Him und Brom, Glimpf und Toffel

Doch, doch, ich erinnere mich an Momente oder gar Phasen im Studium, die wirkliche Aha-Erlebnisse beschert haben. Freilich geschah dies eher abseits vom Hauptweg.

Him und Brom, hübsch sortiert. (Foto: Bernd Berke)

Him und Brom, hübsch ordentlich sortiert. Und wer knipst nun den Glimpf? (Foto: Bernd Berke)

Zuerst aber kurz zum Zeitgeist, der damals in der Germanistik herrschte: Es war Brauch, zunächst einmal alles als bloßen und blanken Text (im Sinne eines sprachlichen Gewebes, einer Textur) zu verstehen – von der Boulevard-Schlagzeile bis zum Rilke-Gedicht, vom Flugblatt bis zum Toilettenspruch und zum Werbeslogan.

Die Parole hieß: Bloß keine grundlegenden Unterschiede, keine Hierarchien! Selbst der beste Roman wäre demnach auch nur ein textueller Sonderfall. Alles sollte herunter von den imaginären Denkmalssockeln.

Das Wort „Dichtung“ war verpönt

Man ließ es sich angelegen sein, „Texte“ noch und noch zu zergliedern, bis nur noch ein Skelett übrig blieb. Liebe zur Dichtung wurde auf diese Weise nicht unmittelbar befördert. Auch nicht mittelbar. „Liebe“ und „Dichtung“ durfte man eigentlich überhaupt nicht sagen oder denken. Das galt als hoffnungslos romantisch, bürgerlich und veraltet. Das war soooo Benno von Wiese… Bertolt Brechts „Glotzt nicht so romantisch!“ wurde derweil zu Tode zitiert. Es war die Zeit, als bei den Historikern kaum eine Seminararbeit denkbar war, in der nicht ausgiebig aus MEW (Marx-Engels-Werke) zitiert wurde. Die Herren hatten ja den Weltenlauf schon vorhergesagt…

Kafka hielt es nicht mit den Proletariern

So kamen manche, schwerstens und gröbstens linke Kommilitonen zu irrwitzigen Urteilen wie dem, dass etwa Franz Kafka es nicht ausdrücklich mit den Proletariern seiner Zeit gehalten habe und somit für den Fortgang der Historie nur von minderer Bedeutung sei. Wie denn überhaupt alle Interpretation verpönt war, die der Literatur immanent blieb und nichts sofort aufs Gesellschaftliche, am besten gleich auf den Klassenkampf abhob. Unter solchen Auspizien blieben nicht viele Schriftsteller übrig, die man gelten lassen durfte. Wie gut, dass man durch mancherlei Lektüre gegen solchen Schwachsinn „geimpft“ war – allem Zeitgeist zum Trotz.

Herz- und lieblos zergliedert wurden nicht nur kunstvolle Werke, sondern das Gerüst der Sprache selbst. Linguistik in Form der Generativen Transformationsgrammatik gehorchte eher dem mathematischen Denken und war für jeden Wortfex eine Quälerei, die just auch mit Liebe zur Sprache nichts mehr gemein hatte. Solche nichtsnutzigen Gefühle sollten einem offenbar gründlich ausgetrieben werden.

Als der Prof über Ich-Schwäche redete

Und schon komme ich zur anfangs angedeuteten Sache. Natürlich gab es in allen Fächern auch Professoren und Dozenten, die derlei engstirnige geistige Begrenzungen bei weitem überstiegen haben. Sie haben einem unverhofft unvergessliche Momente beschert. So etwa ein Dozent, der sich phantasiereich über Zeit- und Raumkonstruktionen in Romanen ausgelassen hat. Oder ein anderer, höchlich renommierter Geschichts-Professor, von dem bei mir am meisten seine Suada haften geblieben ist, unsere Generation (also die der Studenten) sei ausgesprochen ich-schwach. Darüber hätte man diskutieren sollen.

