Europäische Erstaufführung: Ruhrfestpiele mit Taboris Frühwerk „Flucht nach Ägypten“

Foto: Bohumil_Kostohryz

Gestrandet in Ägypten: Flüchtlingsfamilie Engel (Heikko Deutschmann, Tatjana Nekrasov, Yuri Schmitz). Foto: Bohumil_Kostohryz

Zum Abschluss der Ruhrfestspiele hat Intendant Frank Hoffmann noch ein Bonbon für Theaterfreunde: die europäische Erstaufführung eines Tabori-Stücks, das Erstlingswerk des großen Theatermannes.

Schon 2012 hatte Hoffmann sich als Theater-Archäologe ums Werk von George Tabori verdient gemacht und dessen „Abendschau“ in Recklinghausen uraufgeführt. Nun bringt er die „Flucht nach Ägypten“ auf eine deutsche Bühne – ein Stück, das Tabori in der Hoffnung auf eine spätere Verfilmung geschrieben hatte, das bei seiner Uraufführung 1952 in der Regie von Elia Kazan am Broadway aber durchgefallen war.

Es ist ein Flüchtlingsdrama aus der Nachkriegszeit: Tabori, der wegen seiner jüdischen Herkunft selbst aus Deutschland fliehen musste, lässt Familie Engel aus Wien in einem ägyptischen Hotel stranden. Man will von dort nach Amerika übersiedeln, unter erschwerten Bedingungen: Vater Franz Engel (TV-Schauspieler Heikko Deutschmann) kam unheilbar krank aus dem KZ zurück und macht sich Illusionen über seine Genesungsaussichten. Seine Frau Lilli (Tatjana Nekrasov) ist die Mutter Courage, die mit wachsender Verzweiflung versucht, angesichts längst leerer Konten Haltung zu bewahren und die Familie samt des neunjährigen Bubi (Yuri Schmitz) bis zum ersehnten Visum durchzubringen. Eigentlich will Lilli nicht auswandern – doch nach zwei Jahren Odyssee durch Europa hat sie sich längst in ihre Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft verrannt.

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Eine Frau am Rande des Zusammenbruchs: Lilli (Tatjana Nekrasov, mit Raoul Schlechter, Marco Lorenzini, Arash Marandi, v.li.). Foto: Bohumil_Kostohryz

Das Stück spielt an einem Tag, in dessen Verlauf sich die Schlinge für die mittellosen Flüchtlinge immer weiter zuzieht: Der korrupte Polizeichef (Raoul Schlechter) will Geld für die abgelaufene Aufenthaltsgenehmigung kassieren, der gnadenlose Hotelbesitzer (Marco Lorenzini) seine ausstehende Miete eintreiben, und der kranke Franz stöhnt nach Morphium, das der Arzt (Ulrich Kuhlmann herrlich diabolisch) nur gegen Sex herausrücken will.

Immer wieder blitzt Hoffnung auf, und immer wieder stößt Lilli auf eine Mauer aus Geldgier und Geilheit. Tabori setzte das ernste Thema um, indem er – wie auch häufig in seinen späteren Stücken – ein Panoptikum komischer (Stereo-)Typen schuf. Gut und Böse sind also klar verteilt, was die Handlung schnell vorhersehbar macht: Der kranke Franz erhält nach seinem verzweifelten, tragikomischen Auftritt vor dem Konsul kein Visum („Ein Krüppel wäre eine Belastung für unser Land“). Er überzeugt seine Frau daraufhin, ihn in Ägypten zurückzulassen und mit dem Sohn zurück nach Wien zu gehen.

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Der geile Arzt (Ulrich Kuhlmann, re.) hat die unheilbare Krankheit seines Patienten verschwiegen. Foto: Bohumil_Kostohryz

Hoffmann entschied sich dazu, das 130-minütige Stück ungekürzt und ganz in seiner Entstehungszeit verhaftet in großer Besetzung auf die Bühne zu bringen – verständlich für eine Erstaufführung. Zu den zeitgenössischen Kostümen (Jasna Bosnjak) passt die sparsam eingerichtete, offene und dunkle Drehbühne, auf der bewegliche Scheinwerfer-Spots Szenen und Figuren ausleuchten. Doch so wie die Drehbühne ächzt und rumpelt, so kommt auch das Stück zu langsam in Gang. Was als Filmstoff tatsächlich gut taugen könnte, bräuchte für die Bühne Straffung und Konzentration.

