Treffsichere Musikalität: Joseph Moog debütiert beim Klavier-Festival Ruhr in Moers

Als ich Joseph Moog zum ersten Mal hörte – er spielte als 17jähriger Franz Liszts „Totentanz“ – fiel mir die treffsichere Musikalität auf, die sich mit ausgereifter Technik verband. Das war 2005 in Würzburg. Inzwischen ist Moog 25 Jahre alt, konzertiert auf wichtigen Podien, hat einige von der Presse gerühmte CDs aufgenommen – und jetzt sein fälliges Debüt beim Klavier-Festival Ruhr gegeben. Und zwar mit einem Programm, das dem Verdi-Wagner-Schwerpunkt dieses Jahres Genüge tut, aber auch von der Lust an Ausgrabungen und entlegenem Repertoire zeugt.

Das Martinstift in Moers - ein intimer Raum. Foto: Werner Häußner

Das Martinstift in Moers – ein intimer Raum. Foto: Werner Häußner

Wobei die Frage zu stellen ist, ob ausgerechnet der intime Saal des Martinstifts in Moers ein geeigneter Ort gewesen ist. Dort steht ein für den Raum sowieso zu groß dimensionierter Steinway D. Bei der gebotenen Klangdramaturgie in den virtuosen Konzertparaphrasen kommt die Akustik schnell an ihre Grenzen. Bei aller Liebe zu der von vielen Pianisten bevorzugten Flügelfabrik: Mir wäre an dieser Stelle für dieses Programm ein Broadwood oder Erard willkommener gewesen.

Joseph Moog tat sein Bestes, um etwa Carl Tausigs hochvirtuose Bearbeitung des Walkürenritts so zu zügeln, dass er im klassizistischen Ambiente vor geschätzt 300 Zuhörern noch erträglich blieb. Das war nur bedingt erfolgreich. Die „Tristan“-Paraphrase von Moritz Moszkowski fordert die fiebrigen Steigerungen des Originals, will die Erlösung des Akkords aus drängendem Vorhalt und harmonischem „Irrweg“ mit großer Geste feiern. Aber statt Wagners Rausch spricht der Raum, bildet den Hall zu direkt ab, lässt nicht zu, dass sich Moog in die Ekstase freispielt, ohne die dieses Stück ziemlich flach gehalten wirkt.

Bei Haydn und Chopin, mit Grenzen auch in Debussys „Images oubliées“ hört man, was in diesem Saal sinnigerweise zu spielen wäre. In Haydns D-Dur-Sonate Nr. 24 lassen sich die Farbwechsel, mit denen der Pianist gliedert, wunderbar verfolgen. Haydns stets geistvolles Spiel mit der musikalischen Idee geht dem Hörer klar ins Ohr. Der flotte, trocken-entschiedene Ton Moogs liegt richtig, meidet papiernes Stochern wie weichen romantischen Anflug. Nur im näher an ein Andante gerücktes Adagio erlaubt er sich, empfindungsvoll zu färben. Warum Moog allerdings Arabesken und Verzierungen beschleunigt, ist nicht nachvollziehbar.

Auch Mozarts d-Moll-Fantasie KV 397 passt in den Architekturrahmen. In den Beleuchtungswechseln, in den Temponuancen spürt man, dass Moog gedankenvoll und konzeptuell bewusst an das Werk herangeht, das so typisch nach „einfachem“ Mozart klingt, aber höchst subtile Anforderungen stellt.

Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Es offenbart jedoch ein Problem, das der junge Pianist auch in den Opern-Paraphrasen noch nicht ganz bewältigt hat: Moog „atmet“ nicht mit dem Metrum, gibt dem Puls der Musik zu wenig Richtung. Das führt in der „Rigoletto“-Bearbeitung von Franz Liszt zu einem seltsamen Hang zum Statischen: Moog schlägt die kantigen Bässe mit Bravour an, zeigt in gleißenden Passagen und in Silbervorhängen, gewebt aus schäumender Notengischt, wie brillant er solche Herausforderungen meistert. Aber er phrasiert nicht sanglich-gelassen genug: „Bella figlia dell‘ amore“, dieses unvergleichliche Quartett aus dem letzten Akt des „Rigoletto“, strebt nach dem vokalen Kulminationspunkt, den Moog in der raffinierten, genau auf den Effekt berechneten Liszt-Bearbeitung dynamisch nivelliert. War es der Raum oder die Tagesform? Die „Miserere“-Paraphrase nach dem „Trovatore“ und diejenige zu Verdis Frühwerk „Ernani“ gelingen überzeugender: die eine als Studie über die expressiven Möglichkeiten des Bassregisters, die andere als genialische pianistische Veredelung von Verdis direkter Emotionalität.

Noch einmal zeigen die Zugaben – Chopin, Brahms, Rachmaninow –, was dem Saale besser frommt; vor allem Chopins op. 15/2 nimmt Moog mit eleganter Gelöstheit. Man möchte den jungen Mann in größerem Rahmen wiederhören. Er hat auf CD spannende Entdeckungen vorgelegt – zum Beispiel Rubinsteins Viertes Klavierkonzert –, so dass man gewissen Rundfunk-Sinfonieorchestern gerne empfehlen würde, solche Anregungen mit diesem Pianisten umzusetzen statt Äther und Archiv mit der nächsten Version von Tschaikowskys Erstem vollzustopfen.