Überhaupt ist es seltsam, was man über all die Jahre hinweg so bei sich behalten hat: Das unscheinbare Beispiel mit den Him- und Brombeeren wird mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Isoliert man die Bestandteile Him und Brom, so hat man Silben, die im Deutschen mutmaßlich einmalig sind (wenn man mal vom chemischen Element Brom absieht).

Im Randbereich des Absurden

Wie ich gerade jetzt darauf komme? Nun, in den letzten Tagen sind mir zwei vergleichbare sprachliche Sinn- und Unsinns-Einheiten wie von selbst beigekommen. Zum einen der/die/das „Toffel“, wie es in Kartoffel und Pantoffel vorkommt – und sonst wohl nirgends, außer bei Zusammensetzungen wie Kartoffelsalat oder Pantoffeltierchen. Zum anderen wäre da der/die/das „Glimpf“, wie wir es in glimpflich oder verunglimpfen finden – und sonst an keiner Stelle.

Mit der Frage, was denn wohl „Glimpf“ und „Toffel“ besagen, gerät man in die Randbereiche des Absurden. „Glimpf“ scheint etwas glückhaft Harmloses zu bedeuten, „Toffel“ ist noch kryptischer. Wäre am Ende der Pan-Toffel ein allumfassender Toffel und die Kar-Toffel ein Trauer- oder Schmerzens-Toffel? Nee, hier wird nicht gegoogelt. Vor manchen erhabenen Rätseln sollte man demütig schweigen.

Fast möchte man wetten, dass begnadete Satiriker, Komiker und Parodisten wie Heinz Erhardt, Loriot oder Robert Gernhardt sich zuweilen mit solcherlei Fragen befasst haben. Auch der unvergessene SPD-Poltergeist Herbert Wehner hätte wohl am „Toffel“ Gefallen gefunden, hat er sich doch mit dem artverwandt klingenden (und übrigens auf Helmut Kohl gemünzten) „Düffeldoffel“ im Bundestag sprachlich verewigt. Aber das, liebe Kinder, ist eine ganz andere Geschichte.




Gerhard Mensching: Germanist, Puppenspieler, Romanautor – eine wehmütige Erinnerung

Revierpassagen-Gastautor Heinrich Peuckmann, in Bergkamen lebender Schriftsteller, erinnert an den 1992 verstorbenen Bochumer Autor und Germanisten Gerhard Mensching, der viele seiner Studenten nachhaltig beeinflusst hat:

Romane und Erzählungen von Gerhard Mensching zu lesen, löst bei mir Freude und Wehmut zugleich aus. Freude, weil es ein schönes Leseerlebnis ist, sich mit den phantasievollen Geschichten dieses Autors, die immer auch mit der Realität spielen, zu beschäftigen. Wehmut, weil ich an der Ruhruniversität in Bochum bei Mensching Germanistik studiert habe. Nein, nicht einfach nur studiert, sondern er und seine Seminare haben mich geprägt.

Vieles, was ich später als Schriftsteller an Kenntnissen und Techniken gebraucht habe, habe ich mir bei ihm aneignen können. Nach meinem Examen haben wir uns für einige Jahre aus den Augen verloren, dann aber den Kontakt wiederbelebt. Wir haben in Briefen und Telefongesprächen gemeinsame Projekte abgesprochen, doch als wir sie umsetzen wollten, ist er ganz plötzlich verstorben.

mensching

Wehmut also, wenn ich auf ihn und seine Geschichten stoße, weil sich die Frage aufdrängt, was noch möglich gewesen wäre. Möglich bei ihm, diesem unglaublich kreativen Menschen, aber auch bei uns, denn die Zusammenarbeit mit ihm, das weiß ich, wäre für mich fruchtbar gewesen. So bleibt nur die tief befriedigende, aber von Melancholie durchzogene Freude, seinen Geschichten wieder zu begegnen oder andere, die ich noch gar nicht kannte, zu entdecken.

