20 Jahre Konzerthaus Dortmund (II): Beethovens „Apotheose des Tanzes“ fehlt der scharfe Blick auf den Rhythmus

Wenn schon die spritzige Eingangsfloskel zwischen Klavier und Trompete so nadelspitz akkurat gelingt, kann eigentlich nichts mehr schief gehen in Dmitri Schostakowitschs Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester op.35.

Andris Nelsons dirigiert das Gewandhausorchester Leipzig. (Foto: Björn Woll)

Der junge japanische Pianist Mao Fujita – eingesprungen für die erkrankte Yuja Wang – und der Trompeter Gábor Richter sticheln dieses ironische Zitat aus Beethovens „Appassionata“ so gekonnt in den Raum, dass für die folgenden drei Sätze kein Zweifel an ihrer Klasse aufkommt.

Der 23-Jährige am Flügel beginnt sein Eingangssolo eher lebensfroh beschwingt als im beiläufigen Improvvisando, steigert sich dann fulminant in die typischen atemlosen Repetitionen und schrägen Gassenhauer-Melodien, verliert sich im Lento – Moderato zu den delikat abgestimmten Streichern des Gewandhausorchesters in traumtrunkener Meditation, bevor er sich im Finalsatz in einen befeuerten Wettstreit mit der Trompete begibt, der auch einmal durch einen knallig dissonanten Akkord unwirsch beendet wird.

Mao Fujita beim Eröffnungskonzert der Saison im Komzerthaus Dortmund. (Foto: Björn Woll)

Fujita zeigt sich in all diesen so unterschiedlichen Ausdrucksmomenten voll bei der Sache, allenfalls die verträumte Gelassenheit des zweiten und der satirische Biss des vierten Satzes könnten noch pointierter formuliert sein. Gábor Richter ist in seinen Signalen punktgenau und in den wenigen Momenten, in denen die Trompete sogar einmal „singen“ darf, voll Poesie mit von der Partie. Am Pult geht Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons mit den Solisten mit; das Orchester verströmt eher seinen herrlich samtigen Klang als die herben und grellen Momente Schostakowitschs mit Humor zu zelebrieren. So bleiben die Bratschen zu weich und die rhythmische Finalknallerei eher wuchtig als messerscharf.

In Schostakowitschs Kammersinfonie op. 110a, einer mit Zustimmung des Komponisten von Rudolf Barschai erstellte Bearbeitung des Achten Streichquartetts, ist dieser Klang eher angebracht. Das melancholisch gestimmte Werk nimmt Nelsons in seinen drei Largo-Sätzen verhalten und breit, lässt die Streicher ihre vorzügliche Qualität im Legato ausspielen und den Ton nach einem ätherischen Violinsolo im Pianissimo verwehen. Der Allegro-Ausbruch im zweiten Satz, die explosiven Tutti-Schläge und der sardonische Walzer vertrügen eine spitzere Artikulation, um nicht allzu befriedet zu klingen.

„… in trunkenem Zustand komponiert“

Mit dieser Ästhetik nähert sich Andris Nelsons der Siebten Sinfonie Ludwig van Beethovens und liefert eine problematische Interpretation. Was dieser – nach Wagner – „Apotheose des Tanzes“ fehlt, ist eben jener scharfe Blick auf den Rhythmus, der im ersten Satz als konstitutiv entwickelt wird, und der sich in wechselnder Form durch die vier Teile zieht – als Marsch im zweiten, als impulsiver Drive im Scherzo und als grimmige Ausgelassenheit im Finale, von dem Friedrick Wieck argwöhnte, es könne nur in trunkenem Zustand komponiert sein.

Das Sostenuto des Anfangs wird zwar ausgekostet und die warm strömenden Holzbläser dürfen funkeln und schimmern. Aber das breite Tempo ermöglicht keinen Spannungsaufbau, das Pulsieren des Rhythmus bleibt gebremst. Der Sog der rhythmischen Struktur will sich nicht einstellen – und dann lässt Nelsons die Pauken losdonnern, als sei er bereits im Finale angelangt. So sind späteren dynamischen Gipfeln schon die Spitzen abgeschlagen, ehe sie erklommen werden. Der Mangel an rhythmischem Pep nimmt der Musik ihre Beredsamkeit; Nelsons agiert von Stelle zu Stelle statt Zusammenhänge herzustellen. Auch das Vivace gewinnt keine frühlingshafte Frische, keine spritzige Eleganz.

Dem Orchester ist das nicht anzulasten: Bis auf ein paar Artikulationsflüchtigkeiten im zweiten Satz sind die Violinen entwaffnend schön; die Bläsersoli makellos; das Orchesterpiano von selten gehörter Delikatesse. Die dröhnende Selbstbestätigung im Scherzo müsste nicht sein; das Finale bräuchte Brio und Exzess – aber der hat ja bereits im ersten Satz stattgefunden. Dennoch Jubel. Beethoven geht halt immer.




