

Seinen Lesern gegenüber verhält er sich ebenso fair, wie er den von ihm porträtierten Personen gerecht zu werden versucht. Georg Klein fordert die Leser oft heraus; seine Sprache verlangt meistens eine langsame, genaue Lektüre. Doch mag auch die Handlung mancher seiner Romane rätselhaft sein, sie ist nicht kryptisch in dem Sinne, dass ein Leser zum Verständnis auf Spezial- oder Geheimwissen, das nur außerhalb der Buchdeckel durch aufwendige Recherchen zu entdecken wäre, angewiesen ist.

Dieses Irgendwie-vom-selben-Fleisch-Sein in der eingangs zitierten mündlichen Antwort vor der laufenden LVZ-Kamera ist etwas, was Georg Klein auch erfolgloseren Kollegen vermitteln kann. Er, der zunächst zwanzig Jahre lang unbeachtet schrieb, bevor er „entdeckt“ und spätestens durch die Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises 2000 einem größeren Publikum bekannt wurde, musste zunächst auch Ablehnung erfahren. Verständnisvolle kollegiale Verbindlichkeit hat auch die von ihm geleitete Schreibwerkstatt geprägt, an der teilzunehmen ich das Glück hatte, damals im Mai 2004, als Georg Klein als Poet in Residence an der Universität Essen gastierte.

Georg Kleins Kunst erschöpft sich freilich nicht in Fairness und Verbindlichkeit, was auf Dauer bloß Langeweile produzieren würde. Allen seinen Romanen unterliegt etwas Geheimnisvolles, dem nicht so leicht auf die Spur zu kommen ist.

Das Bild bei den Zeitungsredaktionen, wofür Georg Klein ein Spezialist sein könnte, ist ja nicht zuletzt durch seine Romanveröffentlichungen entstanden. Der oft gelesene Hinweis auf das „Spielen mit unterschiedlichen Genres“ wie Agentenroman („Libidissi“, 1998), Detektivgeschichte („Barbar Rosa“, 2001), Horror- („Die Sonne scheint uns“, 2004) oder Ärzteroman („Sünde Güte Blitz“, 2007) allein erklärt nicht das Faszinosum seiner Prosa.

Einer der engsten Geistesverwandten könnte der Filmemacher und Fotograf David Lynch sein, mit dem auch der Band „Schund & Segen“ eröffnet wird. Das Unerklärliche und Phantastische durchwirkt sogar Georg Kleins autobiographischstes Werk, den preisgekrönten „Roman unserer Kindheit“.

In seinen Dankesworten zum Preis der Leipziger Buchmesse 2010 bezog der Autor nicht nur Jurorinnen, Juroren, Verleger, Schriftsteller-Gattin und die üblicherweise Genannten ein, sondern er gedachte auch mit Dankbarkeit der Verstorbenen. Einen Moment schien so etwas wie Sokrates‘ Daimonion spürbar zu sein, eine Ahnung, dass die „Erste Wirklichkeit“, wie Georg Klein sie in einem seiner Texte nennt und an die wir alle „gnadenlos zu glauben haben“, nicht die einzige sein könnte.

Aber sei es eine Art Schutzgeist wie das koboldartige Wesen, das in „Sünde Güte Blitz“ in die Geschicke der Romanfiguren eingreift; seien es die Gesetze des Traums; sei es ein undurchschaubarer Freak wie der, der sich in dem „poetologischen Versuch“ – ein gleichermaßen ironisch wie ernsthaft wirkender Untertitel – dem Erzähler in „Die Hölle der Autoren“ aufdrängt und der den Eindruck erweckt, die Erzählstoffe suchten sich ihren Autor, und nicht umgekehrt (nachzulesen auf Georg Kleins älterer Website); oder die Ahnung von etwas Vorformuliertem, in seiner Form bereits Feststehenden, wie es im Text „Esperanza“, abgedruckt in der in Münster erscheinenden Literaturzeitschrift „Am Erker“ (Nr. 50), durchscheint; sei es schließlich auch eine Substanz wie die, an deren Einnahme Georg Klein sich in dem kurzen Text „Mein asiatisches Gesicht“ erinnert, der 2005 in der von Thomas Böhm herausgegebenen Anthologie „Weltempfang“ erschienen ist – der heute zu ehrende Autor schreibt nie so, dass er von Esoterikern und Phantasten leicht vereinnahmt werden könnte.

Bis im Herbst 2013 der angekündigte Roman „Die Zukunft des Mars“ erscheint, gibt es auch an abgelegenen Eckchen unseres Literaturplaneten noch viel von Georg Klein zu entdecken.

Georg Klein: „Schund & Segen. 77 abverlangte Texte.“ Rowohlt Verlag, 432 Seiten; 22,95 Euro.