Hoffmanns theaterhistorisches Verdienst ist, ein Tabori-Frühwerk belebt zu haben, das erst seit 2014, zum 100. Geburtstag des 2007 verstorbenen Autors, überhaupt in deutscher Sprache vorliegt. Ein Bühnenerfolg wird die „Flucht aus Ägypten“ jedoch auch 63 Jahre später sicher nicht.

Stückseite mit Terminen




Tagtraum vom unaufhörlichen Kreislauf des Lebens – George Taboris Stück „Gesegnete Mahlzeit“ bei den Ruhrfestspielen uraufgeführt

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wenn Bühnenfiguren Dirty Don, Professor Geil und Amanda Lollypop heißen, so deutet dies auf Farce und Slapstick hin. Damit jongliert George Taboris neues Stock „Gesegnete Mahlzeit“ denn auch.

Doch eigentlich ist diese Uraufführung (Koproduktion: Berliner Ensemble und Ruhrfestspiele) eine Etüde aufs Leben und Sterben. Mal wehmutig, mal koboldhaft, fast immer hellsichtig – manchmal bis über den Horizont des irdischen Daseins hinweg. Und in den besten Momenten erklingt die Sprache hier als schiere, vom eindeutigen Sinn losgelöste Musik.

Der schwerkranke Tabori (92) selbst hat (von seiner Bettstatt aus) die Inszenierung begleitet. Der Text ist an der Oberfläche klar gegliedert. Drei Akte: Frühstück, Mittagessen, Abendmahl. Doch Tabori stellt den Tagtraum, die Freiheit des Erinnerns und Vergessens, über die chronologische Ordnung.

Biographische Partikel verglühen wie ein Feuerwerk

Partikel aus (s)einem langen Autorenleben steigen auf und verglühen wie ein Feuerwerk. Ein Oberkellner (Peter Luppa) und ein Dramaturg (der wirkliche Dramaturg Hermann Beil) besorgen komisch-melancholische Überleitungen im biographischen Variété.

Es ist weder eine sorgsame Inventur des Lebens noch gar die hehre Summe des Werkes. So etwas mögen andere liefern. Tabori ist im Herzen „Anarchist“ geblieben. Also wandelt er freigeistig zwischen (komödiantisch zugespitzter) biblischer Geschichte und dem Lob verbliebener kleiner Alltagsfreuden, zwischen Drangsal der Nazi-Zeit und erotischem Ungenügen.

Nie, so sinniert jener Schriftsteiler Dirty Don nach angeblich 20 000 Affären, habe er es vermocht, „eine Frau liebend zum Lachen zu bringen“. Die Hure Lollypop (Margarita Broich) soll ihm nun den finalen Orgasmus verschaffen.

Das ursprüngliche Chaos des Schöpfungsaktes

Wie eine Zahnrad-Mechanik schnurrt die Zeit ab. Professor Geil (fast mafios, vielleicht gar der Tod persönlich: Gerd Kunath) nennt sie zunächst unentwegt minutengenau. Dirty Don (äußerlich wirr, zuweilen seherisch: Veit Schubert) liegt anfangs zu Bette. Er erwacht zwischen tonnenweise aufgeschichteten, beschriebenen Papieren. In diesem Ursprungs-Chaos fließen Schöpfungsakt und Vergänglichkeit ineins. Dem drohenden Tod bietet Don mit Phantasien von Zeugung und Geburt Paroli. Beschworen und gepriesen wird das Leben als ewiger Kreislauf, nicht als endliche Linie.

Im burlesken Mittelteil geht’s etwas ausufernd um den vom Geld strangulierten Geist – anhand eines Knebelvertrags, den ein schmieriger Filmmogul dem Autor aufdrängt. Tabori hat einst Drehbücher in Hollywood verfasst.

Anspielungen auf Proust, Beckett und Kafka

Der Anleihen sind viele: Dirty Don (überdies ein entkräfteter Nachfahre des Don Juan) nimmt zum Frühstück Tee und Kekse – wie einst der bettlägerige Marcel Proust, als der sich auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“ begab. Auch Samuel Beckett ist nah, dessen greise Figur Krapp in „Das letzte Band“ per Magnetophon seine Lebensphasen Revue passieren ließ. Manche Prise Kafka ist drinnen – ui ein paar Quäntchen Brecht.

