Grandios überdrehte Bewegungs-Orgie: Rossinis „Barbier“ wieder im Essener Spielplan

Turbulenter Selbstzweck: Die Sänger "moven" in Jan Philipp Glogers "Barbier von Sevilla" in Essen. Foto: Bettina Stöß.

Turbulenter Selbstzweck: Die Sänger „moven“ in Jan Philipp Glogers „Barbier von Sevilla“ in Essen. Foto: Bettina Stöß.

Sie fegen wieder über die Bühne des Aalto-Theaters in Essen, Rossinis unsterbliche Figuren: die genervte Bedienstete Berta und ihr Kollege Ambrogio, beide in Lohn und Brot bei Herrn Doktor Bartolo, der sein Mündel Rosina heiraten will, um die Mitgift der jungen Frau nicht in fremde Hände geraten zu lassen. Der alte Musiklehrer Don Basilio, der lieber Intrigen als Melodien spinnt.

Und die beiden einzigen Menschen im „Barbiere di Siviglia“, denen Rossini so etwas wie ein authentisches Gefühl zubilligt: Der Graf Almaviva, der sich als „Lindoro“ ausgibt, um eine wohl echte Liebe zur Erfüllung zu bringen: Seine Cavatine „Se il mio nome“ ist ein Moment lyrischer Verzückung in einem Trubel musikalischer Mechanik. Und der Figaro, jener Tausendsassa, der sich mit seiner Unentbehrlichkeit brüstet und ein Loblied auf die Faszination des Goldes anstimmt. Er weiß, wovon er spricht: Er ist dieser Macht selbst erlegen.

Jan Philipp Gloger hat in seiner Debüt-Inszenierung in Essen eine grandios überdrehte Bewegungs-Orgie auf die Bühne gebracht, halb an die Commedia dell’arte, halb an skurriles Bewegungstheater anknüpfend.

Psychologie ist da nicht gefragt, Erklärungen auch nicht. Diese Figuren haben nichts Wahrscheinliches, sie sind Automaten, Marionetten, Groteskerien, gefangen in einer riesigen Kiste: ein Geschenk Rossinis an uns, verschnürt mit einer roten Schleife (Bühne: Ben Baur), die sich erst am Ende öffnet, wenn die „unnütze Vorsicht“ (so der Untertitel der Oper) enthüllt und – vielleicht – die Liebe in ihr Recht gesetzt wird. Fern von Realismus, absurd auf die Spitze getrieben, amüsant und verstörend künstlich – wie Rossinis Musik.

Die liegt, wie bei der Premiere am 4. Juni, in den Händen von Giacomo Sagripanti. Mit Rossini schlägt er sich wesentlich überzeugender als mit Bellinis „Norma“ am gleichen Haus, weil sich die Schwäche dort in die Stärke hier verwandelt: Mit den fast minimalistisch anmutenden Mechaniken – etwa im Finale des ersten Aktes – geht Sagripanti genau richtig um: maschinell, motorisch, dabei aber im Rhythmus federnd und in der Artikulation alles andere als nach Schema F. Basilios Arie von der Verleumdung („La calunnia“), die streng genommen aus einem einzigen riesigen Crescendo mit einem irrwitzigen Ausbruch besteht, legt er genau passend an. Die Gewittermusik im zweiten Akt ist selten so klug aufgebaut und präzis modelliert erlebbar – da ist auch dem Essener Orchester ein großes Kompliment zu machen.

Wie ein Kanonendonnerschlag entlädt sich die Verleumdung: Tijl Faveyts als Don Basilio. Foto: Bettina Stöß.

Wie ein Kanonendonnerschlag entlädt sich die Verleumdung: Tijl Faveyts als Don Basilio. Foto: Bettina Stöß.

Die Methode erzielt Wirkung, und wäre Tijl Favejts nicht zu schnell auf dem Höhepunkt seines schneidenden Forte angekommen, wäre auch die vokale Wirkung umwerfend gewesen. Da funktioniert sogar, dass der Dirigent Almavivas lyrische Legati mit der Strenge eines preußischen Militärkapellmeisters ins Metrum einkerkert: Selbst díe Liebesergüsse des Grafen entkommen nicht dem übermächtigen Uhrwerk der Ereignisse. Levy Strauss Sekgapane bringt einen unerschütterlichen Porzellan-Tenor mit, der noch die finessenreichste Verzierung mit der Präzision eines technischen Apparats nachstechen kann. Der Tenor hat den Almaviva schon in Berlin und Dresden gesungen und ist auch beim Rossini Festival in Pesaro in einem ansonsten recht inspirationslosen „Turco in Italia“ positiv aufgefallen.

Karin Strobos knüpft mit einer frisch und sicher gesungenen Rosina an frühere Leistungen im Ensemble des Aalto-Theaters an, etwa Mozarts Dorabella („Cosí fan tutte“) oder Cherubino („Nozze di Figaro“). Sie veredelt die im Zentrum der Stimme liegenden Phrasen mit ihrem dunkel grundierten Timbre, lässt die Höhe strahlen, die Koloraturen anstrengungslos sprühen. Eine kleine, oft gestrichene Episode, die Arie der Berta, wird bei Christina Clark zu einem reizenden Intermezzo voll melodischen Charmes. Raphael Baronner als ihr Kollege Ambrogio hat keine solche musikalische Perle zu polieren; er darf sich pantomimisch ausleben, wenn er etwa mit langen Beinen in der Luft stochert, während er sich am Boden dreht. Auch Karel Ludvik als Fiorello hat Momente, die ihn als Darsteller fordern.

Ein Gewinn für das Essener Ensemble ist auch Baurzhan Anderzhanov. Mit Bartolo hat er eine dankbare Rolle anvertraut bekommen, die er glänzend erfüllt, nicht nur szenisch. Sein klar fokussierter, beweglicher, zu deutlicher Artikulation fähiger Bass passt für Rossinis spritzige Musik. Bleibt noch Gerardo Garciacanos Figaro: Der sonst in Dortmund tätige Sänger legt eine brillante Auftrittsarie hin, bleibt aber im Verlauf des Stücks als Figur seltsam unauffällig. In Glogers Inszenierung einzusteigen, dürfte nicht so einfach sein. Essen hat mit diesem „Barbier von Sevilla“ ein anziehendes Theaterereignis; der Erfolg in der laufenden Spielzeit – bis Juni steht der Rossini-Klassiker im Spielplan – müsste sich eigentlich einstellen.

Weitere Vorstellungen: 20. November, 7. und 17. Dezember. 2017:  28. April 2017, 21, Juni, 16. Juli. Info: http://www.aalto-musiktheater.de/wiederaufnahmen/il-barbiere-di-siviglia.htm




Festspiel-Passagen: „La Donna del Lago“ in Pesaro zeigt, was bei Rossini zu entdecken ist

Das Teatro Rossini in Pesaro, Spielort des Festivals, bei dem sich alles um den berühmten Sohn der Stadt an der Adria dreht. Foto: Werner Häußner

Das Teatro Rossini in Pesaro, Spielort des Festivals, bei dem sich alles um den berühmten Sohn der Stadt an der Adria dreht. Foto: Werner Häußner

Als 1980 das Rossini Festival in Pesaro, der Heimatstadt des Komponisten, gegründet wurde, gehörte der einstige Superstar unter den Musikschöpfern noch zu den großen Unbekannten: Die Literatur war überholt und geprägt von Anekdotischem, zuverlässiges Notenmaterial gab es kaum, Aufführungen beschränkten sich auf den allgegenwärtigen „Barbier von Sevilla“ und dessen – damals noch nicht lange wiederentdeckte – buffoneske Flügelwerke „La Cenerentola“ und „Die Italienerin in Algier“.

In Deutschlands dichter Theaterszene waren zumal die ernsten seiner fast 40 Opern kein Thema. Wenn überhaupt, spielte man einstige Mega-Erfolge wie „Tancredi“, „Semiramide“ oder „Guillaume Tell“, weil man virtuose Gesangsspezialisten wie Marilyn Horne oder Montserrat Caballé präsentieren wollte.

