Eisiger Schauer für Barbarossas Knochen: Verdi und Rossini zur Saisoneröffnung in der Philharmonie Essen

Der Dirigent Riccardo Chailly in der Philharmonie Essen. (Foto: Brescia e Amisano ©Teatro alla Scala)

Erfreulich, dass Riccardo Chailly mit Orchester und Chor des Teatro alla Scala beim Saison-Eröffnungskonzert der Essener Philharmonie einmal nicht den Schlager aller Chorschlager mitgebracht hat. Statt „Va pensiero“ aus Giuseppe Verdis „Nabucco“ eröffnen sie ihr Konzert mit italienischer Opernmusik von Verdi und Rossini mit einer mitreißenderen Hymne als dem „Gefangenenchor“: „Viva Italia“, der Einleitungschor aus Verdis vernachlässigter „La Battaglia di Legnano“.

Man spürt den Kampfgeist des Risorgimento, den Enthusiasmus der italienischen Einigungsbewegung: Ein „heiliger Pakt“, so heißt es, verbinde die Söhne Italiens (die Töchter waren damals nicht gefragt), mache sie zu einem Heldenvolk. Ein eisiger Schauer möge die Knochen des wilden Barbarossa durchfahren!

Viel eindringlicher als im „Nabucco“, der erst im Zuge der Auseinandersetzung mit den österreichischen Besatzern seinen nationalrevolutionären Anstrich erhielt, formuliert Verdi hier sein Ideal der Einigung Italiens. Die Ouvertüre zur „Schlacht von Legnano“, in der es um den Sieg der Lombardischen Städteliga über Kaiser Friedrich Barbarossa anno 1176 geht, ruft den unwirschen, roh-lapidaren Ton der Frühwerke auf, aber der lyrische Teil steht auf der Höhe der folgenden Opern „Luisa Miller“ und des bedeutenden, immer noch nicht gerecht geschätzten „Stiffelio“. Filigrane Bläser und hymnische Tutti, vom Scala-Orchester mit Saft und Sensibilität gespielt, tauchen Verdis Melodien in glühende Kantilenen; der Chor beginnt verhalten a cappella und steigert sich gegen den „wilden Barbarossa“ in schäumendes Forte. Ein fulminanter Auftakt!

Auch mit Vorspiel und Einleitungschor zur Oper „I due Foscari“ stellen Chailly und seine Ensembles ein Werk vor, das mehr Beachtung verdient hätte. Chailly hat es schon als junger Dirigent zum 200-Jahr-Jubiläum der Scala 1978 dirigiert und aus seinem Dornröschenschlaf erweckt. Der Chor „Silenzio, mistero“ fängt die unheimliche Atmosphäre eines nächtlichen Venedig ein, das nicht romantisch verbrämt, sondern ein düsterer Schauplatz von Verrat, Intrige und Lebensgefahr ist.

Weniger glücklich programmiert sind die anschließenden Ausschnitte aus „La Traviata“ und „Otello“. Die Chorstretta am Ende des Festes bei Violetta („Si ridesta in ciel l’aurora …“) eignet sich als Zugabe („Es ist Zeit für uns, zu gehen …“), hat aber als vorbeihuschendes Presto zu wenig Substanz, um für sich allein zu stehen. Auch die beiden Chöre der Wahrsagerinnen und der Stierkämpfer aus dem zweiten Akt, dem Fest bei Flora, sind mit ihrer prägnanten Rhythmik und ihrer koloristischen Melodik reizvolle Stücke, die ihre Wirkung aber eher im szenischen Zusammenhang als im Konzert entfalten. Ähnlich die Chöre aus „Otello“.

Leuchtender Klang und breites Ausdrucksspektrum

Dass die Sängerinnen und Sänger aus Mailand unter ihrem Direktor Alberto Malazzi einen leuchtend-kernigen Klang pflegen und selbst zwischen dem fahlen „sotto voce“ – der Meisterschaft halblauten Singens – und einem plastischen Pianissimo über ein breites Ausdrucksspektrum verfügen, bleibt unbestritten. Die Musiker des Scala-Orchesters wissen natürlich, wie sie einen Bogen spannen, wie sie Bläser und Streicher abmischen und wie in bläserbewehrten Tutti ein transparenter Klang bewahrt wird. Chailly hält stets einen Rest von Reserve aufrecht; so klingt das Vorspiel zu „La Traviata“ nicht depressiv-wehmütig, sondern resigniert-erhaben.

Dieses Ideal eines polierten, strahlenden, aber expressive Emphase meidenden Klangs kommt im zweiten Teil des Konzerts den Ausschnitten aus Gioachino Rossinis „La gazza ladra“, „Semiramide“ und seinem „Tell“ – hier in der italienischen Fassung als „Guglielmo Tell“ – entgegen. In der „Diebischen Elster“ sind die beiden kleinen Trommeln zwar am äußeren linken und rechten Rand des Ensembles positioniert, aber die Echo-Wirkung wird nicht realisiert. Die Dynamik bleibt gedämpft – somit spielt sich keine Szene ab, sondern die Musik bleibt auf Distanz.

Energie und Noblesse in Rossinis Chören

Die vordergründig malerische Ouvertüre zu Rossinis letzter Oper mag Chailly nicht dramatisch eindringlich aufladen. Im Orchester hat die Cello-Gruppe einen glänzenden Auftritt; auch die Holzbläser, namentlich die Flöten, verschlingen sich makellos in ihren melodischen Arabesken. Die finale Attacke wird weder im rhythmischen Biss noch in der Lautstärke vulgär übertrieben – das tut dem Stück gut. Wirkungsvoll gestaltet ist der Chor aus der 13. Szene der „Semiramide“, „Ergi omai la fronte altera, regio Eufrate“. Da lassen die Scala-Choristen die Nähe zu Verdi und damit die expressive Kraft Rossinis spüren; der wuchtige Chorklang hat Energie und Noblesse.

Auch der Chor der Schweizer aus der zweiten Szene des Dritten Akts von „Guglielmo Tell“ mit dem Wechsel von Soldaten und Frauen und dem Passo a tre für das Ballett ruft szenische Assoziationen hervor und verbirgt nicht, dass dieser Moment vor den Augen Geslers mit untergründiger Aggression aufgeladen ist, die sich im scheinbar so harmlos-folkloristischen Bordun der Männerstimmen artikuliert. Jubel des Essener Publikums für einen dankbaren Abend voller Italianità.

Große Orchester in Essen zu Gast

Die Philharmonie Essen startete mit diesem Konzert in eine neue Spielzeit, deren Programm weitere weltweit bedeutende Orchester wie das London Symphony Orchestra (5. Oktober), das Israel Philharmonic Orchestra (1. November), die Wiener Symphoniker (14. November) und das London Philharmonic Orchestra (4. Dezember) enthält. Zu Gast sind Dirigenten wie Daniele Gatti, Philippe Herreweghe, Marie Jacquot, Klaus Mäkelä, Sir Antonio Pappano, Raphaël Pichon, Petr Popelka, Sir Simon Rattle oder einer der Porträtkünstler der Saison, Maxym Emelyanychev.

Neben der Geigerin Carolin Widmann und der Jazz-Legende Nils Landgren gehört zum Quartett der Porträtkünstler auch der Dirigent Lahav Shani. Der Musikdirektor des Israel Philharmonic und designierte Chefdirigent der Münchner Philharmoniker geriet über seine künstlerische Tätigkeit Mitte September in die Schlagzeilen, als er und die Münchner Philharmoniker vom Flanders Festival in Gent in Belgien ausgeladen wurden. Als Grund wurde angegeben, der in Tel Aviv geborene, 36 Jahre alte Dirigent habe sich nicht eindeutig von der israelischen Regierung distanziert. Die Absage aus Sorge vor „emotional aufgeladenen Reaktionen“ wurde als Bankrotterklärung vor dem Terror und von Presse und Kulturszene weithin als kruder Antisemitismus gewertet.

Lahav Shani. (Foto: Marco Borggreve)

Auch die Philharmonie Essen stellte sich in einer Stellungnahme im Umfeld des Konzerts der Münchner Philharmoniker in Essen klar hinter ihren Porträtkünstler, der sich vielfach für Dialog und Versöhnung eingesetzt hat. Bei dem Konzert am 13. September in Essen distanzierte sich der belgische Premierminister Bart De Wever noch einmal öffentlich von der Entscheidung des Festivals van Vlaanderen.

Lahav Shani wird in Essen noch zwei Mal zu erleben sein: Am 1. November gastiert er mit dem Israel Philharmonic Orchestra mit Paul Ben-Haims Sinfonie Nr. 2 und dem Fünften Klavierkonzert Ludwig van Beethovens, gespielt von Igor Levit. Am 28. Februar 2026 steht beim Rotterdam Philharmonic Orchestra Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegel“ auf dem Programm, dazu das Zweite Klavierkonzert Dmitri Schostakowitschs mit Shani in der Doppelrolle als Dirigent und Solist.




Cra Cra, Bum Bum, Din Din! Gioachino Rossinis „Italiana in Algeri“, historisch informiert aufgeführt in Berlin

Quicklebendiger Belcanto im nackten Mauerwerk der Kino-Bühne im Berliner Theater im Delphi. Auf dem Bild von links: Miloš Bulajić (Lindoro), David Oštrek (Mustafa Bey), Polly Ott (Elvira), Hannah Ludwig (Isabella), Manuel Walser (Taddeo). (Foto: Anna Tiessen)

Historisch informiert – das kannte man bis vor wenigen Jahrzehnten nur im Bezug auf alte Musik. Pioniere wie Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt erweiterten das Wissen um historische Spielweisen und Aufführungspraktiken enorm. Inzwischen ist auch die Zeit der Romantik bis hin zu Johannes Brahms und Richard Wagner ins Blickfeld gerückt.

Nur bei einem der bedeutendsten Komponisten des 19. Jahrhunderts, Gioachino Rossini, und im romantischen Belcanto von Bellini bis Verdi hat diese Bewegung bisher kaum Resonanz erzielt. Eine Produktion in Berlin will das ändern: Im Theater im Delphi – sonst nicht gerade für Opernaufführungen bekannt – präsentierte ein ambitioniertes Ensemble Rossinis „L’Italiana in Algeri“, unterstützt von der Deutschen Rossini Gesellschaft, die in Berlin auch ein halbtägiges Seminar zur historischen Aufführungspraxis bei Rossini abhielt.

Bei den vom Ensemble Eroica Berlin unter dem mit Rossini wohlvertrauten Dirigenten Jakob Lehmann organisierten drei Vorstellungen ist es die spezielle Praxis des Musizierens, die einen spannenden Abend garantiert. Regisseur und Bühnenausstatter Dennis Krauß lässt in einer auf drei rote Kisten vor nacktem Mauerwerk reduzierten Szenerie spielen; die Kostüme von Pauline Heitmann enthalten sich jeglicher Anspielung an den früher üblichen klischeehaften Orientalismus. Rossinis ebenfalls auf exotische Effekte verzichtende Musik erweist sich als theaterwirksam genug, um die drei Stunden nicht zäh werden zu lassen.