Mehr zu Joseph Moog: http://www.josephmoog.de/




Wagner-Jahr 2013: „Die Feen“ in Leipzig, Kühnheit eines Zwanzigjährigen

Ob Wagner oder Verdi: In beider Jubilare Fall verlassen sich die Theater im Repertoire auf das Übliche. Die Opern der Anfangszeit kommen selten zum Zuge. Und leider setzt sich diese Linie auch im Jubiläumsjahr 2013 fort. Während sich selbst mittelgroße Häuser wie Cottbus, Darmstadt, Dessau oder Halle auf den „Ring“ stürzen, bleiben Wagners aus dem Bayreuth-Kanon ausgeschlossene Opern am Rand: Ein einziger neuer szenischer „Rienzi“ in Krefeld (Premiere am 9. März), das „Liebesverbot“ in Meiningen und in Radebeul – und „Die Feen“ nur in Wagners Geburtsstadt  Leipzig: Das ist die magere Bilanz des „Wagner-Jahres“ auf deutschen Bühnen.

"Die Geister schreiten hinein ins Leben...": Szene aus Richard Wagners "Die Feen" in Leipzig. Foto: Tom Schulze

„Die Geister schreiten hinein ins Leben…“: Szene aus Richard Wagners „Die Feen“ in Leipzig. Foto: Tom Schulze

Bei Verdi sieht’s noch trüber aus: Niemand bewegt sich über die bis zum Überdruss regielich gebeutelten Traviaten, Rigolettos und Troubadoure hinaus. Würde das Aalto-Theater in Essen nicht Verdis „I Masnadieri“ spielen, würden sich nicht das Theater an der Wien und die Festspiele Sankt Gallen des „Attila“ annehmen: Im deutschsprachigen Raum wäre das Verdi-Jahr ein kompletter Ausfall. Kein „Ernani“, kein Blick auf den kühn-düsteren „Corsaro“, nicht einmal ein „Stiffelio“. Für Opern wie „Jérusalem“ oder  die seit Jahrzehnten nicht mehr inszenierte „La Battaglia di Legnano“ zeigt kein Theater Interesse: Große Häuser bedienen das geschäftige Karussell der Dirigenten- und Regie-Stars und lassen die immer gleichen Stücke „neu befragen“, den kleineren scheint in Sachen Verdi die Intendanten- und Dramaturgen-Fantasie ausgegangen zu sein.

Wenigstens die Leipziger Verantwortlichen haben diese Lücke schon vor Jahren erkannt und – in Kooperation mit Bayreuth – für 2013 weltweit einzigartig die Trias der vor dem „Holländer“ entstandenen Wagner-Opern szenisch ins Programm genommen. Den „Rienzi“ hat die Leipziger Oper seit ihrer Wiedereröffnung 2007 im Repertoire, „Das Liebesverbot“ wird nach seiner Premiere in Bayreuth in der Spielzeit 2013/14 folgen – und jetzt, kurz nach Wagners Todestag, kam „Die Feen“ auf die Bühne.

Das Werk ist Wagners zweite Oper. Die erste, „Die Hochzeit“, vernichtete er nach einem ungünstigen Urteil seiner Schwester, nur eine Introduktion plus Septett blieb durch Zufall erhalten. 1833 geschrieben, wurde die „Große romantische Oper“ erst 1888 in München uraufgeführt. „Die Feen“ blieb trotz damaligen Erfolgs ein Bühnen-Exot – nicht zuletzt wegen der beharrlichen Versuche aus Bayreuth, den „Kanon“ der zehn „gültigen“ Werke zu zementieren.

Pionierarbeit für „Die Feen“ in Wuppertal

Seit Friedrich Meyer-Oertel 1981 in Wuppertal – und 1989 am Gärtnerplatztheater München – die moderne Rezeptionsgeschichte einleitete, gab es nur wenigen Inszenierungen, so 2005 in Würzburg – dem Entstehungsort der „Feen“ – und in Kaiserslautern. Diese erwiesen Wagners erhaltenen Erstling jedoch als erstaunlich lebensfähig: Kurt Josef Schildknecht entmythologisierte in Würzburg die Romantik des Dualismus von Feen- und Menschenwelt und inszenierte das Stück als einen gegen die junge Generation gerichteten Triumph beharrenden patriarchalen Strebens nach Machterhalt. Johannes Reitmeier – jetzt Intendant in Innsbruck – deutete in Kaiserslautern die Hoffmann’sche Seite der „Feen“ negativ, als Scheitern von Wagners Konzept der erlösenden Liebe und der Künstler-Utopien.

Der Bürger und die Fee: Christiane Libor und Arnold Bezuyen. Foto:Kirsten Nijhof

Der Bürger und die Fee: Christiane Libor und Arnold Bezuyen. Foto:Kirsten Nijhof

In Leipzig setzte man mit dem kanadisch-französischen Duo Renaud Doucet (Regie) und André Barbe (Bühne und Kostüme) auf eine Richtung, die weniger dem deutschen Regietheater als einer sinnenfroh dekorativen Opernwelt zuneigt. Die beiden Künstler beschreiben das Ziel ihrer Arbeit denn auch eher harmlos: Sie wollten zeigen, wie die Kraft der Musik die Fantasie anregen kann, heißt es im Programmheft. Schauplatz ist eine gutbürgerliche Altbauwohnung, vielleicht im Nachwende-Leipzig. Eine Familie sitzt beim Nachtmahle. Dann ziehen die jungen Leute los. Auch das Elternpaar trennt sich: Der Mann mit orangefarbener Weste um den Bauch schaltet seine Stereoanlage ein, die Frau packt die Tasche für Sport oder Sauna. Eine Rundfunkübertragung beginnt: Es sind „Die Feen“ aus der Oper Leipzig …

Was dann geschieht, folgt der Beschreibung E.T.A. Hoffmanns in seiner programmatischen Schrift „Der Dichter und der Komponist“  ziemlich genau: „Die Geister schreiten hinein in das Leben und verstricken die Menschen in das wunderbare, geheimnisvolle Verhängnis, das über sie waltet.“ Über der Wohnung öffnet sich das Feenreich: In einem Riesenbaum mag man Wagners Weltesche erkennen, die Kulissen atmen Natur-Idyll, die Feen selbst tragen neckisch-verspielte Biedermeier-Kostüme der Zeit Wagners. Die Welten durchdringen sich; der Bildungsbürger des 21. Jahrhunderts mutiert – die Musik mit der Hand mitdirigierend – allmählich zu Arindal, dem Helden Wagners.

