Was bleibt, ist schmerzliches Verlangen: „Die Leiden der Jungen (Werther)“ im Theater Oberhausen

Leider nicht die Schlußszene: Lotte und Werther (Emilia Reichenbach und Christian Bayer) in Liebe vereint. (Foto: Katrin Ribbe/Theater Oberhausen)

Der junge Mann klagt. Schmerzlich ist die Liebe zu der Einen, die vom ihm Besitz ergriffen hat, sie reißt klaffende Lücken zwischen Herz und Hirn und Unterleib. Er tänzelt durch den Bühnenraum, erklimmt sehnend rotierende Podeste, entblößt sich, hat diesen schwärmerischen Blick, flirtet mit dem Publikum, spricht die Eine, die er im Parkett wähnt, sehr vertraulich an – doch keine seiner verzweifelten Übungen zeitigt irgendeinen Erfolg. Da ist sein letzter, oft wiederholter Satz fast zwingend: „Leute, ich will sterben“. Oder hat er Lotte gesagt? Angeblich nämlich ist dieser junge Mann, den Christian Bayer im Theater Oberhausen gibt, Goethes Werther nachempfunden. Doch da kann man seine Zweifel haben.

Fokussierte Kernkonflikte

„Nach Johann Wolfgang von Goethe“, so das Programmblatt, sei dieses Stück entstanden. „Die Leiden der Jungen (Werther)“ heißt es, zur Bühnenreife gebracht hat es Leonie Böhm, Jahrgang 1982, die auch Regie führt. Von ihr ist zu lesen, dass sie zu klassischen Stoffen greift, „um deren Kernkonflikte zu fokussieren“. Das ist kein geringer Anspruch.

Werther, kleiner hastiger Exkurs, der Titelheld in Goethes Briefroman, liebte Lotte, die indes mit Albert verlobt und somit unerreichbar war. Doch kamen sich die beiden schon recht nahe, erlebten schmerzlich intensiv den Gleichklang ihrer Empfindungen. Schwärmerische junge Leute waren sie beide, und ihr Idol, der Dichter Klopstock, dessen Namen sie auf dem Höhepunkt seelischer Nähe gleich einer Beschwörungsformel feierlich und fest sprachen.

Bühnenmusiker Johannes Rieder als nagellackierte Damenhand (links) schleppt Werther (Christian Bayer).  (Foto: Katrin Ribbe/Theater Oberhausen)

Sehr guter Popsong

Idole gibt es nach wie vor, Fixpunkte gemeinsamen Sehnens; doch müssen es, meint die Regisseurin, wohl nicht unbedingt Dichter sein. Die emotionssteigernde Wirkung kann auch „ein sehr guter Popsong“ entfalten, oder derer zwei bis drei.

Damit kommt die dritte Person in dieser Oberhausener Geschichte ins Spiel, der Musiker Johannes Rieder. Eigentlich ist er sogar der Erste auf der Bühne, steht dort schon mit seiner handlichen Elektroorgel und spielt gefällige Weisen, während noch das Publikum den Sitzen zustrebt. Er ist, wenn man so will, Tröster, Versteher und manchmal auch so etwas wie der „Sidekick“, wie in einer Talkshow. Vor allem aber spielt und singt er in den richtigen Momenten die aufwühlenden Songs, beziehungsweise deutet er sie mit seinem sparsamen Equipment nur an, was für die Emotionalisierung durchaus ausreichend ist.

Stark getanzt

Er ist es auch, der sozusagen Lotte ins Spiel bringt, mit der er einen atemberaubend schnellen, athletischen und gleichzeitig doch ausdrucksstarken Disco-Tanz auf die Bühne bringt (mit Musik aus dem Off). Er führt sie, so könnte man mit Blick auf Goethes Vorlage vielleicht sagen, in die Gesellschaft ein, und so steht sie im dritten Teil dieser streng chronologisch strukturierten Anderthalbstundenproduktion bald schon recht alleine da und schmachtet ihren Werther an. Die Bilder gleichen sich, alles würde sie geben, erhält aber kein Feedback. Lotte, gespielt von Emilia Reichenbach, schickt Luftküsse ins Publikum, wo der Geliebte vermeintlich sitzt, klagt und jammert, wie gehabt, streckt ihren schönen Hintern lockend vor, entblößt sich zunächst teilweise, dann ganz, fordert voll konkurrenzhafter Wut eine imaginierte Frau im Zuschauerraum auf, wegzugehen („Warum sitzt die da?“), und so fort, und so fort. Es zieht sich etwas.

Von links: Musiker Johannes Rieder, Christian Bayer (unscharf) und Emilia Reichenbach. (Foto: Katrin Ribbe/Theater Oberhausen)

Ein Bier

Die zärtlichen Umarmungen von Werther und Lotte in einigen späten Bildern, die es dann endlich doch noch gibt, wirken wenig glücklich und könnten möglicherweise auch als Sehnsuchts-phantasie verstanden werden. Schließlich ist nur noch der Musikus präsent, der, warum auch immer, mit nerviger Piepsstimme etwas über Liebe, Nähe, Berührungen erzählt. Dann geht er mit einem Zuschauer aus der zweiten Reihe ein Bier trinken, und das Stück ist aus.

Tragische Dimensionen fehlen

Was bleibt? „Sie konnten beisammen nicht kommen“ wie die beiden Königskinder im Volkslied, traurig, traurig. Doch wäre neben der schieren Emotion etwas mehr Klärung des Sachverhaltes willkommen gewesen. So blieb die Bezugnahme auf Werther recht beliebig, mit leichten Veränderungen hätte beispielsweise auch „Romeo und Julia“ zur Vorlage getaugt. In Goethes „Werther“ indes, nur leise sei es angedeutet, gibt es doch einige weitere tragische Dimensionen, die diese Oberhausener Produktion schlicht auslässt. Dabei ist das Stück mit seinem Leiden an der Welt (nicht nur in der Liebe) bekanntlich auch heute noch in hohem Maße jugendkompatibel, taucht immer wieder auf Spielplänen auf.

Bemerkenswerter Schauspieler

Im Spiel Christian Bayers deutet sich die Komplexität der Verzweiflung einige Male an, aber das ist eher das darstellerische Verdienst dieses bemerkenswerten jungen Mannes. Er hat wohl den größten Anteil daran, dass dieser Oberhausener Abend, wiewohl thematisch dünn, als unterhaltsames Schauspielertheater in Erinnerung bleibt, das dankenswerterweise ganz ohne Video-Einsatz oder Ähnliches auskommt (Ausstattung: Zahava Rodrigo, Kostüme: Magdalena Schön, Helen Stein). Das Premierenpublikum spendete naturgemäß begeisterten Beifall.

 




Heinz Mack und Goethe: Auf den Spuren des Lichts

„Mehr Licht!“ Diese letzten Worte auf dem Sterbebett wurden dem großen Johann Wolfgang von Goethe vermutlich nur angedichtet. Aber zweifellos war das Wirken gegen die Finsternis ein Leben lang eins der großen Themen des allseits verehrten Schriftstellers und Universalgelehrten, der zweimal, 1774 und 1792, das Städtchen Düsseldorf und den Freund Jacobi mit seiner Anwesenheit beehrte.

"Taten des Lichts": Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Heinz Mack in Düsseldorf. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

„Taten des Lichts“: Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Heinz Mack in Düsseldorf. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Mehr Licht gibt es nun endlich im zuvor stark eingestaubten Düsseldorfer Goethe-Museum: frische weiße Farbe, neue Lampen, helle Vorhänge – und ein neues Konzept. Was uns Goethe heute noch zu sagen hat, wie modern er ist, will Direktor Christof Wingertszahn im Schloss Jägerhof der Welt zeigen. Eine weithin leuchtende Kunstausstellung von Heinz Mack wird das Publikum locken – mit „Taten des Lichts“.