Die Gründung des Festivals „Rossini in Wildbad“ und seine spätere inhaltliche Absicherung durch den seit 25 Jahren unermüdlich tätigen Jochen Schönleber setzte ein Zeichen: Die mühevolle wissenschaftliche Erschließung des Œuvres Rossinis, in Pesaro durch die Fondazione Rossini mit ihrer kritischen Edition der Werke und des Briefwechsels geleistet, findet in dem Kurbad in Württemberg einen lebendigen theatralen Widerhall: In manchmal abenteuerlich improvisierten szenischen Aufführungen eröffnete sich einem staunenden Publikum eine neue Welt eleganter, spritziger, einfallsreicher Musik, vorgetragen von Sängern, die im Lauf der Zeit das technische Rüstzeug für Rossinis Belcanto immer sicherer beherrschten. Die Impulse aus Pesaro kamen in Deutschland an, fanden aber kaum Widerhall. Erst in jüngerer Zeit erwachte die Aufmerksamkeit für das gesamte Werk Rossinis, wagen sich neben Mannheim („Tancredi“) oder Frankfurt („La gazza ladra“) selbst mittlere und kleinere Bühnen wie Gelsenkirchen und Nürnberg („Guillaume Tell“) Rostock („Ermione“) oder Würzburg (ebenfalls mit der „diebischen Elster“) an den weniger bekannten Rossini.

Doch dass ein so tiefgründiges Werk wie „Sigismondo“ – in diesem Jahr die zentrale Produktion in Bad Wildbad – ebenso unbeachtet bleibt wie die köstliche Satire „La pietra del paragone“ – 2017 in Pesaro auf dem Plan – ist kaum verständlich und keineswegs mit der Qualität der Werke zu rechtfertigen.

Immerhin: Die Zeiten, in denen Rossini als irgendwie genialer, aber wenig tiefgründiger Vielschreiber galt, der sich rechtzeitig vor dem Bannstrahl der musikalischen Entwicklung in seine Gourmet-Küche zurückgezogen hatte, sind vorbei. Beide Festivals haben entscheidend dazu beigetragen, den Firn vom Bild des „Schwans von Pesaro“ abzutragen und seine Persönlichkeit wie seine vielseitige Kunst in frischen Farben strahlen zu lassen.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Dass dennoch einiges zu tun bleibt, zeigt ein Besuch beim „Original“, dem Rossini Festival Pesaro. Wo am Strand Teutonen, aber auch Angelsachsen und Moskowiter grillen, flanieren durch die Einkaufsmeile – Via Rossini, wie sollte sie sonst heißen – die Rossinianer, vorbei an der prächtigen Gründerzeitpost an der Piazza del Popolo und am Geburtshaus Rossinis, heute ein Museum. Das Ziel ist das Teatro Rossini, ein hübsches, klassisches, 1818 erbautes Theater. Dort und in der „Arena adriatica“, einem umgebauten Sportpalast, finden die Vorstellungen an den zwölf Festival-Tagen statt.

Das Festival stand diesmal im Zeichen des 20-jährigen Pesaro-Jubiläums von Juan Diego Flórez. 1996 begann der Tenor mit der kristallen schimmernden, technisch phänomenal abgesicherten Stimme seine Karriere an der Adria – und beim irischen Wexford Opera Festival in einer Oper eines anderen großen Unbekannten des 19. Jahrhunderts: „L’Etoile du Nord“ von Giacomo Meyerbeer.

Flórez war der Star in Rossinis „La Donna del Lago“, die in einer ambitionierten Regie von Damiano Michieletto in der Sportarena Premiere hatte. Für die Rossini-Rezeption ein gutes Zeichen: Der Tenor mag der prominenteste im Sängerteam sein, aber er agierte als Gleicher unter Gleichen. Auch der vorher schon in Wildbad bewunderte Amerikaner Michael Spyres – einer der seltenen „baritenori“, der scheinbar mühelos drei Oktaven durchmisst – wurde gefeiert.

Die beiden Sängerinnen Salome Jicia und Varduhi Abrahamyan standen ihnen in nichts nach: Die Damen sind ein Beispiel dafür, wie sich Pesaro in der Accademia Rossiniana unter Leitung des bald 90-jährigen Alberto Zedda seinen eigenen Sängernachwuchs heranzieht. In den Kursen bekommen junge Interpreten den letzten Schliff, um den schwindelerregenden technischen und stilistischen Anforderungen der Rollen gerecht zu werden.

Melancholische Erinnerung eines gealterten Ehepaares

„La Donna del Lago“ war mehr als ein Sängerfest. Als die Oper 1819 in Neapel uraufgeführt wurde, war sie auf der Höhe der literarischen Entwicklung der Zeit. Mit Sir Walter Scotts „The lady of the lake“ benutzten Rossini und sein Librettist Andrea Leone Tottola einen modernen romantischen Stoff eines in ganz Europa angesagten Unterhaltungsautors. Aus der Geschichte um eine wehmütig umflorte Liebe in politisch bewegten Zeiten (Scott bezieht sich auf Jakob V. von Schottland, Vater von Maria Stuart und dessen Kampf gegen schottische Clans und das von der katholischen Kirche abtrünnige England Heinrichs VIII.) macht Michieletto die melancholische Rückerinnerung eines gealterten Ehepaares.

Elena, Tochter des Clanchefs Duglas, soll eigentlich aus politischen Gründen Rodrigo heiraten, den Anführer eines anderen mächtigen Familienverbands. Heimlich liebt sie jedoch den jungen Malcom. Der König, der ihre Schönheit rühmen hörte, trifft sie inkognito an einem Gewässer. Zwischen dem Unbekannten und dem „Fräulein vom See“ entwickelt sich tiefe Sympathie. Als Duglas und Malcom, von königlichen Truppen überwältigt, gefangen gesetzt werden, will Elena mit einem Ring, den ihr der Unbekannte gab, ihre Befreiung erwirken und erkennt den König. Der verzichtet auf das Mädchen und führt die Liebenden zusammen.

Ein Opernabend der Extraklasse

Zu Beginn, es sei gestanden, wirkt Michielettos Exposition ein wenig manieriert: Ein altes Ehepaar sitzt in einem leeren Raum, auf einem Tisch ein Bild, davor schwarze Blumen. Die Frau trauert vor einem Konterfei – und wir ahnen, es steht für eine unerfüllte Liebe. Der alte Herr erregt sich, schüttet das Blumenwasser weg, wirft die Blüten auf den Boden, verlässt den Raum. Bald zeigt sich: Die stumme Handlung ist der Schlüssel zu Michielettos Konzept, „La Donna del Lago“ als ein Stück über ein gelebtes Leben zu inszenieren. Die ausgeklügelte Bühne Paolo Fantins öffnet einen zweiten Raum, ein verfallenes, herrschaftliches Haus: Die Decke ist eingebrochen, Wurzeln ragen in den Raum, die Scheiben der Fenster sind gesplittert. Man fühlt sich an verlassene Ruinen wie Moore Hall in Irland erinnert, vermooste Zeugnisse einer imaginierten einstigen „heilen“ Welt.

Der magische Realismus Fantins und des Kostümbildners Klaus Bruns schafft einen Ort der Erinnerung, der Fantasie, der verschütteten und wiedererwachenden Gefühle; Alessandro Carlettis Licht setzt mit unwirklichem Blau Zäsuren und bricht vermeintlich Reales. Schilfumstandene Teiche lassen den Raum traumhaft-absurd und symbolisch geladen erscheinen. Gegenwart und Erinnerung verschwimmen ineinander: Michieletto setzt für Elena und Malcom – das alte Paar – Doubles ein, mit denen die Interaktion der Zeitebenen erfahrbar wird.

Rossinis Geburtshaus in Pesaro. Foto: Werner Häußner

Rossinis Geburtshaus in Pesaro. Foto: Werner Häußner

Der europaweit gefragte italienische Regisseur schafft in dieser brillanten Konzeption, ein wesentliches Element des Versromans schlüssig zu übersetzen: Denn Scott schreibt nicht so sehr eine poetische Elegie über Erfüllung und Verzicht in der Liebe, sondern reflektiert – wehmütig und verklärend – die schmerzlichen Risse und Brüche in Schottlands Geschichte. Michieletto verfällt nicht dem historisierenden Fehlschluss, Rossinis Oper zu „Braveheart“ zu machen. Er übersetzt Scotts nostalgisches Geschichtsbild in das innere Schicksal von dessen Figuren, einfühlsam gedeutet von Rossinis Musik.