In E.T.A. Hoffmanns Tradition

Mensching stand in der Tradition der Novellistik des 19. Jahrhunderts, vor allem E.T.A. Hoffmann, der Gespenster-Hoffmann, hatte es ihm angetan. In jedem seiner Seminare tauchte er mindestens am Rande auf und wer Hoffmann kennt, weiß, dass man sich auf einen platten Realitätsbegriff bei ihm nicht verlassen darf. In Fichtescher Tradition, nach der das Ich sich sein Gegenüber selbst setzt, ist ein objektives Weltverständnis nicht zu erwarten.

Bei Mensching gespenstert es ebenfalls, können Gegenstände durch die Wand gereicht werden, passieren Dinge, die mit normalen Maßstäben nicht vereinbar sind. Aber immer entwickelt Mensching daraus Geschichten, die der Leser ihm abnimmt, weil er daraus eine neue, in ihrem eigenen Sinne glaubhafte Realität entwickelt.

Beispielhaft dafür steht sein bester Roman, „E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung“. Natürlich passieren in diesem Roman die tollsten Dinge, ganz im Sinne von Hoffmann, aber der Hintergrund der Geschichte, dass der Dichter gar keines natürlichen Todes gestorben ist, sondern der preußische Geheimdienst nachgeholfen hat, weil ihm dieser politische Kopf zu gefährlich war, ist absolut glaubhaft. Mensching entwickelt diese Überlegung an der Romanfigur Friedrich Rieger, der dem schon gelähmten Dichter als Sekretär gedient hat und dem Hoffmann seine letzten Geschichten diktierte. Zwanzig Jahre nach Hoffmanns Tod spürt Rieger plötzlich, dass er selber verfolgt wird und er beginnt zu ahnen, warum das so ist. E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung spielt eine Rolle, noch immer scheinen die Herrschenden Angst zu haben vor diesem kritischen Dichter.

Was einen Unterhaltungsroman ausmacht

Als ich den Roman kurz nach Menschings Tod las, erinnerte ich mich an ein Seminar bei ihm, in dem wir uns das Konzept eines guten Unterhaltungsromans überlegten. Zuerst einmal, notierten wir, muss er ein wichtiges, auch politisches Thema haben, wobei für Mensching der politische Anspruch auf gar keinen Fall vordergründig sein durfte. Anfangen, meinten wir, müsse der Roman mit einer spannenden Episode, dann müsse etwas Erotisches folgen, was bei Mensching sowieso immer eine Rolle spielte, dann muss die Gegenseite gezeigt werden, dann wieder turbulente Aktion. Mensching fand gut, dass wir so ein Konzept erstellten, die Unterscheidung zwischen ernsthafter und unterhaltender Literatur hat er sowieso nie mitgemacht. Unterhaltung kann auch ernsthaft sein, sie kann vor allem Tiefgang haben, das war seine Position. Genauso wie es unsere war.

Phantastische Welt des Puppentheaters

Wenn man die Wurzel seiner phantastischen Geschichten fassen will, liegt der Bezug zu Hoffmann nahe. Bei Mensching kam aber noch etwas anderes hinzu. Die ersten Jahrzehnte seiner schriftstellerischen Arbeit hat er mit Puppenspiel verbracht. Mensching hatte ein Puppentheater, er spielte selber und schrieb die Stücke dazu. „Lemmi und die Schmöker“, der bekannte Bücherwurm, hat viele Jahre lang im Fernsehen die Kinder erfreut.

Kann man einen solchen Schriftsteller ernst nehmen? Aber ja, Tankred Dorst, der bekannte Theaterschriftsteller, mit dem Mensching befreundet war, hat genauso angefangen. Mensching hat mir mal eines von Dorsts Puppentheaterstücken in Schreibmaschinenschrift geliehen. Und wer Puppentheater liebt, wer Kinder in eine phantastische Welt hineinziehen will, muss einfach phantasievoll schreiben. Ich glaube, dass Mensching diese Erfahrung aus seinen Anfängen auf seine neun Erzählbände, Novellen und Romane übertragen hat, die er in nicht einmal einem Jahrzehnt geschrieben hat.

