Großes Theater und peinliches Scheitern – das zweite Wochenende bei den Ruhrfestspielen fiel durchwachsen aus

Warum er das getan hat, ist restlos nicht klar geworden. Ewald Palmetshofer, österreichischer Dramatiker der jüngeren Generation, hat sich Gerhart Hauptmanns Stück „Vor Sonnenaufgang“ vorgenommen und mit Aktualitäten angereichert. Kann man machen, ist auch nicht mißlungen, bringt aber auch keinen nennenswerten Erkenntnis-Zugewinn.

Szene aus „Barbarische Nächte“ (Foto: Nathalie_Sternalski / Ruhrfestspiele)

Thematisch geklammert wird der Gang der Handlung durch eine Schwangerschaft, die im Stück entlarvend wirkt und (natürlich, ist man fast geneigt zu sagen) mit einer Fehlgeburt endet, linke und rechte Positionen geraten gegeneinander, der Arzt bringt eine existentielle Dimension ins Spiel, zulässige und weniger zulässige Liebesbeziehungen entstehen, und auch die Klagen über die vertanen Chancen fehlen nicht. Dies kurz in Stichworten.

Begeisterndes Theater wie seit Jahren nicht

Die „deutsche Erstaufführung“ nach jenen in Basel (Uraufführung) und Österreich fand nun bei den Ruhrfestspielen statt, eine Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin, Regie: Jette Steckel. Und diese Produktion, warum lange drumherumreden, ist grandios!

Zweieinhalb Stunden fesselndes Schauspielertheater mit minimalen inszenatorischen Zutaten, sieht man einmal von der (auf der Bühne stehenden, nicht in ihr, wie sonst üblich, versenkten) Drehbühne ab, die sich während der gesamten zweieinhalb Stunden ohne Unterlaß langsam dreht (Bühne: Florian Lösche). Vorwiegend auf ihr (manchmal am Rand neben ihr) agieren die Darsteller, moderat, von der Regie gut geführt. Die permanenten Positionsveränderungen durch die sich drehende Bühne sind sinnhaft, ein paar Stühle reichen als Requisiten aus. Manchmal ein bißchen Musik, so viel Licht wie nötig, ansonsten aber, im besten Sinne: Schauspiel. Ein so begeisterndes Theater hat man seit Jahren nicht mehr gesehen.

Übrigens war die Baseler Inszenierung jetzt beim Mülheimer „Stücke“-Wettbewerb zu sehen. Völlig zu Recht fragt der geschätzte Kollege P. in der WAZ, mit welcher Berechtigung dies eigentlich geschah, ist doch die Substanz von „Vor Sonnenaufgang“ ganz unbestreitbar 100 Jahre alter Gerhart Hauptmann.

Wurzeln im Breakdance

Abgesehen vom Sonnenaufgang war das zweite Wochenende bei den Ruhrfestspielen allerdings eher durchwachsen. Die Compagnie Hervé Koubi, die im Marler Theater ihr Stück „Barbarische Nächte oder der erste Morgen der Welt“ (Les nuits barbares) zur Aufführung brachte, überzeugte athletisch weitaus mehr als mit der recht einfallslosen Choreographie. Tolle Sprünge, Heber, Kopfstände; die Ursprünge im Breakdance erkennt man noch, doch haben die jungen Männer auf der Bühne diese Anfänge schon weit hinter sich gelassen.

Bunt bemalte Witzfiguren

Absoluter Tiefpunkt dieses Wochenendes aber war „Die Präsidentin“, eine Produktion des Theaters Magdeburg mit Corinna Harfouch in der Titelrolle. Das Stück spielt mit der Vorstellung, die Kandidatin des Front National wäre französische Präsidentin geworden. Ein französisches Comic-Buch habe als Vorlage gedient. Was also folgt? Scharfe Analysen, emotionslos-kühles Weiterdenken nach Art des Herrn Houellebecq?

Was man tatsächlich zu sehen bekommt, ist das trashige Herumgemache bunt bemalter Witzfiguren, die sich um Posten streiten, Ausländer hassen, den Staatsbankrott herbeiführen und was nicht sonst noch alles. Einfallslos ist diese Darbietung bis über die Schmerzgrenze hinaus, ironiefrei und dumpf. Kindertheater, hätte man früher vielleicht gesagt, aber Kinder würden sich so etwas nicht bieten lassen, jedenfalls nicht zweieinhalb Stunden lang. Nur der Vollständigkeit halber sei es erwähnt: natürlich wird ausgiebig mit der Videokamera gefilmt, werden die Szenen mit den unerquicklich bunt angemalten Mimen überlebensgroß auf eine Leinwand über der Bühne oder auch auf die Bühne selbst projiziert – Theater mit ganz, ganz langem Castorf-Bart.

