„Wut und Wertung“: Geschmacks-Debatten können so verletzend sein

Das Kulturwissenschaftliche Institut (KWI) in Essen hat sich für die nächsten Monate ein übergreifendes Thema erkoren, es nennt sich „guilty pleasures“, was etwas umständlich mit „schuldbesetzte Vergnügungen“ übersetzt werden könnte. Freuden also, die man mit einigermaßen schlechtem Gewissen genießt – Flugreisen etwa oder exzessiven Medienkonsum der seichteren Art. Oder auch kulturelle Vorlieben, die dem waltenden Zeitgeist zuwiderlaufen.

Zum Themenauftakt gab es dieser Tage eine (auch online zu verfolgende) Diskussionsrunde mit Johannes Franzen von der Universität Siegen. Der auch als Journalist (Zeit, Taz, FAZ) tätige Germanist und Anglist hat ein Buch über widerstreitende kulturelle „Geschmäcker“ geschrieben. Griffig zugespitzter Titel: „Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten“.

Üble Attacke auf der Party

Nun mögen sich manche souverän erhaben dünken, wenn es um ihre (allzeit gefestigten? bestens begründeten?) Geschmacksurteile geht. Franzen hingegen stellt eine fiktive, aber nicht ganz unwahrscheinliche Szene an den Anfang seines Buches, die ihm zufolge das Verletzungs-Potenzial von Geschmacksunterschieden offenbaren soll: Denken wir uns eine Party, auf der jemand einen Film über den grünen Klee preist, der auch emotional ungemein fesselnd sei. Da erhebt ein anderer Gast seine wortgewaltige Stimme und attackiert diese Auffassung als naiv und lächerlich. Welch eine Bloßstellung vor all den Leuten! Und welch ein Distinktions-Gewinn für den eloquenten Angreifer, der wohl fulminant „gepunktet“ hat. Ergo: Geschmacks-Konflikte können ziemlich verletzend sein.

Ironisch die Neigung zum „Kitsch“ gestehen

Wie wirkt sich das aus, wenn jemand mit seinen ästhetischen Vorlieben derart in Erklärungsnot und in eine womöglich peinliche Defensive gerät? Möchte er/sie nicht im Boden versinken? Oder zum Gegenangriff übergehen? Immerhin liegen, so Franzen, einige Techniken der Befriedung bereit, allen voran das alte, reichlich verschnarchte Diktum „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“. Auch könnte eine Reaktion darin bestehen, dass man ironisch seine gelegentlichen Vorlieben für „Kitsch“ eingesteht (womit wir bei den eingangs erwähnten „guilty pleasures“ angelangt wären) und dem Widersacher Wind aus den Segeln nimmt.  Überdies wirken der allgemeine Aufstieg der Populärkulturen sowie der Niedergang der „Hochkultur“ und des klassischen Kanons in solchen Fragen vermutlich entlastend. Die Zeiten der allmächtigen „Kulturpäpste“ sind eben vorüber.

Wenn sich jeder Mensch als Kritiker aufspielt

Dennoch: Zweifel am eigenen Geschmack sind wahrscheinlich allgegenwärtig. Selbst die Beschäftigung mit einem unstrittigen Genie wie Shakespeare sei nicht unbedingt davor gefeit. Franzen nennt mögliche Beispiele: „Kann ich überhaupt gut genug Englisch, um urteilen zu können? Habe ich vielleicht die weniger guten Inszenierungen gesehen?“ Und schon steckt man in der Falle…

Zu bedenken ist ferner der Unterschied zwischen professioneller und laienhafter Rezeption, der freilich im Internet, wo sich heute quasi jeder Mensch als Kritikus aufspielen kann, tendenziell zu schmelzen scheint. Ästhetischer Purismus scheint jedenfalls rasant auf dem Rückzug zu sein.