Trotz alledem ist die ganze Legierung unverkennbar aus Taboris lichtem Geiste geschaffen. Das in Scherz und Ernst traumwandlerisch präzis aufeinander eingepegelte Ensemble lässt diesen Geist schimmern und leuchten.

Bei den Ruhrfestspielen nur noch am 12. Mai (Recklinghausen, Bürgerhaus Süd, Karten 0180/11 11 021). Ab 15. Mai am Berliner Ensemble.




DDR-Dramatiker geben trockne Lehrstunden – Halbzeit beim Wettbewerb „stücke `90″ in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Die DDR-Ereignisse der letzten Monate sind auch am Mülheimer Dramatiker-Wettbewerb „stücke ’90“ nicht spurlos vorübergegangen – im Gegenteil. Die Auswahlkommission sah sich bemüßigt, fast nur Dramen mit DDR-Thematik vorzuschlagen.

Nachdem mit vier Aufführungen die Halbzeit des Wettbewerbs erreicht ist, drängt sich der Verdacht auf, daß dabei politischer Nachholbedarf vor Theaterqualität rangiert hat. Ein „Stück des Jahres“ war jedenfalls noch nicht dabei.

Den Auftakt besorgte das Wiener Akademietheater mit George Taboris „Weisman und Rotgesicht“. Das bislang einzige Stück, das sich nicht um DDR-Themen rankt, wurde als „jüdischer Western“ etikettiert. Ein vermeintlicher Indianer (der sich hernach als Halbjude und Filmkomparse erweist), ein Jude, der die Aschenurne seiner verstorbenen Frau mit sich trägt, und dessen spastische Tochter begegnen einander in einer – mit lebendem Geier auf der Bühne markierten – Wüstengegend der USA. Unter anderem treten sie, beinahe wie Preisboxer, in einen makaber-absurden Leidens-Wettbewerb: Wer hat mehr erlitten. Juden oder Indianer?

Taboris Scherze mit dem Entsetzen

Es ist wieder jene gleichermaßen zauberkräftige wie halsbrecherische Mischung, die wir von Tabori kennen und die kein deutscher Dramatiker so anwenden dürfte: Schrecken wird Lachen, Verzweiflung gerinnt zum Kalauer, Wahn und Witz addieren sich zu Wahnwitz. Allerdings gewinnen m diesem Stück unbedarfte Scherze einiges Übergewicht – oder sind es nur geschickte Verführungen, an den falschen Stellen zu lachen, was ja zuerst die voreiligen Lacher entlarvt? Ein Ereignis wurde dieser Theaterabend durch die Darsteller: Michael Degen, Leslie Malton und Hans Christian Rudolph.

An den folgenden Abenden sehnte man sich dann doch nach Taboris Entsetzens-Scherzen zurück, denn mit Georg Seidels „Carmen Kittel“ hob deutsche Tiefgründelei an. Das bereits 1987 in Schwerin uraufgeführte, später umgearbeitete Werk mag zur Entstehungszeit ein Schrei in der Not gewesen sein. Nun wirkt es, trotz neuer „Montage“ durch Dimiter Gotscheffs Düsseldorfer Inszenierung, bereits reichlich gestrig. Sprachlich ist etwas Metallisch-Schepperndes, ist dumpfe Atemnot in diesem Stück.

Carmen Kittel kann sich nicht „emporwuchten“

Vor- und Nachname der Titelfigur stehen natürlich für den Widerspruch von Lebenslust (Carmen) und ödem Frauenalltag (Kittel). Carmen Kittel ist im Heim aufgewachsen, front nun in einer Kartoffelschäl-Brigade, erlebt einige Qualen des irreal existierenden Sozialismus und kann sich nicht „zu einem besseren Leben emporwuchten“. Das alles hört sich schwer nach Theater-Bastelarbeit an und ist es über weite Strecken auch. So muß etwa die Kartoffel gleich als Symbol deutscher Eßgewohnheiten und dito Revolutionsunfähigkeit herhalten. Einiges mag als Lyrik., nicht aber als dramatische Vorlage durchgehen. Immerhin lassen zwischendurch einige aphoristische Kernsätze aufhorchen, etwa jener, daß man in der DDR das Paradies auf Erden bauen wollte, dann aber doch nur Braunkohle abgebaut hat.