Dem Freigeist stets verbunden

Lichtkünstler Mack, der in diesen Tagen 87 Jahre alt wird, hat als reifer Mann, ganz wie einst der nimmermüde Goethe, nichts von seiner Leidenschaft eingebüßt. Es macht ihn wütend, dass die herrschenden westlichen Kuratorencliquen ihn und sein Werk so oft ignorieren. „Die gegenwärtige Kunst geht über ihn hinweg“, sagt er und spricht von sich in der in der dritten Person.

In der Tat würdigt man Mack zwar als Mitbegründer der legendären Gruppe Zero, die 1957 eine neue Klarheit in die wirre Nachkriegskunst brachte. Doch aktuell bevorzugt man Konzept, Installation und Video, befasst sich exzessiv mit Banalitäten und den Neurosen der Gesellschaft. Mack hingegen konzentriert sich ganz auf das, was er die „interstellaren Verhältnisse“ nennt. Man kann auch sagen, er feiert ganz zeitlos die Schönheit des Universums.

Dem alten Freigeist Goethe, der nebenbei auch ein begabter Zeichner war, fühlte sich der 1931 in Hessen geborene Mack schon als Unterprimaner verbunden. Neben Kunst an der Düsseldorfer Akademie studierte er Philosophie in Köln und gab seinen sicheren Job als Lehrer auf, um den Gedanken und dem Schaffen ungehinderten Lauf zu lassen.

Weiterer Blick in die Mack-Ausstellung des Düsseldorfer Goethe-Museums. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Weiterer Blick in die Mack-Ausstellung des Düsseldorfer Goethe-Museums. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Seine Inspiration fand Mack am Himmel über der Wüste, in der Arktis, auf Ibiza – und zu Hause in Mönchengladbach. Und während die Kollegen den Orient weitgehend vergaßen, beachtete er auch die Farben und Muster in der islamischen Kunst, die schon viel früher als der Westen die Abstraktion gefeiert hatte. „For an oriental mirror“, einen orientalischen Spiegel, malte er 2008 flirrende Ornamente. Auch Goethe wusste die morgenländische Kultur zu schätzen und widmete ihr die Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“.

Die Freiheit denkt abstrakt

Und siehe da: Obgleich Jahrhunderte zwischen den beiden Künstlern liegen, passen sie doch auf wundersame Weise zusammen. Denn Goethe hatte nicht nur als Jüngling so zum Spaß das „Bild eines Mädchens in umgekehrten Farben“ gemalt als sei’s eine Idee von Picasso, er arbeitete auch in der Abstraktion. Wie Mack setzte der Dichter und Denker eine Kugel auf einen Würfel und betrachtete das, unerhört für seine Zeit, als sinnhafte Skulptur. Jenseits alles Gegenständlichen erforschte er das Spektrum des Lichtes, entwarf geometrische Skizzen und ließ eine Reihe von konstruktiv anmutenden Karten drucken, deren nüchterne Schwarz-Weiß-Formen, durch ein Prisma betrachtet, an den Rändern farbig erscheinen.

Mack malte 1991 nach dem Vorbild der Goetheschen Experimentalkarten große Pastelle auf Bütten. Schon viel früher hatte er sich stolz auf das inspirierende Vorbild bezogen und 1964 die Farben des Regenbogens in einem großen Pastell „for Mr. Wolfgang von Goethe“ strahlen lassen. Ordnung und Freiheit, sieht man hier, können einander vortrefflich ergänzen. Das zeigen Raster, zwischen denen es golden schimmert, Fächer überlappender Farbquadrate, ein Keil in Ultramarin, der dreidimensional aus der Fläche hervortritt, oder ein schillerndes Gitter vor den Tönen eines Sonnenuntergangs. Der Maler ist ja auch ein Bildhauer, der in viele Städte seine Himmelszeichen gesetzt hat.

Wo das Blau ewig fließt

Es ist eine Lust, in Goethes Museum den Leuchtspuren des Meisters Mack zu folgen oder auch, wie er es oft ganz sachlich nennt, seinen „Chromatischen Konstellationen“. Im ersten Stock, der von den alten Vitrinen befreit wurde, sind die Farben in Bewegung geraten – mit Hilfe einer Technik, von der Goethe nur träumen konnte. Kinetische Lichtkunst, zum Teil in früheren Jahren entworfen, erzeugt hypnotische Effekte. Da fließt ein ewiges Blau, da schwirren bunte Kreise, da pulsiert ein Sonnengelb. Ganz sicher wäre Goethe begeistert gewesen, seine Theorie so herrlich bestätigt zu sehen: „Jede Farbe also, um gesehen zu werden, muss ein Licht im Hinterhalte haben“, notierte er.

Das gilt auch für Schwarz und Weiß, zeigt Heinz Mack mit einer Serie von monumentalen Bildern, die von Licht und Dunkelheit handeln. Ein schwarzer Planet schwebt da auf einem weißen Nebel, eine Raute steht deutlich im hellen Schein, und die kreisrunde „Black Rotation“ beweist, dass Schwarz keineswegs eintönig ist, sondern in vielen Nuancen schimmern kann, ganz nahe am tiefen Blau, aus dem auf wunderbare Weise die anderen Farben der Schöpfung entstehen.

Wir spüren es, ehe wir es sehen. Und wir empfinden vor Macks Bildern mehr, als wir beschreiben können oder sollen. Bei Goethe gibt es das passende Zitat: „Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat.“ Hingehen und ansehen!

„Taten des Lichts – Mack & Goethe“: 4. März bis 27. Mai im Goethe-Museum Düsseldorf, Schloss Jägerhof, Jacobistr. 2. Eintritt: 8 Euro. Di.-Fr. und So. 11 bis 17 Uhr, Sa. 13 bis 17 Uhr. Ein Buch zur Ausstellung erscheint demnächst im Verlag Hatje Cantz Verlag. 480 Seiten, ca. 50 Euro. Vortrags- und Begleitprogramm unter www.goethe-museum.de




Wege zur Klassik – eigens für Kinder und Jugendliche

Wenn Kinder auf Klassik treffen, begegnen sich in aller Regel fremde Welten. Was sagen der jungen Generation schon Namen wie Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist oder Herder?

Einige ihrer Werke stehen zwar in den Schulen auf dem Stundenplan – meist auch erst, wenn aus den Kindern Jugendliche geworden sind – aber das heißt ja noch lange nicht, dass bei jungen Lesern auch Interesse geweckt wird.

Der Kamener Schriftsteller Heinrich Peuckmann, gelegentlich auch Gastautor der „Revierpassagen“, hat jetzt einen schmalen Band herausgebracht, der einen durchaus auffordernden Titel trägt: „Entdecke die Klassische Literatur“.

Verständliche Kernaussagen

Peuckmann beschreibt einerseits das Leben der namhaften Schriftsteller und bringt andererseits die Inhalte ihrer wichtigsten Werke auf den Punkt. Die Stärke seines Buches liegt darin, dass er die meist komplexen Zusammenhänge auf ihre Kernaussagen konzentriert und dazu noch leicht verständlich schreibt. Da zeigt er bei einem – für manche Oberstufenschüler doch recht sperrigen – Werk wie „Iphigenie auf Tauris“ die eigentliche Essenz dieses Stücks auf, und der Leser ist gleich mittendrin in der Frage, was eigentlich Humanismus bedeutet.

Ebenso anschaulich gerät die Beschreibung von Goethes „Faust“, laut Peuckmann „vielleicht das wichtigste Werk der deutschen Literatur überhaupt“. Auch hier führt er durch ein komplexes Werk, um am Ende die eigentliche Intention und die Urfrage der Menschen, was nämlich wohl die Welt zusammenzuhalten vermag, ganz klar und deutlich herauszustellen.

Biographische Skizzen

Aber keine Sorge: Peuckmann nimmt nun nicht ein klassisches Werk nach dem anderen aus dem Regal, um sie dann alle nach und nach vorzustellen. Er skizziert vielmehr auch die Biographien berühmter Dichter und Denker. Dass der Leser über Schiller und Goethe dabei deutlich mehr erfährt als über Hölderin oder Kleist, ist selbstredend. Goethe hat nun mal einer Epoche seinen Stempel aufgedrückt und führte ein umtriebiges Leben.