Gespielt wird im Delphi, an der Grenze von Weißensee zum Prenzlauer Berg, einem 1929 erbauten Stummfilm-Kino, das 1959 geschlossen und u.a. als Lager genutzt wurde, bis es 2012 von dem Künstler-Duo Brina Stinehelfer und Nikolaus Schneider aus dem Dornröschenschlaf geweckt und zu einem neuen Kunst- und Kulturort entwickelt wurde. Im unrestaurierten Jugendstil-Tonnengewölbe des Kinosaals mit einer Bar auf der Rückseite sitzt das Publikum unter verblassten Farben und Wasserflecken an der Decke an alten Tischen und kann wie in einem Varieté der Vorstellung folgen.

Frische, detailreiche Musik

Die Musik spielt im Raum vor der Bühne und klingt präsent und transparent – ungetrübter Genuss der fein ziselierten Details von Rossinis Partitur ist garantiert. Deutlich hört man die Verzierungen und liebevoll ausgearbeiteten Phrasierungs- und Dynamik-Finessen, denen sich die jungen Musikerinnen und Musiker des Orchesters widmen. Das sorgt in der Tat für ein frisches, detailreiches, im Vergleich zu üblichen Darbietungen kühleres, brillantes, aber auch luftiges Klangbild.

Mit wenig Vibrato gespielte Darmsaiten, jeweils ein an den beiden Flanken und im Zentrum des Orchesters platzierter Kontrabass, etwas schwerer ansprechende, aber warmtönige Hörner und eine aus Hammerklavier, Cello und Kontrabass bestehende Continuogruppe versuchen, den Klang der Rossini-Zeit in unsere Gegenwart zu holen. Die beiden Schlagzeuger nutzen herrlich blechernes Metallzeug „alla turca“, darunter einen selbst gebauten Schellenbaum, und sorgen damit für zugespitzte Akzente – wie überhaupt die Tutti scharf und kurz gefasst sind und damit einen „lärmigen“ Eindruck von Rossinis Musik nicht aufkommen lassen.

Die Streicher sitzen einander gegenüber, wie es auf alten Stichen zu sehen ist,und haben so – zumindest in den ersten Violinen – unmittelbaren Kontakt zu Bühne. In der Ouvertüre macht die Oboistin Katharina Haritonov aus ihrem ersten Solo ein verziertes Bonmot, das gleich deutlich macht: Hier wird so musiziert, wie wir es aus Quellen des frühen 19. Jahrhunderts erfahren. Auch die Agogik und die genüsslichen Ritardandi, die Portamenti und die kurzen, trockenen Staccati zeigen, dass sich die Musiker eingehend mit früheren Praktiken beschäftigt haben. Das geht bis zum „battuto“, wenn die Geiger mit ihren Bögen auf die Saiten schlagen und einen geräuschhaften Effekt erzeugen.

Die Frage nach dem Belcanto

Ob das alles so war und so sein muss, sei dahingestellt – aber eine Diskussion darüber ist allemal spannend und fruchtbar. Und Rossinis Musik bekommt dieser Zugang so gut – man höre nur, wie vielgestaltig und harmonisch interessant auf einmal die einleitenden Pizzicati des Preludio wirken –, dass man sich fragt, warum so etwas nicht wenigstens bei spezialisierten Festivals wie Rossini in Wildbad oder in Pesaro zur Diskussion gestellt wird.

Ärger im Hause Mustafa (von links): Laura Murphy (Zulma), Polly Ott (Elvira), David Oštrek (Mustafa Bey). (Foto: Anna Tiessen)

Zur Debatte sollte auch der spezifische Belcanto stehen, denn in der Technik des Singens stehen Fragen an, die über bloßen Geschmack hinausgehen. Lockerheit und Modulationsfähigkeit der Stimme, ein entspannter Ton über alle Register, klare Artikulation, ein gut gestütztes, frei gebildetes Piano, ein unangestrengt in den Raum projizierter Klang und die Fähigkeit, die vielfältigen Formen musikalischer Verzierung einwandfrei auszuführen, gehören dazu. In Italien neigt man derzeit dazu, Stimmen auf harte Strahlkraft hin auszubilden, im östlichen Europa besetzt man italienische Oper, gleich ob von 1810 oder 1910, mit einander ähnlich klingenden, auf Kraft, üppigen Ton und nicht selten ausladendes Vibrato hin geformten Stimmen. Adäquater Rossini-Gesang, der einlöst, was stilistisch gefordert wird, ist also trotz vieler Fortschritte in den letzten Jahrzehnten immer noch rar.

Eine erfreuliche Ausnahme ist in Berlin mit Hannah Ludwig zu erleben. Sie bringt viele der Vorzüge mit, die eine virtuose Rossini-Stimme ausmachen, prunkt als Isabella mit leuchtendem, auch im tiefen Register nicht extrem eingebrustetem und gut verblendetem Ton, verfügt über Beweglichkeit, aber auch den nötigen dramatischen Impetus. Eine Sängerin, die Freude macht. Auch die feine Stimme von Laura Murphy als Zulma lässt viel Potenzial entdecken, während Polly Ott als unglückliche Ehefrau des Mustafa Bey den Ton eher kopfig und mit forcierter Brillanz bildet – was eigentlich nicht nötig wäre.

Verzierungen und dünne Stimmfäden

Miloš Bulajić zeigt in „Languir per una bella“ respektable Verzierungskünste, aber die Stimme ist angespannt und bisweilen druckvoll gebildet, der Einsatz der voix mixte tendiert zum Falsett – insgesamt aber verdient sich der Tenor, der viel an der Lindenoper gesungen hat, Hochachtung für seinen Einsatz in dieser anspruchsvollen Rolle. Bassbariton David Oštrek verfügt über eine ansprechend gebildete, zu Tönen mit genauer Kontur, doch nicht zu lockerer Fülle neigende Stimme. Seine Artikulation ist untadelig, das ornamentale Gestalten bringt ihn ebenfalls nicht aus dem Konzept. Ein viriler Patriarch, machtbewusst, von Empathie kaum angefochten, empfänglich für die „Pappataci“-Finte, doch zu eitel, einzugestehen, dass er nicht weiß, worum es geht – Oštrek macht aus seiner Rolle einen lebensvollen Charakter.

Das versucht auch Manuel Walser als Taddeo, den er weniger als Trottel, eher als Opportunist anlegt und damit auf dem richtigen Weg ist. Adam Kutny als Hajek ist ein Beispiel einer mächtig-klangvollen, aber ungeschliffenen Stimme. Während der Neue Männerchor Berlin eher dünne Stimmfäden spannt, vereinen sich die Solisten in den genialen Ensembles in crescendierendem Entsetzen, das ihnen Hirn und Verstand zu rauben droht, und unter den feurigen Steigerungen des Orchesters und dem Krachen des Schlagzeugs bleiben nur noch cra cra, bum bum und din din. Da zeigt sich Rossini als Meister eines Humors, der in seiner überdrehten Absurdität wie kaum ein zweiter einfängt, wie brüchig unsere armselige menschliche Erkenntnis daherkommt und wir vielleicht gut daran tun, wie der gütig von den Stahlstichen lächelnde Maestro das Dasein mit heiterer Ironie und wissender Menschlichkeit zu nehmen.




Auf Entdeckungstour: Die Oper Frankfurt präsentiert in Rossinis „Bianca e Falliero“ erlesenste Gesangskultur

Gefühle brechen Mauern – oder nicht? Karoly Riszs Bühne für Rossinis „Bianca e Falliero“ in Frankfurt, hier mit Heather Phillips (Bianca) und Beth Taylor (Falliero). Foto: Barbara Aumüller

Ein gewaltiger Kontinent liegt vor uns. Einige seiner zentralen Orte sind wohlbekannt und häufig frequentiert. Andere liegen abseits, kaum jemand weiß ihre Namen.

Zwar gibt es immer wieder – und immer häufiger – Expeditionen an solche entlegenen Stellen, denen aber kaum Neugierige folgen, obwohl ihre Schönheiten gerühmt werden. So bleiben diese Orte unbekannt, das Leben braust an ihnen vorüber.

Der Kontinent, es ist ein musikalischer, heißt Gioacchino Rossini. Außerhalb seiner Metropole namens „Il Barbiere di Siviglia“ wird der Verkehr schnell weniger. Es gibt ein paar beschaulichere Vororte, aber in die vielen weißen Flecken seiner Landkarte verirren sich nur Enthusiasten und Connaisseurs. Die Oper Frankfurt hat sich als eines der großen Repertoiretheater weltweit in den letzten Jahren des kaum erforschten Geländes angenommen und in mittlerweile vier Erkundungsgängen Werke vorgestellt, die sonst vornehmlich bei spezialisierten Festivals begegnen: Nach „La gazza ladra“ 2014 kam fünf Jahre später „Otello“ und kurz vor Ausbruch und als Opfer der Pandemie 2020 „La gazzetta“ – sämtliche in ambitionierten Inszenierungen, kundig dirigiert und fast durchweg auf der Höhe heutigen Rossini-Gesangs besetzt. Jetzt folgt die (vorläufig?) letzte Trouvaille dieser Serie, das 1819 für Mailand geschriebene Melodramma „Bianca e Falliero“.

Und wie im „Otello“ – vor kurzem auch am Musiktheater im Revier zu erleben – versetzt die Musik des „ernsten“ Rossini in Staunen. Da ist nichts zu hören von der angeblich so heiter-apollinischen Tändelei eines Genießers, der ansonsten als Verfasser (sämtlich verlorener) Gourmet-Rezepte in die Geschichte eingehen sollte. Da sucht man auch vergeblich die in polemischer älterer Literatur so angeprangerten Selbstzitate und leeren Wiederholungen. Nur das Schlussrondo der Sopranistin ist aus der zwei Monate vorher in Neapel uraufgeführten und in Mailand noch unbekannten „La Donna del Lago“ übertragen, und eine kurze Bläsersequenz erinnert an die Ouvertüre zu Rossinis letzter italienischer Oper „Semiramide“. Dafür hört man aber ausgefeilte Ensembleszenen, ein von Zeitgenossen und Nachfahren vielgerühmtes Quartett und einen dramatisch verdichteten virtuosen Koloraturgesang, dem man höchsten technischen Anspruch vorwerfen könnte, nicht aber sinnleeres Gezwitscher.