Corinna Harfouch als Präsidentin mit Krone und Entourage (Foto: Marcel Keller / Ruhrfestspiele)

Wie konnte die Harfouch nur!

Bald schon, hallo Königsdrama, ist auch die Präsidentin dran und wird abgelöst, doch das Stück ist dann noch lange nicht am Ende. Identitäre und Reichsbürger kommen nun (thematisch) zum Zuge, Antifeminismus und, wenn ich jetzt nicht irre, auch noch das eine oder andere Umweltthema und irgend etwas mit Finanzmärkten. Außerdem Putin und seine 5. Kolonne und die hohen Reproduktionsraten der Nordafrikaner, die die Angst vor „Umvolkung“ schüren.

In ihrer Besessenheit, nun aber auch wirklich jedes Bedrohungsthema noch unterzubringen, gehen dieser Produktion (Regie: Cornelia Crombholz) zum Ende hin auch die Positionen verloren, klingen manche Sätze wie der AfD-Werbung entlehnt, was aber sicherlich eher Ausdruck inszenatorischer Inkompetenz ist.

„Die Präsidentin“ – ein Ärgernis. Unverständlich bleibt, warum Corinna Harfouch, die längst bewiesen hat, daß sie eine grandiose Schauspielerin ist, sich für so etwas hergibt. Unvergeßlich ist sie mir noch immer als Martha in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ am Deutschen Theater. Und jetzt das.

Im Uhrzeigersinn von oben links: Nils, Till, Maja und Lina Beckmann – „die Spielkinder“ (Foto: Die Spielkinder / Ruhrfestspiele)

Die erfrischenden Beckmanns

Für einen versöhnlichen Ausgang dieser kleinen Wochenendbetrachtung sorgten schließlich „Die Spielkinder“, die vier Geschwister Beckmann auf der Sonntagsmatinee im ausverkauften großen Haus. Die Mädels Maja und Lina, sind wohl etwas fernseh- und bühnenbekannter als die Jungs Nils und Till, alle vier haben mit dem Theater zu tun. Als Gäste waren Charly Hübner, Jennifer Ewert und Sebastian Maier mit dabei.

In der gekonnt unperfekt dargebotenen szenischen Lesung kamen neben ein paar Albernheiten Texte von Ralf Rothmann zum Vortrag, Schule, Ohrfeigen, Pubertät, Schlaghosen – aber auch intensive Passagen über Sterben und Tod der Mutter. Erstaunlicherweise paßten sie in diese Veranstaltung recht gut hinein; das muß etwas mit dem familiären Zusammenhalt zu tun haben, mit jener Vertrautheit, die auch den Tod nicht ausblendet.

Wenn man ziemlich genau so alt ist wie Rothmann, ist es übrigens gleichsam ein V-Effekt, daß die Stories, die die Beckmannkinder vortragen und vorspielen, einem in der Grundierung bekannt vorkommen, die jungen Leute das aber auf keinen Fall erlebt haben können. Wenn sie sich die Geschichten trotzdem zu eigen machen und auf ihre Art erzählen, kann man sicher sein, keiner Nostalgieveranstaltung beizuwohnen. Bei den Beckmanns entsteht da Neues, das ist überaus vergnüglich.

So. Nächste große Produktion im Großen Haus ist „König Lear“ in der Regie von Claus Peymann.

www.ruhrfestspiele.de




Tödliche Dreiecksbeziehung – „Einsame Menschen“ im Schauspielhaus Bochum

Man könnte sich in einer antiken Richtstätte wähnen. Gegenüber vom Saal ragen auf der Bühne weitere Zuschauerreihen auf, zwischen den Rängen befindet sich somit der Spielraum. In dessen Mittelpunkt wiederum dreht sich langsam eine Plattform mit fünf Stühlen, welche gemächlich von Schauspielern eingenommen werden, während seinerseits das Publikum seine Plätze einnimmt.

Man erkennt: Was immer in den nächsten zwei Stunden auf dieser Bühne geschehen wird, ist gründlichster allseitiger Betrachtung preisgegeben. Gespielt wird im Bochumer Schauspielhaus Gerhart Hauptmanns Stück „Einsame Menschen“ – genauer: das, was Regisseur Roger Vontobel daraus gemacht hat.