Es ist ein Opernabend der Extraklasse, an dem die ausgezeichneten Sänger, aber auch Dirigent Michele Mariotti sowie Chor und Orchester des Teatro Communale di Bologna entscheidend Anteil haben. Selten hört man Rossinis Musik so beweglich und transparent, aber auch so achtsam auf ihre damals modernen romantischen Ausdruckswerte befragt wie an diesem Abend.

Noch drei andere Bühnenwerke präsentierte das Festival an der Adria in diesem Jahr: „Il Turco in Italia“ ist eine der bekannteren hintersinnigen Komödien Rossinis; „Ciro in Babilonia“ die erste aufgeführte ernste Oper des zur Zeit der Uraufführung 1812 Zwanzigjährigen. Dazu kam „Il Viaggio a Reims“ als Produktion mit jungen Sängerinnen und Sängern. Im nächsten Jahr sollen zwischen 10. und 22. August „Le Siège de Corinthe“ und die erwähnte Satire „La Pietra del Paragone“ aufgeführt werden, dazu kommt die Wiederaufnahme von „Torvaldo e Dorliska“.

Außerdem organisiert die Fondazione Rossini vom 9. bis 11. Juni 2017 einen Kongress, bei dem die junge Generation der Musikologen zu Wort kommen und neue Methoden und Zugänge zu Rossinis Werk und seiner Rezeption vorgestellt werden sollen. Das Festival verkündet in diesem Jahr ein bisher nie erreichtes Rekordhoch bei den Einnahmen (1,16 Millionen Euro) und den Besuchern (17.250, davon 71 Prozent aus dem Ausland) – und das bei stetigen Kürzungen der Mittel und der ständigen Unsicherheit durch die chaotische Kulturpolitik des italienischen Staates.

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Ausblick:

Es bleibt dabei: Der „Barbier von Sevilla“ dominiert auch in der Spielzeit 2016/17 die deutschen Spielpläne in Sachen Rossini. Aufgeführt wird er unter anderem in Bremen (Premiere am 22. Oktober), in Essen (ab 16. September) und in Mönchengladbach im Theater Rheydt (ab 24. September). Herrlich absurd die Spielplangestaltung in Berlin: Dort zeigen alle drei Opernhäuser als einzige Rossini-Oper den „Barbier“ – die Komische Oper trägt zu diesem Einerlei auch noch eine Premiere bei (9, Oktober, Regie Kirill Serebrennikow).

Der „andere“ Rossini lässt sich zum Beispiel bei den Bregenzer Festspielen erleben, wo Lotte de Beer die biblische Oper „Mosé in Egitto“ inszeniert (Premiere am 20. Juli 2017). Oder in Mannheim, wo am 9. Oktober Cordula Däupers asketische Inszenierung von „Tancredi“ wiederaufgenommen wird. Am 12. Februar 2017 hat an der Bayerischen Staatsoper München „Semiramide“ Premiere (Regie: David Alden, Musikalische Leitung: Michele Mariotti). Um „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ zu erleben, muss man zwischen 17. und 28. März 2017 das Theater an der Wien in Österreichs Hauptstadt besuchen.

 

 

 




Marionetten der Geldgier: Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“ im Essener Aalto-Theater

Wenn der Friseur ein Tänzchen wagt: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou) machen gemeinsame Sache (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Wenn der Friseur ein Tänzchen wagt: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou) machen gemeinsame Sache (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Die berühmten Crescendo-Walzen, die mit der Dynamik einer Dampflok über das Publikum hinweg rollten, trugen zum Erfolg des Komponisten Gioacchino Rossini ebenso bei wie die irrwitzig-automatenhafte Qualität seiner Koloraturen und das Baukastenprinzip seiner musikalischen Floskeln. Jan Philipp Gloger nimmt das Nahen eines mechanisch getriebenen, technikbegeisterten Zeitalters jetzt als Folie, um Rossinis komische Oper „Der Barbier von Sevilla“ neu in Szene zu setzen.

Im Essener Aalto-Theater entwickelt der 1981 geborene Regisseur, der von Hagen aus zu einer internationalen Karriere startete, das Intrigenspiel um den eitlen Doktor Bartolo und die hübsche Rosina ganz aus der Musik heraus. Sie wird zum Motor, zu einer übermächtigen Maschine, die alle Figuren vorwärts peitscht. Die können gar nicht anders, als ihren Trieben hinterher zu hetzen. Geldgier, Geltungssucht und Eitelkeit feiern fröhliche Urständ.

Im Geldregen: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Im Geldregen: Rosina (Karin Strobos) und Figaro (Georgios Iatrou. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Beängstigend leer ist die Bühne zu Beginn. Holzkisten verschiedener Größe, die Figaro nach und nach heran karrt, fügen sich zu einem schlichten, aber wirkungsvollen Bühnenbild (Ben Baur). Quasi im Schachtelsystem erschließt sich der Charme der italienischen Stegreifkomödie, betont durch die Kostüme von Marie Roth, die viel über den Charakter der Personen verraten. Diese bleiben Marionetten, trotz allzu menschlicher Züge. Figaro, der wohl berühmteste aller Barbiere, ist Dirigent, Strippenzieher und vor allem tüchtiger Geschäftsmann, der den liebestollen Grafen Almaviva ausnimmt wie eine Weihnachtsgans.

Glogers Einstand in Essen wird zum Erfolg, weil er sich eng an die Turbulenz und die Überzeichnungen der Commedia dell’arte hält, ohne auf schenkelklopfendes Lachen zu zielen. Vielmehr lässt er uns lächeln über die menschlichen Schwächen, die Rossini treffgenau vorführt.

Kluge Bezüge machen das Spiel vielschichtig: So wird Rosina in ihrer Koloraturarie „Una voce poco fa“ als Vorläuferin von Hoffmanns „Olympia“ kenntlich. Die Chöre schickt er in der Gewitterszene in einen Taumel, der uns die Rossini-Raserei im Wien des Jahres 1822 nahe bringt. Die Beleuchtung (Christian Sierau) zaubert immer wieder Stimmungswechsel, Schattenrisse und absichtsvoll falsche Spots.

Dienstmagd Berta (An De Ridder), Rosina (Karin Strobos) und Diener Fiorello (Kai Preußker) wissen auch nicht immer, wo es lang geht (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Dienstmagd Berta (An De Ridder), Rosina (Karin Strobos) und Diener Fiorello (Kai Preußker, v.l.) wissen auch nicht immer, wo es lang geht (Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Warum Giacomo Sagripanti jüngst in London als bester Nachwuchsdirigent ausgezeichnet wurde, wird am Premierenabend deutlich. Unter seiner espritgeladenen und punktgenauen Leitung lassen die Essener Philharmoniker die Musik herrlich moussieren, folgen den Sängern biegsam und lassen die Crescendo-Walzen vom eisigen, am Steg der Streicher erzeugten Schauer zum klangschönen Fortissimo anschwellen. Detailversessenheit kommt hier nicht verbissen daher, sondern mit lebensfroher Lust am Raffinement.

Der eitle Arzt Don Bartolo (Baurzhan Anderzhanov, r.) lauscht den Plänen von Musiklehrer Don Basilio (Tijl Faveyts. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Der eitle Arzt Don Bartolo (Baurzhan Anderzhanov, r.) lauscht den Plänen von Musiklehrer Don Basilio (Tijl Faveyts. Foto: Bettina Stöß/Aalto-Theater)

Auch sängerisch gibt es viel Gutes zu berichten. Als neues Ensemblemitglied stellt sich der Grieche Georgios Iatrou mit einem eleganten Bariton vor, in der berühmten Arie „Largo al factotum“ noch mäßig blutvoll, aber stets zunehmend an samtiger Kraft – und dabei herrlich selbstgefällig. Der als Rossini-Experte geltende Tenor Juan José de Léon zeigt als Almaviva große Spielfreude und enorme Strahlkraft, wobei sich vermutlich durch Nervosität bedingte Schärfen in den Höhen aufs angenehmste mildern. Wunderbar sonor klingt Baurzhan Anderzhanov, der manche Sympathie für den eitlen Doktor Bartolo weckt. Tijl Faveyts, der als Musiklehrer Don Basilio einem alternden Rockstar ähnelt, zieht mit seiner Verleumdungsarie nahezu gleich. Karin Strobos ist als Rosina erfrischend stimmgewandt und koloratursicher.