Mittelalter in der Bildwelt des 19. Jahrhunderts

Das ist ein verheißungsvoll erdachter Ansatz, zumal er das „Romantische“ im ursprünglichen Sinne ernst zu nehmen versucht. Er setzt sich auch im Bühnenbild des zweiten Aktes fort, der in die kriegerische Welt eines imaginären Mittelalters führt, in der ein fremder, böser König Arindals Reich bedroht, seine Schwester Lora tapfer die Stellung als starke, sanfte Kriegerin hält (Lässt da nicht Wagners verehrte Schwester Rosalie grüßen?) und der von seiner geliebten Fee Ada getrennte Königssohn in passiver Depression zu kämpfen außerstande ist. Täuschung, Trug und Zauber spielen eine Rolle bis zur finalen Katastrophe.

Szenenbild Zweiter Akt der Leipziger "Feen". Foto: Kirsten Nijhof

Szenenbild Zweiter Akt der Leipziger „Feen“. Foto: Kirsten Nijhof

Barbes Bühne löst jetzt die Wohnung in Bruchstücke auf, die er in bewusst naiv gemalte Kulissen eines Mittelalters in der Bildwelt des 19. Jahrhunderts integriert. Moritz von Schwind lässt grüßen, der byzantinisierende Saal der Wartburg auch, und die Kostüme könnten einer Schulaufführung entstammen, die unbeholfen die Ritterzeit nachstellen will: Bewusst spielt Barbe auf das historisierende Mittelalter des Stücks an, das Wagner ja auch in „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ auf die Bühne holt – und das, nebenbei bemerkt, auch Verdi oft als Camouflage diente.

Doch jetzt sackt die Regie ab: Doucet bewältigt mit einer konventionellen Aufstellung von Solisten und Chor die szenische Herausforderung etwa des groß angelegten Finales nicht. Weder das Wunderbare noch das Überraschende, weder die gespielte Imagination noch die innere Durchdringung der Welten vermitteln sich überzeugend. Und der „coup de théâtre“, bei dem Ada ihre und Arindals Kinder in einen „Feuerschlund“ stößt, ist einfach nur billiges Machwerk, wo er doch als perfekt inszenierte Feen-Gaukelei zwar trugvoll, aber zugleich auch überwältigend erscheinen müsste.

Wagner schwebt ein: Schlussbild der Oper "Die Feen" in Leipzig. Foto: Tom Schulze

Wagner schwebt ein: Schlussbild der Oper „Die Feen“ in Leipzig. Foto: Tom Schulze

Der dritte Akt begnügt sich mit Regie-Effekten von der Dilettanten-Bühne und überzeugt auch szenisch mit einem gemalten Fahrstuhlschacht in die Unterwelt des Feenreiches nicht mehr. Dass am Ende Wagner, von einem Schmetterling gehalten, einschwebt und die Moral der Geschicht‘ verkündet, ist ein gelungen ironisierender Moment. Das bürgerliche Ehepaar sitzt nach Operngenuss und Saunabesuch glücklich vereint auf dem Sofa. Erlösung heißt, im Wagner’schen Klavierauszuge zu blättern. Verwirklicht sich die Liebes-Utopie Wagners in der traulichen Zweisamkeit auf den Kissen? Wagners hochfliegende Ideen, mit leiser Ironie geerdet.

Musik mit Makel

Musikalisch stand es in Leipzig leider nicht zum Besten: Die Bläser verfehlen schon in der Ouvertüre ständig Einsätze, das Gewandhausorchester spannt über die mendelssohnisch lichten Feenmusik-Akkorde keinen blühenden Bogen. Wie schon in „Parsifal“ oder den „Meistersingern“ treibt Ulf Schirmer zu kompakter Lautstärke an. Das macht den Sängern das Leben schwer, verdickt den dichten Orchestersatz unnötig und trivialisiert die Pauken-Bläser-Tuttischläge, die Wagner als Zwanzigjähriger noch etwas zu ausdauernd liebte.

Ulf Schirmer, Generalmusikdirektor der Oper Leipzig seit 2009/10. Foto: Tom Schulze

Ulf Schirmer, Generalmusikdirektor der Oper Leipzig seit 2009/10. Foto: Tom Schulze

Luftiger, leichter und im Tonfall sehrender gespielt, würde die Musik ihre Qualität unbezweifelbarer offenbaren. Denn Wagner beherrscht – manchem in Kritiken vollmundig verkündetem Unfug über die „schlechteste Oper des 19. Jahrhunderts“ zum Trotz – die musikalische Sprache auf der Höhe seiner Zeit, braucht sich vor keinem Kreutzer, keinem Spohr, keinem Schumann zu verstecken, weiß auch sehr wohl, die Vorbilder von Marschners „Vampyr“ bis zu Beethovens heroischem „Fidelio“ oder der Spielopern wie Aubers „Maurer und Schlosser“ für sich zu nutzen. Und einen Zwanzigjährigen, der ein ausgreifendes Finale wie das des zweiten Akts der „Feen“ schreibt, den mag die Musikgeschichte erst einmal suchen!