„Einsame Menschen“, uraufgeführt 1891 in Berlin, zählt zu den weniger bekannten Stücken Hauptmanns, behandelt aber doch einen durchaus aktuellen Konflikt. Johannes Vockerat, Wissenschaftler und Freigeist, empfindet wachsendes Unwohlsein in seiner engen, kleinbürgerlichen Existenz, in der Mutter und Vater (Katharina Linder und Michael Schütz), vor allem jedoch Gattin Käthe (Jana Schulz) nebst Nachwuchs seinem intellektuellen Streben enge Grenzen setzen.

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Junges Ehepaar, unglücklich: Jana Schulz und Paul Herwig als Johannes und Käthe Vockerat (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Als Anna Mahr, eigentlich eine Bekannte des Hausfreundes Braun (Felix Rech), die Szene betritt, ist Vockerat von ihrer Weltläufigkeit und ihrer Bildung geblendet. Er will sie binden, eine Art Dreiecksbeziehung schaffen mit der Intellektuellen hier und der jungen, schlichten Mutter dort, was erwartungsgemäß nicht funktioniert.

Käthe, eh noch geschwächt von der Niederkunft, kränkelt bald schon besorgniserregend, und die Leute reden. Ein väterliches Machtwort macht dem Unbotmäßigen ein Ende. Vockerat erträgt das nicht und erschießt sich – und Schluss.

Nun gut. Väterliche Machtworte sind etwas aus der Mode gekommen, doch ersetzte man sie durch ein zeitgemäßes Treuegebot für den jungen Familienvater Vockerat, so genügten die Postulate in „Einsame Menschen“ durchaus dem aktuellen Moralkodex. Seiner jungen Frau und dem gemeinsamen Kind untreu werden, das gehört sich auch heutzutage nicht. Trotzdem passiert es natürlich immer wieder, und die nächstliegende Frage für eine Inszenierung wäre doch, warum. Was macht Anna Mahr – nicht zufällig wohl klingt der Name ein wenig nach Nachtmahr – so attraktiv, was vor allem aber geht in Johannes Vockerat vor, der blind für die Kränkung seiner Frau ist und tatsächlich zu glauben scheint, die Nähe zu Anna Mahr werde völlig platonisch bleiben? Wirklich nichts Sexuelles?

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Ensemble am Klavier (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Das Desinteresse, das Roger Vontobels Inszenierung solchen zentralen Fragen entgegenbringt, ist, zurückhaltend ausgedrückt, bemerkenswert. Es bleibt auch unverständlich, warum Vontobel die Gelegenheit nicht nutzt, Anna Mahrs Attraktivität herauszuarbeiten. Therese Dörr muss in ihrer Rolle blass und wenig eindrucksvoll agieren und wirkt deshalb nicht eben wie eine Idealbesetzung.

Hingegen liegt das große Interesse der Inszenierung anscheinend darauf, das fragwürdige Glück in familiärer Enge plakativ zu machen. Dazu müssen Lieder herhalten, kirchliche zumal, doch auch Reinhard Meys etwas angekitschtes „Apfelbäumchen“ gelangt wiederholt zum Vortrag. Und weil vor Spielbeginn Notenblätter an das Publikum verteilt wurden, darf es sogar mitsingen.

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Dreiecksbeziehung, von links: Anna Mahr (Therese Dörr), Johannes Vockerat (Paul Herwig), Käthe Vockerat (Jana Schulz) (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Nötig für das Stückverständnis wäre all das sicherlich nicht, doch verhilft es der Veranstaltung zu Beginn vor allem zu einigen schönen Musiknummern. Der Sänger Tomas Möwes, ein drahtiger Mann im dunklen Anzug, der äußerlich wirkt wie vom Männergesangsverein abgeworben, hat einige großartige Auftritte und entwickelt sich zügig zum heimlichen Star des Abends. Zu preisen ist auch Cellist Matthias Herrmann, wenngleich aufs Ganze gesehen vielleicht etwas viel Musik im Stück ist. Mitunter verschlechterte sie (trotz Microports) das Verständnis des reichhaltigen Textes, der zudem oft etwas lieblos dargeboten wird.

Andererseits nötigt es einem Bewunderung ab, wie das gerade einmal sechsköpfige Ensemble gegen diesen brutalen, inszenatorische Konzentration konsequent verweigernden Bühnenraum erfolgreich anspielt. Vor allem den Darstellern galt daher der anhaltende, freundliche Schlussapplaus.