Was der „innere Deutschlehrer“ anrichtet

Im Verlauf der Diskussion wurde auch das Phänomen des „inneren Deutschlehrers“ gestreift, der einem seit Pennäler-Zeiten als kulturelles Über-Ich im Kopf sitzt und schulische „Zwangslektüren“ wie etwa Fontanes „Effi Briest“ nachhaltig vergällt. Mit dem herrschenden Kanon und solcher Pflicht-Rezeption werde ein lang andauernder „kultureller Gehorsam“ eingeleitet, hieß es. Dieser wirke oft auch im Streit über Geschmacksfragen nach. Wobei so manche Meinungsverschiedenheit ja nicht gleich zu Wutausbrüchen oder Verletzungen führen muss, sondern im gepflegten Gespräch (aka herrschaftsfreier Diskurs) einfühlsam erörtert werden mag. Längst nicht alle Leute sind Wutbürger, (hoffentlich) erst recht nicht die kultursinnigen.

Die Entgleisung des Clemens Meyer

Zu Beginn des Abends hatten Franzen und das Moderations-Duo (Stefan Hermes, Uni Duisburg-Essen, Roxane Phillips vom KWI) geradezu dankbar eine aktuelle Wut-Entgleisung im Literaturbetrieb aufgegriffen; auch dies wohl ein „guilty pleasure“, weil ziemlich boulevardesk. Anlässlich der Vergabe des Deutschen Buchpreises an Martina Hefter (für „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“) hatte der auf der Shortlist konkurrierende Clemens Meyer („Die Projektoren“, 1056 Seiten) die Jury-Entscheidung unflätig kommentiert und damit ein beinahe größeres Medienecho ausgelöst als die eigentliche Preisvergabe. Mal wieder einer dieser ach so skandalösen Fälle von Wut und Wertung, von denen die Literaturgeschichte und die Historie anderer Künste überquellen.

Johannes Franzen: „Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten“. S. Fischer Verlag. 432 Seiten, 26 Euro.

 




Familienfreuden XXVI: Sozialismus beim Tornisterkauf

Wer geht hier mit wem spazieren? (Zeichnung: Albach)

Kinder zu haben, hat manchmal etwas vom real existierenden Sozialismus: Besser, man hat einen Fünf-Jahres Plan. Beispiel: Wir haben einen Tornister gekauft.

Ein bisschen hatte mich die Zeit der Schwangerschaft ja schon gewarnt. Dort hatte ich gelernt: Es gibt Menschen, die haben sich ihr ganzes Leben auf ein Kind vorbereitet. Kaum war der Strich auf dem Schwangerschaftstest zu erkennen, buchten sie schon Schwangerschaftsyoga -/- schwimmen /-gymnastik, luden ihre Hebamme zum Tee ein und parkten den Kinderwagen in der Garage. Ich gehöre nicht zu dieser Spezies und nahm, was übrig blieb.

Entsprechend war ich sensibilisiert, als sich eine wichtige Etappe für unsere Tochter ankündigte: der Schulbesuch. Durch Zufall bekam ich ein konspiratives Gespräch zwischen zwei Kindergartenmüttern mit, in dem Informationen zum Tornisterkauf gehandelt wurden wie Hehlerware. „Im November gibt es die Vorjahresware günstiger…“ wisperte die eine. „Ich muss auf jeden Fall schnell einen Termin machen“, die andere.

Es ist kein Zuckerschlecken

Immerhin wusste ich schon von meinem Patenkind: Tornister kaufen ist kein Zuckerschlecken. Besser, man checkt vorher mal den Kontostand, bevor man die preismäßig durchaus mit Designer-Handtaschen vergleichbare Ware zu erstehen gedenkt. Und ein Termin, bei dem geguckt wird, ob der zu meiner Schulzeit noch liebevoll als „Tonne“ verunkte Transportbehälter ansatzweise ergonomisch wertvoll ist, leuchtete mir auch so ein. Aber dass man hier schon wieder einen Zeitplan wie seinerzeit bei einer Trabbi-Lieferung in der DDR auf dem Schirm haben musste…