Frustrierte Musiker, missglückte Polizei-Einsätze, durchtriebene Weiblichkeit und potente Geldgeber ohne Grips und Geschmack geben dem Abend die amüsant-bösen Untertöne, die alle Rossini-Fans lieben. Ein Trauerspiel, was manche Menschen sich so leisten… Wenn sie nicht so lachhaft wären.

(Der Bericht ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ (Hamm) erschienen. Termine und Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/il-barbiere-di-siviglia.htm)




Rossini-Rarität am „Opernhaus des Jahres“: Nationaltheater Mannheim zeigt „Tancredi“

Herrscher im inneren Konflikt: Filipo Adami als Argirio in der Mannheimer Neuinszenierung von Rossinis "Tancredi". Foto: Hans Jörg Michel

Herrscher im inneren Konflikt: Filipo Adami als Argirio in der Mannheimer Neuinszenierung von Rossinis „Tancredi“. Foto: Hans Jörg Michel

Das Nationaltheater Mannheim – gemeinsam mit Frankfurt „Opernhaus des Jahres“ 2015 – hat in dieser Saison einen Spielplan, der jedem auf Auslastung und Publikumsbedienung fixierten Theaterchef den Sorgenschweiß auf die Direktorenstirn treiben würde: Noch wehte Franz Schrekers „Der ferne Klang“ durch die mächtige Schachtel des Zuschauerraums, da kündigten sich schon Hans Werner Henzes „Die Bassariden“ an, gefolgt von Gioacchino Rossinis „Tancredi“.

Und so geht es weiter im Hause von Klaus-Peter Kehr: Am 10. Januar hat Jacques Fromental Halévys „Die Jüdin“ Premiere, sieben Wochen später Sergej Prokofjews „Der Spieler“. Und danach als Uraufführung Bernhard Langs „Der Golem“. Selbst der Mozart-Abschluss im Juli meidet Populäres, widmet sich dem „Idomeneo“. Zum Vergleich: In Essen mokieren sich bestimmte Kreise schon, weil einmal nicht die Braut verkauft, sondern aus dem slawischen Repertoire eine Kostbarkeit wie Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“ die spärliche Zahl der Neuinszenierungen eröffnete.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Rossinis erster Welterfolg „Tancredi“ von 1813 ist längst auf die internationale Opernszene zurückgekehrt – nur in Deutschland nicht. Schon in den siebziger Jahren tourte Marilyn Horne mit dieser Partie durch die Welt, und die kritische Edition (1977/1984) ermöglichte verantwortungsvolle Aufführungen. Die gab es in germanischen Gefilden auch, aber nur an speziellen Orten, bei den Schwetzinger Festspielen etwa (1992) oder beim Rossini Festival in Bad Wildbad (2001).

Mit der Mannheimer Inszenierung durch Cordula Däuper wagt es nun ein großes Opernhaus, „Tancredi“ ins Repertoire aufzunehmen. Zeit dazu wird’s, denn inzwischen stehen auch Sänger bereit, die Rossinis anspruchsvolle Partien stilistisch adäquat bewältigen und gestalten können. Und obwohl Librettist Gaetano Rossi das subtile Geflecht der Begründungen für den Verlauf der Tragödie – Vorlage ist Voltaires „Tancrède“ – radikal zerrissen hat, bleibt noch genug inhaltliche Substanz, um sich auch ohne Vorwissen auf die unglücklichen Figuren einlassen zu können.

Der Ritter Tancredi ist, weil Feind der herrschenden Familie, aus dem Syrakus des 11. Jahrhunderts verbannt, kehrt aber voll Sehnsucht nach der Heimat und seiner Geliebten Amenaide heimlich zurück. Er muss erfahren, dass sich die rivalisierenden Familien von Argirio – dem Vater Amenaides – und Orbazzano verständigt haben, weil die Stadt von Sarazenen bedroht wird. Unterpfand der Allianz ist Amenaide: Die heftig widerstrebende jungen Frau soll eine politisch alternativlose Ehe mit Orbazzano eingehen. Ihr Brief an Tancredi wird abgefangen und fälschlich als Schreiben an den Anführer der Sarazenen interpretiert. Amenaide droht nun als Verräterin der Tod – und auch Tancredi vertraut ihr nicht mehr. Er rettet sie zwar im ritterlichen Zweikampf mit Orbazzano vor der Hinrichtung, sucht aber dann aus enttäuschter Liebe den Tod in der Schlacht.

Die Musik wendet sich den Menschen zu

Rossis Libretto verweigert den stringenten dramaturgischen Zusammenhang. Die Aufklärung der Missverständnisse wäre – ähnlich wie in Webers „Euryanthe“ – problemlos möglich. Doch darauf kam es den mit Voltaire vertrauten Zuschauern der Entstehungszeit nicht an. Und die Ängste, Sehnsüchte und Träume, die Wut, Verzweiflung und Depression der handelnden Figuren, auf die Rossini sein Augenmerk richtet, vermitteln sich, von dramentheoretischen Einwänden unverstellt, heute wieder direkt und berührend.

Amenaide (auf dem Foto die Alternativbesetzung Tamara Banjesevic) ist das Opfer einer politisch geplanten Zweckheirat mit Orbazzano (Sun Ha). Foto: Hans Jörg Michel

Amenaide (auf dem Foto die Alternativbesetzung Tamara Banjesevic) ist das Opfer einer politisch geplanten Zweckheirat mit Orbazzano (Sun Ha). Foto: Hans Jörg Michel

Der Vater Argirio etwa ist kein standardisierter Bösewicht, kein unbeugsamer Politiker. Seine große Szene im zweiten Akt mit der bedeutsamen Arie „Ah! Segnar invano io tento“ zeigt ihn als zerrissenen Menschen. In seinem Inneren bringt der politische Druck die Stimme der Natur – die um Gnade für die Tochter wirbt – zum Schweigen. Das lässt ihn seelisch zerbrechen. Für diesen Moment wie auch für die Klagen Amenaides verliert Rossinis Musik ihre klassizistische Ausgewogenheit nicht, aber ihr sozusagen aus olympischen Höhen schweifender Blick wendet sich dem Menschen ganz nah und empfindsam zu. Nicht nur die kostbare Miniatur des Sicilianos der Einleitung zu „Di tanti palpiti“, dem „Schlager“ der Oper, weist voraus auf den Rossini der Experimente in Neapel, in denen er das romantische Gefühl in die Musik einsickern lässt, ohne ihre objektivierende Distanz aufzugeben.

Rubén Dubrovsky und das klein besetzte Orchester des Nationaltheaters nähern sich diesen Momenten seelenvoller Schönheit behutsam, mit sanfter Artikulation und drucklosem Klang. Dubrovsky achtet darauf, den Rhythmus federn zu lassen, die Bläser leuchtend und leicht zu halten, den Streicherapparat nicht in die Falle der Simplizität laufen zu lassen. Denn oft verleitet Rossinis kinderleicht anmutende Musik dazu, sie langweilig abzuspielen statt mit lebensvollen Nuancen zu formen. Nicht immer gelingt das: Die Ouvertüre gerät steif und mit zu massiven Tutti; das erwähnte Siciliano läuft im Metrum zu wenig flexibel ab. Da fehlt der Musik der Duft.