Termine: 16.11. (17 Uhr), 20.12. (19 Uhr), 28.12. (17 Uhr).
Karten Tel. 0234 / 3333 5555




Zerrüttung und Wahn – einst und jetzt / Uwe Dag Berlin inszeniert Hauptmanns „Einsame Menschen“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Was tun diese drei Frauen denn bloß? Sie schlagen um sich, als wollten sie ungute Träume wie lästige Insekten verscheuchen, dann reden sie wirr verhuscht aneinander vorbei, beziehungslos vor sich hin. Das soll also der Beginn von Gerhart Hauptmanns Stück „Einsame Menschen“ (1890) sein? In Bochum, wo jetzt Uwe Dag Berlin das Drama inszenierte, glaubt man’s anfangs kaum.

Geräumiges Landhaus am Müggelsee bei Berlin. Hierhin hat sich der Philosoph Johannes Vockerat (Martin Olbertz) samt Gattin Käthe (Annika Kuhl) und Baby zurückgezogen, um sein denkerisches Werk zu verrichten. „Sich einmummeln“ nennt die biedere Käthe das – in eher schaurigem als wohligem Vorgefühl. Und es wird ja auch nichts draus. Kaum taucht die Studentin Anna (Annemarie Knaak-Tiefenbacher) als Gast des Hauses auf, ist die Ruhe hin, und das Herz wird schwer. Johannes verliebt sich, sozusagen erst in ihren freien Geist, dann überhaupt in die Frau. Der Rest ist schlimmste Familien-Zerrüttung, Selbstmord, Wahnsinn.

Am Anfang toben und tollen sie durch den Text

In Bochum taumeln diese Menschen oft in größtmöglicher Distanz dahin. Manchmal brauchen sie gar Ferngläser, um die anderen noch wahrzunehmen. Furchtbar vereinzelte Leute eben. Wenn gegen Schluß des langen Abends ein Titel der Gruppe „Ton Steine Scherben“ („Alles, was uns fehlt / Ist die Solidarität“) aus den Lautsprechern dröhnt, so klingt das wie bittere Wahrheit, trostloser Hohn und hohle Phrase zugleich.

Ein gar finsteres und sprachlich schroffes Stück, das freilich in Bochum zunächst hell bis grell aufleuchtet. Vor roten Tapeten, zwischen umgestürzten Stühlen und unterm bezeichnenden Bildnis zweier Wissenschafts-Patriarchen (Bühnenbild: Hamster Damm) werden weite Teile der ersten Hälfte verjuxt, man tobt und tollt durch den Text.

Mit manisch wiederholten Gesten, von denen sie ganz beherrscht werden, stürmen die Figuren nach und nach die Bühne. Sie brüllen sich was von den Seelen. Groteske Witzfiguren. Hauptmann, so fürchtet man, wird zum Gaglieferanten fürs frei improvisierende Slapstick-Theater degradiert. Sehen und staunen im Kicher-Kabinett, vor allem die Manner sind ziemlich gaga: Der alkoholgierige Pastor (Heiner Stadelmann) würgt am Hals einer Weinflasche, die er zu tief in den Mund eingeführt hat.

Fein gesponnenes Verhältnis des Stoffs zu unserer Gegenwart

Johannes‘ Vater schnarrt immer mechanisch „Tja-Tja“ und ist so wenig bei Sinnen wie sein grüblerischer Sohn, der sich auch schon mal jaulend in den Teppich einwickelt.

Mag sein, daß es bei all dem mächtigen Proben Spaß gegeben hat, dessen Reste zur Premiere nur noch nicht ganz abgeschüttelt sind. Denn es entwickelt sich ja ganz anders. Die dreieinhalbstündige Inszenierung ergeht sich zunehmend in leiseren Momenten; sie spürt nun, da der Trubel gemindert ist, wirklich aufmerksam dem Schmerz der Personen nach und gewinnt frappierend an Nuancenreichtum. Und zwar auf zeitgemäße Weise: Aufgefächert werden nicht nur die Leiden der Eifersucht, sondern auch gesellschaftliche Zwänge („Frauenfrage“, wie man seinerzeit sagte).

Man merkt durchaus, daß der Text mittlerweile historisch ist, aber die Inszenierung legt – aufs Ganze gesehen – recht behutsam Schichten neueren Erlebens darüber. Ohne Jahrzehnte des Selbsterfahrungs-Kults, politischer Revolten oder auch die Tics der Computer-Generation wäre sie so nicht denkbar. Respekt vor dem Ensemble, das mehrere zeitliche Ebenen und Gefühlslagen sinnfällig überblenden kann!