Beste Traditionen des Belcanto

Frankfurt hat für die vier tragenden Rollen dieses kammerspielartigen Dramas um familiäre Gewalt, gesellschaftliches Ansehen, starre Ehrbegriffe, erschreckende Übergriffigkeit und verstörende Lieblosigkeit eine Besetzung gefunden, die man sich passender kaum vorstellen kann. Die Europa-Debütantin Heather Phillips (Bianca) und die junge Schottin Beth Taylor (Falliero) knüpfen mit glanzvollem Material und unverkrampftem Timbre an die besten Traditionen des Belcanto der Rossini-Zeit an, verbinden den Stil des Ziergesangs mit modern gedachter Expressivität, ohne die Tugenden einer ausgeglichenen Tonbildung, einer durchweg auf dem Atem getragenen Emission, eines in allen Registern gleichmäßigen Klangs und einer stupenden, unforcierten Geläufigkeit zu missachten. Sicher: Diese Art zu singen setzt nicht auf rhetorische Überwältigung, auch nicht auf kräftig aufgetragene Farben. Aber in der Finesse, im Chiaroscuro der Dynamik, in der Bedeutung des gesungenen Wortes, in der flüssigen, im richtigen Moment akzentuierten Phrasierung eröffnet sie einen Ausdruckskosmos, der sich weit über den bloßen Wohllaut erhebt. Schlicht begeisternd.

Von links: Theo Lebow (Contareno), Heather Phillips (Bianca; kniend), Beth Taylor (Falliero) und Kihwan Sim (Capellio). Foto: Barbara Aumüller

Die beiden männlichen Stimmen stehen dem kaum nach. Vor allem Theo Lebow, in seinem übersteigerten Patriarchalismus eine seelisch verkrümmte, autoritäre Vaterfigur, kann mit seinem agilen, an die Herrscherfiguren der älteren Oper erinnernden Tenor den technischen und expressiven Anforderungen Rossinis gerecht werden. Contareno, der Vater, versucht mit allen Mitteln, eine Zweckheirat seiner Tochter mit dem venezianischen Patrizier Capellio durchzusetzen und greift dabei zu allen Mitteln psychischer Gewalt, die sich in einem Feuerwerk gesanglicher Raffinessen entäußern. Lebow erfüllt sie nicht nur bravourös, sondern gibt ihnen auch das nötige expressive Gewicht und macht damit die unbändige innere Wut seines Charakters greifbar.

Capellio lässt sich auf diesen Ehe-Deal ein. Kihwan Sim gibt der Rolle ohne Solonummer ein sattes, aber nicht zu breit geführtes Bass-Fundament mit und zeigt seine Tugenden als Ensemblesänger. Sim hat den wohl schwierigsten Charakter der Oper zu gestalten, obwohl Librettist Felice Romani über die Konfliktschablone von persönlicher Neigung und übergeordneter Pflicht hinaus alle vier Protagonisten differenziert zu charakterisieren weiß. Denn Capellio ist über beide Ohren verliebt, besinnt sich aber im entscheidenden Moment der Gerichtsverhandlung gegen seinen Rivalen Falliero auf die Ehre als Richter, der übergeordnetes Recht über persönliche Gefühle zu stellen hat.

Befreit aus patriarchalen Zwängen

Contareno, der Vater, will mit der Hochzeit den alten Glanz seines Namens wieder herstellen und verfolgt dieses Ziel mit einer verbissenen Wut, die seine inneren Zwänge und Nöte ahnen lassen. Im Finale des ersten Aktes, das unverkennbar an die Konstellationen in Donizettis „Lucia di Lammermoor“ erinnert, richtet sich die Aggression gegen den heimlichen Geliebten seiner Tochter Bianca, der bei der Unterzeichnung des Ehevertrags hereinplatzt. Dieser Falliero ist zwar als Kriegsführer erfolgreich, aber mittellos und daher keine angemessene Partie.

Heather Phillips als Bianca. Foto: Barbara Aumüller

Und Bianca, die Tochter? Heather Phillips gibt ihr nicht nur leuchtend freie Sopranklänge mit, sondern zeichnet auch ihre innere Zerrissenheit nach. Denn anders als heute sind gesellschaftliche Verantwortung und familiäre Bindung noch gewichtige Argumente, wenn es um die Frage nach einem selbstbestimmten Lebensweg geht. Tilmann Köhler baut darauf seine Regie-Idee auf: Er zeigt zunächst ein behütet-verspieltes Mädchen, das Susanne Uhl in rosa Chiffon und silberne Stiefeletten kleidet. Aber die Figur verharrt nicht in der Opferhaltung einer Lucia di Lammermoor, sondern wehrt sich, auch wenn sie die Gesellschaft der Männer ins konventionelle Brautkleid nebst Schleier und grauem Blazer steckt.

Am Ende tritt Bianca als Kämpferin von heute ins Rampenlicht. Die Erkenntnis, dass es nie um sie und ihre Liebe ging, sondern immer nur um die Befriedigung des männlichen Begehrens (Falliero/Capellio) und das gesellschaftlich-materielle Nutzbarmachen (Contareno) treibt Bianca in eine trotzige Selbständigkeit, die freilich auch Isolation bedeutet. Karoly Risz hat auf die Drehbühne eine Konstruktion aus vier Viertelkreis-Segmenten gestellt, die an Jean-Paul Sartres (im Programmheft zitierte) Beschreibung Venedigs als „Labyrinth aus Schnecken“ erinnert.

Die Teile lassen sich zu Halbkeisen verbinden, die sich ineinander drehen lassen und so eine abweisende, riesige Mauer, Durchgänge oder offene Räume für Szenen mit dem distanziert kommentierenden Chor bilden können: neutrale Schauplätze, die für alle möglichen Sujets geeignet wären, und auf die Bibi Abel ziemlich überflüssige Videos von Händen, Gesichtern und Hautlandschaften projiziert, wenn die Musik den Fluss der Zeit anhält und die Personen in sich selbst einkehren. Unter Giuliano Carella pflegt das Frankfurter Orchester eher einen warmen, sanft geschmeidigen als den „typisch“ spritzig-trockenen Rossini-Klang, dem lediglich hin und wieder Attacke und rhythmische Zuspitzung gut getan hätte.

Und wieder einmal ist aus dieser beeindruckenden Rossini-Exploration der Wunsch abzuleiten, es mögen doch auch andere Opernhäuser in die unbekannten Regionen des Schaffens Rossinis vordringen. Frankfurt rüstet sich derweil für eine andere Epochen-Entdeckung: Ab 3. April steht Umberto Giordanos Verismo-Thriller „Fedora“ in einer Inszenierung von Christof Loy im Spielplan.

Weitere Vorstellungen von Rossinis „Bianca e Falliero“ am 11., 17., 19. und 26. März 2022. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/bianca-e-falliero_2/?id_datum=2825




Gelächter statt Respekt: In Gelsenkirchen wird Rossinis „Otello“ zum Drama des Verfalls europäischer Ideale

Draußen vor der Tür: Otello (Khanyiso Gwenxane) hat keine Chance, zur Gesellschaft zu gehören. (Foto: Björn Hickmann)

Kinder können grausam sein: Sie tänzeln mit Baströckchen vor dem schwarzen Mann, zeigen mit Fingern auf ihn, strecken ihm eine Banane entgegen. Wir kennen solche rassistischen Beleidigungen unter anderem von Fußballplätzen.

Doch Empörung ist unter Umständen vorschnell und billig: Denn nicht nur raubeinige Sporthooligans, denen niemand die Segnungen der Intelligenz zusprechen möchte, sind unverblümte Rassisten. Die Abwertung von Menschen ist in „feinen“ Kreisen vielleicht nicht so drastisch spürbar, dafür aber umso subtiler. Manuel Schmitt, Regisseur der Gelsenkirchener Neuinszenierung des „Otello“, zeigt mit der umtriebigen Schar auf der Bühne auch keine Kinder, sondern eher kleine Gespenster: Was die Gesellschaft hinter einer Fassade von gutem Benehmen verbirgt, lassen die grauen Wesen in seiner ganzen Gemeinheit in die Realität einbrechen.

Ein gespenstischer Alptraum vor der „Festung Europa“. (Foto: Björn Hickmann)

Dabei sieht zunächst alles nach eitel Wonne aus: In einer eleganten Nachkriegsarchitektur wird ein Bankett vorbereitet, ein hierarchiefreier runder Tisch gedeckt. Einer der blütenweiß livrierten Bediensteten zertritt angewidert etwas am Boden – offenbar ein lästiges Insekt. Aber all diese harmlosen Schilderungen haben einen doppelten Boden: „In varietate concordia“ lässt Bühnenbildner Julius Theodor Semmelmann über dem Bauwerk prangen. Es ist das Motto der Europäischen Union. „In Vielfalt geeint“, ein hehres Ideal, zu schön, um bloß zynisch dekonstruiert zu werden. Aber wie weit es in der Realität trägt, will der Regisseur am Beispiel des „Mohren von Venedig“ im Lauf des Opernabends demonstrieren. Und er spendet, das sei jetzt schon gesagt, wenig Hoffnung.

Draußen vor der Tür

Gelsenkirchen hat Manuel Schmitt nach seinem erstklassigen Regiedebüt mit Georges Bizets „Die Perlenfischer“ 2018 erneut ein Werk aus dem Randbereich des Repertoires anvertraut: „Otello“ ist nicht die bekannte Oper Giuseppe Verdis, sondern ein Hauptwerk von Gioachino Rossini, 1816 uraufgeführt und im ganzen 19. Jahrhundert oft gespielt, bis es durch den Wandel des Zeitgeschmacks und das Fehlen koloraturerprobter Gesangssolisten – man braucht sechs Tenöre mit hoher Tessitura – von den Bühnen verschwand. Die Welle der Wiederentdeckung der ernsten Opern Rossinis hat auch dem „Otello“ eine Renaissance beschert, wenn diese auch an deutschen Theatern eher verhalten ausfällt.

Der Regisseur Manuel Schmitt. Foto: Werner Häußner

Der Regisseur Manuel Schmitt. (Foto: Werner Häußner)

Das zertretene Ungeziefer ist nur ein Hinweis, dass es mit der heilen Fassade nicht weit her ist. Als Otello auftritt, im eleganten Outfit von Carolas Volles an die noble Gesellschaft angepasst, wird die Kluft schnell deutlich: Er bleibt draußen vor der Tür, während drin eine privilegien- und machtbewusste Jeunesse dorée feiert. Jago gehört dazu, Rodrigo ebenso. Otello sagt es deutlich: „Ein Fremder bin ich“. Allzu bemüht erkennt die Gesellschaft seine Verdienste an, aber als es um „Respekt für den Helden“ geht, flammt Gelächter auf.