Das Heil der Inszenierung in der Reduktion gesucht

Unter den Sängern überzeugt ausgerechnet der als Rossini-Spezialist ausgewiesene Filipo Adami als Argirio am wenigsten: ein enger, nasig in die Höhe getriebener Ton, manchmal ein brüchiges Vibrato, eine kaum flexible Gestaltung der Linien. Eunju Kwon als Amenaide macht vor, wie’s gehen könnte. Sie hat die Leichtigkeit und den süßen Ton, die einwandfrei gebildeten Verzierungen und die verschatteten Farben für die Stellen der Resignation, der Trauer, der Depression. Im Duett mit dem Tancredi von Marie-Belle Sandis harmonieren die Stimmen delikat; im Duett mit Adamis Argirio laufen sie nebeneinander her.

Schutz, Rückzug, Verdrängung: Der Pappkarton ist in der Regie Cordula Däupers eine mehrdeutige Chiffre. Foto: Hans Jörg Michel

Schutz, Rückzug, Verdrängung: Der Pappkarton ist in der Regie Cordula Däupers eine mehrdeutige Chiffre. Foto: Hans Jörg Michel

Sandis singt ihre weltberühmte Auftritts-Cavatina nicht als Virtuosen-Demonstration, sondern verinnerlicht und mit viel Gefühl; als auffahrender Krieger fehlt ihr der Aplomb des Heroen, wie ihn Marilyn Horne unvergleichlich auf die Bühne gebracht hat. Aber Sandis weiß durch klugen Stimmeinsatz diese natürliche Begrenzung ihres Contralto wettzumachen. Reizend macht Ji Yoon mit der Arie des Roggiero auf sich aufmerksam. Sung Ha als Orbazzano gibt auch stimmlich den groben Militär, Julia Faylenbogen hat als Isaura keine Chance, sich zu profilieren,

Cordula Däuper und ihr Bühnenteam Ralph Zeger und Sophie du Vinage suchen ihr Heil in der Reduktion – nicht ohne Überzeugungskraft: ein Spielpodest in schwarzer Bühne, eine Brücke nach hinten zu einer Tür, wenige Requisiten, Kostüme, die Militärisches des 20. Jahrhunderts mit Elementen der napoleonischen Zeit der Entstehung der Oper reflektieren. Däuper interessiert sich für die Konstellationen von Seelenzuständen, versucht nicht, die antirealistische, kunstvolle Stilhöhe des Dramas mit quasi naturalistischer Aktion aufzufüttern.

Chiffren wie das Brautkleid oder ein in die Erde gepflanzter, nach dem Scheitern des Hochzeits-Deals wieder ausgerissenes Bäumchen spielen eine Rolle, ebenso ein Kinderpaar. Die beiden fegen über die Bühne, als Amenaide sich an ihren Geliebten erinnert; später wird ihr Vater das kleine Mädchen in einen Geschenkkarton stecken, so als wolle er sein Idealbild seiner Tochter konservieren. Die Elemente spielen eine Rolle – Erde auf dem Podest, Wasser als Regen, Luft und das finale Feuer, in dem Tancredi sein Ende findet. Man spielt in Mannheim den tragischen Schluss, den Rossini anstelle des „lieto fine“, des glücklichen Endes der venezianischen Uraufführung, wenige Wochen später für Ferrara konzipiert hat.

Rossini-Rarität auch in Frankfurt

Auch das andere „Opernhaus des Jahres“ hat eine Rossini-Rarität im Repertoire: Seit Dezember spielt Frankfurt wieder seine düster-überzeugende Version der „diebischen Elster“, eine kafkaeske Kleine-Leute-Geschichte mit einer rundum überzeugenden Ensemble-Leistung. Das Konzept, auch wenig Bekanntes in qualitätvollen Inszenierungen vorzustellen, durchzieht Bernd Loebes Intendanz bisher und wird sich auch fortsetzen: Im Herbst zeigte die Oper Michail Glinkas „Iwan Sussanin“ in einer musikalisch eindrücklichen, szenisch von Altmeister Harry Kupfer überraschend bieder arrangierten Aufführung. Am 23. Januar folgt die Neuinszenierung einer einst beliebten, aber seit Jahren nicht mehr aufgetauchten italienischen komischen Oper: „Le cantatrici villane“ („Die Dorfsängerinnen“) von Valentino Fioravanti. Und kurze Zeit später, am 31. Januar, erlebt Giuseppe Verdis verkanntes Meisterwerk „Stiffelio“ seine Frankfurter Erstaufführung. Dazu im April mit „Radamisto“ noch eine Händel-Rarität. Und das alles bei glänzenden Besucherzahlen. So geht Oper: lustvoll, originell, neugierig.

Rossinis „Tancredi“ in Mannheim am 16.01., 17. und 24.03. und 15.04.2016. Karten: (0621) 1680 150, www. nationaltheater-mannheim.de

Rossinis „La gazza ladra“ in Frankfurt zum letzten Mal in dieser Spielzeit am 08.01.2016. Karten: (069) 212 49 49 4, www.oper-frankfurt.de




Festspiel-Passagen VI: Kabale am Königshof – Rossinis „Adelaide di Borgogna“ in Bad Wildbad

Margarita Gritskova als Ottone in Rossinis "Adelaide di Borgogna" in Bad Wildbad. Im Hintergrund Cornelius Lewenberg als Ernesto. Foto: Patrick Pfeiffer

Margarita Gritskova als Ottone in Rossinis „Adelaide di Borgogna“ in Bad Wildbad. Im Hintergrund Cornelius Lewenberg als Ernesto. Foto: Patrick Pfeiffer

Das ist der Stoff, aus dem echte Opern sind! Adelheid von Burgund, eine der einflussreichen Frauen des Mittelalters, verliert ihren Gatten Lothar. Durch Giftmord, verübt von dessen Kontrahenten Berengar. Der will sich die Macht über Italien sichern und versucht, die junge Witwe gegen ihren Willen mit seinem Sohn Adelbert zu verheiraten.

Adelheid wendet sich an Otto I. Der deutsche König kommt ihr zu Hilfe, verliebt sich auf den ersten Blick in die attraktive Regentin und kann sie schließlich trotz erbitterten Widerstands Berengars und Adelberts ehelichen.

Die historischen Fakten hat der neapolitanische Librettist Giovanni Schmidt zu einem Textbuch für Gioacchino Rossinis erste römische Opera seria zusammengeschmiedet: Doch „Adelaide di Borgogna“, uraufgeführt am 26. Dezember 1817 zur Eröffnung der Karnevalssaison im Teatro Argentina, war kein Erfolg. Die Oper wurde nur ein paar Mal nachgespielt und später von Rossini als Reservoir für „Eduardo e Cristina“ und das verschollene englische Projekt „Ugo, Re d’Italia“ benutzt. Moderne Aufführungen – zuletzt beim Rossini-Festival in Pesaro – konnten letztlich ebenfalls nicht überzeugen. Jetzt kam die unglückliche „Adelaide“ in Bad Wildbad zur späten deutschen Erstaufführung.

Der durchaus verdienstvolle Abend in der württembergischen Ausgrabungsstätte für belcanteske Relikte der Rossini-Zeit bestätigt: „Adelaide di Borgogna“ bleibt ein Artefakt der Vergangenheit, das nur Kenner und Liebhaber in Entzücken versetzen wird. Das hat unterschiedliche Gründe, ein entscheidender ist das Libretto Schmidts. Rossini vertonte viele der erklärenden Rezitative nicht. Die Figuren bleiben eindimensional, die Konflikte verlaufen schematisch. Und die mäßig inspirierte Personenführung in der Regie von Antonio Petris hilft diesen Schwächen auch nicht auf die Sprünge.

Die Botschaft des Stücks, der Sieg der beharrlichen Liebe, ist etwa von Händel oder von Rossini selbst in anderen Opern musikalisch spannender und differenzierter gestaltet worden. Die politischen Konflikte – hier eine selbstbewusste, auf ihre Selbstbestimmung pochende Frau, dort zwei skrupellos um ihre Macht kämpfende Männer – gewinnen kaum Brisanz. Der einzige spannende Zwiespalt ist Adelberts innerer Kampf zwischen seiner ehrlichen Liebe zu Adelaide und der Pflicht, seinen Vater aus der Gefangenschaft zu befreien. Schmidt porträtiert einen vom Vater abhängigen Sohn, dem es nicht gelingt, sich vom patriarchalen Unterdrücker eigener Lebensregungen zu befreien. Und Rossini gibt den kolportagehaften Sätzen der Szene mit seiner Musik eine berührende Tiefendimension.