Eruptives Schreiben

Ja, es waren nur wenige Jahre, in denen er ernsthaft schrieb, denn Mensching hat lange nach einem eigenen Weg gesucht. Sollte er Wissenschaftler werden oder Puppenspieler oder doch Autor? Als er sich zum Schreiben von Romanen und Novellen entschloss, war es wie eine Eruption. Jedes Jahr gab es eine Publikation von ihm, und so musste es auch sein, denn es blieben ihm leider nur noch wenige Jahre.

Hochaktuell ist zum Beispiel die Erzählung von Herrn Krotta, der irgendwann beschließt, dass es Zeit sei zu sterben. Er weiß, dass so etwas von einem Institut erledigt wird, das mehrere Varianten des Sterbens anbietet. Krotta wählt den teuren, den Liebestod, seine Frau ist einverstanden, möchte aber noch ein bisschen leben. Am vereinbarten Todestag erscheint Krotta eine wunderschöne Frau und sein Todeswunsch erlischt augenblicklich. Diese Frau zu besitzen und mit ihr zu fliehen, ist plötzlich ein lohnenswertes Ziel. Warum sterben, wenn das Leben so schön sein kann? Die Frau geht darauf ein, gemeinsam flüchten sie in ein Hotel, wo Krotta bei der ersehnten Umarmung aber plötzlich einen heftigen Schmerz verspürt. Kurz drauf ist er tot. Die Frau verlässt das Hotel und trifft draußen im parkenden Wagen ihren Mann. Der hat ebenfalls gerade jemanden ins Jenseits befördert. Die beiden sind zufrieden, dass ihre Aufträge wie gewohnt geklappt haben. Sie werden Sonderprämien bekommen und haben folglich Geld genug, um erst mal essen zu gehen.

Das ist weiß Gott eine Mensching-Geschichte! Sie hat ein skurriles Thema, fast eine wie aus unserer Zeit, dazu einen Schuss Gesellschaftskritik durch den bestellbaren Tod und außerdem eine Portion Erotik. Der Leser weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll.

Verdienstvolles Lesebuch

Prof. Walter Gödden hat in „Nylands kleine westfälische Bibliothek“ (Nyland-Stiftung, 59227 Ahlen) ein Lesebuch mit ausgewählten Texten von Gerhard Mensching herausgegeben. Die sehr verdienstvolle Publikation befördert einen Autor ans Tageslicht, über den sich schon Dämmerung ausgebreitet hatte. Dämmerung, aber kein Schatten, denn dazu sind Menschings Texte viel zu gut.

Gödden hat die Auswahl sehr geschickt getroffen, ein Reader ist entstanden, bei dem auch die Textauszüge in sich geschlossen und für den Leser verständlich sind. Vor allem macht die Textauswahl Lust, sich mit diesem Autor zu beschäftigen, dem neun Jahre reichten, um sich weit nach vorn zu schreiben. Nach der Lektüre dieses Lesebuchs hat der Leser garantiert Lust, sich mit einem von Menschings Romanen oder Novellenbänden zu beschäftigen.

„Lesebuch Gerhard Mensching“. Zusammengestellt von Walter Gödden. Aisthesis Verlag, Köln, 2013. 176 Seiten, 8,50 Euro. ISBN 978-3-895289842.




Damals in Bochum – eine Erinnerung zum Tod des Germanisten Jochen Schulte-Sasse

Ich habe das bisweilen etwas lächerlich oder schlimmstenfalls gar aufgeblasen gefunden, wenn – vorzugsweise im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen“ – dahingegangene Professoren gewürdigt wurden.