Schmitts Inszenierung hält in vielen bezeichnenden Details fest, wie sich auf der toleranten Fassade die Sprünge zeigen und der rassistische Kern durchscheint. Und welchen Stellenwert Desdemona, der Braut Otellos, zugeschrieben wird, zeigt er ebenso drastisch: Sie wird präsentiert als die Frau im Bett, observiert von einer Emilia, die wie eine alte englische Gouvernante wirkt. Dass hinter den kultivierten Konventionen Gewalt und Roheit lauern, wird am Ende des ersten Akts überdeutlich. Es stellt sich aber die Frage, ob sich ein Kriegsheld wirklich die körperlichen Übergriffe einer Bande entfesselter Luxusknaben gefallen lassen würde.

Europäische Werte – nur noch museal

Der Bau auf der Bühne mutiert zum Museum. Ein antiker Torso mag an die humanistische Tradition Europas erinnern, ein Gemälde wie Théodore Géricaults „Floß der Medusa“ aus dem gleichen Jahr wie der „Otello“ (1816) kann als Verweis auf die Bootsflüchtlinge von heute gelesen werden. Auch das Blau von Yves Klein – die riesigen Flächen im Foyer sind der Stolz des Musiktheaters im Revier – taucht auf. Aber die Kunst degeneriert zur Staffage und zum Objekt des Marktes. Otello tritt sie wütend und desillusioniert mit Füßen, während der schicke Bau von Stacheldrahtrollen umgeben wird: ein beklemmendes Bild für die „Festung Europa“.

Der südafrikanische Tenor Khanyiso Gwenxane als Otello und Rina Hirayama, bisher Mitglied des jungen Ensembles am MiR, als Desdemona. (Foto: Björn Hickmann)

Bei den Personen auf der Bühne meidet Schmitt eine allzu eindeutige moralische Kategorisierung und lässt damit Tragik und Fallhöhe zu: Rodrigo erweist sich als ein zwar berechnender, aber wirklich Liebender, Iago als der falsche Strippenzieher, dem Otello in seiner Verzweiflung vertraut. Über das Ende entscheiden die Zuschauer in einem scheinbar demokratischen Verfahren, das eine bloße Abstimmungs-Farce ist. Ohne zu wissen, wohin ihr Votum führt, wählen sie das tragische Ende mit dem Tod Desdemonas oder ein von Rossini für die römische Karnevalssaison 1820 nachkomponiertes, absurdes Happy End.

Herausfordernde stimmtechnische Hürden

Wie herausfordernd die Partien sind, die Rossini damals für die Sängerelite seiner Zeit schrieb, kann in Gelsenkirchen nicht verleugnet werden. Die drei Tenor-Hauptrollen sind respektabel besetzt, stellen sich mutig den technischen Hürden, bleiben aber bei der Galoppade der Koloraturen, Verzierungen, Höhensprünge, unangenehmen Registerwechsel und bei der kräftezehrenden Dramatik in schwindelnder Höhe immer wieder an den Sprungbalken hängen.

Khanyiso Gwenxane ist ein in seinem Auftritt zurückhaltender Otello, kultivierter als diejenigen, die ihn von oben herab betrachten. Sein Abstieg macht ihn ratlos, hilflos, zuletzt verzweifelt. Gwenxane legt die Emotionen in seine Stimme, die ihre Position erst finden muss und die mit ausgeprägtem Vibrato das Legato zerhackt. Das wird im Duett mit dem Rodrigo Benjamin Lees zum Problem, wenn die Stimmen nicht harmonieren. Lee singt eine beeindruckend gefasste Arie, aber seine Höhen sind abenteuerlich gebildet und neigen dazu, unsauber zu werden. Immer wieder drückt er auf die Leichtigkeit des Tons.

Adam Temple-Smith ist ein harter Iago mit scharf geschliffener Stimme ohne vokale Eleganz und ebenmäßige Tongebung. Dieser Iago ist nicht die Inkarnation des nihilistischen Bösen wie bei Arrigo Boito und Giuseppe Verdi – eine solche Figur hatte Rossini bereits ein Jahr vorher in seiner „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ geschaffen. Der aus Hass kalkulierende Intrigant, der Otello mit scheinbarer Freundschaft eine Falle stellt, ist dennoch als Charakter verkommen genug, um das Trio der Gegner Otellos zu komplettieren. Dazu gehört auch eine bei Verdi nicht vorkommende Figur: Elmiro, Vater Desdemonas. Er schmiedet einen hinterhältigen Plan, um die Heirat seiner Tochter mit Rodrigo zu erzwingen. Man hat dem verdienten Sänger Urban Malmberg keinen Gefallen getan, ihn mit dieser Rolle zu betrauen, denn er ist alles andere als ein Schönsänger. Mit Mühe stellt er sich den Noten Rossinis, gleitet auf öligem Vibrato von Ton zu Ton und liefert eine Karikatur von Belcanto.

Romantisch-expressive Tonsprache

Rina Hirayama hat als Desdemona ihre berührendsten Momente im dritten Akt, für den Rossini eine neue, romantisch-expressive Tonsprache entwickelt, die direkt von Giovanni Simone Mayr zu dessen Schüler Gaetano Donizetti führt. Hirayama singt das Gebet der Desdemona und „Assisa a pie‘ d’un salice“ – das „Lied von der Weide“ – schlicht und intensiv, wie den Gesang einer tragischen Heroine. Ihre Stärken zeigt sie jedoch ebenso im Gestalten der Rezitative, die Rossini mit viel Bedacht und genauer Anpassung an die dramatische Situation komponiert hat. Der Tenor Tobias Glagau gefällt im melancholischen Lied eines Gondoliere; Lina Hofmann (Emilia) und Camilo Delgado Díaz (Lucio) sind in den kurzen Momenten ihrer Nebenrollen präsent und konzentriert. Der Chor, einstudiert von Alexander Eberle, hat zu Beginn Mühe mit dem Tempo, in den großräumig gestalteten Finali packende vokale Prägnanz.

Die Neue Philharmonie Westfalen kann in den reich bedachten Bläsern – stellvertretend seien die geschmeidige Oboe in der Ouvertüre und das Solo-Horn im ersten Akt genannt – viel Sinn für Rossinis vielgestaltige Klang- und Rhythmus-Dramaturgie beweisen. Giuliano Betta am Pult fordert zugespitzte Tempi und eine nicht immer eingelöste federnd-impulsive Artikulation; Momente der Kontemplation bleiben aber hin und wieder zu zäh. Wechselhaft auch der Eindruck der Rezitative – mal feurig gelungen, mal zu flott-beiläufig formuliert. Dennoch: Rossinis Musik trägt den Sieg davon, trotz der vokalen Schwächen. In Verbindung mit der starken Regie Manuel Schmitts zeigt der Abend in Gelsenkirchen, wie wenig auf die alten Vorurteile Verlass ist: Dieser „Otello“ ist packendes, berührendes Musiktheater. Der „ernste“ Rossini ist es wert, endlich in seiner Vielfalt auf der Bühne zu erscheinen.

Vorstellungen am 05. und 26. Dezember 2021, am 9. und 16. Januar 2022. Info: https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/otello




Rossini aus Konventionen befreit: An der Oper Frankfurt eröffnet ein fulminanter „Otello“ den Reigen der Premieren

Otello (Enea Scala) und Jago (Theo Lebow) in der Frankfurter Inszenierung von Gioachino Rossinis "Otello". Foto: Barbara Aumüller

Otello (Enea Scala) und Jago (Theo Lebow) in der Frankfurter Inszenierung von Gioachino Rossinis „Otello“. Foto: Barbara Aumüller

Und wieder einmal ist die Oper Frankfurt Vorreiterin: Mit der szenischen Realisation von drei kaum gespielten Werken Gioachino Rossinis durchbricht sie in der neuen Spielzeit 2019/20 die eintönige Kette immer wieder „neu befragter“ Aufführungen des „Barbier von Sevilla“ in deutschen Opernhäusern, befreit Rossini aus dem Dunstkreis verdienstvoller, aber begrenzt wirksamer Festivals und stellt ihn einem städtischen Theaterpublikum im Rahmen eines Repertoirebetriebs vor.

Endlich wird so auch der „ernste“ Rossini gewürdigt: Die Fachwelt ist sich längst einig, dass nicht die sicherlich genialen und öfter gespielten Opern wie „La Cenerentola“ oder „Der Türke in Italien“, sondern Rossinis Seria-Opern den bedeutenderen Platz in seinem Schaffen beanspruchen können.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

So hat die Ehre der ersten Premiere der Frankfurter Spielzeit Rossinis „Otello“. Die 1816 – im Jahr des „Barbiere“ – uraufgeführte Version von Shakespeares Drama, durch die Brille italienischer Bearbeitungen gesehen, war trotz der anspruchsvollen Besetzung mit fünf Tenören ein nachhaltiger Erfolg und wurde gespielt, bis ein gewandelter Geschmack und Giuseppe Verdis moderne Version von 1887 das Werk verdrängten. Das Problem der Besetzung ist letztlich auch das größte Hindernis auf dem Rückweg des „Otello“ auf die heutige Opernbühne. Nur große Theater schaffen es, drei erstklassige Belcanto-Tenöre und einen Koloraturmezzo vom Schlage der Uraufführungs-Sängerin Isabella Colbran zu gewinnen.

Ein anderes Problem ist das Sujet. Es bedarf schon eines entschiedenen und durchdachten Zugriffs, wie ihn jetzt Damiano Michieletto für diese Produktion, einer Kooperation mit dem Theater an der Wien und dort 2016 gezeigt, entwickelt hat. Dann aber wird das viel gescholtene Libretto von Francesco Maria Berio gerade wegen seiner Unzulänglichkeiten und seiner dramaturgisch offenen Stellen zur Vorlage für szenische und konzeptionelle Kreativität.

Ein venezianisches Familiendrama

Michieletto hat diese Chance genutzt und „Otello“ als ein Familiendrama konzipiert. Die geschlossene Gesellschaft zweier Clans, für die der venezianische Doge und der Vater Desdemonas, Elmiro Barberigo, stehen, das vergebliche Werben eines Fremden um Aufnahme in die hermetischen Kreise von Macht und Einfluss, der Mangel an Empathie und Liebe in den Beziehungen und das schlechthin Böse, für das mehr als Metapher denn als psychologisch fundierte Person Jago steht, hat Michieletto nach allen Regeln zeitgemäßer Regiekunst ausinszeniert und damit für einen reflektierten Abend gesorgt. Vom „albernen“ Umgang mit dem Thema, den noch ein Rossini-Kenner wie John Osborne bemängelte, war in diesen schlüssig gefügten drei Stunden nichts zu spüren – sicher auch ein Verdient der frisch wirkenden szenischen Einstudierung von Marcin Lakomicki.