Andris Nelsons in Essen: Bruckners Achte mit einem grandiosen Orchester zum perfekten Produkt aufpoliert

Andris Nelsons beim Konzert in der Philharmonie Essen. Foto: Saad Hamza

Andris Nelsons beim Konzert in der Philharmonie Essen. Foto: Saad Hamza

Bleiben wir zunächst beim Orchester, auch wenn es das Marketing vielleicht gerne anders hätte: Es ist die reine Freude, dem Leipziger Gewandhausorchester zuzuhören. Ein vollkommener Genuss, könnte man sagen, wäre dieser Begriff nicht untertrieben, weil er heute nicht im klassischen Sinn als eine Übereinstimmung des Wahren, Guten und Schönen aufgefasst wird, sondern eher als Umschreibung einer sinnlich-hedonistischen Überwältigung.

Nun eignet sich Anton Bruckner nur bedingt dazu, klippenlos strömenden musikalischen Genuss zu bereiten; dazu sind seine aufgetürmten Akkordgebirge dann doch zu störrisch, seine Lyrismen zu wenig eingängig, und zum Mitsingen hat zumal die Achte Sinfonie wenig Material zu bieten. Die kontrapunktischen Verschachtelungen sind eine Sache für passionierte Analytiker, die auch in der Frage, wie sich formale Zäsuren begründen lassen, bis heute uneins sind. Mit seinen Kontrasten, seinen Schroffheiten und seiner komplexen formalen Detailarbeit rückt Bruckner hier im Jahr 1890 nahe an Gustav Mahler, der ihn – und seine Misserfolge – noch vor seinem Tod mit seinen ersten beiden Sinfonien beerben sollte.

Das Licht, mit dem das Leipziger Spitzenorchester Bruckners Gefilde überzieht, ist das eines strahlenden, glanzvollen Sommertags. Schon das erste Thema in den tiefen Streichern strebt nicht aus herbstnebligem Dunst hervor, sondern sonnt sich in samtigem Glanz. Ideal ausbalanciert steigert sich das Orchester in den ersten klanglichen Triumph. Hörner und Oboe leuchten, der Einsatz der Tuben gelingt ohne eine Spur von Härte, beglückend frei schweben die Stellen, an denen Bruckners Satz sich auflichtet. Groß und klar das erste Auftürmen, organisch pulsiert das Metrum. Das Blech breitet Wagner-Samt aus, keine Fehlfarbe, keine ungeschickte Naht stört den Zauber. Im zweiten Satz artikulieren die Violinen im Piano so leicht, so luftig und dennoch so genau, dass sie die blühende Schönheit, die verhaltene Delikatesse dieser leisen Momente mit purem Glück erfüllen. Und wenn sie im dritten Satz auf die tiefen Saiten gehen, klingen die Töne wie dunkel funkelndes Öl. Man möchte auf Kundry anspielen: Hilft dieser Balsam nicht, dann birgt die Musik nichts mehr zum Heile.

Unerhörte Transparenz und Präzision

Was für ein Klangkörper also, mit dem die Philharmonie Essen gleich zu Saisonbeginn – und nach einem ersten Höhepunkt mit Bruckners Sechster und dem Gustav Mahler Jugendorchester unter Herbert Blomstedt– wieder ein Glanzlicht aufsteckt! Nicht umsonst zählt dieses 1743 gegründete älteste bürgerliche Sinfonieorchester der Welt unter das Dutzend weltweiter Top-Orchester. Nach Essen hat es seinen seit 2018 amtierenden, also durchaus noch „neuen“ Gewandhauskapellmeister mitgebracht: Andris Nelsons, internationaler Dirigierstar aus Riga, gleichzeitig Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra, mit dem er 2016 schon in der Philharmonie zu erleben war. Als Exklusivkünstler des Dortmunder Konzerthauses war er dort 2018/19 vier Mal mit dem Gewandhausorchester zu erleben. Kein seltener Gast also an der Ruhr.

Nelsons ist der Garant für unerhörte Transparenz und eine Präzision, die sich selbst in Momenten extremer Verdichtung, wenn Bruckner in der Coda des letzten Satzes vier Hauptthemen übereinander schichtet und miteinander verwebt, nicht erschüttern lässt. Er ist auch der Meister der Tempi, die sich weder in einer langgezogenen, falschen Feierlichkeit noch in gerne für zeitgemäß verkaufter Hast verlieren. Nelsons steht aber auch für einen musikalischen Stil, der an eine Photoshop-Ästhetik erinnert: bearbeitet unter der Maxime einer makellosen Politur, überzogen mit fleckenloser Schönheit, wohlgeformt in der Proportion, mit reiner, ungestörter, idealer Oberfläche.