Ein Wesen mit eigenem Geschmack

Ich ergab mich in unser Schicksal und machte einen Termin in dem von den wispernden Müttern favorisierten Laden. Dort wurde ich schon mal zackig gebrieft: „Wir Erwachsenen gucken, ob der Tornister passt. Aber ihre Tochter sucht das Design aus. Sie haben ihr Kind zu einem Wesen mit eigenem Geschmack erzogen – da müssen sie durch“, warnte mich der Verkäufer vor. Vermutlich eingedenk 1000er erlebter Streitgespräche über augenkrebserzeugende Tornister, an die sich kleine Kinder verzweifelt klammerten, während ihre Eltern versuchten, sie in die Ecke mit den einfarbigen, pädagogisch wertvollen Varianten zu zerren.

Pink mit Pferden

Ich seufzte. Als ich Fi gefragt hatte, wie ihr Tornister aussehen soll, hatte sie gesagt: „Pink! Am besten mit Pferden oder Schmetterlingen.“ Normen und ich nahmen uns fest vor, uns trotzdem rauszuhalten.

Fiona wiederum hielt sich an unsere Absprache: Gleichmütig schaute sie sich Tornister mit Dinosauriern, Fußballern oder Robotern an. Sie wusste, ihre Stunde würde noch kommen. Normen und ich waren derweil überwältigt. Vage erinnerten wir uns noch unsere schlichten „Amigo“-Tornister – eine Marke, die längst ausgestorben ist. Jetzt erblickten wir Regale voll unterschiedlichster Modelle; im Lager gäbe es insgesamt 500, erklärte der Verkäufer. Ich sagte alle Termine für den Nachmittag ab.

Fiona, verschnürt

Der Verkäufer indes zückte einen Schmöker von Umberto Eco’schem Ausmaß und verstaute ihn in dem ersten Testmodell. Er verschnürte Fiona. Ließ sie los. Und sie – fiel fast hinten rüber. Mit Mühe wuchtete sie sich nach vorn, um das Gleichgewicht zu halten, und wankte los. In Gedanken meldete ich sie schon im Fitnessstudio an, um die für die Einschulung anscheinend notwendigen Muskeln aufzubauen.

Und so ging es weiter: Entweder, die Tornister schnürten ihr den Hals ab – oder sie gingen mit Fi spazieren, nicht umgekehrt. Ich fühlte mich wie bei der Suche nach meinem Hochzeitskleid: damals hatte ich auch gedacht, es gäbe einfach nicht das richtige für mich.

Der Lichtblick

Dann aber der Lichtblick: ein Tornister passte wie angegossen. Es war der mit den auffälligsten Designs. Der Verkäufer baute nun die in Frage kommenden Varianten vor uns auf. Als er ein Modell in Pink mit leuchtenden Glitzersternen und wiehernden Einhörnern platzierte, schien unser Schicksal besiegelt. Ich schluckte. Das Teil hatte sogar feine roséfarbene Zierschleifen. Für mich ein Albtraum. Ich würde trotzdem glücklich lächeln, nahm ich mir vor – und zwar die ganze Grundschulzeit hindurch.

Dann aber geschah etwas, was mich an die durchschlagende Wirkung von Stoßgebeten glauben lässt. Fiona schritt die Reihe der Tornister ab, schaute sich das Rosa-Rüschenmonster an. Und ging weiter. Sie blieb vor einem blaugewellten Modell mit Delphinen stehen. „Den will ich!“, sagte sie. „Der passt super zu mir. Ich schwimme doch so gern!“

Ich atmete aus. Wir nickten. Und freuten uns. Sogar ganz ehrlich.




Familienfreuden XXV: Glitzer jucheh! Oder: Über Geschmack lässt sich streiten

Mit Geschmack ist das ja so eine Sache. Erben lässt er sich nicht, erzwingen auch nicht. Und wie ein Mensch ihn entwickelt – keine Ahnung. Gute Beispiele sind sicher nicht verkehrt. Aber Freiheit auch nicht. Es geht, kurzum, darum, dass Fi in einer akuten Glitzerphase steckt. Eine Shopping-Odyssee.

