Nach dem Kahlschlag – Im Marler „Glaskasten“ besichtigen Jochen Gerz und Jan Kopp Welt-Zerrbilder des „Weißen Mannes“

Von Bernd Berke

Marl. Völlig entblößt stehen diese Männer und Frauen da, jeweils ganz für sich allein und ziemlich ratlos blickend. Ringsumher liegen die traurigen Überreste gefällter Bäume. Keine paradiesische Nacktheit ist es, die sich hier offenbart. Im Gegenteil. Es sind Menschen nach einem Kahlschlag.

Der in Paris lebende Künstler Jochen Gerz, der zuletzt bundesweites Aufsehen mit seiner von der WR unterstützten Dortmunder Foto-Aktion „Das Geschenk“ erregt hatte (noch heute bekommt er zahlreiche Briefe von abgelichteten Teilnehmern), greift jetzt im Marler Museum „Glaskasten“ eine ökologische Untat auf, die sich 1999 in Kanada zugetragen hat. Ein riesiges Regenwald-Areal fiel dort den Bulldozern und Kettensägen zumOpfer.

Zugleich das Porträt einer Generation

Die Menschen, die Gerz auf neun Diptychen (große zweiteilige Bilder) zeigt, sind Bewohner jener gepeinigten Gegend; unter ihnen ein Greenpeace-Mitgründer, ein ausgewanderter deutscher Maler, ein Atomphysiker. Sie alle waren wegen der grandiosen Natur dorthin gezogen und konnten die wahnwitzige Abholzung auch mit einfallsreichen Protesten nicht verhindern.

Gerz lichtete sie hüllenlos, hätten sie keine Habe mehr, inmitten der zerstörten Landschaft ab. Die Gesichter stehen noch ganz im Banne der Verzweiflung, der Resignation. In die Fotos eingestellte Texte künden gleichfalls von dieser Gefühlslage, immer wieder ist dort von Vergewaltigung der Natur die bittere Rede. Ganz bewusst hat Gerz ältere Leute vor die Kamera gebeten. Makellose Körper würden wohl vom ökologischen Anliegen ablenken. Außerdem nennt der 60-jährige Künstler die erstmals gezeigte Installation „ein Porträt meiner Generation“. Eine Generation, die ihren Kampf verloren hat?

„White Ghost“ (weißes Gespenst) heißt die Arbeit. Einen solchen Namen hatten einst die Chinesen dem „weißen Mann“ gegeben. Der nämlich huschte nach ihrem Empfinden wie ein Geist, ohne innere Bindungen und also achtlos über alles Lebendige auf Erden hinweg.

Mit einer die Wirklichkeit verzerrenden „weißen“ Sicht auf die Welt befasst sich auch Jan Kopp (30). In Marl ist es guter Serien-Brauch, dass ein arrivierter Künstler mit einem jungen Kollegen gemeinsam ausstellt. Und Jochen Gerz bat eben seinen früheren Assistenten Kopp hinzu. Der hat das letzte Jahr in New York verbracht. In seinem Reisegepäck befand sich eine Kopie der Karl May-Verfilmung „Old Shatterhand“ (1963; bekanntlich mit Lex Barker, Pierre Brice & Co.), ein Streifen, der oft im Fernsehen abgenudelt worden ist.

Karl May und der Stich ins Surreale

Kopp ist dem Film mit einem listigen Konzept zu Leibe gerückt. In den USA (wo kaum jemand von Karl May etwas weiß) bat KOPP mutmaßlich amüsierte, jedenfalls von Haus aus englisch sprechende Museumsbesucher, einige Szenen gleichsam neu zu synchronisieren. Und so reden die Filmfiguren nun in gebrochenem Deutsch bunt durcheinander. An drei Projektionsstellen schnurren in Marl 28 kurze Sequenzen ab. 240 Stimmen sind zu hören, Old Shatterhand, Winnetou, Sam Hawkins und all die anderen sprechen – oft mitten im Satz wechselnd – mal männlich, mal weiblich, mal kindlich.

Resultat ist eine vielfache Verfremdung, mit der Kopp (erkennbar ein Kind der Fernseh-Generation) lässig spielt. Die wahre Welt liegt hinter lauter medialen Schleiern verborgen: Schon Karl May phantasierte sich ja seinerzeit in Sachsen einen „Wilden Westen“ zurecht, der von der Realität weit entfernt war.