Nino Machaidze als Desdemona. Foto: Barbara Aumüller

Nino Machaidze als Desdemona. Foto: Barbara Aumüller

Die Bühne von Paolo Fantin signalisiert mit üppigen Marmorwänden, einem Murano-Glaslüster und schweren Möbeln den Reichtum, aber auch die Kälte dieser gehobenen Gesellschaft und gibt den Sängern einen akustisch günstigen Entfaltungsraum. Denn auf die Sänger kommt es an: Sie sind in Rossinis musikalischer Konzeption am kreativen Entstehungsprozess der Komposition mit beteiligt. Ihnen obliegt es, durch Verzierungen und Variationen die Musik auf der Bühne zu aktualisieren. Zudem ist es für diese Form der Belcanto-Oper entscheidend, Traditionen der Gestaltung zu beherrschen, mit denen das gesungene Wort erst seine musikalische Vollendung findet.

Vieles davon, früher vergessen oder nicht beachtet, ist heute wiedergewonnen und wurde in Frankfurt vom Dirigenten Sesto Quatrini und einem im Ganzen hervorragenden Ensemble eingesetzt. Quatrini, Generalmusikdirektor im litauischen Vilnius, lässt den Sängern den erforderlichen Raum, koordiniert sie stilsicher mit dem Orchester und schäumt die Dramatik nie so auf, dass ihnen der Primat genommen oder der Stimmklang beeinträchtigt wird. Das Orchester besteht diese ungewohnte Bewährungsprobe glänzend – „Otello“ ist eine Frankfurter Erstaufführung und trotz einer ausgezeichneten „La gazza ladra“ vor einigen Jahren haben die Musiker bisher mit dem ernsten Rossini keine Erfahrung sammeln können.

Alle Farben des Klangprismas

Reynaldo Hahn beschrieb den für Rossini erforderlichen Gesangsstil einmal so: Der Belcantist müsse seine Stimme „endlos modulieren und sie durch alle Farben des Klangprismas filtern können“. Diese Forderung erfüllt am ehesten Jack Swanson als Rodrigo, der sein Paradestück im zweiten Akt („Ah, come mai non senti“) nach allen Regeln der Kunst ausziert, mit furiosen Spitzentönen aufwartet, aber auch die Momente lyrischen Innehaltens mit einwandfrei gebildetem Klang erfüllt.

Die Titelrolle fordert von dem seit einem guten Dutzend Jahren im Rossini-Fach tätigen Tenor Enea Scala einen ungewöhnlichen Stimmumfang, der bis in die Lage eines modernen hohen Baritons hinabreicht. Scala bewältigt die fiebrige, auch für Rossinis Otello nötige Dramatik mit ambitionierter Präsenz; seine Tiefe allerdings neigt zu ausgeprägtem Vibrato und vernachlässigt die Färbung mancher Vokale. Im Duett mit Theo Lebow als in niederträchtiger Blässe angelegten Jago allerdings zeigt sich Scala als intensiver Gestalter. In dieser ausgedehnten Szene wird deutlich, wie sehr es in Rossinis Drama auf die Sänger ankommt: Von Farbe und Klang der rezitativischen Rede sind Sinn und psychologische Wirkung der Worte abhängig; gestaltendes Singen wird zum Schlüssel des Verstehens.

Experimentelle Musik jener Zeit

Nino Machaidze kann als Desdemona in ihrem ersten Auftritt in einem Duett mit der jugendlich strahlend singende Emilia von Kelsey Lauritano das Profil einer realistisch beobachtenden Frau entwerfen, die zwischen Liebe und Angst ratlos nach einem Ausweg sucht, während ihr fremdenfeindlicher Vater Elmiro (Thomas Faulkner) längst beschlossen hat, seine Tochter dem Sohn des Dogen, Rodrigo, zur Frau zu geben, nicht ahnend, dass diese bereits heimlich mit Otello verheiratet ist. Der Höhepunkt ihrer Partie ist allerdings der dritte Akt, beginnend mit der schwermütigen, von der Harfe eingeleiteten Lied von der Weide („Assisa a’pie d’un salice“), ihrem Gebet und der tödlichen Konfrontation mit Otello – Szenen von romantischem Reiz, die etwa Giacomo Meyerbeer als „göttlich schön“, aber auch als „ganz und gar antirossinianisch“ bezeichnet hat.

Er hat Recht: Rossini schreibt in diesem dritten Akt eine für seine Zeit in ihrer Konsequenz experimentell moderne Musik, die er Jahre später in „Semiramide“ und schließlich in „Guillaume Tell“ perfektionieren sollte. Machaidze singt die Rossini-Desdemona mit nobler Brillanz und dem Selbstbewusstsein einer venezianischen Patriziertochter, bleibt aber mit unruhiger Tongebung, unscharfer Artikulation und einer fast unverständlichen Diktion der Partie die Präzision und Klarheit des Singens schuldig. Die Oper Frankfurt hat mit diesem „Otello“ die Trias der diesjährigen Rossini-Entdeckungen fulminant eröffnet.

Als nächste Premiere ist „La Gazzetta“ am 2. Februar 2020 im Bockenheimer Depot angekündigt, gefolgt von „Bianca e Falliero“ am 5. April im Opernhaus.




Vom Konzept überfrachtet: Martin G. Berger inszeniert Gioachino Rossinis „Barbier von Sevilla“ an der Oper Dortmund

Petr Sokolov (Figaro), Aytaj Shikhalizada (Rosina) ©Anke Sundermeier, Stage Picture

Petr Sokolov (Figaro), Aytaj Shikhalizada (Rosina)
© Anke Sundermeier, Stage Picture

Da hampeln sie also an ihren Fäden, die Geschöpfe von Gioachino Rossini und Cesare Sterbini, verkettet mit ihren alten Wurzeln in der Commedia dell’arte und überformt von Beaumarchais‘ vorsichtig die Zensur fürchtenden revolutionären Gedanken. In Dortmund macht der 1987 geborene Martin G. Berger zum Beginn der Intendanz von Heribert Germeshausen aus dem „Barbier von Sevilla“ ein Marionettenspiel, richtet Rossinis unsterbliche musikalische Komödie rücksichtslos nach eigenen Bedürfnissen ein und lässt die Oper nach einer resigniert vergeblichen Revolution „gegen die Festschreibungen einer Gesellschaft“ ziemlich lädiert zurück.

Berger war von 2009 bis 2012 Regieassistent und Abendspielleiter an der Oper Dortmund, arbeitet seit 2015 frei und hat mit einigen Inszenierungen wie dem mit Jelinek-Texten aufgebrochenen „Faust“ Charles Gounods in Heidelberg Opernkonventionen unterlaufen. Dafür wurde er für den Theaterpreis „Der Faust“ nominiert, der im November 2018 verliehen wird. In Augsburg hat Berger mit einer Neufassung der Paul-Abraham-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ eine berührende, stringent erzählte Story über die Ausgrenzung schwuler Sportler im kommerziellen Fußball entwickelt. Viel Kreatives also – Berger gilt als einer der „kommenden“ Regisseure der jungen Generation.

Die neue Weltordnung des Grafen Almaviva

Auch im „Barbiere di Siviglia“ schert er sich nicht viel um die Form des Originals: Die Arie des Figaro, „Largo al factotum“ eröffnet das Spiel, das Multitalent zappelt an seinen Seilen um überlebensgroße, von Rachel Pattison gebaute Puppen herum, bei denen er schon einmal einen Kopf nach hinten klappen kann. Figaro hier, Figaro da – für den fliegenden Harlekin kein Problem.

Die Form der Oper mit ihrer Folge von Rezitativen und Musiknummern wird aufgelöst. Arien und Ensembles sind Einschübe in einem Märchen, das ein Erzähler („Es war einmal …“) vorträgt und auf eine – vom Grafen Almaviva für nötig befundene – „neue Weltordnung“ trimmt.

Im Finale des ersten Akts, wenn alles drunter und drüber geht und Rossini die Gehirne in musikalischer Raserei wirbeln lässt, wird auch dieser Erzähler Opfer des Grafen, der die Marionetten von den Fäden schneidet. Hannes Brock erfüllt die Rolle des Conférenciers mit soignierter Sprache. Den aktualisierenden Späßen, etwa vom iPhone des Grafen, gibt er so eine komische Würde; auf Dauer aber wird der Fluss der Rede lang und sorgt für Löcher in der Spannung.

Petr Sokolov (Figaro), Morgan Moody (Dr. Bartolo) ©Anke Sundermeier, Stage Picture

Petr Sokolov (Figaro), Morgan Moody (Dr. Bartolo)
© Anke Sundermeier, Stage Picture

Dazwischen gibt es in der Reihe der Nummern viel zu erleben: Alexander Djurkov Hotter bestätigt in seinen Kostümen die alten Rollenklischees, etwa bei Doktor Bartolo den geschmacklos bunten, trommelbäuchigen „alten Sack“. Aber er bricht sie auch ins Komisch-Fantastische auf, etwa wenn Rosina sich aus ihrem überkandidelten Uralt-Reifrock herausschält und sich, ihren Arientext wörtlich nehmend, zur „Viper“ verwandelt, deren grünlicher Schwanz über die Bühne peitscht. Oder wenn Don Basilio den Bühnenkasten Sarah-Katharina Karls zum hoffmannesken Panoptikum verwandelt und grotesk vergrößerte pyrotechnische Effekte zwischen den – im Video zu monströsen Seilen aufgeblähten – Marionettenfäden zündet.

Skelett über Goldberg als Ideengeber

Da geht die Musik dann schon einmal im Wunder unter, zumal Denis Velev nicht den bassschwarzen Nachdruck für das Kanonen-Crescendo von Basilios Arie hat und Dirigent Motonori Kobayashi die Rossini-Eruption eher verhalten stattfinden lässt. Eines der treffendsten Bilder der Inszenierung gelingt, als der Graf den universell begabten Barbier durch den Glanz des edlen Metalls dienstbar macht: Über einem riesigen Berg von Gold schwebt ein Skelett, das dem Figaro die Ideen einflüstert.

Im zweiten Akt versuchen die befreiten Figuren dann auf schwankenden Beinen, die Intrige selbständig durchzuziehen, die sie im ersten Akt fremdgesteuert in Szene gesetzt haben. Jetzt kappt Berger die Fäden zur Handlung noch strikter: Die komplexe, von Figaro erdachte Inszenierung mit dem Ziel, Rosina zu befreien, ist nur noch rudimentär zu erahnen. Die Figuren streben schlussendlich an ihre Schnüre zurück. In die Geschirrhaken erfolgreich eingeklinkt, besingen sie erleichtert die Liebe, die sich durchgesetzt hat. Das Fazit zieht süffisant der Erzähler: Was von „Liebe und ewige Treue“ zu halten ist, möge man in der Fortsetzung der Geschichte, Mozarts „Hochzeit des Figaro“ nachlesen.