Daher ist es schon fast eine Pflicht, auch von Goethes Privatleben, seinen Liebschaften und seinen experimentellen Ausflügen in die Naturwissenschaften zu erzählen. Peuckmann räumt Goethes Italienreise einen hohen Stellenwert ein, zumal es dem Dichter im Süden offensichtlich gelungen ist, die ihn damals plagende innere Schreibblockade aufzubrechen.

Am Ende erinnert Peuckmann daran, dass nicht weit entfernt von Weimar, wo Goethe, Schiller und andere Größen gelebt haben, das KZ Buchenwald liegt. Dort, vor den Toren der Stadt, herrschte während der Nazi-Herrschaft eine kaum vorstellbare Barbarei – und das in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Ort, der einst als Sammelpunkt für Schriftsteller galt, die das Ideal des Humanismus zum Ausdruck brachten.

Heinrich Peuckmann: „Entdecke die Klassische Literatur“. Autumnus-Verlag, 66 Seiten, 10,90 Euro.




Irrtum oder Plagiat? – Eine winterliche Spurensuche zwischen Goethe und Rosenkohl

Wir beginnen womöglich mit einem Goethe-Zitat, welches von winterlichen Verhältnissen kündet:

„Mir kommen diese Wintertage manchmal wie seltsam helle Nächte vor, in denen die Sonne zum Mond mutiert, in denen durcheinandergerät, was scheint und was beschienen wird. Vielleicht braucht es solche Tage, die wie Nächte sind, damit uns in einem erfrorenen Garten etwas wie Rosenkohl zum Lebenswert werden kann, der in der lottrigen Hütte unseres Weltvertrauens eine feste Schraube setzt.“

Kann auch keine Auskunft geben: die kleine Goethe-Büste im Regal. (Foto: Bernd Berke)

Kann auch keine Auskunft geben: die kleine Goethe-Büste im Regal. (Foto: Bernd Berke)

Wirklich sehr originell geschrieben, nicht wahr? Aber warum habe ich gesagt, es sei „womöglich“ ein Goethe-Zitat? Weil es zweifelhaft ist.

Die Fundstelle ist ein Buch, das ich gerade lese, genauer: Seite 38 in Bernd Brunners „Als die Winter noch Winter waren. Geschichte einer Jahreszeit“ (Galiani-Verlag; Rezension folgt demnächst). Dort wird obiges Zitat mit der lakonischen Feststellung eingeleitet: „Goethe schrieb:“

Das war mir zu lapidar. Ich wollte es gern etwas genauer wissen. Stammt der Abschnitt aus einem Brief oder aus einem fiktionalen Werk? Passt denn eine Formulierung wie „in der lottrigen Hütte unseres Weltvertrauens“ überhaupt in goethische Zusammenhänge? Ohnehin klingen besagte Zeilen staunenswert modern, als könnten sie vielleicht nicht aus der Goethe-Zeit herrühren (* siehe Schlussanmerkung).

Wegen solcher Fragen bin ich der Textstelle per Internet-Suchmaschine nachgegangen. Als offenbar einziger (!) Fundort tauchte ein Text aus der Wochenendausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 7. / 8. März 2015 auf. Er stammt vom Feuilleton-Redakteur Samuel Herzog und trägt die Überschrift: „Glücksmomente – In einem vereisten Garten“.

Herzogs Text endet just mit dem gesamten obigen Zitat, das doch angeblich von Goethe stammen soll. In der NZZ wird es nicht in Anführungszeichen gesetzt, müsste also demnach von Samuel Herzog stammen. Wäre dies nicht der Fall, müsste man von einem ziemlich dreisten Plagiat sprechen.

Für den langjährigen NZZ-Mann Herzog (zuständig für Bildende Kunst) kann man jedenfalls einiges ins Feld führen. Vor allem, dass der Absatz wohl nur ein einziges Mal in frei zugänglichen Netz-Quellen zu finden ist (auch das „Projekt Gutenberg“ und Google-Books habe ich durchsucht). Wären es wirklich Sätze von Goethe, so wäre das mehr als erstaunlich. Dessen Zitate werden doch sonst allseits um und um gewendet.

Außerdem hat sich Herzog schon vor der fraglichen Stelle eines ausgesprochen poetisierenden Stils befleißigt. Der Schluss wäre somit nicht unpassend. Und drittens hat er direkt vorher ganz korrekt aus einem Brief von Wilhelm Busch zitiert. Warum sollte er es mit Goethe anders gehalten haben?

Also hätte sich der Buchautor Bernd Brunner einigermaßen gründlich geirrt? Aber wie kann es sein, dass ihm ein Text aus der NZZ als Goethe-Zitat unterkommt? Sind ihm der Zettelkasten bzw. seine Dateien etwas wirr durcheinander geraten?

Fragen über Fragen. Welche Goethe-Kenner wissen Rat? Können eventuell Bernd Brunner oder Samuel Herzog nähere Auskunft erteilen?

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Nachtrag, ohne jeden Zusammenhang mit der Zitat-Frage: Offenbar hat die NZZ ihrem altgedienten Redakteur Samuel Herzog neuerdings gekündigt.

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* Die etwas Älteren wissen ja, welche Folgen ein Anachronismus in Bezug auf Goethe haben kann. Einst musste der frühere „Zeit“-Feuilletonchef Fritz J. Raddatz gehen, weil er in fahrlässiger Weise Goethe mit der Eisenbahn in Verbindung gebracht hatte. Besondere Ironie: Auch damals ging es um einen (parodistischen) Text der NZZ, den Raddatz für bare Münze genommen hatte.




Wenn Dichter baden gehen

Jeder Autor, der einmal ohne den geringsten Einfall auf ein leeres Blatt Papier gestarrt hat (jaja, heutzutage ist es der Bildschirm), der weiß: Auch der munterste Geist braucht gelegentlich Erholung an den Stränden ordinärer Lebenslust. Angeregt durch die Ferienzeit und eine kleine Ausstellung im Düsseldorfer Heine-Institut würdigen wir die „Dichter in Badehosen“.

„Stilles Gestade, so nahe dem heftigsten Getriebe“: Der Schriftsteller Heinrich Mann (Mitte) plaudert mit seiner Frau Nelly und einem Freund 1935 am Strand von Nizza. Foto: Feuchtwanger Memorial Library/University of California

„Stilles Gestade, so nahe dem heftigsten Getriebe“: Der Schriftsteller Heinrich Mann (Mitte) plaudert mit seiner Frau Nelly und einem Freund 1935 am Strand von Nizza. (Foto: Feuchtwanger Memorial Library/University of California)

Aber was heißt hier Badehosen? Schon Johann Wolfgang Goethe, der Übervater des deutschen Bildungsbürgers, riss sich gerne sämtliche Kleider vom Leibe, um sich frei zu fühlen. Bei einer Reise durch die Schweiz 1775 hatten es ihm seine Freunde Friedrich Leopold und Christian von Stolberg vorgemacht, „die guten harmlosen Jünglinge“. Goethe notierte, dass er sich „halb nackt wie ein poetischer Schäfer oder ganz nackt wie eine heidnische Gottheit“ in Schweizer Seen tummelte – leider nicht weit genug von der Zivilisation entfernt. Entrüstete Anwohner sollen mit Steinen geworfen haben.