Die naive Verfilmung mit ihrem Klischee vom „edlen Wilden“ Winnetou verhüllte den wirklichen Sachverhalt (sprich: Vertreibung oder Ausrottung der Indianer) noch drastischer. In der neuen „Synchronisation“ wirkt die Dramaturgie vollends grotesk, sie bekommt geradezu einen Stich ins Surreale.

Durchzogen werden die Gänge zwischen Gerz‘ und Kopps Arbeiten von einem „Biotop“ aus lauter wuchernden Topfpflanzen. Auch hier waltet wohl Ironie: Soll derlei Restgrün etwa alles sein, was von der Natur übrig bleibt?

Jochen Gerz/Jan Kopp. „Glaskasten“, Marl (Creiler Platz, am Rathaus). Ab Samstag, 11. November (Eröffnung 17 Uhr), bis 21. Januar 2001. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 32 DM.




Die Kunst braucht eine Seele – Ausstellung über Auguste Rodin und seine Wirkung im Marler „Glaskasten“

Von Bernd Berke

Marl. Das ist Gruppen-Dynamik im ganz elementaren Sinn: Umrundet man Auguste Rodins berühmte Skulptur „Die Bürger von Calais“ (1895), so ergeben sich immer wieder völlig neue, stets aber ausdrucksstarke Ansichten dieser sechs verzweifelten Menschen, die anno 1347 die Schlüssel der Stadt Calais an die englischen Belagerer abgeben mußten.

Von der einen Seite aus sieht man zum Beispiel ein veritables Gebirge von Körperteilen, von einer anderen – höchst filigran – das Spiel einzelner Muskeln.

Das grandiose Jahrhundert-Denkmal hat zahllose Bildhauer beeinflußt und ist jetzt erstmals in Deutschland zu sehen. Im Marler Skulpturenmuseum „Glaskasten“ wird einer von vier tonnenschweren Abgüssen gezeigt, die zu Rodins Lebzeiten entstanden sind. Auch weitere Schlüsselwerke des Franzosen gehören zur teuren Schau, die sich erst ab 50000 Besuchern rentiert. Falls das Ziel nicht erreicht wird, steht der Dortmunder Energiekonzern VEW mit einer sechsstelligen Ausfallbürgschaft für Verluste gerade.

Bis hin zu Bodenplatten und einer versenkten Säule

Konzept der Ausstellung: Rund 60 Skulpturen anderer Künstler (u. a. Lehmbruck, Hoetger, Kollwitz, Giacometti, Hrdlicka) lassen die Kraft- und Wirkungslinien hervortreten, die von Rodins Oeuvre bis in die Gegenwart reichen. Am Schluß des Rundgangs wird deutlich, wie die Skulpturen tendenziell Volumen verlieren und sich schließlich in die flache Ebene ducken. Carl Andre legt nur  noch Bodenplatten aus, Jochen Gerz versenkt gar eine Säule auf Nimmerwiedersehen in einer Erdöffnung. Damit ist wahrlich einNullpunkt erreicht.

Doch zurück zum Ursprung der Moderne und zum Zentrum der Ausstellung: Rodin, der zweimal von der Pariser Akademie abgelehnt wurde und sich daraufhin zugute hielt, dort nie „verbildet“ worden zu sein, durchbrach die herrschende Tradition seelenloser klassizistischer Glätte. Er beseelte das Material. Die Büste „Mann mit gebrochener Nase“, für die ein Stadtstreicher Modell saß, steht bereits für die Auflösung idealer und intakter Körperlichkeit. Figuren wie „Johannes der Täufer“ oder „Adam“ versetzte Rodin in derart expressive Bewegungen, daß die Zeitgenossen geradezu davor erschraken.

Das erste demokratische Denkmal

Auf die Spitze getrieben hat Rodin das dynamische Prinzip im vielfältigen Zusammen- und Widerspiel jener „Bürger von Calais“, die zugleich als erstes demokratisches Denkmal gelten. Denn sie erheben sich nicht mehr auf einem Ehrfurcht gebietenden Sockel. Der Betrachter, Bürger wie die Dargestellten, soll die Plastik „von gleich zu gleich“ anschauen.