Für seine Hauptpartien hatte der junge Wagner wohl konkrete Vorbilder im Kopf: Unschwer lässt sich vorstellen, wie er bei den hochgespannten Arien der Fee Ada sein Ideal Wilhelmine Schröder-Devrient vor Augen hatte, die dem Sechzehnjährigen in Leipzig im „Fidelio“ das Schlüsselerlebnis seiner Jugendjahre bescherte. Dass er bei Arindal an seinen Bruder Albert dachte, der seinerzeit in Würzburg von Rossinis Almaviva bis Webers Freischütz-Max, von Masaniello in Aubers „Die Stumme von Portici“ bis Beethovens Florestan alles sang, liegt nahe. Albert soll dem Jung-Komponisten ja prophezeit haben, dass ihn die Sänger für seine Partien verfluchen würden.

Enorme Forderungen an die Sänger

Arnold Bezuyen, dem Leipziger Arindal, mag sich ein solcher Fluch öfter auf die Lippen gedrängt haben, als er sich mit der vertrackt hohen und dramatischen Partie abmühte: beklemmt stemmt er die Töne, sucht die Höhe, verliert das Legato, quetscht die Spitzen. Christiane Libor als Ada muss zwar auch manchmal forcieren und drückt dann die Töne zu hoch, liefert aber insgesamt ein famos stimmlich abgesichertes Rollenporträt der Fee, die um ihre Sterblichkeit – und damit um ihre Menschlichkeit – kämpfen muss.

Mit Viktorija Kaminskaite und Jean Broekhuizen sind die Feen Zemina und Farzana aus dem Leipziger Ensemble ansprechend besetzt. Eun Yee You hat für die Lora eine zu undramatische, in der Konzentration des Tons oft überforderte Stimme. Jennifer Porto und Milcho Borovinov  als Drolla und Gernot liefern sich im zweiten Akt ein köstliches Rededuell, das bedauern lässt, dass Wagner geplante Ausflüge in die deutsche Spieloper nicht realisiert hat.

Detlef Roth singt sich mit gedecktem Bariton durch die Partie des getreuen Morald, Guy Mannheim zeigt, wie sich Wagner in der Rolle des Gunther an den drolligen Figuren eines Heinrich Marschner („Der Templer und die Jüdin“) orientiert hat. Roland Schubert lässt sich nicht verleiten, die kleine Rolle des Harald nicht ernst zu nehmen. Blass und fistelig in der Höhe bleibt Igor Durlovski als Zauberer Groma. Auch im Chor Alessandro Zuppardos klappert es öfter – aber bis zum (konzertanten) Gastspiel der „Feen“ in Bayreuth im Mai 2013 ist ja noch Zeit für einige ergänzende Proben.

Immerhin hat Leipzig wieder einmal gezeigt, was für eine theatralische Kraft in Wagners „Feen“ steckt, wenn sie durch eine sensible Regie geweckt wird. Das Stadttheater Regensburg hat für 2014 eine weitere Neuinszenierung angekündigt; würde das Wagner-Jahr wenigstens ein Signal für eine vertiefte Beschäftigung mit den Jugendopern geben, wäre ein wichtiges Ziel erreicht.




Abschied vom Meisterwerk nach 21 Jahren: Axel Cortis „La Traviata“ letztmals in Frankfurt

Nach 21 Jahren ist Frankfurts „La Traviata“ immer noch ein Publikumsrenner, doch nun heißt es Abschied nehmen von der Inszenierung Axel Cortis: Intendant Bernd Loebe teilt mit, die Oper werde einen Schnitt machen und Cortis viel gerühmte Arbeit aus dem Repertoire nehmen. Die Begründung überzeugt nicht: Ein Haus wie Frankfurt sollte nicht nach Platzproblemen entscheiden, und dass in bestehenden Inszenierungen neue Darsteller eingesetzt werden, ist an großen Häusern gang und gäbe und muss nicht zwangsläufig zu Qualitätsabfall führen.

Im Falle der tiefsinnigen Bildwelt Bert Kistners (Bühne) und Gaby Freys (Kostüme) ist die künstlerische Halbwertszeit noch lange nicht erreicht: So mancher Zeitgeist-Schnickschnack ist nach wenigen Jahren nur noch mit Mühe zu erdulden. Axel Cortis „Traviata“ dagegen bewegt und berührt immer noch, selbst wenn ein Tenor den Alfredo gibt, der nur sein romanisches Gesten-Repertoire einzubringen hat. Die Inszenierung ist eine derjenigen, die man als „zeitlos“ bezeichnen kann – vielleicht widerstrebt aber genau das manchem Dramaturgenkopf, der glaubt, auf der Bühne sollten stets die Schlagzeilen von gestern „reflektiert“ werden. Jammerschade: Frankfurts „Traviata“ hätte das Zeug gehabt, als Klassiker zu überleben.

So füllt sich der mondäne Salon Bert Kistners mit seiner zentralen, geschwungenen Treppe zum letzten Mal mit Halbweltdamen, Kollaborateuren und Nazi-Offizieren – denn Corti, Jahrgang 1933, hatte Alexandre Dumas‘ Drama in das besetzte Paris des Zweiten Weltkriegs verlegt, eine Zeit, die er als Kind noch erlebt hatte. Noch einmal ziehen sich Violetta und Alfredo in das blaugraue Haus am Meer zurück, vor dem der Sandstrand Weite, der Horizont Unendlichkeit verheißt, aber eine rot-weiße Markierungslinie bis in den Himmel hinein eine Grenze zieht. Noch einmal tanzen unter den apokalyptischen Gespenstern eines Otto Dix unter einem Zirkuszelt französische Mariannen und preußische Pickelhauben das Spiel von Aufruhr und Freiheit (Choreografie: David Kern). Und noch einmal nimmt Violetta im Wartesaal eines Bahnhofs Abschied von der Welt, von ihrem Leben, ihren Illusionen und Hoffnungen.