Heinrich Heine, Goethes junger und von ihm nie adäquat beachteter Düsseldorfer Kollege, reiste häufig an die Nordsee, um, bevor es ihn nach Paris verschlug, seine zarte Gesundheit zu stärken. Im Juli 1826 auf Norderney lernte er sogar schwimmen – wir wissen nicht, welches Outfit er dabei trug. Aber: „Das Meer war so wild, dass ich oft zu versaufen glaubte“, schrieb er mit jungenhaftem Stolz an seinen Hamburger Verleger Julius Campe. Die Brandung verschaffte Heine ein Hochgefühl. „O wie lieb ich das Meer“, schwärmte er im folgenden Herbst in einem Brief an seinen Dichterfreund Karl Immermann, „… und es ist mir wohl, wenn es tobt.“

Ganze Gedichtzyklen Heines sind vom Meer inspiriert, er besang „Poseidon“ und das „Seegespenst“, den „Untergang der Sonne“ und den „Gesang der Okeaniden“. Man kann also nicht sagen, dass der Müßiggang am Strand die Kreativität vernichtet. Ganz im Gegenteil. Hermann Hesse, ein früher Verfechter der Freikörperkultur, schrieb liebevolle Betrachtungen über seine „Jahre am Bodensee“ (1904-1912), in der Nähe des Wassers entstanden Romane und schwelgerische Verse: „Seele, Seele, sei bereit!“

Mannsbild in Badehosen: Der Heimatdichter Wilhelm Schäfer 1911 am Bielersee (Schweiz). Er war ein Freund von Hermann Hesse und schrieb schwärmerische Texte über Seen und Berge. (Foto: Rheinisches Literaturarchiv/ Heine-Institut)

Mannsbild in Badehosen: Der Heimatdichter Wilhelm Schäfer 1911 am Bielersee (Schweiz). Er war ein Freund von Hermann Hesse und schrieb schwärmerische Texte über Seen und Berge. (Foto: Rheinisches Literaturarchiv/ Heine-Institut)

Hesses Freund Wilhelm Schäfer, ein vollbärtiges Mannsbild, liebte die Sommerfrische in Süddeutschland und der Schweiz. „Auch der See, in der Nähe kristallgrün, ging wie blaue Seide in die Tiefe hinein …“, schrieb er 1931 in „Wahlheimat“. Seine volksverbundene Prosa gefiel später leider auch den Nazis. Geplagt von Finanzsorgen und Schnaken, verbrachte der Rechtsanwalt Heinrich Spoerl 1931 einen dreiwöchigen Urlaub am Starnberger See, badete nur bis zur Taille („der See ist ziemlich kühl“) und hatte die Idee zu einer heiteren Pennälergeschichte, die als verfilmter Roman eine Legende wurde: „Die Feuerzangenbowle“.

Thomas Mann, der im Schutze eines Strandkorbs mitunter sogar den feinen Sommeranzug ablegte und im Badetrikot mit Sockenhaltern in der Sonne saß, stattete seine berühmtesten Helden mit Meeresliebe aus. „Tonio Kröger“ ließ er die „geheimnisvoll wechselnden Mienenspiele“ sehen, „die über des Meeres Antlitz huschen“. Und Hanno, Sprößling der „Buddenbrooks“, liebt „dieses zärtliche und träumerische Spielen mit dem weichen Sande, der nicht beschmutzt, dieses mühe- und schmerzlose Schweifen und Sichverlieren der Augen über die grüne und blaue Unendlichkeit hin …“

Auch Manns Bruder Heinrich, der, wie viele verfolgte Intellektuelle, an der südfranzösischen Ferienküste vorübergehend den Naziterror vergessen konnte, fand große Worte für das Stranderlebnis: „Das Meer, sein tiefer Atem, seine windige, … ersterbende Bläue und dieser Glanz von abendlich feuchtem Gold …“. Ein anderer Emigrant, der kämpferische Dichter und Dramatiker Bertolt Brecht, hatte schon 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, dem Schwimmen ein Gedicht gewidmet: „Der Leib wird leicht im Wasser“, schrieb er da, und es ist, als befreite das Baden den Denker von den drückenden Problemen der Zeit: „Natürlich muss man auf dem Rücken liegen / so wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen. / … / Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut / wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt.“

Info:
Angeregt wurde dieser Text von einer Treppenhausaustellung im Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Bilker Str. 12-14: „Dichter in Badehosen“ bis 11. September 2016, Di.-So. 11 bis 17 Uhr (Sa. 13-17 Uhr).

Büchertipps:
Heinrich Heine: „O wie lieb ich das Meer – Ein Buch von der Nordsee“, herausgegeben von Jan-Christoph Hauschild, Hoffmann und Campe. 128 Seiten. Vergriffen, aber antiquarisch und als E-Book ab etwa drei Euro über das Internet erhältlich.
Hermann Hesse: „Jahre am Bodensee – Erinnerungen, Betrachtungen, Briefe und Gedichte“. Herausgegeben von Volker Michels mit Bildern von Siegfried Lauterwasser. Insel Verlag. 238 Seiten. 28 Euro.




Auf der Suche nach den lustigen Momenten – „Faust“ am Westfälischen Landestheater

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Ein leidender Faust, ein lauernder Mephisto: Bülent Özdil (links) und Guido Thurk bei den Proben (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Bunt, wie Andy Warhol es einst malte, beherrscht ein riesiges Portrait das Bühnenbild: Johann Wolfgang von Goethe, Schöpfer des „Faust“, deutsche Dichterikone. Auch die Figuren des Stücks, bunt gekleidet in farbenfroher Kulisse, haben optisch ihre Individualität verloren und somit einen gewissen Ikonencharakter angenommen. Und im Spiegel sieht Gretchen späterhin statt ihres Gesichts eine Warhol-Marilyn, Inbegriff der Pop-Ikone.

Wir sollen, ahnt man früh, bar allen Beiwerks so etwas wie die Essenz des Stoffs erleben. Knappe zwei Stunden braucht Gert Becker (Regie) für seine „Faust“-Inszenierung am Westfälischen Landestheater. Das ist knapp bemessen, da darf nicht gebummelt werden. Positiver Effekt für das Publikum, das sei schon hier verraten: Langweilig wird diese Inszenierung zu keiner Minute.

Spruchweisheiten

In Castrop-Rauxel redet das faustische Personal noch getreulich in des Dichters Versen, nur hier und da wird mal ein aktuelles Halbsätzchen eingestreut. Doch da der Text passagenweise rigoros zusammengestrichen wurde, klingt das häufig wie die plumpe Reihung abgenutzter Spruchweisheiten. Goethe wurde halt gern zitiert. Einige Szenen fehlen ganz, etwa die in Auerbachs Keller. Doch Becker, ist zu lesen, wollte sich ganz auf Teufelspakt und Gretchen-Tragödie fokussieren und „die komischen Momente“ auf die Bühne bringen, die er im Stück in reicher Zahl erkennt. Das ist ein ehrgeiziges Unterfangen, das dem Stoff möglicherweise nicht ganz gerecht wird.

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Proben, Ensembleszene (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Zum Teil aber schon: Mephisto, stets auf der Suche nach waidwunder Seelen-Beute, verführt den unglücklichen Intellektuellen Faust nach Strich und Faden, und es ist ein großes Vergnügen, ihm bei der Arbeit zuzusehen. Guido Thurk, im roten Anzug, brilliert in der Rolle des Teuflischen, verwirrt mit Schmeicheleien und entwaffnender Ehrlichkeit, ist heimliche Hauptfigur dieses Theaterabends, auch wenn er der Versuchung widersteht, die ebenfalls untadelig aufspielenden Bülent Özdil (Faust) und Samira Hempel (Gretchen) „an die Wand zu spielen“. Der Mephisto ist eben eine sehr dankbare Rolle, wie es seit Gustaf Gründgens viele weitere Schauspielkünstler gezeigt haben.

Gretchens Schicksal ist nicht komisch

Etwas problematischer, um auf die „komischen Momente des Stücks“ zurückzukommen, ist sicher das Schicksal Gretchens. Faust verführt sie, schwängert sie, lässt sie dann sitzen und bestätigt so, Mephisto hin oder her, das Motto „Männer sind Schweine“. Dass Gretchen, deren ehrliche Schlichtheit Faust zunächst betörte und die er gern „mein Kind“ nannte, in der Folge zur verzweifelten Kindsmörderin wird, ist nachvollziehbar und beim besten Willen kein komischer Moment. Auch wenn man, was Becker hier offenbar versucht, den „Faust“ als so etwas wie eine Abfolge von Ereignis-Ikonen liest, wird dieser tragische Handlungsstrang nicht lustiger. Doch mag das Publikum dies diskutieren; die klare Erzählstruktur der Inszenierung lädt dazu ein.