Rodin verfuhr zwar konsequenter als andere, aber er war nicht etwa der radikalste Neuerer seiner Ära. Medardo Rosso („Konversation im Garten“, um 1896) löst die redenden Gestalten bereits fast zur Unkenntlichkeit auf. Die Skulptur wird zur zerklüfteten Landschaft, auf der sich das Licht impressionistisch brechen und streuen kann. Für die damalige Zeit eine unerhört abstrakte Schöpfung.

Der Rundgang führt an etlichen Kleinoden vorbei. Vom sonst nur als Maler bekannten Edgar Degas sieht man (posthum gegossene) Tänzerinnen-Figuren, von Henri Matisse zwei weibliche Akte. Die Leiber sind so geformt, als wären sie im Nu aus einem einzigen Block hervorgegangen.

Ganz anders das Verfahren von Auguste Rodin: Der hat vor den „Bürgern von Calais“ einzelne Kopf- oder Handstellungen erprobt, die er hernach In die Gruppe „einbaute“. Zudem hat er die Figuren erst nackt modelliert, bevor er sich an den Faltenwurf der Gewänder wagte. Auch so entsteht also Avantgarde: Schritt für Schritt.

Auguste Rodin – Werk und Wirkung. Skulpturenmuseum Glaskasten, Marl (Creiler Platz). Bis 1. März 1998. Di-So 10 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 40 DM.




Geisterhafte Schattenspiele und gewässerte Lautsprecher – Arbeiten von Rolf Julius im Marler „Glaskasten“

Von Bernd Berke

Marl. Was man da sieht, könnten geknickte Blumen sein. Auch ein zarter Schriftzug deutet darauf hin: „Diese Zeichnung ist sehr traurig.“ So einfach macht es einem der Künstler Rolf Julius sonst nicht.

Die meisten Zeichnungen von Julius (Jahrgang 1939), jetzt im Marler „Glaskasten“ zu sehen, tendieren zur äußersten Reduktion, es sind beinahe übervorsichtige Tastversuche an den Grenzen des Sichtbaren. Auf einigen Blättern erblickt man kaum einen Hauch.

Ist es Verweigerung, ist es Meditation? Der Künstler selbst jedenfalls muß, wie er sagt, nach solchen Serien zur Erholung unbedingt etwas Kräftigeres herstellen, Zeichnungen mit pechschwarzen Figuren etwa – wie um zu erfahren, daß es auch noch etwas Handfestes gibt auf Erden.

Natur und Künstlichkeit, ineinander verwoben

Doch sein eigentliches Feld ist das Filigrane, das Hochempfindlich-Verletzliche, gewirkt und gewoben aus allerfeinsten Linien. Man braucht viel Ruhe, um diese Ausstellung angemessen nachzuempfinden, sonst übersieht man etliches. Oder man überhört Wesentliches, denn auch zwei denkbar unaufdringliche Klang-Installationen gehören dazu. Julius hat kleine Lautsprecher an die Fensterfront geklebt. Man meint Vogelstimmen zu hören, und das ist auch nicht verkehrt. Doch es sind auch rein elektronisch erzeugte Töne dazwischen. Was ist was? Der Künstler weiß es selbst nicht mehr, es sei völlig unwichtig geworden im Verlauf des Werks. Natur und Künstlichkeit sind ununterscheidbar miteinander verschmolzen.

Ein andermal schwimmen die Lautsprecher-Membranen in kleinen Wasserschälchen. Liegt es am Zusammenwirken von Optik und Akustik? Zumindest kommt einem der Klang tatsächlich „wässrig“ oder angefeuchtet vor. Seltsame Erfahrung knapp an der Wahrnehmungs-Schwelle.

Auch Tagebuch führt Julius (documenta-Teilnehmer von ’87) in Form von Zeichnungen. So etwa anno 1989 in Tucson/Arizona, wobei die Linienführung sensibel dem Ansteigen und Absacken der Tage nachsinnt und auch ein ganz eigentümlicher Mondschatten seine unscheinbaren Spuren hinterläßt. Dazu flackern geisterhafte Schattenspiele an imaginären Wänden. Das streift den Saum eines Irrewerdens an der Wirklichkeit.

Eine ganz stille Ausstellung. Je nach Verfassung kann sie einen nervös oder gänzlich ruhig stimmen. Sie stößt Gedanken und Gefühle nur an – und läßt sie dann frei.

Rolf Julius. Zeichnungen und Klangarbeiten 1986-1993. „Glaskasten“, Marl, Am Rathaus. Ab sofort bis 30. März, Di-So 10-18 Uhr).