Corti zeigt auf einzigartige Weise das individuelle Schicksal, die persönliche Tragödie der „Traviata“, das Scheitern zweier junger Menschen an Zwängen und Verstrickungen, verbunden mit der unheilvollen Atmosphäre einer Zeit, die uns näher liegt als die Sphäre der eleganten Kurtisanen der Epoche Verdis und Dumas‘. Immer noch schockierend, wenn vor der Chorstretta des ersten Akts die Luftschutzsirenen jaulen, Violetta die Leuchten löscht, durch die Fenster die Lichtfinger der Flak im Dunst der Nacht sichtbar werden. Sie suchen den Himmel ab, während die allein gelassene Violetta („È strano“) die Spur des Himmels in sich selbst zu erahnen beginnt. Selten wurden Bedrohung und Einsamkeit der „bevölkerten Wüste“ der Riesenstadt in so abgründige und gleichzeitig ästhetische Bilder gefasst. Wie überhaupt Kistners Bühne nicht hoch genug zu rühmen ist: Das Flair der Zeit, die Schönheit der Impression, aber auch der Ausgriff ins Symbolische und Mythische sind glücklich verbunden.

Ort des Abschieds: Violetta (Cristina-Antoaneta Pasaroiu) im letzten Akt von Verdis "La Traviata" an der Oper Frankfurt. Fotos: Wolfgang Runkel

Ort des Abschieds: Violetta (Cristina-Antoaneta Pasaroiu) im letzten Akt von Verdis „La Traviata“ an der Oper Frankfurt. Fotos: Wolfgang Runkel

Exemplarisch ist das im dritten Akt zu erleben: Der Bahnhof als mythischer Ort der Moderne, Symbol der unerbittlich verfließenden Zeit (die Bahnhofsuhr), der unsichtbaren Geister, die entscheiden, wann ein Zug ankommt, steht oder abfährt (die Rot oder Grün zeigenden Signale), säkularisierte Kathedrale der Technik und des Fortschritts (die riesigen Eisenkonstruktionen im Hintergrund) und gleichzeitig Ort des Abschieds, der Entscheidung, der Fremde und Unbehaustheit.

Corti stellt Violettas Sterben in den Kontext eines großen, unmenschlichen, entpersönlichten Sterbens: Während sich die jungen Menschen voll trügerischer Hoffnung ein letztes Mal in die Arme sinken, den Traum vom Leben anderswo („Parigi, o cara, noi lascieremo…“) besingen, kontrollieren Wehrmachtssoldaten mit Hund die Papiere der anderen Wartenden und führen zwei alte Männer ab.

Trauer, Schmerz, Ohnmacht werden individuell und politisch-gesellschaftlich konnotiert, ohne dass Corti versucht, das eine gegen das andere auszuspielen. Er stellt den Zusammenhang zwischen der Existenz des Einzelnen und dem Raum der Gesellschaft her, ohne dem Leid seine Würde, der Angst ihre Gewalt zu nehmen. Solche machtvollen Bilder wirken auch, wenn sich die Darsteller nicht vollkommen in das Regiekonzept einfinden – obwohl diese letzte Wiederaufnahme von Tobias Heyder ohne die Zusatzmätzchen manch früherer Einstudierer auskommt. Vielleicht hätte Bernd Loebe mal unter den zahlreichen Fans dieser Inszenierung fragen sollen: Einige hätten ihm nach Jahren noch aussagestarke Details aus der Inszenierung aus der Erinnerung referieren können – auch ohne Regiebuch.

Wenn allerdings ein Tenor wie Francesco Demuro auftritt, stehen die Signale für Personenregie generell auf Rot. Der „international gefeierte“ Sänger (so die Homepage der Frankfurter Oper) stellt den Alfredo aus, wie er sich von Seattle bis Santiago in jede verbrauchte „Traviata“-Routine einpassen könnte. Wenn denn nun wenigstens die Stimme etwas von der fehlenden Faszination der Bühnenerscheinung zurückbrächte! Aber Demuro wird, nach beachtlich energischem Start, im Kern immer dünner, im Schmelz immer ranziger, im Vibrato klirrender. Die Stimme löst sich von der Verankerung im Körper und hat im dritten Akt nur mehr markierte Piani und angestrengt-dünne Höhe zu bieten. Wie ein Sänger mit schönem Potenzial, aber so unausgereifter Technik „international gefeiert“ sein kann, ist eines der Rätsel der Opernwelt, dessen Erklärung man lieber nicht wissen möchte.

Trügerisches Asyl: Cristina-Antoaneta Pasaroiu (Violetta) und Jean-Francois Lapointe (Germont) im zweiten Akt der Inszenierung Axel Cortis.

Trügerisches Asyl: Cristina-Antoaneta Pasaroiu (Violetta) und Jean-Francois Lapointe (Germont) im zweiten Akt der Inszenierung Axel Cortis.

Anders entwickelt sich im Lauf des Abends der Germont von Jean-François Lapointe. Der kanadische Bariton beginnt gedeckt und mit einem knödelig-angestrengten Timbre, kann sich aber im Duett frei singen und zeigt dann eine versierte Beherrschung der Technik und des ausdrucksvollen Singens. Ein beeindruckendes Debüt eines Sängers, der am Ende viel Jubel erntet.