Meist übernahmen hochkarätige Fachkollegen die Aufgabe, hin und wieder auch ehemalige Studenten, die es inzwischen (z. B. als FAZ-Mitarbeiter) zu etwas gebracht hatten und das auch in jeder Zeile gern durchblicken ließen. Schauplätze der vielfach variierten Saga vom hergebrachten akademischen Glanz, der seither aber leider verblasse, waren besonders altehrwürdige Edel-Universitäten wie etwa Heidelberg, Tübingen, Göttingen oder München.

Jochen Schulte-Sasse (Foto: © University of Minnesota)

Jochen Schulte-Sasse (Foto: © University of Minnesota)

Wie ich darauf komme? Weil jetzt ein Lehrender gestorben ist, den ich selbst als Student an der Bochumer Ruhr-Uni habe erleben dürfen. Die Nachricht von seinem Tod hat mich in Zeitweh versetzt. Der mittlerweile emeritierte Germanistik-Professor Jochen Schulte-Sasse war einer, der einen schon in den anfänglichen Proseminaren wissbegierig machte. Ich kann mich gut erinnern, wie er als junger Assistent – gemeinsam mit Renate Werner – die überfüllten Einführungskurse für Hunderte von Studenten gehalten hat.

Es waren dies keine idealen Bedingungen für Forschung und Lehre. Doch die beiden haben einem gleichwohl manches vom Sinn und Wesen der Literatur aufgeschlossen, und zwar damals nicht anhand von Goethe, Hölderlin, Rilke, Brecht oder Benn, sondern beispielsweise, indem sie den Roman „Im Hause des Kommerzienrats“ der als trivial verschrienen Eugenie Marlitt (1825-1887) eingehend analysierten. Eines der Spezialgebiete von Schulte-Sasse war die „Literarische Wertung“, die sich, um ihre Kriterien zu gewinnen, eben auch mit so genannter Trivialliteratur auseinanderzusetzen hatte. Erst danach durften gut begründete Urteile gefällt werden – und nicht schon nach bloßem Hörensagen.

Ich glaube, dass solche Seminare viele Kommilitonen bis in ihr späteres Berufsleben hinein geprägt haben. Wie anders war das; anders als alles, was man zuvor im schulischen Deutsch-Unterricht kennen gelernt hatte. Diese wache Neugier, dieses luzide Argumentieren, diese Vorurteilsfreiheit. Dieses immer neu geschärfte Instrumentarium, das geeignet war, Tiefenstrukturen literarischer Schöpfungen zu sondieren. Wer da nicht für das Fach gewonnen war, hat sich wohl nie wirklich dafür interessiert!

Leider blieb Schulte-Sasse der Bochumer Universität nicht lange erhalten. Schon 1978 wurde er in die USA berufen, wo er und andere die Universität von Minneapolis (Minnesota) zu einem Zentrum der amerikanischen Germanistik machten.

Den Nachruf auf Jochen Schulte-Sasse habe ich gestern übrigens just in der FAZ gefunden. Autor der Würdigung war Prof. Jürgen Link, in den 70er Jahren ebenfalls Lehrender an der Ruhr-Uni, später dann in Dortmund. Bei ihm habe ich leider nur Vorlesungen belegt. Ach, man hat im Laufe der Jahre schon so manches versäumt…

Was ich noch sagen wollte: Den einleitenden Absatz möchte ich gern relativieren. Denn mag auch Bochums Uni weder altehrwürdig noch sonderlich edel sein (äußerlich ist sie seit jeher eher das Gegenteil), so hat sich doch auch hier längst eine Tradition herausgebildet, die mit gewichtigen Namen aufwarten kann. Das ist schon mindestens ein Innehalten wert.




Anstöße für besseres Amtsdeutsch – Beispielhaftes Projekt der Bochumer Uni: Germanisten beraten 17 Stadtverwaltungen

Von Bernd ßerke

Bochum. Leitfäden für „bessere“ deutsche Amtssprache gibt es schon seit rund 250 Jahren. Doch bei der Lektüre von Behörden-Briefen glaubt man zuweilen, dass solche Ratgeber nichts genützt haben. Ein bundesweit einmaliges Projekt an der Bochumer Ruhr-Uni stemmt sich gegen die offenbar hartnäckigen Unsitten.