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Vom Teufel geritten – Faust (Bülent Özdil) und Mephisto (Guido Thurk) (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Elke Königs schnörkellose Bühne, deren gedämpfter Apricot-Farbton die bunten Kostüme der Mitwirkenden sehr schön hervortreten lässt, ist erkennbar eine für das Tourneetheater, schnell auf Lastwagen verpackt und schnell aufgebaut. Die häufigen Auf- und Abtritte der Personen erfolgen durch zwei große, elektrisch angetriebene Schiebetüren in der Kulissenhinterwand, und wie dort mit geringstem Aufwand, mit farbigem Licht und etwas Nebel im besten Sinne Stimmung geschaffen wird, beeindruckt; vielleicht allerdings hätte es dem Fluss des Spiels zumal nach der Pause gutgetan, die Zahl der Personenwechsel etwas zu reduzieren.

Großartiges Komödiantentum

An den wohl heitersten Teilen dieses Abends hat Vesna Buljevic in der Rolle der Marte ihren nicht geringen Anteil; wie sie, die rüstige Witwe, sich Mephisto an den Hals wirft, dass diesem Angst und bange wird, um im nächsten Moment recht tugendsam die Augen zu senken, das ist großartiges Komödiantentum. Doch auch die anderen gefallen: Thomas Zimmer, Pia Seifert, Thomas Tiberius Meikl und Felix Sommer liefern eine homogene Ensembleleistung ab, mit der sich das Westfälische Landestheater allemal sehen lassen kann.

Reicher, begeisterter Schlussapplaus.

www.westfaelisches-landestheater.de

Weitere Termine:

  • 12.05.2016 19.00h Meinerzhagen Stadthalle
  • 25.10.2016 19.30h Hamm Kurhaus
  • 28.10.2016 11.00h Hattingen Gebläsehalle des Industriemuseums
  • 15.11.2016 20.00h Ratingen Stadttheater
  • 17.11.2016 19.30h Lüdenscheid Kulturhaus
  • 22.11.2016 9.00h Castrop-Rauxel Stadthalle
  • 22.11.2016 13.30h Castrop-Rauxel Stadthalle
  • 25.11.2016 20.00h Wetzlar Stadthalle
  • 13.12.2016 19.00h Iserlohn Parktheater
  • 15.12.2016 19.30h Rheine Stadthalle
  • 26.01.2017 20.00h Recklinghausen Ruhrfestspielhaus
  • 08.02.2017 19.30h Solingen Theater und Konzerthaus
  • 22.05.2017 10.00h Castrop-Rauxel Studio
  • 22.05.2017 14.00h Castrop-Rauxel Studio



Verführung durch die Macht: Klaus Manns „Mephisto“ im Düsseldorfer Schauspiel

Wenn Theaterfotos honorarpflichtig sind, zeichnet schon mal die Rezensentin: "Mephisto"-Ansicht von Eva Schmidt.

Wenn Theater-Pressefotos honorarpflichtig sind, dann zeichnet schon mal die Rezensentin selbst: „Mephisto“-Ansicht von Eva Schmidt.

Der Schauspieler lebt in der Garderobe. Die Lämpchen am Frisierspiegel leuchten, wenn er mit wechselnden Gesichtern hineinblickt.

Manchmal ist es die weiße Maske des Teufels mit eckigen Augenbrauen, die ihm entgegengrinst. Da schaudert es den Schauspieler vor der dunklen Seite in sich selbst und er führt lieber einen lustigen Stepptanz auf. Denn es ist für ihn ein Leichtes, die Charaktere zu wechseln wie die Kostüme.

Seine Beziehung zur Außenwelt besteht ohnehin nur in einem roten Vorhang, der sich manchmal öffnet. Dann blickt der Schauspieler in einen dunklen Raum, geblendet von den Scheinwerfern, die auf ihn gerichtet sind. Die Menschen, die dort sitzen, sind für ihn nur Schemen. Doch er muss für sie leuchten – wie ein Glühwürmchen.

Die Theatergarderobe als Schauplatz für ein Stück über die Verführung des Künstlers durch die Macht: Am Düsseldorfer Schauspielhaus hat Regisseur Thomas Schulte-Michels diese Szenerie gewählt, um Klaus Manns Roman „Mephisto“ in Szene zu setzen. Er erzählt die Geschichte von Hendrik Höfgen, der im dritten Reich zum Star wird, weil er Karriere auf der Bühne machen will. Das gelingt ihm auch, doch verstrickt er sich: Wen verrät er, wem hilft er in der Diktatur?

Kann man sich als Künstler einfach raushalten aus der Politik? Gewiss nicht. Und so wird aus dem Komödianten ein Mitläufer. Als Vorbild für „Mephisto“, die Paraderolle von Höfgen, galt Gustaf Gründgens, der Goethes Teufel auf unvergleichliche Weise interpretierte – während der Nazizeit und nach dem Krieg. Nach ihm ist der Platz am Düsseldorfer Schauspielhaus benannt, wo er von 1947 bis 1955 Intendant war. In der zweiten Premiere der Saison steht dort nun wieder ein Stoff zur Nachkriegsgeschichte und Nachkriegsschuld auf dem Programm, der ebenfalls im Umfeld der Familie Mann angesiedelt ist.

Foto: E. Schmidt

Das Düsseldorfer Schauspielhaus (Foto: E. Schmidt)

Moritz Führmann spielt Höfgen als cleveren Manipulator: Für seinen Vorteil schlüpft er in jede Rolle, sei es die des Schmeichlers, Liebhabers oder Bewunderers. Er macht sich klein, er bläst sich auf. Doch er kann auch arrogant und fordernd sein, zum Beispiel wenn es um seine Gage geht. Wenn es ihm opportun erscheint, liebäugelt er mit dem Kommunismus, doch lieber wäre er vom Großbürgertum anerkannt. Leider kann er in diesen Kreisen nicht wirklich reüssieren, denn er bleibt doch immer nur ein Komödiant.

Lustvoll spielt Führmann auch die quälende, die ausschweifende Seite dieser im Grunde unsicheren Existenz aus. Wenn er sich von seiner Geliebten und Domina mit der Peitsche traktieren oder vor seiner Frau Barbara die Hosen runterlässt, genießt er die Scham, ergötzt er sich an der eigenen Demütigung. Führmann setzt das ganz physisch um, dieses Sich-klein-Machen, aber auch das Über-sich-Hinausschießen. Die Schwäche und ihre Zwillingsschwester, die Grausamkeit.

Menschen umschwirren „Mephisto“ wie Motten das Licht: Da die Hauptfigur Höfgen so sehr im Mittelpunkt steht, bleiben für den Rest des Ensembles leider nur Nebenrollen übrig, die Aufstieg und Fall der Hauptrolle illustrieren müssen. Dirk Ossig, Sven Walser, Andreas Weissert, Maya Alban-Zapata, Anna Beetz, Katharina Lütten, Louisa Stroux und Hanna Werth geben Kollegen, Weggefährten, Ehefrau, Geliebte und den Theaterdirektor mit Hingabe und Spiellust, doch Höfgen ist ihr Hexenmeister bei diesem Tanz auf dem Vulkan. Er ist der Geist, der stets verneint, so ist denn alles, was man Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, sein eigentliches Element…

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




„Hier bin ich! Hier darf ich!“ – Wie Robert Wilson und Grönemeyer „Faust“ verjuxen

Während das Publikum noch Platz nimmt, wabern schon wilde Rock-Rhythmen und Folk-Balladen durch den Saal. Auf der Bühne posieren aufgekratzte Mimen, trällern ein Liedchen, wirbeln munter durcheinander.