Inszenierung, Bühne und Kostüme für Rossinis "Adelaide di Borgogna" stammen von Antonio Petris. Auf dem Foto: Ekaterina Sadovnikova als Adelaide. Foto: Patrick Pfeiffer

Inszenierung, Bühne und Kostüme für Rossinis „Adelaide di Borgogna“ stammen von Antonio Petris. Auf dem Foto: Ekaterina Sadovnikova als Adelaide. Foto: Patrick Pfeiffer

Um diesen seelischen Kampf, in dem der Chor die Rolle eines Freud’schen „Über-Ich“ einnimmt, adäquat auf die Bühne zu bringen, braucht es einen Sänger, der über die stimmlichen Mittel verfügt, die Ausdrucksmittel des Belcanto mit psychologischer Klugheit einzusetzen. Der Tenor Gheorghe Vlad kämpft in Bad Wildbad eher mit der Technik als mit den inneren Impulsen von begehrender Liebe und Sohnespflicht. Das Timbre seiner Stimme wirkt unfertig steif; die hohen Töne tippt er nur an. Auch als Darsteller kommt er über Stereotypen nicht hinaus. Es ist alleine die Musik Rossinis, die in dieser Szene und Arie des zweiten Akts ihren Zauber entfaltet.

Wobei auch diese Magie ihre Grenzen hat: Luciano Acocella leitet das Orchester „Virtuosi Brunenses“ über weite Strecken steif, mit mechanisch geschlagenem Rhythmus, der Rossinis Dreiertakt etwa in gefährliche Nähe zu dem früher spöttisch bemühten Begriff der „Leierkastenmusik“ rückt. Die Finessen metrischer Variabilität, die leichte, elegante Formulierung der Phrasen, eine akzentuierte Tongebung, eine flexible Agogik: Acocella achtet zu wenig auf solche essentiellen Parameter, die Rossinis Musik erst zu dem spritzig-federleichten Kunstwerk machen, das seine Meisterschaft auszeichnet.

Zum Glück stehen auf der niedrigen, von Antonio Petris mit zweckmäßigen schwarzen Wandelementen gestalteten Bühne der ehemaligen Bad Wildbader Trinkhalle Sängerinnen und Sänger, die mit versierter Technik und geschmackvoller Gestaltung überzeugen: An erster Stelle ist Margarita Gritskova als androgyner Ottone zu nennen. Die russische Mezzosopranistin brillierte bereits an der Wiener Staatsoper. Ihr wandlungsfähiger Mezzo hat geschmeidige Noblesse für die zärtlichen Momente der Begegnung mit Adelaide ebenso wie schneidenden Schliff für das Quartett des zweiten Akts und den Triumph des Finales.

Baurzhan Anderzhanov, Ensemblemitglied des Aalto-Theaters Essen, als Berengario in Rossinis "Adelaide di Borgogna" in Bad Wildbad. Foto: Patrick Pfeiffer

Baurzhan Anderzhanov, Ensemblemitglied des Aalto-Theaters Essen, als Berengario in Rossinis „Adelaide di Borgogna“ in Bad Wildbad. Foto: Patrick Pfeiffer

Als Adelaide ist Ekaterina Sadovnikova eine gleichwertige Partnerin: Für den Ausdruck des Leidens und der Ausweglosigkeit hat der klangvolle Sopran die abgeschatteten Farbtöne; für die Hoffnung auf Liebe und Respekt – genährt durch Ottones Zuwendung – ließen sich die Phrasen noch eine Idee flexibler, der Klang etwas weicher bilden. Doch vor allem im Duett des ersten Akts, aber auch im Quartett des zweiten zeigt Sadovnikova Stilgefühl und Sicherheit in der Platzierung des Tons.

Sehr ansprechend sind auch die flankierenden Rollen besetzt, etwa die des Bösewichts Berengario mit Baurzhan Anderzhanov, seit 2013 im Ensemble des Aalto-Theaters Essen. Er ist dort unter anderem als Arzt in Verdis „Macbeth“ angenehm aufgefallen. Im Herbst wird er als Don Alfonso in „Cosi fan tutte“ seine erste größere Rolle singen. In Bad Wildbad gestaltet er seine Partie mit einem kontrollierten, gleichmäßig geformten Bariton.

Das Wildbader Plädoyer für „Adelaide di Borgogna“ wird – nach menschlichem Ermessen – trotz einiger bemerkenswerter Nummern wohl folgenlos bleiben. Das ist nicht ungewöhnlich, sind doch selbst Meisterwerke der opera seria des „Schwans von Pesaro“ über das nördliche Schwarzwaldtal nicht hinausgekommen – ein Zeichen für die leider immer noch nicht überwundene Schwerfälligkeit der über 80 (!) Musiktheater in Deutschland.

Im Falle der Oper über Adelheid von Burgund wird’s aber auch am Werk liegen: Zwischen den ehrgeizigen Arbeiten für Mailand („La gazza ladra“) und Neapel („Armida“, „Mosé in Egitto“) erscheint „Adelaide di Borgogna“ eher als die Erfüllung einer Freundespflicht dem Impresario Pietro Cartoni gegenüber.




Festspiel-Passagen III: Rossinis „Guillaume Tell“ in München – Rebellion der Spießer

München; Rossinis "Guillaume Tell". Foto: Wilfried Hösl

München; Rossinis „Guillaume Tell“. Foto: Wilfried Hösl

Das gilt es festzuhalten: Ein Haus wie die Münchner Staatsoper mit knapp sechzig Millionen Staatszuschuss kümmert sich – endlich einmal – um ein Schlüsselwerk der Oper, Gioacchino Rossinis „Guillaume Tell“. Und streicht und kürzt in der Partitur herum, als habe es in den letzten Jahrzehnten keine kritische Neuerschließung des Materials und keinen Wandel in den ästhetischen Anschauungen zu Rossinis Arbeitsweise und Werkgestalt gegeben.

Ein Jahr vorher stellte ein Festival mit nicht einmal einer Million mühsam erkämpftem Zuschuss einen „Tell“ auf die wacklige Bühne einer ehemaligen Trinkhalle im württembergischen Bad Wildbad, der alle Striche öffnet und dem staunenden Zuhörer erstmals in vier Stunden und zwanzig Minuten den ganzen musikalischen Kosmos Rossinis erschließt.

In Bad Wildbad hörte man nicht die durchlöcherten musikalischen Formen üblicher Strichfassungen, kam Rossinis subtile Kunst der Ensembles, der groß geschlagenen musikalischen Bögen, der spannungsvollen Entwicklung zum Tragen. Und in München, bei der „Festspiel“-Premiere dieses Jahres? Die handlungsbezogenen Tänze, die zum Besten gehören, was Rossini je aus der Feder geflossen ist: gestrichen. Die Großformen der Ensembles: zerstückt. Dazu ein Dirigent, dem das Gespür für Transparenz, Finesse und freies Ausströmen der Musik abgeht, der die Gewittermusik knallen und scheppern lässt, der in der Ouvertüre weder Konturen ausbildet noch die subtilen Stimmungen der Naturlyrik ausphrasiert. Und der es zulässt, dass diese grandiose Konzentration des musikalischen Dramas in den dritten Akt – nach dem Apfelschuss – versetzt wird.

Nun ist Oper keine akademisch-philologische Angelegenheit, das stimmt. Und ein Abend ohne Kürzungen muss nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Aber gerade von einem Haus wie München wäre zu erwarten, dass es sein Potenzial einsetzt, um ein seit jeher verstümmeltes opus magnum der Opernliteratur in ein ungefiltertes Licht zu setzen. Die Länge kann kein Gegenargument sein: Man kürzt auch die „Meistersinger“ nicht, nur weil das Festspielpublikum zu lange sitzen müsste.