Immerhin: „Ganz so schlimm, wie man meint, ist Amtsdeutsch eigentlich gar nicht mehr.“ Das sagt eine, die es wissen muss. Die Germanistin Michaela Blaha betreut das Projekt „Idema“ am Lehrstuhl von Prof. Hans-Rüdiger Fluck. Inzwischen berät man 17 Stadtverwaltungen in sprachlicher Hinsicht, darunter Bochum, Wuppertal und Witten.

Die Kommunen zahlen eine einmalige Gebühr und können dann dauerhaft auf diverse Dienste zurückgreifen. Eine Internet-Datenbank mit anschwellender (Un)-Wortliste zählt ebenso dazu wie komplett korrigierte Briefmuster oder eine Hotline für akute Zweifelsfälle.

Textbausteine aus dem Computer

Michaela Blaha ahnt, warum Amtsdeutsch noch heute vielfach so hölzern klingt: „Seit den späten 70er Jahren werden Textbausteine in Computern gespeichert und immer wieder verwendet.“ So pflanzen sich krude Wortschöpfungen über Generationen fort. Motto: Das haben wir schon immer so gesagt…

Es geht aber nicht nur um Schönheit, sondern auch um Genauigkeit. Manche Ausdrücke bleiben vor allem deshalb stehen, weil sie sich juristisch als wasserdicht erwiesen haben. Deshalb lassen die Bochumer Germanisten ihre Vorschläge auch von einer Anwaltskanzlei vorab prüfen – freilich ohne Garantie. Die Städte bleiben rechtlich verantwortlich. Beispielsweise dafür, ob sich der behördliche Begriff „Öberflächenwasser“ in jedem Falle schlicht durch „Regen“ ersetzen lässt.

Rund 1500 Behördentexte haben die Uni-Leute mittlerweile untersucht. Auf dieser stetig wachsenden Basis soll bald ein Buch entstehen.

„Beigefügt“ und „vorbezeichnet“

Einige Grundübel der landläufigen Behördensprache sind in einen ersten Leitfaden eingeflossen, der allerdings auch kleine Tücken hat: Häufig werden „amtlicherseits“ (auch so ein Wörtchen) kaum verständliche Abkürzungen oder Fachausdrücke verwendet. Da ist mitunter die verschleiernde Rede von „gesetzlich zulässigen Vollstreckungsmaßnahmen“. Die Sprachwissenschaftler empfehlen Klartext: Pfändung oder Erzwingungshaft. Überhaupt raten sie dazu, Sachverhalte konkret zu formulieren.

Partizipialkonstruktionen („anfallende“, „beigefügte“, „vorbezeichnete“) sind generell verpönt. Steif klingt der „Hauptwortstil“: Statt „Unter Bezugnahme auf…“ könnte es einfach heißen „Ich beziehe mich auf.“ Hässlich sind Bandwurmwörter wie Eignungsfeststellungsverfahren“. Für ganze Sätze gilt gleichfalls: Bloß nicht zu lang und zu verschachtelt. Die gesamten Texte sollten sinnvoll (das Wichtigste zuerst) und übersichtlich gegliedert sein.

Wie passiv darf’s denn sein?

Im schlechten Sinne ,amtlich“ muten anonym und passiv formulierte Schreiben an – mit Wendungen wie: „Es wird angeordnet“. Dann lieber so: ,Ich ordne an.“ Allerdings warnen die Fachleute an anderer Stelle auch vor einem allzu strikten „Ich-Stil“, der sich nach persönlicher Willkür anhören könnte. Statt „Ich erwarte von Ihnen“ soll es nun auf einmal heißen „Erwartet wird von Ihnen…“ Nicht ganz konsequent: Da lugt das Passiv wieder durch die Hintertür…

Etwas unbeholfen wirken auch die akademischen Tipps zur sprachlichen Geschlechter-Gerechtigkeit. Damit das Geeiere um „Beamten und Beamtinnen“ oder gar um „BeamtInnen“ aufhört, will Leitfaden neutrale „verbeamtete Personen“ aufleben lassen. Das ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss.