Sie suchen sich und ihre Rolle, wollen auffallen und gefallen, denn „ihr wisst, auf deutschen Bühnen / probiert ein jeder, was er mag“. Goethes „Vorspiel auf dem Theater“ als chaotische Casting-Show und „Faust I und II“, die deutscheste aller deutschen Theater-Tiefbohrungen als munteres Musical. Das kann ja heiter werden.

Konfrontation: Faust (Fabian Stromberger, li.) und Mephisto (Christopher Nell). (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Konfrontation: Faust (Fabian Stromberger, li.) und Mephisto (Christopher Nell). (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Wird es auch. Denn der Theater-Regisseur, Möbel-Bauer und Licht-Designer Robert Wilson bolzt gut gelaunt und frei von jedes Gedankens Blässe im Berliner Ensemble die absolute Kurzversion eines überdimensional langen Textes auf die Bühne. Wofür Dichterfürst Goethe 500 Druckseiten und über 12.000 Verse benötigte und was in der legendären Expo-2000-Inszenierung von Peter Stein 14 Stunden dauerte: Bei Bob Wilson fliegt Goethes Mysterien-Ritt – vom Himmel über die Erde in die Hölle – in knappen vier Stunden dahin.

Dramaturgin Jutta Ferbers hat ganze Arbeit geleistet und mit der Axt alles weggeholzt, was nicht in Gesang und Tanz umgedeutet werden kann. Was es auf sich hat mit dem Gelehrten, der sich mit dem Teufel einlässt, warum Leidenschaft und Verstand, Genie und Wahnsinn, Versuchung und Verfehlung miteinander ringen: alles einerlei. Wer Goethes „Faust“ nicht kennt, wird ihn hier nicht finden.

Dafür aber (und das mutet paradox an, hatte doch BE-Intendant Claus Peymann jüngst wieder heftig gegen „Event“-Kultur polemisiert) bescheren Regisseur Wilson und Musiker Herbert Grönemeyer dem unterhaltungswilligen Publikum einen äußerst kurzweiligen Szenen-Reigen, bei dem deutscher Rock und kerniger Chorgesang einen faustischen Pakt eingehen und alle laut jubilieren: „Hier bin ich! Hier darf ich! Hier bin ich Mensch! Hier darf ich´s sein!“: Yeah! That´s Great! Gimme Five!

Szene mit (v. li.) Alexander Wanat, Joshua Seelenbinder, Nicolaas van Diepen, Marvin Schulze und Christopher Nell. (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Szene mit (v. li.) Alexander Wanat, Joshua Seelenbinder, Nicolaas van Diepen, Marvin Schulze und Christopher Nell. (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Faust gibt es gleich in vierfacher Ausführung, Grete wird verdreifacht, Valentin verdoppelt: Das macht zwar keinen Sinn, wirkt aber irgendwie dynamisch. Da kann man die Text-Happen auch noch kleiner hacken und aufteilen und zudem mehr Akteure punktgenau mit dem Scheinwerfer ausleuchten und aus dem sinnfreien Bühnen-Gemurkse ein geheimnisvolles Gemälde aus Licht und Schatten machen.

Außerdem fällt dann nicht so ins Auge, dass Bob Wilson diesmal vor allem mit Schauspiel-Schülern arbeitet und sich weder für das komplizierte Stück noch für die komplexe Sprache Goethes interessiert.

Einzig Mephisto, gespielt von Christopher Nell, gewinnt Kontur und Farbe: ein androgyner, sanft salbadernder und hinterhältig grinsender Spielleiter, der alle anderen, vielfach geklonten Menschen-Monster durchs Geschehen schubst. Mal greift Mephisto den süffisant singenden Engeln an die Brüste, mal schaut unter dem Gewand eines Bischofs ein riesiger Penis hervor.

Das soll komisch sein, ist aber doch nur bieder. So wie die Musik von Grönemeyer, die schenkelklopfend lustig und selbstironisch sein möchte, aber doch nur mit ein paar wenigen Noten und simplen Melodien auf der Stelle tritt. „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche, / Hier wird´s Ereignis“, singt der „Chorus Mysticus“ zum großen Finale. Besser hätte man die Kritik an der ziellos durchs Faust-Mysterium flatterten Inszenierung nicht formulieren können.

Berliner Ensemble, nächste Vorstellungen am 17., 18., 19., 22. Mai., 14.,15.,16. Juni, Karten unter 030/28 40 81 55.

  • „Faust I und II“ ist die zweite Zusammenarbeit des 1941 geborenen US-amerikanischen Regisseurs, Architekten und Licht-Designers Robert „Bob“ Wilson mit dem 1956 geborenen deutschen Musiker und Schauspieler Herbert Grönemeyer.
  • Wilson und Grönemeyer begegneten sich zum ersten Mal 1978 am Schauspielhaus Köln, wo Wilson sein „CIVILwarS“-Projekt inszenierte und Grönemeyer als Schauspieler und Musiker tätig war.
  • Bereits für Bob Wilsons Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena“ (2003 am Berliner Ensemble) schrieb Grönemeyer die Songs.
  • Grönemeyer befindet sich damit in einer Tradition von bekannten Singer-Song-Writern, die für Bob Wilsons Inszenierungen Lieder schrieben: David Byrne („The Forest“, 1988), Tom Waits („The Black Rider“, 1990, „Alice“, 1992, „Woyzeck“, 2000), Lou Reed („POEtry“, 2000, „Lulu“, 2011).



Glücksoptimierungsrausch: Goethes „Wahlverwandtschaften“ in Düsseldorf

Wie würden Eduard und Charlotte heute leben? Ja, vielleicht hätten sie ein Haus am See, eine Terrasse, belegt mit Bankirai-Dielen und direktem Schwimmeinstieg ins Wasser. Einen offenen, unverbauten Blick zum Beobachten von Booten und Vögeln. Und sehr viel Geld, um die Luxusimmobilie nach den neusten Design-Ideen zu gestalten.

Doch was, wenn die Anlage vollendet und der Sommer noch nicht zu Ende wäre? Dann langweilten sie sich vielleicht in ihrer schönen neuen Welt und hätten das Bedürfnis, sie anderen zu zeigen. Dann lüden sie vielleicht Freunde ein wie den Hauptmann, der gerade einen beruflichen Durchhänger hat, und hülfen ihm dabei, ein wenig zu relaxen und wieder nach vorne zu sehen. Oder die Nichte Ottilie käme zu Besuch, die, sonst ins Internat gesperrt, auf diese Weise einmal familiäre Geborgenheit erleben könnte.

Foto: Tim Reckmann/pixelio.de

Foto: Tim Reckmann/pixelio.de

Oliver Reese hat für das Schauspielhaus Düsseldorf eine Bühnenfassung von Goethes „Wahlverwandtschaften“ erarbeitet und diese bereits in der letzten Saison inszeniert, indem er Bühne (Hansjörg Hartung) und Kostüme (Elina Schnizler) in die heutige Zeit übertragen, den Goetheschen Text aber beibehalten hat. Nun wurde die Inszenierung wieder aufgenommen – zum Glück, denn Bearbeitung und Inszenierung lassen Goethes Sprache leuchten und erzählen zugleich ein packendes Partnertausch-Drama von heute.

Denn leider kommt es, wie es kommen musste: Eduard verfällt der minderjährigen Nichte seiner Frau in einem nahezu wahnhaften Liebesrausch. Großartig, wie der Schauspieler Andreas Patton diesen unernsten Mann in der Midlife-Crisis spielt, der in einer unfassbaren Egozentrik seine Gefühlsregungen absolut setzt, der (Geld)sorgen des Alltags völlig enthoben.

Doch seine Frau Charlotte (Bettina Kerl) ist ebenfalls kein besserer Mensch: Sie wird vom Hauptmann (Rainer Galke) magisch angezogen, der einen dieser Anzugträger verkörpert (vielleicht aus dem politischen Betrieb), die von ihrer Karriere derart vereinnahmt werden, dass sie schlecht damit zurechtkommen, wenn diese einmal stockt. So erscheint dem Hauptmann das Leben seiner Freunde, der sorgenlosen Privatiers, als Paradies und Hausherrin Charlotte als die schönste Frau auf Erden, weil er sich einfach zu lange nach gar keiner mehr umgesehen hat.