Nun ja, schauen wir doch nach! Bei Mozart setzen sich Mut und Witz gegen die Zumutungen eines Mannes durch, der von der Mühe echter Liebe irritiert und von Zeit und Gewöhnung zermürbt sein Heil im sexuellen Abenteuer sucht. Rossinis „Barbiere“ vermittelt eine ähnlich humane Hoffnung, mag sie auch mehr Wunsch als Wirklichkeit sein: Standesgrenzen, Geld und Gier können die Liebe nicht wirklich hindern, auch wenn sie sich mit der bezahlten Raffinesse eines „Hallodri“ wie dem Figaro verbünden muss. Das ist auf seine Weise untergründig subversiv. Am Ende von Bergers Inszenierung aber rollen sich die Tapeten mit den kitschigen, fliederfarbenen Riesen-Rosen aus Rosinas Mädchengefängnis wieder ab. Revolution aufgegeben, alles beim Alten. Und an die Liebe glauben wir schon lange nicht mehr.

Die Musik setzt sich nur schwer durch

Unter der Dominanz der Inszenierung hat es die Musik schwer, sich durchzusetzen. Dirigent Motonori Kobayashi bevorzugt einen leichtfüßigen, aufgelockerten Klang und maßvolle, aber nicht lahmende Tempi. Die Dortmunder Philharmoniker sitzen in der Ouvertüre einmal einem krassen Missverständnis auf, sind in manchen Übergängen in den Violinen zu hastig, begleiten aber in den Gesangsnummern die Solisten flexibel und mit Rücksicht auf den Atem.

Manchmal – etwa im Duett des Grafen Almaviva mit Figaro im ersten Akt – fehlt es an der Markanz der Pizzicati in den Bässen, die das rhythmische Grundgerüst mit federnder Energie sichern sollten. Bei den Crescendi lässt Kobayashi nicht los; die Gewittermusik bleibt daher matt und wirkt zu kalkuliert. Dass der Chor unter Fabio Mancini nur schwer mit den rasanten Orchesterfiguren zu koordinieren ist, wundert nicht: Im ersten Finale wird der ganze Graben umspielt, entsprechend ist es im Trubel kaum möglich, den Kontakt zum Dirigenten, zu den Solisten und untereinander zu halten.

Mit Sunnyboy Dladla hat Dortmund einen versierten Rossini-Tenor im Ensemble, für dessen Tessitura man sich in Zukunft mehr passende Stücke wünschen würde, zumal er auch als Darsteller „bella figura“ machen kann. Auch wenn die Tongebung hin und wieder etwas abgemagert wirkt, hat er ein glanzvolles, brillantes hohes Register und eine reibungslose Geläufigkeit. Es darf durchaus sein, dass ein Spielplan auch einmal auf einen herausragenden Solisten in einem speziellen Fach zugeschneidert wird!

Es fehlt die selbstverständliche Eleganz

Auch Aytaj Shikhalizada überzeugt als Rosina mit dunkel gefluteter Tiefe, ausgezeichnet positionierter Mittellage und koloratursicherer Phrasierung, dass sie für das Rossini-Fach alle technischen Fähigkeiten mitbringt – und dazu eine bezaubernde Darstellerin sein kann. Mit Morgan Moody als Bartolo steht ein präsenter, kerniger, in der Artikulation sattelfester Bass auf der Bühne, der diese gern defizitär besetzte „komische“ Rolle voll und ganz ausfüllt. Ji-Young Hong (Berta) kriecht als Schnecke über die Bretter und darf ihre Arie leider nicht zum Besten geben. Petr Sokolov ist ein spielfreudiger Barbier mit einem eher kraftvollen als eleganten Bariton.

Am Ende bleibt der Eindruck eines konzeptuell durchdachten, aber vielleicht gerade deshalb überfrachteten Abends; die selbstverständliche Eleganz, mit der Berger in Augsburg Paul Abrahams Operette durchgestaltet hat, geht diesem „Barbiere“ ab. Jan Philipp Gloger hat Rossinis Meisterwerk in Essen nicht weniger pointiert, aber flüssiger und leichtfüßiger inszeniert. Mal sehen, wie sich der junge Regisseur bei seiner nächsten – vom Intendanten bereits angekündigten – Dortmunder Arbeit bewährt.

Die nächsten Aufführungen: 18., 20., 26., 28. Oktober, 9., 16. November, 1., 9., 21., 26. Dezember und weitere ab 2. Februar 2019. Info: www.theaterdo.de




Mehr als Filet und Trüffel: Die Musikwelt begeht das 150. Todesjahr Gioachino Rossinis – Festivals in Bad Wildbad und Pesaro würdigen sein Werk

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Er ist unbestritten einer der großen Komponisten des 19. Jahrhunderts und hat mit „Il Barbiere di Siviglia“ ein Meisterwerk geschaffen, das seit seiner Premiere 1816 nicht mehr von den Bühnen der Welt wegzudenken ist. Aber die öffentliche Wahrnehmung Gioachino Rossinis weist merkwürdige Brüche und Lücken auf. Von seinen rund 40 Bühnenwerken wird neben dem unsterblichen spanischen Barbier nur eine Handvoll im Repertoire der Opernhäuser zur Kenntnis genommen – zumindest in Deutschland.

Die in den siebziger Jahren entstandenen, ausgezeichneten Einspielungen unter Claudio Abbado haben „La Cenerentola“ und „L’Italiana in Algeri“ wieder weithin bekannt gemacht. Den „Turco in Italia“ hatte zuvor schon Maria Callas in einer – wenn auch arg verstümmelten – Aufnahme wieder ins Bewusstsein geholt. Anerkannt, wenn auch über Jahrzehnte nicht häufig gespielt, war stets Rossinis letztes Werk für die Bühne, der 1829 in Paris uraufgeführte „Guillaume Tell“ – ein Markstein in der Geschichte der Oper.

Brillanter Witz gegen deutschen Tiefsinn

Über die Gründe, die zum Verschwinden großer Teile des Rossini’schen Schaffens geführt haben, ist mittlerweile viel geschrieben worden. Sie reichen vom Geschmackswandel des Publikums nach 1850 über die früher verheerende Quellenlage bis hin zur politisch und nationalistisch motivierten Polemik. Gegen den deutschen Tiefsinn von Beethoven bis Wagner hatte die flatterhafte italienische Muse keine Chance. Gegen Rossinis brillanten Witz und sarkastische Schärfe standen das so gesehene „echte“ Gefühl und die „wahre“ Liebe. Solche Denkschablonen verhindern bis heute eine adäquate Beschäftigung mit Rossinis Gesamtwerk, zumal mit den ernsten Opern, die nach wie vor vom Glanz seiner buffonesken Paradestücke in den Schatten gedrängt werden.

Merkwürdig auch, wie Rossini als Person wahrgenommen wird. Karikiert wird er gerne als heiterer Jupiter im Reich der Musik, der aber eher von Tournedos Rossini und getrüffeltem Truthahn umgeben ist: Rossini, der Schöpfer unsterblicher Anekdoten und elektrisierender Melodien; Rossini, der witzige, aber auch faule Gourmet; Rossini, der Wagner nicht verstand und die neue Zeit ablehnte.

So wird das Bild verzerrt, in dem von Rossini, dem kritisch-aufklärerischen Geist, dem illusionslosen Analytiker, dem musikalischen Innovator und Experimentator, aber auch von Rossini, dem kranken Mann und depressiven Leidenden, kaum Konturen zu erkennen sind. Auch über seine meist sorgsam getarnte Religiosität ist kaum etwas zu erfahren.

Dass solche Stereotypen bis heute weitergetragen werden, zeigt die neueste Publikation „Rossini – die hellen und die dunklen Jahre“ von Joachim Campe, dem Rezensenten klägliches Scheitern attestieren. Zum Glück gibt es die schon älteren Biographien von Volker Scherliess und Richard Osborne sowie das Buch „Gioachino Rossini und seine Zeit“ des in Köln lehrenden Musikwissenschaftlers Arnold Jacobshagen, das zuverlässig und auf dem aktuellen Stand der Forschung ein neues Bild des Komponisten zeichnet.

Der Trend weist in seine Richtung

Inzwischen scheint sich auch auf den Bühnen der Welt ein Trend in Richtung Rossini abzuzeichnen. Wer auf www.operabase.com eine Statistik der Opern-Aufführungen der letzten fünf Spielzeiten abruft, findet Rossini mit 5237 gezählten Vorstellungen auf Platz vier unter den weltweit meistgespielten Komponisten – hinter Verdi, Mozart und Puccini, aber vor Wagner (Platz 6), Bizet oder Richard Strauss. Sicher ist das dem „Barbier von Sevilla“ zu verdanken, der im Ranking der Opern Rossinis einsam an der Spitze steht.

Die Breite der Rezeption auch kaum bekannter Werke Rossinis ist bemerkenswert. Doch im deutschsprachigen Raum prägt sich dieser Trend eher zögerlich aus. In den letzten Jahren traten neben eine Reihe von Neuinszenierungen von „Guillaume Tell“ und einem lebhaften Interesse an der erst 1984 in ihrer originalen Gestalt wiederentdeckten „Reise nach Reims“ nur wenige (Wieder-)entdeckungen: So etwa die monumentale Vertonung des biblischen Exodus-Stoffes „Mosé in Egitto“ in Bregenz und jüngst in Köln, „Semiramide“ in München und bei den Tiroler Festspielen Erl, „Die diebische Elster“ in Würzburg und Frankfurt, „Ermione“ und „Maometto Secondo“ in Rostock, „Tancredi“ in Mannheim oder „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ im Theater an der Wien.

Auch die kommende Spielzeit 2018/19 weist trotz des 150. Todesjahres Rossinis – er starb am 13. November 1868 – bisher nicht darauf hin, dass Rossini über den üblichen Rahmen hinaus zur Kenntnis genommen würde. Lediglich die Tiroler Festspiele Erl setzen ihren Einsatz für Rossini mit dem kühnen, mit Formen experimentierenden „Ermione“ fort (6. und 13. Juli). das Theater an der Wien kündigt ab 13. Oktober einen neuen „Guillaume Tell“ an. Ansonsten seift der Sevillaner Barbier seine Widersacher landauf landab in alten und neuen Inszenierungen ein.

Festivals leisten wichtige Entdeckerarbeit

Frisch renoviert: Das Wildbader Kurtheater. Foto: Marcel Menz

Umso wichtiger ist die Arbeit der beiden Rossini gewidmeten Festivals in Europa. Dem Rossini Festival im italienischen Pesaro und dem zum 30. Mal stattfindenden Festival Rossini in Wildbad ist zu verdanken, dass die neuen kritischen Editionen der Opern in lebendiger Musik und aktuellen Inszenierungen ihren Wert für die Gegenwart beweisen können. An der Adria und im Schwarzwald wandeln sich Noten in Klang, die zum Teil seit ihrer Entstehungszeit in Archiven schlummern. Scheinbar bekannte Werke werden neu gehört.