Und so klingt sein Bruckner auch, berührungslos über allen Schründen des Lebens schwebend, in perfekter Schönheit sich ergießend, widerstandsfrei strömend. Das ist auf seine Weise transzendent, von allem Irdischen ungerührt. Nelsons liefert ein perfektes Produkt, das Bruckners Erdung vergisst, ja verleugnet. Da fährt nichts dazwischen, da gibt es keine Irritationen, da geraten schmerzende Abbrüche nicht zum Ereignis. Und die Steigerungen haben nichts Bohrendes, keine Anspannung, keinen dramatischen Biss. Wenn sich Flöte und Kontrabass treffen, reißt kein Spannungsraum auf; es bleibt alles wohliger Klang. Und der Glanz der Blechbläser strahlt auch im Finale unverstört. Bruckner, in makelloser Perfektion misslungen.




Gesang im Blut: Gewandhausorchester Leipzig gastiert in der Philharmonie Essen

Leonidas Kavakos kommt mit einer Art Maß-Schlafanzug aufs Podium. Wer so ein Designer-Stück trägt, will auch Aufmerksamkeit darauf lenken – denkt man. Doch noch bevor man irgendeinen weiteren Gedanken an den Robenschöpfer verschwendet hat, nimmt die Musik gefangen. Und anders als bei manchem geigenden Girl stellt sich die Verpackungsfrage nicht mehr. Denn mit den ruhig gelösten ersten Takten von Dmitri Schostakowitschs Violinkonzert a-Moll hat der griechische Geiger alle Aufmerksamkeit auf die Musik gezogen. Und da bleibt sie – bis zur expressiven Kadenz des vierten Satzes.

Kavakos setzt nicht auf das Spektakel, für das Schostakowitschs Musik selbst in diesem Konzert gut wäre. Der meditativ-schweifende Charakter des ersten Satzes, „Nocturne“ bezeichnet, ist in selten glücklicher Einigkeit mit dem Gewandhausorchester und seinem Chef Riccardo Chailly phrasiert: Dem Italiener liegt das „Singen“ im Blut, das hat schon er als junger Aufsteiger in den siebziger Jahren mit grandiosen Verdi-Dirigaten am Teatro alla Scala bewiesen. Kavakos zeigt, wie ein ebenmäßiger Geigenton differenziert werden kann, ohne dem Klang Gewalt anzutun. Es gibt keine Drücker, keine harschen Geräusche, keine dünnen Stellen, auch kein wallendes Pathos.

Die Musiker des Leipziger Traditionsorchesters folgen dieser polierten, aber keinesfalls belanglosen Schönheit des Tons: ob Kontrafagott und Horn in sacht beigemischter Farbe, ob das tiefe Blech im Pianissimo oder die Streicher in einer kaum mehr vernehmbaren Grundierung für Bassklarinette und Harfe. Den zweiten Satz, das gerühmte „Scherzo“, rücken Kavakos und Chailly nicht auf die dämonische Nachtseite, wie eine Beschreibung des Uraufführungs-Solisten David Oistrach nahe legt. Die zackigen Staccati und knackigen Mini-Motive wirken eher sarkastisch, vom schillernden Humor eines gefährlichen Kobolds ausgespien.

Brillante Polyphonie und kontrastreiche Beleuchtung des Orchesterparts finden wir in Johannes Brahms‘ Dritter Symphonie. Der Beginn mit dem kraftvollen Blechbläserakkord und der regelgerechten Vorstellung der Themen ist nicht ganz gelungen; Chailly baut zu wenig Spannung auf und das Orchester klingt pauschal. Doch gerade als sich der Eindruck festigen will, nun eine urdeutsche Version der Symphonie des grämlich gründelnden Greises, wie Brahms auf Bildern oft erscheint, absitzen zu müssen, ändert sich die Atmosphäre. Da bilden weite Phrasierungen die Architektur der Sätze nach und überspannen das motivisch variantenreiche Detail-Geschehen; da zeigt sich intime Vertrautheit mit der Musik in gelassener Souveränität des Spiels.

Die Musiker des Gewandhausorchesters, derzeit mit Chailly auf Europa-Tournee, lassen Brahms glänzen und strahlen – und trotz aller Vorsicht vor derartigen Verknüpfungen von Biografie und Werk ist man geneigt, die freundliche Heiterkeit der Tage zu spüren, während derer Brahms im Wiesbaden des Sommers 1883 die Symphonie geschrieben hat. Der leuchtende Schluss nach Dvořák-Art war nicht das Ende des Konzerts in der Philharmonie: Das setzte Riccardo Chailly, spürbar gut aufgelegt, mit der umjubelten „Akademischen Festouvertüre“.