Gorbatschow als „neuer Christus“

Theater hart am Rande historischen Kasperlspiels erlebte man am nächsten Abend, als die Volksbühne Berlin (DDR) Jörg-Michael Koerbls „Gorbatschow/Fragment“ aufführte, das aus DDR-Sicht die sowjetische Geschichte von Lenin bis „Gorbi“ nachzeichnen will. Das Stück vermittelt keinerlei wirkliche Erkenntnis, es stellt historische Figuren nur als Pappkameraden auf die Bühne.

Koerbl setzt Spezial-Wissen voraus (etwa über die Beziehungen zwischen Lenin, Trotzki und Stalin), vermittelt aber seinerseits kein neues. Daß er Gorbatschow als „neuen Christus“ darstellt, ist nur peinlich. Sprachlich ergeht sich der Autor in Satzperioden, die eventuelles Interesse schnell erlahmen lassen. Zudem hat er sein Stück „kongenial“, nämlich mit recht dürftigen Mitteln in Szene gesetzt.

Christoph Heins „Ritter der Tafelrunde“, in Mülheim gezeigt vom Schauspiel Halle, versöhnte wieder etwas mit der DDR-Dramatik. Hein ist nicht der Versuchung erlegen, die ritterliche Artus-Runde als schmale Parodie aufs gewesene Politbüro vorzuführen; sein Stück hat jene Art von Aktualität, die über Tag und Stunde hinausreicht. Freilich kreist es ohne große theatralische Höhe- oder Tiefpunkte um nur wenige Denkfiguren (Die Gralssuche als Suche nach Utopie usw.). Eigentlich ist schon nach der Hälfte alles gesagt und wird dann nur noch variiert.




Die Bühne als Forum für sperrige Prosatexte – „Totenfloß“ und „Die Seidels“ bei „stücke ’87“

Von Bernd Berke

Mülheim. Die Jury der Mülheimer Theatertage „stücke ’87“ ist wahrlich nicht zu beneiden. Nach fünf von sechs Wettbewerbs-Beiträgen hat sich noch immer kein Text als „Stück des Jahres“ aufgedrängt.

Gewisse Aussichten auf den Dramatikerpreis hat Harald Mueller – allerdings eher wegen der hervorragenden Inszenierung seines Stücks „Totenfloß“ durch George Tabori, die einer wunderbaren Rettung des Textes gleichkommt. Das Mülheimer Publikum war in zwei Lager gespalten: Herzhafte „Buhs“ wurden mit lauten „Bravos“ vergolten.

Das Stück spielt im Jahr 2050, in einem chemisch und atomar verseuchten Endzeit-Deutschland. Mueller montierte eine auf brutale Kernbestände reduzierte „Zukunftssprache“: eine Mischung aus knappstem Techno-Idiom, Amerikanismen und Slang – etwas Orwell, etwas Anthony Burgess („Uhrwerk Orange“), etwas Arno Schmidt („Gelehrtenrepublik“).

Das entseelte „Neusprech“ und sein Kontrast zu lyrischen Sprachresten aus unverseuchter Zeit sind aber schon die deutlichsten Vorzüge – abgesehen davon, daß Mueller als wohl einziger Stückeschreiber das Thema so direkt aufgegriffen hat. Viele Bühnen spielten das Stück denn auch, vor allem „nach Tschernobyl“. Sie taten dies, so muß vermutet werden, mangels Alternativen (ein Armutszeugnis für die deutschsprachige Gegenwartsdramatik). Jedes Beckett’sche Endzeit-Szenario ist, obwohl dort nicht von Cadmium und Fallout die Rede ist, bedrückender als „Totenfloß“.

Inhaltlich ergibt sich nämlich bei Harald Mueller größtenteils eine simpel ausgemalte „Hochrechnung“ heutiger Katastrophen, wie sie nahezu täglich von den Medien vermeldet werden, also eine auf die Spitze getriebene Fortschreibung, die aus durchschnittlicher Science-fiction geläufig ist. Die gespenstische Flußfahrt der vier verstrahlten und vergifteten „Untoten“, die aufeinem Floß das angeblich „cleane“ (saubere) Xanten ansteuern wollen, mündet schließlich gar in einen unbedarften moralischen Appell.

Regisseur Tabori hat sich gar nich eerst auf die manchmal platten Beschreibungsversuche des Textes, der zu vieles ausspricht und zu viel Unvorstellbares vorstellen will, eingelassen, sondern das Stück in einen reinen Kunst- und Spielraum verlegt. Dabei zeigt sich dann doch, daß der Text, ohne daß man ihm Gewalt antun müßte, Ansätze zu theatergemäßer Umsetzung bietet, was längst nicht von allen Beiträgen bei „stücke ’87“ behauptet werden kann.