Regie und Dramaturgie hätten, so war zu lesen, auf den Kürzungen bestanden. Hätten sie das Ergebnis dieser ersten Operninszenierung des erfolgreichen Schauspielregisseurs Antú Romero Nunes wenigstens gerechtfertigt oder einsichtig gemacht. Nichts dergleichen: Die Chöre drängen sich an der Rampe oder stehen in Appellplatzformation herum; Solisten agieren mit überdeutlicher Gestik am vorderen Bühnenrand. Gesler, ein netter, grauhaariger Uniformierter, spaziert zwischen Schweizern und Habsburger Soldaten einher. Arnold bejammert seinen inneren Zwiespalt im Spot an der Rampe.

Säulen, Stämme, Rohre: Florian Lösches Bühnenbild sorgt für bezwingende Bilder, aber seine Wirkung schleift sich im Laufe des Abends ab. Foto: Wilfried Hösl

Säulen, Stämme, Rohre: Florian Lösches Bühnenbild sorgt für bezwingende Bilder, aber seine Wirkung schleift sich im Laufe des Abends ab. Foto: Wilfried Hösl

Ein Fall für sich ist Florian Lösches Bühne: Wenn sich bleifarben schimmernde Röhren im dunstigen Licht Michael Bauers herabsenken und einen Wald abweisender, metallglänzender Stämme bilden, durch die sich die Schweizer in Hochzeitskleidern schieben, sieht man einen beklemmenden Raum, in dem Menschen ihre kleinen Freiheiten suchen. Wenn sich die Röhren dann heben und mit ihren schwarzen Öffnungen wie Kanonen von oben auf das Volk starren, stellt sich das Gefühl einer gewaltigen, unfassbaren Drohung ein. Wirkmächtige Bilder.

Doch Löscher lässt in den folgenden drei Stunden diese Röhren in den verschiedensten Formation rauf und runter fahren: Mal liegen ein paar Stämme quer, mal bilden sie das Dreieck eines Hausdachs. Nach einer halben Stunde geht diese Dauerdemonstration der Münchner Bühnentechnik auf die Nerven. Selbst dem innehaltenden Naturbild von Mathildes „Sombre forêt“ gönnt sie keine Ruhe. Der Fluss der Szenerie bleibt beliebig, die Wirkung schleift sich ab.

Anmerkungen zu Europa? Die "Aktualisierung" geht nicht auf. Foto: Wilfried Hösl

Anmerkungen zu Europa? Die „Aktualisierung“ geht nicht auf. Foto: Wilfried Hösl

In Nunes‘ Regie rebellieren die Spießer. Ein Tell, von Annabelle Witt in einen Strickpullover gesteckt, spuckt seine Freiheitsideen als ideologische Tiraden aus – Michael Volle poltert und röhrt, als habe er einen veristischen Reißer zu überstehen – und bringt den alten Melcthal (mit wenigen gestemmten Sätzen: Christoph Stephinger) um die Ecke, um Arnold zum Kampf zu gewinnen. Gesslers Mannen sind von einer dunkelblau uniformierten kleinen Mussolini-Ausgabe kommandiert (schneidend militärisch: Kevin Conners als Rodolphe), der Landvogt selbst wirkt wie ein unwilliger Aristokrat, der versehentlich in einen Volksauflauf geraten ist. Im dritten Akt darf er sich einen Stierkopf überstülpen – aber die Maskerade hat nichts mit dem Wappen des Kantons Uri zu tun, sondern mit einer apokryphen Europa-Symbolik, die sich auch im Schwenken einer grau-schwarzen Fahne mit dem europäischen Sternenkreis manifestiert. Die EU alias Habsburg, die das bieder-spießige Schweizervolk bedrängt?

Nunes will uns zeigen, dass die Welt nicht so eindeutig in Gut und Böse einzuteilen ist, wie es das Freiheitspathos der Rossini-Oper suggeriert. Aber er kann nicht klären, was das letztlich bedeutet. Die Erzählung des Münchner „Guillaume Tell“ endet mit der stumpf musizierten Verklärungsmusik und den „Liberté“-Rufen von Revoluzzern, die gerade einmal das Erregungsniveau von Wutbürgern erreichen. Emblematisch dafür kann Tells Frau Hedwige – die schönstimmige Jennifer Johnston – stehen, die sich entschlossen die Schürze vom Kostüm reißt. Immerhin lässt Nunes uns nicht im Unklaren, wie die Liebesgeschichte zwischen Arnold und Mathilde endet: Die „Liberté“ macht ihn unempfindlich gegen die zärtlich auffordernde Annäherung der Frau.

Würde das Bayerische Staatsorchester Wagner so spielen wie diese Grand Opéra, der Protest im Publikum wäre programmiert. Aber es ist ja „nur“ Rossini. Und so dürfen Flöte und Oboe abschmieren, braucht es weder ein sanglich-weich phrasierendes Cello noch transparente Violinen. Die Anfeuerungsarbeit leistet Dan Ettinger, Mannheimer GMD, der bisher nicht durch Großtaten im Belcanto- oder französischen Fach aufgefallen ist. Er nimmt Rossini im Geiste des mittleren Verdi mit viel Saft und Kraft.

Zwischen der bewusst primitiv-martialischen Aufmarschmusik Rossinis und den entrückten Lyrismen könnte die Skala expressiver Möglichkeiten weiter aufgespannt sein. Die Chöre Sören Eckhoffs schlagen sich tapfer; einige Wackler und abgeflachte Phrasen sind bei den derzeitigen Festspiel-Übungen in Ausdauer und stilistischem „Umschalten“ mehr als verständlich.

Vokales Niveau auf Weltspitze präsentiert Marina Rebeka als Mathilde: Ihr gelingt das ariose Naturidyll von Wald und Bergen als Fluchtort vor ihrer Realität mit geschmeidigem Legato ebenso wie die heroisch punktierte Höhe oder der dramatisch geladene Einsatz für Tells Sohn Jemmy gegen die brutale Willkür Geslers. Evgeniya Sotnikova singt mit flexibler Stimme die Rolle des vorpubertären Buben, der mit kindlicher Radikalität den Ideen des Freiheitskampfes folgt.

Bryan Hymel als Arnold überzeugt vornehmlich mit sicher gesetzten Spitzentönen, nicht so sehr mit der unflexiblen, einfarbigen Tongebung und einem gerne ins Gaumige rutschenden Timbre. Im vierten Akt hatte er sich für seine berühmte Szene „Asile héréditaire“ frei gesungen und brillierte mit einem überwältigenden Vortrag. Auch Enea Scala in der zweiten Tenorpartie des Fischers Ruodi beeindruckte mit brillanter Höhe und sicherer Position. Günther Groissböck ist ein eleganter Gesler mit einem warmen Timbre – fast zu schön für den sadistischen Tyrannen. In der Premiere wurde der Regisseur mit Buhrufen überzogen; auch am besuchten Abend waren entschiedene Missfallenskundgebungen zu hören, die diesmal den Dirigenten trafen.




Kafkaeske Geschichte von Willkür und Gewalt: Rossinis „Diebische Elster“ in Frankfurt

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Das Unheimliche triumphiert. Von Gioacchino Rossini ist der Opernbesucher leichte Kost gewöhnt – auch weil deutsche Opernhäuser nicht bereit sind, anderes zu gewähren. Und nur, wenn man mit dem Regisseur Glück hat, werden die grotesken und die irritierenden Momente in Werken wie „La Cenerentola“ oder „Der Türke in Italien“ auch herausgearbeitet. Im Falle von „La gazza ladra“ stand das bisher nicht zur Debatte, denn „Die diebische Elster“ mit ihrer weithin bekannten Ouvertüre wurde einfach nicht gespielt. In dieser Spielzeit hat sich das geändert: In Würzburg und Frankfurt steht das Stück auf dem Spielplan, das ein Rossini-Kenner wie der Dirigent Alberto Zedda unter die drei bedeutsamsten Opern Rossinis einordnet.

Doch während in Würzburg die Regie von Andreas Beuermann an der Rossini-Konvention kleben bleibt und eine leicht skurrile Winzerdorf-Posse mit märchenhaften Zügen auf die Bühne stellt, betont David Alden in Frankfurt das Unheimliche, ja Brutale in dieser Kleine-Leute-Geschichte.