Und so wird Hauptmanns letztlich doch nicht verkaspert, sondern in ein fein gesponnenes Verhältnis zu unserer Gegenwart gesetzt. Manche sagen, daß Theater genau dazu da seien. Der frenetische Beifall prasselte lang.

Termine: 5., 18., 23. und 26. Dezember. Karten: 0234/3333-111.




Wenn die Kindfrau mit ihren Verehrern singt – Gerhart Hauptmanns „Und Pippa tanzt“ als Rockoper in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Niemand ist vollkommen: Neben Klassikern wie „Die Weber“ und „Die Ratten“ hat Gerhart Hauptmann auch ziemlich verquaste Texte auf dem Kerbholz; zum Beispiel sein theatralisches Glashütten-Märchen „Und Pippa tanzt“ (Uraufführung 1906). Daraus hat man jetzt beim Wuppertaler Schauspiel eine Rock-Oper gestrickt.

Um sich von der bedrohlich flammenden Faszination durch die damals 17jährige Schauspielerin Ida Orloff „freizuschreiben“, hat der 43jährige Ehemann seine wunde Seele dramatisch in mehrere Männerfiguren aufgespalten, die allesamt von der Kindfrau und Tänzerin Pippa magisch angezogen werden. Vier Seelen wohnen, ach, in seiner Brust: ein bürgerlicher Genußmensch (Glashüttendirektor), ein tierisches Triebwesen (Glasbläser Huhn), ein junger Schwärmer aus treudeutschem Geiste (Wandergesell Hellriegel) und ein mystischer Zauberer (Dr. Wann).

Alles drängt nur noch bebend zum Licht

In Hauptmanns Männer-Phantasien ist Pippa, Mädchen aus Venedig, die wahlweise als verlockendes „Vögelchen“, „Schmetterling“ oder „Motte“ bezeichnet wird, nur Projektionsfläche aller möglichen erotischen und künstlerischen Begierden. Daraus erwächst ein symbolistisches Gewoge, das keine Menschen, sondern stets nur Prinzipien und Traumbilder zueinander treibt.

Nur die derbe Eingangsszene in einer Schenke, wo Pippas Vater wegen Falschspiels erstochen wird, gibt sich noch naturalistisch. Danach wird’s wolkig, und alles drängt nur noch bebend zum Licht, endet aber finster. Kein idealer Stoff für rockmusikalische Zubereitung. Doch auf Hauptmann-Texten lasten keine hinderlichen Rechte mehr, man kann praktisch alles mit ihnen anstellen. Und irgendwann müssen sich die Beteiligten auch gesagt haben: Zum Deibel mit Hauptmann, wir machen unser eigenes Ding!

Dann aber hätten Texter Gerold Theobalt und Gastregisseur Tom Mega, der manchen als Kultrockstar gilt, das Stück auch konsequent durch den Wolf drehen sollen. So schleichen sich jedoch – nicht nur gesanglich – viele schiefe Tonlagen ein, denn manchmal nimmt man das Märchen für bare Münze, dann wieder weiß man offenbar nicht so recht…

Schlichte Farbdramaturgie: Die begehrte Pippa (bestürzend naiv und geheimnislos wirkend: Franziska Becker) kommt ganz in Rot daher, ihre Verehrer schwarz oder weiß, gelegentlich bläulich angestrahlt: schlesisch-nördliche Kälte, die sich nach italienischer Hitze in Literatur und Liebe sehnt. „Brenne, zünd‘ an, loder auf“, heißt es dann brünstig im Text. Dämonisch röhrt solche Zeilen der alte Huhn (Bernd Kuschmann), der schließlich Pippa mit ins Verderben reißt.

Die Reimqualität der Songs erhebt sich nicht allzu weit übers „Herz-Schmerz“ oder „Not-Tod“-Schema. Bekanntlich gibt’s gute Rockmusik mit simplen Texten, doch hier wird die akute Wortschwäche oft nur noch grell ausgestellt.

Dem „Tanz“-Titel zum Trotz wirkt die Aufführung hüftsteif und ungeschickt Die Bühne (Oliver Kostecka) ist unpraktisch vollgestellt, Figuren, die gerade nichts von sich geben, drucksen herum. Die beherzten Griffe zu den Gesangsmikros – zumal vom Sterbelager aus – sorgen für unfreiwillige Komik.