Gerade das Festival in Wildbad leistet mit geringen Mitteln, was von solide finanzierten deutschen Opernhäusern mit ihrem Apparat und ihren dramaturgischen Kompetenzzentren bis heute nicht zu erwarten ist: Nie gehörte Werke Rossinis werden auf ihre Relevanz befragt, eine junge Generation stilistisch gewandter und technisch anspruchsvoll ausgebildeter Sänger zeigt, wie Rossini heute zu singen ist.

Im Sommer 2018 setzt Bad Wildbad unter dem seit 1991 amtierenden, unermüdlichen Intendanten Jochen Schönleber seine Serie verdienstvoller Aufführungen fort. Sie sind inzwischen längst international anerkannt und ziehen Publikum aus allen Teilen der Welt an. Auf dem Programm des Jubiläumsjahres stehen vom 13. bis 29. Juli vier Opern: „L’Equivoco stravagante“ („Die verrückte Verwechslung“), eine grotesk-zweideutige Liebesgeschichte, die erste abendfüllende komische Oper Rossinis von 1811. Als deutsche Erstaufführung erklingt Rossinis letzter Erfolg vor seinem Abschied aus Neapel, das dramma per musica „Zelmira“, dirigiert von Gianluigi Gelmetti und mit der in den Vorjahren umjubelten Silvia Dalla Benetta in der Titelrolle.

In einer eigens erstellten vervollständigten Ausgabe zeigt das Festival am Nordrand des Schwarzwaldes Rossinis monumentaler Choroper „Moïse“, die den Auszug der unterdrückten Israeliten unter Führung von Moses aus dem Land der Pharaonen und die Vernichtung der ägyptischen Truppen beim Zug durch das Rote Meer schildert. Fabrizio Maria Carminati dirigiert, der russische Bass Alexej Birkus vom Staatstheater Nürnberg verkörpert die Gestalt des alttestamentlichen Patriarchen.

Die vierte Oper im Programm ist „La Cambiale di Matrimonio“ („Der Heiratswechsel“), der erste in Venedig aufgeführte komische Einakter des erst 18jährigen Rossini. Ergänzt wird das Programm durch Konzerte mit Rossini-Raritäten wie den „Trois choeurs religieux“ für Frauenchor, der Klavierkantate „Aurora“ oder der berühmten Solokantate „Giovanna d’Arco“. Als Festkonzert zum Jubiläum erklingt die Kantate „Le Nozze di Teti e di Peleo“. Am 15. und 24. Juli singen Solisten des Festivals in Rossinis „Petite Messe Solennelle“, seinem letzten großen, dem lieben Gott gewidmeten Werk.

Drei neue Inszenierungen beim Festival in Pesaro

Das Teatro Rossini in Pesaro, Spielort des Festivals, bei dem sich alles um den berühmten Sohn der Stadt an der Adria dreht. Foto: Werner Häußner

Das Teatro Rossini in Pesaro, Spielort des Festivals, bei dem sich alles um den berühmten Sohn der Stadt an der Adria dreht. Foto: Werner Häußner

Das italienische Pesaro feiert das 150. Todesjahr Rossinis vom 11. bis 23. August 2018 mit drei Neuproduktionen: Regie-Altmeister Pier Luigi Pizzi wird ab 13. August sicher für eine opulente und dekorative Aufführung des „Barbier von Sevilla“ sorgen. Zum dritten Mal in Pesaro ist „Adina“ zu sehen, deren Zusatztitel „Der Kalif von Bagdad“ schon darauf hinweist, dass es sich wie bei Mozarts „Entführung aus dem Serail“ um einen „exotischen“ Türken-Stoff handelt. Das Auftragswerk, das nach seiner Uraufführung in Lissabon 1826 kaum mehr gespielt wurde, trägt eher melancholische Züge; Rossini schrieb nur vier originale Nummern für den Einakter.

Die wichtigste Neuinszenierung in Pesaro gilt der Kreuzfahrer-Oper „Ricciardo e Zoraide“, wie „Adina“ 1818 geschrieben und in Neapel mit Rossinis Frau Isabella Colbran uraufgeführt. Ein Werk, das Mitte des 18. Jahrhunderts nach einer recht erfolgreichen Karriere von der Bühne verschwand und erst 1990 in Pesaro und 2013 in Bad Wildbad wieder entdeckt wurde.

Das Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI leitet Giacomo Sagripanti, der in Essen u. a. Rossinis „Barbier“, Bellinis „Norma“ und zuletzt Verdis „Troubadour“ geleitet hat und der inzwischen an der Wiener Staatsoper, in Berlin, Paris und Moskau dirigiert. Zur prominenten Sängerriege gehören Juan Diego Flórez und Pretty Yende. Wie stets in den letzten Jahren zähken zwei Aufführungen von „Il Viaggio a Reims“ zum Festival, besetzt mit jungen Sängerinnen und Sängern der Accademia Rossiniana „Alberto Zedda“. Auch in Pesaro spielt man zum Abschluss des Festivals am 23. August die „Petite Messe solennelle“, hier aber in der Version für Orchester.

Aufführungen in Nordrhein-Westfalen

Die Opernhäuser der Region setzen – wenn sie Rossini denn zur Kenntnis nehmen – auf Bewährtes: In Dortmund fällt dem neuen Operndirektor Heribert Germeshausen auch nur der „Barbiere di Siviglia“ ein, inszeniert vom Jungregisseur Martin G. Berger, ehemals Assistent in Gelsenkirchen und Dortmund, der zuletzt in Augsburg mit Paul Abrahams „Roxy und ihr Wunderteam“ einen sensiblen Zugang zu melancholischer Komik gefunden und dafür einen Preis gewonnen hat (Premiere am 7. Oktober 2018).

Düsseldorf wärmt Jean-Pierre Ponnelles „La Cenerentola“ wieder auf (3. November), Hagen hat immerhin den nicht häufig gespielten „Türken in Italien“ aufs Programm gesetzt (2. Februar 2019). Wer etwas weiter fährt, nach Liège, kann immerhin ab 21. Dezember Rossinis später Farce „Le Comte Ory“ erleben. Für ernste Rossini-Opern heißt es dann, weiter zu reisen, etwa für „Semiramide“ nach Bilbao oder Venedig oder für „Tancredi“ nach Bari in Süditalien.

Informationen und Karten für die Festivals finden sich auf den Webseiten www.rossinioperafestival.it (in Italienisch und Englisch) und www.bad-wildbad.de/rossini/




Mätzchen eines Show-Tenors: Vittorio Grigolo in Essen und Dortmund

Ein Glück, dass er nur den obersten Hemdenknopf geöffnet hat. Wer weiß, ob die enthusiasmierten Damen beim Anblick einer behaarten Brust nicht in Ohnmacht niedergesunken wären. Vittorio Grigolo, die neue italienische Tenor-Hoffnung mit der Betonung auf dem ersten „o“, hat seinen Auftritt in der Essener Philharmonie – der zwei Tage später auch im Konzerthaus Dortmund zu erleben war – zu einer Show genutzt, die sich gar nicht mehr die Mühe macht, den Anschein zu erwecken, als ginge es um die Kunst Donizettis, Verdis oder Puccinis.

Vittorio Grigolo. Foto: Alex James

Vittorio Grigolo. Foto: Alex James

Grigolo, schwarze Locken, gute Figur, dunkle Feueraugen – ein Mann, der sich vom Äußeren her zweifellos zum Tenorstar eignet. So einen brauchen die Italiener, die seit vierzig Jahren ihr musikalisches Bildungssystem und ihr Musikleben ruinieren. Einen, der den längst hohl gewordenen Mythos vom Land des Belcanto und der feurigen Hasardeure auf den Spitzen des hohen C stützt. Tatsache ist: Aus Italien kommt schon lange kein bedeutender Sängernachwuchs mehr – und auch Vittorio Grigolo ficht eher in der Nachhut als in der Attacke.

Wo es an stimmlicher Überzeugungskraft fehlt, muss die Charme-Offensive herhalten. Also wischen wir uns vor „Una furtiva lagrima“ demonstrativ eine heimliche Träne aus dem Auge, um diese sanfte, verinnerlichte, am Rande einer verzweifelten Selbsttäuschung lavierende Arie dann zu singen, wie sie garantiert nicht gemeint ist: extrovertiert, mit mangelhafter Linie, mit hochgedrückten Tönen statt eines fein dynamisierten Legatos, mit substanzlosen Piani und dem falschen Strahlen eines ziemlich hart sitzenden – und hier noch dazu unangebrachten – Forte, wenn der schüchterne Nemorino meint, bei seiner Angebeteten Spuren von Liebe entdeckt zu haben.

Grigolo bedient das Zuschauen, nicht das Zuhören. Er verzieht die Miene wie eine antike Theatermaske, stellt Schmerz oder Wonne überaffektiert aus, statt solche Gefühle stimmlich zu beglaubigen. Er wirkt wie eine Mischung aus Cecilia Bartolis artistischer Darstellungskunst und Rolando Villazóns übertriebenem Chargieren. Doch wo man den beiden das ernsthafte Engagement für die Musik, die sie ihrem Publikum präsentieren, abnimmt, drängt sich bei Grigolo vor allem der Eindruck einer abgeschmackten Fassade auf.

Denn wie soll man es sonst nennen, wenn der Tenor zu „Che gelida manina“ aus Puccinis „La Bohème“ erst mal armereibend den Menschen im Saal klarmachen zu müssen glaubt, dass an dieser Stelle gefroren wird. Wenn er sich hinkniet und seine – nach einem dünntönigen Aufstieg – respektable Höhe auf „speranza“ einer Dame in der Saalecke  hinschmettert? Und wenn er, in komischem Widerspruch zu den Frost-Signalen vorher, das Jackett auszieht und in einer pathetisch outrierten Geste auf den Boden breitet. So stellt sich Lischen Müller die Oper vor. Oder liegt die plötzliche Hitzewallung einfach daran, dass die imaginierte Mimí nun das Feuer des „Latin Lovers“ entzündet hat?

Wie auch immer, solche Eskapaden erinnern eher an Schmuseklassik à la André Rieu oder an Grigolos eigene Crossover-Vergangenheit als an eine seriöse Auseinandersetzung mit dem, was die Komponisten in ihre Musik gelegt haben. Die erste der drei Arien des Programms – mehr hatte Grigolo nicht zu bieten – eignete sich am wenigsten für pseudoszenische Mätzchen: Donizettis bewegendes „Angelo casto e bel“ aus „Il Duca d’Alba“ war mit nervöser Spannung aufgebaut. Um Brillanz zu erreichen, drückt Grigolo den Ton in die Maske. Die Folge: Die Piani können nicht auf dem Atem gebildet werden, bleiben substanzlos wie der Falsetteinsatz in der Höhe auf dem ausklingenden „dolor“.