In einem spukhaften Bühnenbild von Charles Edwards löst Alden das Drama um den vermeintlichen Diebstahl durch eine Hausangestellte und ihre Verurteilung zum Tode unter Kriegsrecht aus dem historischen Zusammenhang des französischen Rührstücks und rückt es zeitgemäß zurecht: als kafkaeske Geschichte von Willkür und Gewalt. Die von Bibi Abel erstellten Video-Projektionen lassen unheimliche schwarze Vögel über die Szene fliegen, die sich im ersten Finale zum bedrohlichem Schwarm ballen: der Verweis auf Hitchcocks Film passt zu der Bedrohung des Opfers, die auch unerklärbar aus dem Nichts erwächst.

"Spooky": Die Bühne Charles Edwards' zu Rossinis "Die diebische Elster" in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

„Spooky“: Die Bühne Charles Edwards‘ zu Rossinis „Die diebische Elster“ in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Die Bühne, ein großmustrig tapeziertes Halbrund mit schweren, altmodischen Türrahmen, erinnert an Film-Spukhäuser, an Räume der „gothic novel“ oder an verloren-unheimliche Anwesen auf Bildern von Dennis Hopper oder des Fotografen Matthias Herrmann. In diesem Horizont wird ein trautes Heim herumgeschoben und je nach Bedarf zugerichtet. Rosige Tapeten zitieren das Muster des Halbrunds, die Einrichtung zeigt, dass sich hier kleine Leute nach dem Vorbild der Großen strecken. Dort erwartet man die Rückkehr des „eroe di guerra“, des Sohnes, der als Soldat den Interessen der Mächtigen dienen muss.

Zentrale Figur des Dramas ist der Podestá Gottardo, der in einer schwarzen Kutsche, von Menschen gezogen, vorfährt, als wolle Edwards Murnaus „Nosferatu“ zitieren. Er ist vom Ursprung her, wie viele in dieser Rossini-„Semiseria“, eine Komödienfigur: der lüsterne Alte, der gerne etwas junges Fleisch genießen würde.

Doch sein Verhalten sprengt nachdrücklich die Komödien-Konvention: Ein Provinz-Beamter, der übergeordneten Kontrolle entzogen, geriert sich als Tyrann. Er reagiert auf Ninettas selbstbewusste Ablehnung (in patriarchalischen Gefügen unangemessenes Beharren auf selbstbestimmter weiblicher Sexualität) mit der Wut des Gedemütigten und mit dem arglistigen Hintersinn eines juristisch versierten Rachsüchtigen. Der zufällig aufgeschnappte Vorwurf in einer eher familiären Auseinandersetzung, das Dienstmädchen habe einen Silberlöffel verschlampt, wird zum „Fall“.

Was folgt, ist ein Indizienprozess, in dem Menschen, die wohl kaum lesen und schreiben können, chancenlos einer vermeintlich zutreffenden Kette von Schlussfolgerungen ausgeliefert sind. Wer hinter die zeitgemäße, heute harmlos wirkende Einkleidung blickt, fragt sich: Wie weit weg ist da der Dorfrichter Adam aus Kleists „Zerbrochenem Krug“? Und wie nahe liegt diesen Menschen der Büchner’sche Seufzer: „Wir arme‘ Leut“?

Gefährlich groteske Figuren

David Alden misstraut dem „coup de théâtre“ mit der „diebischen Elster“: Im Libretto Giovanni Gherardinis wird Ninetta im letzten Moment vor der Hinrichtung gerettet, weil im Nest einer Elster das vermisste Besteck gefunden wird. In Frankfurt klaut nicht nur die hoffmanneske Figur des Hausierers Isacco (Nicky Spence gibt ihm gefährlich-groteske Züge), sondern auch der Bauernbursche Pippo (mit feiner Stimme: Alexandra Kadurina). Er zieht den Silberlöffel aus der Tasche, steckt ihn aber erschreckt zurück, als von „Todesstrafe“ die Rede ist.

Alden lässt die Geschichte so seltsam enden, wie uns heute der „glückliche“ Schluss vorkommt, zu dem Rossini durch Zensur und Konvention gezwungen war: keine Aufhellung, kein Schlussjubel, eher ein entkräftetes Zurücksinken. Ninetta und ihr Vater – das Schicksal dieses Deserteurs spitzt den Hauptstrang der Handlung zu – grüßen von der Kutsche des Podestá, der sich in einer Ecke als Verlierer krümmt. Wie so oft bei Alden gibt es freilich auch Momente, in denen die Regie übertreibt und sich verselbständigt: erst ein unmotiviertes Tänzchen, dann überflüssiges Gerenne des Chores und eine seltsame Orgie der „Gewalt gegen Sachen“ des Richterkollegiums bräuchte es nicht.

Keine einfache Aufgabe stellt Rossinis ausgefeilte Partitur an Henrik Nánási und das Frankfurter Opernorchester: lyrische Innerlichkeit, sanfte Traurigkeit, aber auch feurig-jugendliches Aufbegehren verbinden sich mit den hier beinahe zynisch wirkenden Crescendi und Repetitionen aus der koketten Opera buffa. Ungerührt wie der Lauf der Geschichte geht die Musik über die Schicksale hinweg: eine verstörende Wirkung. Doch im Vordergrund steht die moderne Expression, die Rossini in seinen neapolitanischen Opern nach 1817 kultivieren und perfektionieren sollte. Nicht umsonst wird der erhabene Ausdruck der Chöre und des Trauermarschs im zweiten Akt gerühmt.

Belcanto-Flexibilität und kühle Präzision

Nánási, Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin, rückt die Ouvertüre noch zu sehr in die Nähe fröhlich-quadratischer Marschrhythmen, als sei Rossini ein mediterraner Paul Lincke. Doch im Verlauf des Stücks findet er zu einer überzeugenden Mischung aus belcantesker Flexibilität und kühler, rhythmisch-metrischer Präzision. Die Bläsersoli aus dem Frankfurter Orchester sind meist erstklassig; dass den Violinen im Lauf von mehr als drei Stunden das heikle, filigrane Fingerwerk nicht immer akkurat gelingt, ist kein Merkmal mangelnder Qualität.

Das Biedere wird unheimlich: Katarina Leoson (Lucia) und Federico Sacchi (Fabrizio Vingradito) in Rossinis "Die diebische Elster" in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Das Biedere wird unheimlich: Katarina Leoson (Lucia) und Federico Sacchi (Fabrizio Vingradito) in Rossinis „Die diebische Elster“ in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Die Sänger, wie stets bei Rossini erheblich gefordert, sind mal mehr, mal weniger mit dem spezifischen Idiom vertraut: Kihwan Sim ist als brutaler, unrührbarer Egozentriker der Macht eine auch vokal imponierende Figur; Sophie Bevan eine intensive Darstellerin der mädchenhaften Ninetta mit einem hübsch timbrierten, aber manchmal zu leichtgewichtigen und in der Höhe nicht ganz abgefederten Sopran.

Jonathan Lemalu macht aus dem untergetauchten Deserteur Fernando eine grob geschnittene, nicht sehr glaubwürdig agierende Gestalt mit ebenso grobem, nicht präzis vokalisierendem Bariton. Den unbedachten Anlass für die tragische Entwicklung gibt die Dienstherrin Ninettas mit ihrem kleinkarierten Genöle: Katarina Leoson zeichnet sie als eine bigotte, aufs Materielle bedachte Frau aus der bürgerlichen Mittelschicht des 19. Jahrhunderts – die sorgfältig gestalteten Kostüme stammen von Jon Morrell. Ihr Mann ist lockerer eingestellt, kann sich aber gegen niemanden durchsetzen: Federico Sacchi singt ihn passend profillos. Francisco Brito jammert und protestiert als Giannetto vergeblich gegen die übermächtige, juristisch abgesicherte Willkür an.

In der Pause echauffierte sich ein älterer Besucher über die „aufgeblasene Dorfgeschichte“. Wer nichts verstehen will, versteht eben auch nichts. Zum Glück gibt es in Frankfurt – und anderswo – das Publikum, das sich dem Neuen und Ungewohnten öffnet, auch wenn es in scheinbar so konventioneller Umkleidung wie in dieser genialen Rossini-Oper auftritt.