Verzückung ob größtmöglicher T-Shirt-Niedlichkeit (Bild: Albach)

Man merkt schon, ich laviere herum, wenn ich auf das Thema komme. Fi soll schließlich einen eigenen Geschmack entwickeln können. Aber ich muss auch zugeben, dass meine Toleranz bisweilen endlich ist – und ich außerdem manchmal darüber nachdenke, ob pinke Leggins, Blümchenrock und wild gestreiftes Oberteil zu Schreikrämpfen bei Passanten auf dem Bürgersteig führen könnten. Denn was die Kombination von Mustern angeht, ist unsere Tochter mehr als großzügig. Wenn sie vor ihrem Schrank steht, sind mir die Auswahlkriterien schleierhaft. Nur eine Sache kommt immer gut an: Glitzer. Und Pailletten. Von mir hat sie das nicht.

Schwerer Fehler im System

Gestern habe ich dann einen schweren Fehler begangen. Es ist nämlich eine Zeit angebrochen, in der ich nicht einfach Klamotten kaufen kann – die werden gegebenenfalls bei Missfallen komplett ignoriert. Sprich: die junge Dame von Welt sucht selbst aus. Allerdings kann die Auswahl der Läden ja zumindest eine gewisse Richtung vorgeben. Und deshalb der Ratschlag: wenn ihr eine Tochter habt, solltet ihr ab einem bestimmten Alter einen von ihr begleiteten Besuch bei einem schwedischen Modeunternehmen meiden. Hatte ich aber vergessen. Und das lief dann so ab:

Undefinierbares, großäugiges Ding

Auftritt Fiona im schwedischen Modeladen.
Erster Gang (zielsicher) auf einen Aufsteller voll mit Glitzerklimbim.
„Mama, was ist das?“ Fiona hält ein undefinierbares, plüschiges, gerolltes, großäugiges Ding in der Hand.
Ich: (kurz sprachlos):„…ein Armband????“
Fiona (holt Luft)
Ich, sofort: „Nein, das kannst Du nicht haben!“

Verneinung im Maschinengewehr-Takt 

Und so ging es weiter. Fiona hatte nacheinander einen goldenen Tüllrock, ein Hasenkleidchen mit anfassbaren Öhrchen, ein Oberteil mit SovielGlitzerwienurmöglich und Unterhosen mit Disney-Schönheiten in der Hand. Ich ratterte wie ein Maschinengewehr: Neinneinneinneinneinnein! Schließlich blieb Fi wie paralysiert vor einem T-Shirt mit einem Kätzchen im Airbrush-Stil stehen. Ein Alptraum für mich, ein Wunschtraum für sie. Hier wurde ihrerseits ein bisschen mehr investiert, um mich zum Kauf zu überreden. Erfolglos. Auch bei einem Shirt mit glubschäugigem Einhorn blieb ich hart.

Glitzerherzen als kleinstes Übel

Dann fiel mir die Sache mit dem eigenen Geschmack wieder ein. Und ich stimmte schließlich einem Oberteil mit kleinen rosafarbenen Glitzerherzen zu. Gar nicht ihre Farbe. Aber definitiv das kleinste Übel.

Endlich an der Kasse angekommen, musste ich nur noch die Frage nach einem Einhornkuscheltier und Lipgloss in Tierform überstehen. Als wir aus dem Laden eilten, hörte ich noch, wie das Mädchen hinter uns ihre Mutter mit exakt den gleichen Wünschen traktierte.
Was Fiona später wohl einmal gut finden wird?

Zuhause jedenfalls erzählten wir Normen von dem Shopping-Ausflug. Fiona schilderte das Angebot in den schönsten Farben. „Und was hat Mama dazu gesagt?“, fragte Normen. „Neinneinneinneinneinnein“, gab Fi meinen Abgesang originalgetreu wieder und kicherte.