Die Zugabe musste ein Schlager sein: Der Auftritt des Herzogs von Mantua aus Verdis „Rigoletto“ geriet beinahe zum Mitklatschen – nebst besagter Öffnung des Hemdenknopfs zwecks emotionaler Aufreizung. Die Rechnung geht, das ist das Erschütternde, weitgehend auf: Blümchen, Küsschen, Winkewinke. Da fallen diejenigen im Publikum, die nicht auf die Show hereinfallen, nicht weiter auf.

Der Mythos der „Scala“ lebt nur noch aus dem Glanz der Vergangenheit

Die Filarmonica della Scala half mit, das abgründige Niveau des Abends zu fördern; sicher auch ein Verdienst von Andrés Orozco-Estrada, der den Temperamentsbolzen am Pult mimte und so den Eindruck eines seriösen Dirigenten gefährdete. Auch die Scala lebt vom Nachleuchten eines Mythos, der längst seinen musikalischen Realitätsbezug verloren hat – und die Mailänder Musiker bestätigen das auf umwerfende Weise: So plump und lärmend ist die Ouvertüre zum „Barbiere di Siviglia“ weder in Gelsenkirchen noch in Krefeld zu hören. Das Orchester drosch auf Rossinis filigrane Noten ein, als habe es nie eine kritische Edition mit erheblichen instrumentalen Korrekturen gegeben.

Mascagnis Intermezzo aus „Cavalleria rusticana“ – dass dieser Komponist 2013 sein 150. Geburtsjahr hat, ist auch in Italien untergegangen – geriet zum seifigen Schmachtfetzen. Und in der Ouvertüre zu Verdis „Les Vêpres Siciliennes“ scheinen die saftig drauflos spielenden Scala-Musiker bestätigen zu wollen, dass diese Vorspiele zu italienischen Opern vor allem Lärm seien, um das Publikum zum Schweigen zu bringen. Immerhin: Orozco-Estrada hat den Musikern wohl nahegebracht, dass der Kontrast zwischen dem ätherischen Flirren der Geigen und den ruppig-bösen Einwürfen der Bässe musikalische Innenspannung aufbaut und Expressivität konstituiert.

Der an das Arienkonzert angeklebte zweite Teil mit Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ in der Orchesterfassung von Maurice Ravel rettete nichts mehr – trotz guter Eindrücke über die virtuose Reaktionsschnelligkeit einiger Orchestermusiker. Doch der Anlass zur Klangüberflutung wurde nicht erst am „Großen Tor von Kiew“ wieder dankbar angenommen und umgesetzt – in einer Wucht, die sich am Ende dieses desaströsen Events längst abgenutzt hatte.




Festspiel-Passagen IX: Lust am Neuen und Seltenen

Während Händel mittlerweile im Repertoire der Opernhäuser eine wichtige Rolle spielt, gibt es bei anderen Komponisten von Weltgeltung noch einiges zu entdecken. Unermüdliche Arbeit für Gioachino Rossinis breit gefächertes Opernschaffen leistet seit Jahren das Rossini Festival in Bad Wildbad. Intendant Jochen Schönleber legt besonderen Wert auf Sänger, die den zum Teil exorbitanten Ansprüchen Rossini’scher Partien entsprechen. In den vergangenen Jahren hat das Festival manchem jungen Belcantisten zum Durchbruch verholfen.

In Rossinis kurzer Farce „Adina ossia Il Califfo di Bagdad“ ließ vor allem eine Nebenrolle aufhorchen: Christopher Kaplan als Ali – Mitglied des Jungen Ensembles der Semperoper Dresden – verbindet darstellerische Präsenz mit einem wohlgeformten Tenor. Auch Rosita Fiocco würde man gerne wieder hören, auch wenn die Koloraturen noch etwas schwer im Ansatz gebildet sind. Antonio Petris‘ Regie bemühte sich ohne Erfolg, dem Werk eine interessante Seite abzugewinnen. Ausnahmsweise mal ein Rossini, der für die Bühne zu Recht vergessen werden kann.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

2013 wird solches wohl nicht der Fall sein: So wie in diesem Jahr Rossinis „Semiramide“ steht dann das monumentale Abschlusswerk von Rossinis Opernschaffen im Programm: „Guillaume Tell“, konzertant und so vollständig wie möglich. Ein geradezu vermessenes Vorhaben; eine Herausforderung, der man sich in den Staatsopern-Sphären von Berlin oder München bisher nicht zu stellen wagte.

Auf keinen Fall wieder in die Geschichte zurücksinken sollte die andere Rarität des Wildbader Festivals 2012: „I Briganti“ ist eine nach Schillers „Räubern“ entworfene Oper Saverio Mercadantes. Uraufgeführt 1836 in Paris, war sie ein von Rossini unterstützter Versuch, Paris für diesen damals in Italien weithin bekannten Kollegen zu gewinnen. Ein Projekt, das trotz exquisiter Sängerriege scheiterte: Mercadantes konservativer Ansatz, zu sehr dem italienischen „Melodramma“ verpflichtet, konnte sich gegen die moderne Oper Giacomo Meyerbeers nicht durchsetzen.

Wildbad versuchte, das Stück erstklassig zu besetzen. Unter der wenig geschmeidigen, metrisch oft schematischen Leitung von Antonino Fogliani boten die Virtuosi Brunenses aus Brünn kaum mehr als eine solide Unterstützung der Solisten. Der hoch gelobte Tenor Maxim Mironov war als Ermano den virtuosen Anforderungen seiner Partie gewachsen, aber die Stimme hat Stetigkeit und warmen Klang zu gewinnen. Petya Ivanova als Amelia agiert wie eine Diva der fünfziger Jahre; ihre Stimme verliert im Lauf des Abends den Kontakt zum Körper, wird hart, dünn und im Klang prekär.

Bruno Praticó, der alte Haudegen, zeigt, wie es geht: Als alter Graf Moor entfaltet er im Duett mit seinem Sohn Ermano wundersam die Aura des technisch zuverlässigen Singens mit schier endlosen Bögen und sprechendem Klang. Die Regie ließ die Akteure alleine, die sich mit allen Peinlichkeiten abgelebter Opern-Gepflogenheiten über Wasser hielten und ständig auf den Dirigenten starrten. Mercadantes Oper aber sollte wegen ihrer dramatischen Anlage und ihrer feurig-sensiblen Musik einen Weg zu weiteren Inszenierungen finden.

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Weiter im Süden, in der Ostschweiz, brachten die siebten St. Galler Festspiele Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ auf die weiträumige Freilichtbühne vor der Kulisse der barocken Stiftskirche. Carlos Wagner inszenierte die „Legende dramatique“ als Welttheater mit Méphistophéles als Zirkusdirektor. Das wirkte nicht willkürlich bunt, sondern entspricht dem Charakter der Stücks.

Stellenweise verwies die Inszenierung den Zuschauer auf farbige Zeit-Panoramen und epische Großbilder, wie sie in Romanen von Charles Koster (Ulenspiegel), Victor Hugo (Der Glöckner von Notre Dame) oder Umberto Eco (Der Name der Rose) geschildert sind. Die Fantasie der Kostüme (Ariane Isabell Unfried) verhinderte peinliche Anklänge an Monumentalfilm-Ausstattungen; die Spielfläche (Rifail Ajdarpasic) mit ihren verschiedenen Ebenen und Plateaus ließ bewegungsreiches „Augenfutter“ zu. Dass er am Ende in einem Hamsterrad endet, lässt Méphistophéles ein wenig wie den betrogenen Teufel erscheinen: Sein Werk, Menschen – hier mit Hilfe von Marguerite als dienstbarem Geist – zum Bösen zu verführen, ist eine Sisyphusarbeit, die dank göttlicher Gnade und Barmherzigkeit zum vergeblichen Mühen verurteilt ist.

Berlioz‘ farbige und klanglich subtile Partitur eignet sich nicht für eine Freilicht-Produktion, bei der das Sinfonieorchester St. Gallen unter der Bühne sitzt und mittels Lautsprecher verstärkt wird. Da mag sich Dirigent Sébastien Rouland noch so um die Finessen mühen: Der Klang bleibt oft grob und eindimensional. In den Opern der letzten Jahre, von Gaetano Donizettis Sintflut-Rarität „Il Diluvio universale“ über die frühen Verdi-Opern „Giovanna d’Arco“ und „I Lombardi alla prima crociata“ – heuer in Erfurt bei den Domstufen-Festspielen wieder aufgenommen – war das weniger problematisch, weil deren Partituren nicht so visionär klanglich gearbeitet sind wie die Musik des französischen Orchester-Revolutionärs. Mit Verdis selten gespielter Oper „Attila“ steht Sankt Gallen im Juni/Juli 2013 – im 200. Geburtsjahr Verdis – wieder auf der sicheren Seite (Premiere am 21. Juni 2013).

In Nürnberg rückten die Internationalen Gluck-Opern-Festspiele zum vierten Mal einen Komponisten ins Blickfeld, der hohe akademische Ehren genießt, im Bühnenalltag aber nicht allzu häufig präsent ist. Dass es nicht an stiller Einfalt und edler Größe liegen kann, zeigte das Staatstheater Nürnberg mit einer bestürzend konsequenten Aktualisierung von Glucks „Ezio“. Das finstere Machtspiel verlegte Andreas Baesler – in Nordrhein-Westfalen durch Regiearbeiten in Gelsenkirchen, Essen oder Münster kein Unbekannter – in die Überdrussgesellschaft einer außer Rand und Band geratenen Wohlstandszeit.

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Erpressung, sexuelle Gewalt, Mord gehören zum Verhaltensrepertoire. Ein derart geschärftes, in die Gegenwart geholtes antikes Drama lässt nicht kalt. Zumal der Schauplatz passt: Hermann Feuchter und Lilith-Marie Cremer bauten in der Theater-Tiefgarage hölzerne Verschläge, bei denen nicht klar war, ob die Darsteller oder die Zuschauer Gefangene oder Gaffer sind.

Die Darsteller agierten auf gefährliche Weise präsent, und die Musiker der Accademia Bizantina, der Neuen Nürnberger Ratsmusik und der Nürnberger Musikhochschule gaben unter Leitung von Nicola Valentini Glucks Musik trotz der akustischen Probleme Schlagkraft und Kontur. Eine tiefsinnige Choreografie des immer erfolgreicher agierenden Nürnberger Ballettchefs Goyo Montero zum ewigen Mythos des Don Juan und eine konzertante Aufführung der Oper „Das Goldene Vlies“ des gebürtigen Nürnbergers Johann Christoph Vogel (1756 bis 1788) rundeten die Festspiele zu einer kurzen, aber entdeckungsreichen Zeit. Peter Theiler, bis 2008 Intendant des Musiktheaters im Revier, hat bisher immer wieder Opern für die Bühne wiederentdeckt. So bleibt zu hoffen, dass er seine Linie 2014 – im 300. Geburtsjahr Glucks – mit ebenso viel Lust am Neuen und Ungewöhnlichen fortsetzen wird.