Über Sprachfragen geht schließlich dieser Hinweis der Germanisten hinaus: „Einen höflicheren Stil erreicht man schon durch den Einsatz von Wörtern wie bitte oder danke.“

Quittieren wir’s mal so: Vielen Dank, dass Sie an die gute Kinderstube erinnern!

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HINTERGRUND

Gebühren nach Ortsgröße gestaffelt

  • Orte bis 1000 Einwohner zahlen einmalig 1000 Euro für die Uni-Sprachberatung, über 500 000 Einwohner sind 12000 Euro fällig. Für einige Städte ist dies offenbar schon ein Finanzproblem. Auch daher das schmale Projekt-Budget: 40 000 Euro für zwei Jahre.
  • „Idema“ ist eine Abkürzung. Volltext: Internet-Dienst für eine moderne Amtssprache.
  • Beispiele aus der Idema-Datenbank (Verbesserungstipps in Klammern):
  • Ablichtung (Kopie), Blockbeschulung (Blockunterricht), Eignungsfeststellungsverfahren (Eignungstest), entrichten (zahlen), fernmündlich (telefonisch), vorstellig werden (besuchen), zur Auszahlung bringen (auszahlen).
  • Info: 0234/32 27016.
  • Internet: www.moderneverwaltungssprache.de

 




Alte Schätze der Sprache – Das Grimmsche Wörterbuch auf CD-Rom

Von Bernd Berke

Man stelle sich vor: Hunderte von Chinesen, die in zwei großen Gruppen (unabhängig voneinander) je 300 Millionen lateinische Schriftzeichen zur digitalen Erfassung eintippen. Textvorlage war das gigantische Wörterbuch, das einst die Gebrüder Grimm begründet haben. Mit anderen Worten: d i e „Schatztruhe“ der deutsehen Sprache schlechthin.

Der Kraftakt in fernen Landen war nur eine von vielen Etappen auf dem beschwerlichen Weg zur elektronischen Ausgabe des berühmten Grimmschen Wörterbuchs, wie sie nun beim Verlag Zweitausendeins vorliegt. Eigens ausgefeilte Computer-Programme haben die chinesischen Gruppen-Versionen verglichen und offenkundige Irrtümer getilgt. Sodann war ein penibler Datenabgleich mit den konventionell gedruckten Büchern (320 000 Schlagwörter!) fällig. Und noch so mancher Arbeitsgang mehr.

Hoffnung der Macher: Wenn Chinesen solch „fremdartige“ deutsche Texte tippen, neigen sie nicht zu eigenmächtigen Schreibweisen, sondern achten (wie sie’s von ihrer Schrift kennen) auf haarfeine Formunterschiede – auch bei mannigfachen Sonderzeichen.

Die Fleißarbeit unter Federfühmng eines Trierer Germanisten-Teams und vieler weiterer Fachleute kann es fast mit den Mühen der Brüder Grimm aufnehmen, die ja keinesfalls nur Märchen aufgezeichnet haben. Mindestens ebenso bedeutsam ist ihr legendäres Wörterbuch-Projekt, das sie 1838 in Angriff nahmen. 1854 erschien der erste Band.Jacob und Wilhelm Grimm beschäftigten zur Fundstellen-Suche etliche Helfer in allen deutschsprachigen Regionen. Schließlich galt es, das Schriftgut seit Erfindung des Buchdrucks zu durchforsten und zudem Vorläufer (Althochdeutsch usw.) einzubeziehen.

Ergebnis von über 100 Jahren Arbeit

Wie man früher zu sagen pflegte, starben beide Brüder „in den Sielen“, also gleichsam bei der Arbeit. Wilhelm Grimm war bis zum Buchstaben „D“ gekommen, als er 1859 verstarb. Jacob Grimm saß vor seinem Tod (1863) über dem Stichwort „Frucht“. Generationen von Germanisten haben das Wörterbuch fortgesetzt, bis es (nach über 100 Jahren des Forschens und Sammelns) 1960 komplett erschien.