Die Musikstücke selbst, komponiert von Otto Beatus und dargeboten von den Lokalmatadoren „Das Pferd“, sind kreuzbrav, die Melodie-Linien oft bis zur Selbstverleugnung einfach. Das ist auch gut so, denn nicht alle Schauspieler können singen.

Bis zum Saisonende durchgehend im Schauspielhaus Wuppertal. Karten: 0202/563-4444.

 




Über die Revolte wird nur geredet – Roland Gall inszeniert Hauptmanns „Weber“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Unter der gebieterischen Titelzeile „Schluß jetzt mit Hauptmann?“ bezeichnete der Kritiker Peter Iden („Frankfurter Rundschau“) 1987 die Beschäftigung unserer Bühnen mit Gerhart Hauptmanns Dramen als überflüssig. Das sei „totes Theater“, ganz von gestern.

Nun gibt es immer mal wieder Sternstunden, in denen angeblich „unspielbare“ Stücke sich als überraschend spielbar erweisen. Eine solche Sternstunde wurde Wuppertal, wo Roland Gall (1980-84 Dortmunder Oberspielleiter) Hauptmanns „Die Weber“ in Szene setzte, allerdings nicht zuteil.

Die Bühne (Frank Chamier) ist naturalistisch gestaltet, die Dinge bedeuten nur sich selbst: Szenen wie Genre-BiIder, insgesamt zu harmlos. Auch eine Symbolik der Art, daß die Fabrikantenwohnung sich als Luxus-Gehäuse über einer Weberhütte befindet, ist gar zu offensichtlich.

Zudem wird das Elend der schlesischen Weber von 1844 durch die Kostüme (Angelika Uhlenbruch) eher behauptet als im Spiel beglaubigt. Es kommt zu keiner – womöglich erhellenden – Neu-Begegnung mit dem Text, der Zugriff durchdringt das Stück nicht. Kaum wird deutlich, warum man sich gerade für diesen Text interessiert hat.

Gespielt wird in Wuppertal nicht Hauptmanns dialektdurchsetzter Text von 1892, sondern eine hochdeutsche Neubearbeitung von Karl Otto Mühl. Das bedeutet einen Zugewinn an Verständlichkeit, poetisch aber einen Verlust. Man vermißt nicht nur berühmte Seufzer à la „Nu ja ja – nu nee nee!“, sondern vor allern die soziale Differenzierung nach Sprach-Schichten: Je näher einer den Herrschenden steht, desto eher versucht er sich in der Hochsprache. Hier aber redet der Weber fast so wie seine Ausbeuter.

Ein paar Eingriffe hat Roland Gall gewagt: Er verzichtet praktisch ganz auf Massenszenen, ersetzt sie durch skandierte, mit Trommelmusik (Heinrich Huber) untermalte Rebellions-Rufe vom Band – Revolte aus der Konserve? Auch als die Weber ins Haus des Fabrikanten Dreißiger eindringen, schlagen sie nicht etwa alles kurz und klein, sondern erstarren zum Gruppen-Tableau. Somit laufen all die vielen Reden, die rund um die Rebellion geführt werden, ins Leere, beziehen sich auf keine konkrete Tat, nähern sich einern bloßen Revolutions-Geschwätz. Der Aufstand wird nur noch herbeigeredet, nicht wirklich vollführt. Auch auf der Gegenseite steht keine echte Macht: Hans Christian Seeger als Fabrikant Dreißiger ist nur ein Schmalspur-Herrscher und führt eine Ideologie im Munde, an die er wohl selbst nicht mehr glaubt.

Ein Großteil des Ensembles, viele in Mehrfach-Rollen, wirkt mit. Die Leistungen reichen vom gelegentlichen Chargieren über ordentliche „Ablieferung“ der Rolle bis hin zur „Erledigung“ (letzteres im Doppelsinn). Einige schöne Gestaltungen ragen aber doch heraus, zumal in Nebenrollen: Besonders Josef Ostendorf (Reisender, Chirurg) und Karin Neuhäuser (als debiler Webersohn August Baumert), der es für einige Momente gelingt, dem Geschehen einen geradezu idiotischen Schrecken zu verleihen. Auch Dietmar Bär als brutaler Revolten-Karrierist Moritz Jäger und Bernd Kuschmann als Lumpensammler Horig machen ihre Sache recht gut. Horst Fassel (Weber Baumert) und Günther Delarue (Hilse) agieren solide, wie man es von bewährten Stutzen des Ensembles erwartet.

Herzlicher Beifall für die Schauspieler, ein paar zaghafte Buhs für die Regie.