Für den erkrankten polnischen Sopran Aleksandra Kurzak singt Cristina-Antoaneta Pasaroiu die Violetta: Die Rolle liegt ihr im Lyrischen ausgezeichnet; vor allem im Dritten Akt lässt sie intensiv miterleben, wie mit ihrem Körper ihre Seelenkraft verfällt, wie die letzten Funken der Hoffnung das mühevolle Aufbegehren noch einmal nähren, um dann im Wissen um das unausweichliche Ende zu verlöschen. Für die differenzierten emotionalen Aspekte der Arie im ersten Akt und die weiten, dramatischen Bögen des zweiten fehlt der Sängerin das freie, weite Volumen, die Expansions- und Steigerungsfähigkeit. Vielleicht kommt die – oft unterschätzte – Rolle doch noch etwas zu früh?

Frankfurts Ensemble ist schon oft gerühmt worden; Anlass dazu gibt auch die Besetzung der Nebenrollen in dieser „Traviata“: Nina Tarandek lässt hinter der zugespitzten Eleganz ihrer Roben das warme Herz der Flora spüren; mit Elizabeth Reiter ist Annina einmal nicht mit einem Schlachtross aus dem Gnadenbrot-Stall besetzt, sondern mit einer klug gestaltenden, stimmlich niveauvollen Sängerin; Franz Mayer gibt als Douphol einen kaltherzigen Generalissimus, der die ständigen Störungen durch private Verwicklungen als lästig empfindet.

In der musikalischen Leitung der Wiederaufnahme debütiert der israelische Jungstar Omer Meir Wellber an der Frankfurter Oper; einer der zahlreichen Assistenten Daniel Barenboims, die Karriere machen. Er nähert sich Verdis empfindlicher Partitur ohne profilierten Blick. Das Orchester spielt präsent, mit weich geformten Piano-Momenten, trefflich koordiniert. Aber dort, wo die formende Hand des Dirigenten spürbar sein sollte, fehlt die Kontur: Meir Wellber atmet wenig mit den Sängern, achtet kaum auf die musikalische Rhetorik, trivialisiert manches schnelle Tempo und arbeitet dicht gesetzte Orchesterstellen und Tutti nicht ausreichend plastisch aus. – Die Vorstellungsserie ist so gut wie ausverkauft, lediglich am 1. Januar gibt es noch ausreichend freie Plätze, um eine Inszenierung zu erleben, die ähnlich wie der Frankfurter Berghaus-Ring zur Legende werden dürfte.




Vor zehn Jahren im Aalto, jetzt in der ganzen Welt: Martina Serafin zu Gast in der Philharmonie Essen

Willkommen zurück, Frau Serafin! Vor zehn Jahren war die Sängerin am Aalto-Theater in großen Rollen zu erleben wie die Fiordiligi in „Cosi fan tutte“ (1999), die Elsa im „Lohengrin“ (2000) oder die Marschallin im „Rosenkavalier“. Heute singt die Dame in London, Mailand und Wien. Gerade erholt sie sich von der „Tosca“ in der Arena von Verona; bald reist sie weiter zur nächsten „Tosca“ nach Paris und zu Wagners „Ring“ an die Met. In Essen glaubt man offenbar, es brauche den Extra-Hinweis, wer Martina Serafin sei: Eine „weltberühmte“ Sängerin springe ein für die erkrankte Anja Harteros, war auf Aushängen im Foyer der Philharmonie zu lesen. Nun gut, jetzt wissen wir’s.

Martina Serafin. Pressefoto: Philharmonie Essen

Martina Serafin. Pressefoto: Philharmonie Essen

Das Einspringen ist ein undankbarer Job: Die Bochumer Symphoniker und Dirigent Friedrich Haider mussten kurzfristig neu disponieren, haben sogar einer Extra-Probe zugestimmt. Dafür gab`s Lob von Intendant Johannes Bultmann. Heikle Stücke wie das „Lohengrin“-Vorspiel oder das „Siegfried-Idyll“ lassen sich unter solchen Bedingungen nicht optimal erarbeiten. Das war zu hören: körnige Schlacken in den ätherischen Entrückung des „Lohengrin“-Vorspiels und der resignierten Piano-Schwermut von „La Traviata“. Die Violinen an den hinteren Pulten mit eher robustem Ton. Aber auch schön geformte Bläsersoli in der schwungvollen Einleitung zum dritten „Lohengrin“-Akt.

Hätte Haider das Tempo in der Ouvertüre zu Verdis „Nabucco“ nicht so extrem angezogen, wären die Musiker sicher präziser und klangschöner bei der Sache gewesen. Verdis „Macbeth“-Ballettmusik war das spannendste Stück des Abends; man wundert sich, warum man diesen Hexensabbat mit der majestätischen musikalischen Erscheinung der Totendämonin Hekate nicht öfter hört.

Mit den beiden Arien der Tannhäuser-Elisabeth stieg Martina Serafin in den Abend ein, noch ein wenig rau im Ton, mit bebendem Unterkiefer und nicht ganz sitzenden Hochtönen. Die Stärken der Sängerin liegen zweifellos dort, wo sie stimmlich wie eine Verismo-Heroine agieren darf. Etwa bei den Arien von Puccini und Giordano, zum Beispiel „In quelle trine morbide“ aus Puccinis „Manon Lescaut“: bombiger Stimmsitz, klare Artikulation, der klassische Ton einer dramatischen Sängerin. Aber auch tiefe Bewegtheit, fulminante Steigerungen. Nur mit der Höhe muss Martina Serafin vorsichtig sein: Sie scheint Mühe zu haben, die Stimme weit und entspannt auf der Stütze zu halten. Emotional aufgeladen: „La mamma morta“ aus „Andrea Chenier“. Und ein Gruß aus Wien als Zugabe: „Meine Lippen, sie küssen so heiß“ aus Lehárs „Giuditta“. Bei solchen Schmeicheltönen glaubt man der Sängerin aufs Wort!