Das Mädchen Ottilie (Mareike Beykirch) schließlich, gewohnt, sich als unwichtige Pensionatsschülerin zu fühlen, erlebt plötzlich ihre Macht und Wirkung auf Männer und genießt das neue Spiel, was sie mit Bescheidenheit tarnt. Und so werden diese vier Menschen wie im Goetheschen Gleichnis als chemische Elemente unweigerlich voneinander angezogen, die in neuer Umgebung auch neue Verbindungen eingehen müssen – ob sie wollen oder nicht: Wahlverwandtschaften eben. Oder zwanghafter Glücksoptimierungsrausch?

Mit tragischem Ende: Selbst die 15jährigen Schulmädchen in der Reihe hinter uns, die mit einer gewissen „Fuck you Goethe“-Haltung an die Darbietung herangegangen sind, werden nun unweigerlich vom Geschehen auf der Bühne gepackt: „Ach du Scheiße, jetzt ist die schwanger – hab ich mir doch gleich gedacht“. Ihre Sitznachbarin: „Ja, voll krass, jetzt rastet der Typ bestimmt total aus.“

Und tatsächlich: Baron Eduard, außer sich, dass das Kind, das seine Frau erwartet, die Pläne, die er mit Ottilie hat, durchkreuzen könnte, steigert sich umso mehr in seinen Liebeswahn. Er verlässt sein Schloss, verwahrlost und entrückt versucht er, durch Yoga-Übungen seine Mitte wieder zu finden – die er leider schon vorher nie besessen hat.

In der letzten Szene sitzen die vier dann in Trauerkleidung auf der idyllischen Terrasse und blicken deprimiert auf den See. Das Kind, der kleine Otto, ist ertrunken und niemand hat sein Glück gefunden. Im Gegenteil: Sie haben es selbst zerstört. Vielleicht, weil sie zuviel wollten?

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Keine Dichtung, nur Wahrheit – Rüdiger Safranskis Goethe-Biografie

Dieses Buch ist ein Gegenentwurf zur Kurzbotschaft des Digitalzeitalters. Es fordert, was wir gewöhnlich vernachlässigen: Aufmerksamkeit und Geduld. Auf 752 eng bedruckten Seiten erzählt der in Rottweil geborene und in Berlin lehrende Philosoph, Germanist und Autor Rüdiger Safranski (65) von Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), dem Gottvater unserer Literatur, und einem, wie Safranski sagt, „Ereignis in der Geschichte des deutschen Geistes“.

zgbdc5-6bgishpkjyo17vwthkyo-original-2-Endloses wurde bereits über den Dichter geforscht und geschrieben, immer noch lädt er den Alltag der Nation mit Bedeutung auf. Kein Abreißkalender kommt ohne Goethe-Spruch aus, und irgendein Fetzchen seines Werks ist wohl in jedem Kopf hängengeblieben: „Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest Du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest Du auch.“ Auch Safranski zitiert das berühmte kleine Gedicht, das der von Amouren und Zweifeln wieder einmal aufgewühlte junge Wanderer Goethe im September 1780 an die Wand einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn in der Ilmenau schrieb – und das er am Tag vor seinem 82. Geburtstag 1831 wiederentdeckt, tief gerührt. „Tränen flossen über seine Wangen“, verrät der ortskundige Verwaltungsbeamte Johann Christian Mahr, der dem rüstigen Prominenten als Pfadfinder diente.

Safranski berichtet nur, was er aus ersten Quellen belegen kann. Er verzichtet auf romanhafte Ausschmückungen. Dass er flüssig und allgemeinverständlich formuliert, heißt nicht, dass er fabuliert. Als unbeirrbarer Wissenschaftler bleibt er stets auf der Spur des Nachweisbaren, sämtliche Zitate werden im Anhang sorgsam zugeordnet. Wer schwärmen will von der Lovestory zwischen dem Lockenköpfchen Lotte Buff und dem verkrachten Jura-Studenten Goethe, der sollte sich lieber Philipp Stölzls rasanten Spielfilm „Goethe!“ angucken. Und in die unerfüllte, etwas peinliche Leidenschaft des alten Dichters für die 17-jährige Ulrike vertieft man sich besser mit Martin Walsers nachfühlender Erzählung „Ein liebender Mann“.

Bei Safranski landet die Empfindung immer wieder auf dem trockenen Feld der unumstößlichen Fakten, die er allerdings mit einmaliger Souveränität zu einem Ganzen fügt. Was er dem fleißigen Leser dabei vorführen will, ist nicht nur Goethes Rang als Denker und Literat, sondern auch die Fähigkeit, ein gelungenes Leben zu führen – in einer sich dramatisch verändernden Zeit zwischen dem Rokoko bis zum Einbruch der Moderne.

In 34 Kapiteln folgt Safranski seinem Idol – von der Frankfurter Kindheit als „Hätschelhans“ einer temperamentvollen Mama über das vom Vater misstrauisch gelenkte Jura-Studium bis zu den großen literarischen Erfolgen, die Goethe allerdings nie von anderen Beschäftigungen abhielten. Mit schwankender Vehemenz war er auch Politiker und Geheimrat, Zeichner und Theaterleiter, Bergbau- und Militärexperte, Naturwissenschaftler, Farbenforscher – und Abenteurer. „Meine Schriftstellerei subordiniert sich dem Leben“, stellte er selbst nüchtern fest. Und Safranski schildert nicht nur den jungen Goethe als einen Menschen, „der nach Lust und Laune vieles anfing, manches Unfertige liegen ließ“. Obgleich er ständig seine Kladden mit Eingebungen füllte, hätte Goethe, der Heißsporn, vermutlich nicht den Nerv gehabt, ein solch gewissenhaftes, dienendes Werk wie Safranskis Biografie zu erarbeiten.

Tatsächlich hat er ein ganzes Leben gebraucht, um aus dem alten Kasperletheater vom Gelehrten, der sich mit dem Teufel verbündet, seinen zweiteiligen „Faust“ zu machen, das bekannteste deutsche Drama schlechthin. Philosophie und Fantasy, Liebeswahn und Todesfurcht, Lyrik und Action, das Banale und das Erhabene werden mit diesem Gedankenspiel in einmaliger Dichte abgehandelt. Dabei betont Safranski, dass der Freigeist Goethe so wenig an den Teufel glaubte wie an einen „überweltlichen Gott“. Mephisto, „der Geist, der stets verneint“, bewahre lediglich den Menschen vor Erschlaffung. „Das Prinzip Mephisto gehört also zum Menschen“, stellt Safranski fest. Goethes Gott war die Natur in ihrer schöpferischen Kraft. „Tätigkeit ist deshalb der wahre Gottesdienst“, schreibt Safranski. Goethe formulierte dazu in der Tragödie zweitem Teil einen seiner unsterblichen Sätze: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, flöten die Engel und retten den alten Sünder vor dem Höllenschlund.