Doch was heißt hier „komplett“? Entgegen dem (eh schon etwas lädierten) Ruf, besonders effektiv zu sein, haben wir Deutschen ein zwar ungemein reichhaltiges, doch auch ziemlich chaotisches Wörterbuch. Der Oxford Dictionary fürs Englische und der „Trésor“ fürs Französische sind sehr viel ordentlicher aufgebaut als das „Grimmsche“. Hauptgrund: Weil sich das hiesige Unterfangen mehr als hundert Jahre hinzog, wechselten vielfach die Methoden, Vorlieben und Perspektiven.

Warum nun die elektronische Ausgabe? Ganz klar: Die Suchmöglichkeiten sind enorm. Man kann sekundenschnell nach jeder erdenklichen Wortkombination fahnden oder etwa gezielt Zitate aus bestimmten Quellen erschließen. Auch lassen sich systematisch ganze Wortfelder „abgrasen“ – mitsamt Definitionen, sprachgeschichtlicher Herleitung und edlen Fundstellen. Immens ist die Zahl der nicht mehr gängigen, jedoch ungeahnt kraftvollen oder auch zartsinnigen Worte. Ein Beispiel für Tausende: „liebefasernd“ aus einem Gedicht von Friedrich Rückert. „fühle wurzelnd dich hinein, liebefasernd ihr ins herz…“

Luther und Goethe am meisten zitiert

Zwei Größen standen für die Grimms beim Zitieren obenan: Luther (Bibelübersetzung) und Goethe. Doch auch Ausdrucke aus Mundarten oder Bauern- und Handwerkersprachen wurden als Bereicherung bewahrt. Leitlinie war das Grimmsche Ideal einer bildreichen, lebendigen, wandelbaren Sprache, die man durch „Gesetze“ nicht zu sehr einschnüren solle.

Übrigens: Die 33-bändige Buchausgabe kostete vordem 5010 Euro. Sie ist jetzt zwar als Paperback-Reprint für 499 Euro zu haben, doch die CD-Roms sind mit 49,90 Euro unschlagbar preiswert. Mit diesem Wörterbuch kann man so recht in der Sprache schwelgen, ja man kann in ihren (historischen) Tiefen versinken.

Das nur scheinbar paradoxe Schlusswort gebührt Jacob Grimm: „Die Sprache ist allen bekannt und ein Geheimnis.“

• „Deutsches Wörterbuch. Der digitale Grimm“. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 2 CD-Roms. Benutzerhandbuch, Begleitbuch. 49,90 Euro. Versand/Läden des Verlags Zweitausendeins, Frankfurt/Main. 069/420-8000. Internet: www.zweitausendeins.de

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Hintergrund: Die Gebrüder Grimm

Jacob Grimm wurde am 4. Januar 1785 in Hanau geboren. Er arbeitete u. a. als Bibliothekar in Kassel und als Professor in Göttingen. Er gilt als eigentlicher Begründer der Germanistik.

Mit weiteren freiheitlich gesinnten Professoren protestierten er und sein Bruder Wilhelm (geb. am 24. Februar 1786, gleichfalls in Hanau) anno 1837 gegen einen Erlass des Königreichs Hannover. Sie machten Widerstandsrecht geltend. Die so genannten „Göttinger Sieben“ wurden deswegen ihrer Ämter enthoben. Danach reiften die Pläne zum deutschen Wörterbuch. Ein Leipziger Verleger hatte die Idee an die Brüder herangetragen.

Im bürgerlichen Revolutionsjahr 1848 gehörte Jacob Grimm zu den Abgeordneten im Frankfurter Paulskirchen-Parlament. Die berühmten „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm waren bereits von 1812 bis 1822 in drei Bänden erschienen.