Gebremste Leidenschaft: Verdis „Macht des Schicksals“ im Aalto-Theater Essen

Dietrich Hilsdorfs Inszenierung hat nichts von ihrer Stringenz, Johannes Leiackers Bühne nichts von ihrem lichtvollen Realitätsentzug eingebüßt. Verdis „La Forza del Destino“ ist es wert, immer wieder ins Repertoire des Aalto-Theaters zurückzukehren. Auch wenn man gegen die rüden Kürzungen der Mailänder Fassung der Oper (1869) einwenden muss, dass Verdi in dieser Zeit kompositorisch sehr genau wusste, was er will. Doch es siegt der Wille des Regisseurs, eine psychologisch schlüssige Geschichte zu erzählen.

Dass er den Padre Guardiano mit dem alten Marchese di Calatrava verschmilzt und diesen aus dem Sarg zurückkehren lässt wie einen Zombie oder eine Erscheinung ist ein Sinn stiftender Theatercoup. Und auch Verdis Mittelalter-Camouflage, damals meist der Zensur geschuldet, ist heute entbehrlich: In Essen spielt das Stück zur Zeit seiner Entstehung.

Szene aus Verdis "La Forza del Destino" am Essener Aalto-Theater; Bühne Johannes Leiacker. Foto: Thilo Beu

Szene aus Verdis "La Forza del Destino" am Essener Aalto-Theater; Bühne Johannes Leiacker. Foto: Thilo Beu

Die Wiederaufnahme von „La Forza del Destino“ eröffnete die neue Spielzeit in Essen. Stefan Soltesz hat in seiner letzten Spielzeit einen bescheidenen Schwerpunkt auf Verdi, einen der „Jubilare“ des Jahres 2013, gelegt. Wieder aufgenommen werden noch „La Traviata“ und „Aida“, neu inszeniert „I Masnadieri“ („Die Räuber“ nach Schiller). Damit bringt Essen eine der vielen selten gespielten Opern Verdis. Andere Opernhäuser nudeln zum 200. Geburtstag dieses Giganten der Oper das übliche Repertoire ab: kein „Stiffelio“, kaum eine „Luisa Miller“, keine „Lombarden“, von den hitzköpfigen frühen Opern wie „Attila“, „I due Foscari“, „Ernani“ oder „Il Corsaro“ ganz zu schweigen. Dafür haucht „La Traviata“ hunderte Mal ihr Leben aus, lugt „Rigoletto“ hinter jedem Eck hervor. Zwischen 2001 (100. Todestag Verdis) und 2012 hat sich an der Einfallslosigkeit deutscher Spielpläne – in Sachen Verdi zumindest – nicht viel geändert.

Der Dirigent der Essener Aufführung, Giacomo Sagripanti, ist ein Debütant am Aalto-Theater und hoffentlich kein Vorzeichen für die Zeit nach Stefan Soltesz. Der Italiener kommt offenbar aus dem Mainstream, wie er heute von den zugrunde gewirtschafteten Konservatorien seines Heimatlandes herangebildet wird: Fern der – nicht mit alten Schlampereien zu verwechselnden – Traditionen schlägt er einen sorgfältig erarbeiteten, aber dramatisch geglätteten Verdi, mit schematischer Agogik, wenig vertraut mit dem Atmen der Sänger, ohne Sensus für die fiebernden Tremoli, das innere Drängen der Musik. Metrisch einförmig ist das, ohne rhythmischen Biss, in den Lyrismen klassizistisch poliert, in der Dramatik züchtig domestiziert. Gebremste Energie, gekappte Leidenschaft: das funktioniert zum Beispiel im unendlich zärtlichen Pianissimo am Ende der Oper, nicht aber zum Beispiel in der verzweifelten Szene des Alvaro, für den das Leben zur Hölle wird.

Sagripanti versucht auch, veristische Züge aus dem Stück herauszuhalten, was ihm zumindest mit Carlos Almaguer als Carlos nicht gelingt. Der Bariton hat eine phänomenal gut sitzende Stimme mit üppigen Resonanzen und kann mühelos jeden Raum füllen. Leider praktiziert er das mit ausuferndem Fortissimo bei jeder Gelegenheit: Gebrüll statt subtiles Gestalten, grobes Aussingen statt bewusste Stilisierung.

Als Alvaro wurde kurzfristig der rumänische Tenor Daniel Magdal gewonnen, der 2005 etwa in Münster in Stanislaw Moniuszkos „Halka“ gesungen hat. Er bringt die Stimme erst allmählich in Position und kann den Ton nicht füllen. Seine große Szene nach der Pause („La vita é inferno all‘infelice“) wirkt sorgsam vorgetragen, mehr nicht.

Mit dem Bemühen um den großen Bogen und das tragende Piano zeichnet sich Galina Shesterneva aus, die auch demonstriert, dass „russische Schule“ nicht unbedingt großhubiges Vibrato bedeuten muss. Ihre Arien baut sie gekonnt auf, ihr Timbre ist stabil und erinnert in „Pace, pace“ an Diven des Verismo wie Zinka Milanov. Dass sie eine von der blinden Willkür des Schicksals Gejagte ist, kann sie musikalisch nicht darstellen, weil ihr der Dirigent dazu die Dynamik im Tempo verweigert.

Von der Regie zur Episodenfigur reduziert, kann Yaroslava Kozina als Preziosilla immerhin mit ein wenig „Rataplan“ punkten. Tiziano Bracci mutiert als Melitone vom frechen, dicken Mönch zum Adjutanten des Marchese Calatrava und singt mit schlanker, damit auch farbreduzierter Stimme seine sprachlich bewusst gestaltete Szene. Albrecht Kludszuweit erweist sich als Trabuco mit schönem Tenor in ein paar Sätzen wieder einmal als sichere Stütze des Essener Ensembles. Und Marcel Rosca, auch ein Essener „Urgestein“, hatte einen guten Tag und gab der patriarchalistischen Doppelgestalt des Marchese di Calatrava mit gut fokussiertem Bass ein differenziertes Profil.