Hatte man zunächst gemeint, Georg Seidels „Jochen Schanotta“ sei das Anti-Stück des Wettbewerbs, so hatte man eben nur noch nicht Stefan Schütz‘ „Die Seidels (Groß & Gross)“ in der lnszenierung der Städtischen Bühnen Osnabrück durchlitten.Auch Schütz (aus der DDR kommend, in Hannover lebend) operiert mit einer künstlichen Sprache aus klassizistischen und expressionistischen Anklängen sowie Kraftworten. Geradezu berserkerhaft düster, wirft er den Zuschauern (viele gingen in Mülheim vorzeitig) einen allgemeinen Weltekel hin, den er nur notdürftig aus dem gesellschaftlichen Elend nach dem Scheitem der deutschen Revolution von 1918/19 herleitet. Der tiefschürfend-sperrige Text, oft „um drei Ecken herum“ formuliert, könnte als Prosa bestehen. Sein Erscheinen auf dem Theater ist alles andere als zwingend, es ist Zufall.




Mülheimer Dramatikerpreis an George Tabori für „Jubiläum“ – Jury und Publikum einmütig

Von Bernd Berke

Mülheim. Der Gewinner des Mülheimer Dramatikerpreises 1983 heißt George Tabori. Sein Wettbewerbsbeitrag „Jubiläum“ wurde bei „stücke 83″ sowohl von der achtköpfigen Jury als auch vom Publikum als bestes der vier gezeigten Stücke bewertet.

Daß Experten und „Normalverbraucher“ diesmal übereinstimmten, darf als kleine Sensation gelten. Die Entscheidung für das Stück des 69-jährigen Tabori kann kaum überraschen: Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus endlich einmal nicht mit rational vorgefertigten Rechthabe-Schablonen, sondern vor allem emotional zu führen – das fehlte bisher. „Jubiläum“ stellt eine wichtige, ja unverzichtbare Ergänzung zu Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ oder zu faktenverarbeitendem Theater wie Peter Weiss‘ Auschwitz-Stück „Die Ermittlung“ dar.

Tabori, dessen Familie in den Gaskammern von Auschwitz umkam, verfaßte eine „schwarze Totenmesse“: Auf einem Friedhof durchleben Opfer des Naziterrors das ihnen zugefügte tödliche „Schicksal“ als wiederkehrenden Alptraum. Ein Neonazi, eher von Disney, Donald Duck und Zack-Wumm-Motorik denn von Nietzsche angetrieben, erstürmt die traumatischen Szenen und verwirrt die Begriffe: Was ist heutig, was ist gestrig am Nazi-Unwesen – und hat nicht jeder einen „kleinen Hitler“ in sich? Das beklemmende Stück (Bochumer Version, Regie: Tabori), verlor durch die mißlichen Aufführungs-Verhältnisse in Mülheim nichts von seiner Kraft.

Vom erst 22jährigen Kunststudenten Thomas Strittmatter war ein erstaunliches Debüt-Stück zu sehen: „Viehjud Levi“ schildert, wie die Bewohner eines Schwarzwalddorfs unter dem Anpassungsdruck der Nazi-Ara immer distanzierter mit einem jüdischen Viehhändler umgehen, umspringen. Schwäche des von Jury und Publikum auf den „zweiten Platz“ gesetzten Kurzdramas: Das Dorf erscheint als ideologieanfälliger Nährboden, zuweilen aber auch als dialektsprechendes Idyll, das von hochdeutsch-tümelnden Zentralgewalten nur „vergiftet“ wird.

Daß Peter Handke mit „Über die Dörfer“ nicht in die engere Wahl kam, verwundert kaum. Gar zu abgehoben ist der Text seines vor/nach aller Geschichtlichkeit angesiedelten Mysterienspiels.

Volker Brauns Schiller-Aktualisierung „Dmitri“ fiel glatt durch. Das Stück bezieht seine Problematik hauptsächlich aus Vorgängen im „realen Sozialismus“, so daß es hier nur zum Teil verstanden wird. Braun verzettelt sich in einem quasi-wissenschaftlich angelegten Experiment zum Thema „Rechtfertigung und Entstehung von Macht“. Ein „Kopf-Stück“, fernab der neueren Stimmungen im Westen.