Nur noch zwei Mal ist diese „Macht des Schicksals“ in Essen zu sehen, am 15. September und am 14. Oktober. Eine Alternative bietet sich in Köln: Dort inszeniert Oliver Py die Oper zur Eröffnung der Spielzeit neu; Premiere ist am 16. September.




Stunden der wahren Empfindung – Johan Simons inszeniert die famose Produktion „Sentimenti“ für die RuhrTriennale

Von Bernd Berke

Bochum. Stoffe mit Ewigkeitswert sind im Grunde oft einfach, schon die Antike hat Muster bereitgestellt. Wenn nun ein Mittvierziger ins Land seiner Jugend zurückkehrt, als seine Mutter stirbt, und sich an jene Zeit erinnert, als die Ehe der Eltern zerbrach, so bangt man dennoch: Was kann das Theater daraus gewinnen? Die Antwort lautet: alles!

Natürlich nicht irgendwie und immer. Sondern dann, wenn man den Stoff so überaus inspiriert entfaltet wie Johan Simons, Paul Koek und ihre Truppe ZT Hollandia. Aus der Freien Szene hervorgegangen und heute in Eindhoven tätig, hat die Formation jetzeine grandiose Kreation für die RuhrTriennale aus der Taufe gehoben: „Sentimenti“ verknüpft kühn Grundzüge von Ralf Rothmanns Roman „Milch und Kohle“ mit Opernmusik von Giuseppe Verdi. Siehe da: Diese Vorlagen steigern einander in zweieinhalb Stunden der wahren Empfindung zu ungeahnter Wirksamkeit.

Rothmanns Prosa beschwört mit frappanter Detail-Süffigkeit die 60er Jahre im Ruhrgebiet herauf. In jeder Textfaser spürt man den Beinahe-Jahrgangsgenossen aus der Region: Der 1953 geborene Autor wuchs im Revier auf und lebt heute in Berlin. Sein Erzähler Simon (dargestellt vom famosen Jeroen Williams) schildert, was er als Jugendlicher im Ruhrgebiet der 60er erlebte: Seine Mutter gab sich damals einem italienischen „Gastarbeiter“ hin, als der Vater nach einem Bergwerksunglück mit gebrochenen Beinen in der Klinik lag.

Kläglich hat der Vater dahingelebt: zwischen Malochhe im Schacht, Autoreparaturen und seinen geliebten Kanarienvögeln. Nun wirft ihn die Untreue zu Boden. Dem Sohn sind manche Erinnerungen an die Zeit der Burda-Schnittmusterkleider peinlich, doch er findet zu einem fast zärtlichen Umgang mit der Vergangenheit.

Selten aber fühlt man das Schmerzliche eines Ehebruchs so scharf und persönlich ergreifend wie hier, wo das Leben als vom Tode umsäumter Bezirk erscheint. Oh, hättet ihr eure Zeit auf Erden besser genutzt! Der allgegenwärtige Todesengel in Schwestern-Tracht wartet geduldig: Letztlich wird ihm doch jedes Wesen zuteil.

Die äußerst weitläufige Spielfläche in der Bochumer Jahrhunderthalle besteht im zentralen Bereich aus Unmengen von Kohlebriketts. Man kann diese 16 Tonnen Materie wörtlich nehmen: Bei aller Phantasie ist diese Aufführung zutiefst „geerdet“, sie basiert auf konkreten sozialen Verhältnissen.

Ruhrgebiets-Roman und Verdis Arien beflügeln einander

Doch sie führt auch himmelweit darüber hinaus. Wenn etwa die Mutter die Szenerie betritt, so zunächst noch nicht als lebensgierige und kokette Frau, sondern als monströs röchelndes Häuflein Elend, dem Tode schon bestürzend nah.

Überhaupt ist alles, was die Menschlein hier tun und treiben, von Vergänglichkeit umfangen. Lebensstufen gleiten beklemmend ineinander über, Figuren verschwimmen surreal, sie wiederholen Sätze wie in Trance. Mit sehr feinem Strich werden da die Hirnströme des Erinnerns nachgezeichnet.

Und zu alledem noch Verdi! Diese Bühne der Erinnerung erweist sich als idealer Hallraum für seine gleißenden Arien (aus „II Trovatore“, „La Traviata“, „Rigoletto“, „Don Carlos“, „Nabucco“, „Aida“) – notengetreu in eher kammermusikalischer Besetzung mit jazzigen Einsprengseln gespielt und von den Sängern, die sich wie hilflose Beschützer in die Handlung mengen, zur Essenz gebracht. Diese Klänge überhöhen das Geschehen nicht nur, sondern werden ihrerseits angefüllt mit neuer Gegenwart. Es gibt Momente, da könnte man heulen vor menschlicher Trauer und vor Theaterglück.

Doch die „Sentimenti“ erschöpfen sich keineswegs in Vergeistigung. Es gibt auch eine Dimension des Humors und barscher Körperlichkeit. Verzweifelt ziellose Begierde entlädt sich in sexuellen Attacken, Streit in Eruptionen des Schlagens und Tretens. Man spürt, wie es sich anfühlt, das anhaltend waltende Ungenügen – und sehnt sich nach der Gegenwelt.

Ganz großer Beifall.

Termine: 22, 25.. 26.. 28., 29. Juni. 1., 2., 3., 6. Juli. Karten: 0700/2002 3456.