Immer weitermachen, arbeiten, schöne Frauen lieben, Freundschaften schließen und Teltower Rübchen essen – das war vielleicht auch Goethes Art, dem Schicksal zu trotzen. Wie die meisten seiner Zeitgenossen hatte er bedrohliche Krankheiten und ungeheure Verluste zu verkraften. Von fünf Geschwistern überlebte nur die Schwester Cornelia. Vier seiner eigenen fünf Kinder wurden nur wenige Tage alt, und Christiane, seine sinnenfrohe, tolerante und nicht ganz standesgemäße Ehefrau, starb früh nach langer Krankheit. Trotz gewisser Rivalitäten hatte Goethe auch der Tod seines Freundes und Kollegen Friedrich Schiller 1805 tief getroffen. Aber er wandte sich immer wieder neuen Menschen, neuen Eindrücken zu. „Er liebte das Lebendige“, schreibt Safranski. Alles wurde dem Dichter zur Inspiration. „Ein Augenblick, in eine Form gebracht“, so Safranski, „ist gerettet.“

Was Goethe hemmungslos tat – Dichtung und Wahrheit vermischen – ist für Safranski tabu. Doch so streng er das Biografische auf Beweisbares reduziert, so frei entfaltet sich der Professor in seinen Interpretationen ausgewählter Goethescher Werke. Da hätte man die eine oder andere vorlesungsartige Passage getrost straffen können. Aber zum Glück macht die klare, mit Stichworten versehene Gliederung des Buchs auch ein gezieltes Lesen nach Interessenslage möglich. Eine Chronik am Ende schafft Ordnung. Wer immer strebend sich bemüht, wird viel von diesem Buch haben.

Rüdiger Safranski: „Goethe – Kunstwerk des Lebens“. Biografie. Hanser Verlag. 752 Seiten, 27,90 Euro.




Schönes Gefühl: Sämtliche Gedichte unseres Herrn von Goethe in zeitlicher Abfolge

Manchmal überkommt es mich, dann will mein Bildungsbürgerdasein ans Licht, und so habe ich mir in der Buchhandlung meines Vertrauens das Insel-Taschenbuch mit sämtlichen Gedichten des Herrn Goethe „in zeitlicher Folge“ zugelegt. Das ist natürlich ein interessantes Sammelsurium von wechselnder Qualität, aber immer Goethe.

Goethe

Was ist es doch für  ein schönes Gefühl, einen Dünndruckband mit dem feinen Papier in den Händen zu halten, vorsichtig zu blättern und bei bekannten und unbekannten Textstellen hängen zu bleiben, gar nicht zu vergleichen mit dem Wisch-Computer in der Hand. Neulich habe ich im Fernsehen gesehen, wie ein Kita-Bursche versuchte, mit der typischen Smartphone-Bewegung im gedruckten Bilderbuch die Zeichnung von Rotkäppchen zu vergrößern.

Also Goethe. In zeitlicher Folge heißt natürlich, dass nicht nur Meisterwerke, sondern auch die Schülerreime vertreten sind, ebenso seine anzüglichen Sachen und alle Gelegenheitsverse, die er zu Geburtstagen oder ähnlichen Gelegenheiten verfasst hat. Und immer wieder diese unendliche Weisheit, die alles erklärt, was zum Menschsein gehört. In einem Brief an die Gräfin Auguste zu Stolberg aus der frühen Weimarer Zeit findet Johann Wolfgang Worte, die mir schon je besonders gut gefallen haben und deshalb hier wiedergegeben werden:

„Alles geben die Götter, die unendlichen,

Ihren Lieblingen ganz.

Alle Freuden, die unendlichen,

Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“




Der Werther in uns oder: Goethes Worte brennen heute noch

Die Leiden des jungen Werther im Schauspielstudio Dortmund. Foto: Birgit Hupfeld

Die Leiden des jungen Werther im Schauspielstudio Dortmund. Foto: Birgit Hupfeld

Wie wollen wir unser Leben führen? Angepasst, ohne anzuecken, aber auch ohne Tiefe – oder voller Leidenschaft, Emotion, vielleicht auch Einsamkeit? Regisseur Björn Gabriel hat für seine Inszenierung im Dortmunder Studio eine generationsübergreifende, nie endende Frage aus Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ herausgeschält.

Jüngst wetterte Richard David Precht gegen Werther: Unglaublicher Kitsch sei der Text, „verlogene Sozialromantik“, die aus dem Deutschunterricht verbannt werden müsse. Regisseur Björn Gabriel zitiert den Bestsellerautoren – übrigens herrlich gespielt von Schauspieldirektor Kay Voges – und tritt den doppelten Gegenbeweis an: In Videointerviews lässt er den Dortmunder Kulturdezernenten Jörg Stüdemann und Filmregisseur Adolf Winkelmann humorig von der Notwendigkeit des Auf- und Ausbruchs, von Revolte und Freiheit reden. Um dann auf der Bühne zu zeigen, dass Goethes Worte auch heute noch brennen.

Gabriel stellt denn auch weniger allein die unglückliche Liebe von Werther (Sebastian Graf) zu der mit dem angepassten Albert (Ekkehard Freye) verlobten Lotte (Bettina Lieder) in den Vordergrund – und setzt folgerichtig Werthers Selbstmord an den Anfang.

Werther ist verzweifelt an der Welt: Er will, er kann sich nicht anpassen, würgt an der Verlogenheit und Gleichgültigkeit der Menschen um ihn herum und ist voll ungezügelter Wut und Leidenschaft – von Sebastian Graf ungestüm und voller Ungeduld gespielt. Werther will leben, mit all seinen Sinnen – Mittelmaß und Mäßigung sind für ihn erniedrigend. Er ist ein Außenseiter – bis plötzlich Lotte ihn versteht.

Es wäre ein Leichtes, den angepassten Albert nun zur reinen Karikatur verkommen zu lassen. Ekkehard Freye aber spielt ihn als einen Gebrochenen, Verletzten, der in Schönfärberei und Harmonie sein Heil sucht. So lässt Regisseur Gabriel die Möglichkeit offen, Albert und Werther als „zwei Seelen in einer Brust“ zu sehen, Idealismus versus Konformismus – und Lotte hin- und hergerissen zwischen beiden (überzeugend zwiespältig von Bettina Lieder gespielt).

Sicher ist nicht immer subtil, was auf der Bühne geschieht: Es wird geschrien und gekocht, Reis und Champagner fliegen durch den Raum, riesige Projektionen (Daniel Hengst) sind mal überstilisiertes Idealbild, dann Videotagebuch für die Innenschau. Schade auch, dass es bei der Premiere teils Ton-Probleme gab. Der Grundkonflikt aber berührt. Sind wir nicht alle ein bisschen Werther?




Ein Blick in den Bochumer Herbst

Im Schauspielhaus Bochum herrscht jetzt Ruhe, doch man kann schon eine Vorschau auf den Herbst bekommen.

Deshalb hier eine ganz sachliche und nicht vollständige Aufstellung dessen, was auf uns zukommt:

Ab 8. September Vorverkauf für Oktober
16. September Nachtflohmarkt
24. September Spielzeit-Eröffnungsfest
6. Oktober Premiere „Drei Schwestern“ (Tschechov), auch am 12., 20. und 29. Oktober
8. Oktober „Die Dreigroschenoper“ (Brecht/Weill), auch am 16. und 22. Oktober
9. Oktober „A Tribute to Johnny Cash“
13. und 14. Oktober Bochumer Symphoniker
15. Oktober Premiere Tanztheater „Der verlorene Drache“ (Airaudo), auch am 20. und 30. Oktober
15. Oktober „Amerika“ (Kafka)
16. Oktober „Die Jungfrau von Orleans“ (Schiller)
21. Oktober „Haus am See“ (Finger)
23. Oktober „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ (Brecht)
28. Oktober „Woyzeck“ (Büchner) und Leseabend Tschechov mit Rolf Boysen
30. Oktober „Faust“ (Goethe)
1. November „Die Ratten“ Hauptmann.

Ich hoffe, dass ich einige Mitmenschen neugierig machen konnte.




Erfüllter Wunsch

So ist das vielleicht mit allen erfüllten Wünschen: Auf einmal fehlt der ganz große Glanz, der schon seine funkelnden Vorboten ausgesandt hatte und den man sich vorher aus der Ferne erhofft hatte.

Nicht, dass nun alles schal schmeckte. Doch man muss von den ersehnten 100 Prozent etwas abziehen. Wieder mal keine Apotheose. Die Vorlust war abermals größer als die die Erfüllung.

Wer wird denn da an Erotik denken?

Es sei dargetan am banalen Beispiel: Gesetzt den Fall, man hätte die ganze Saison über, Spiel für Spiel, mit einem Fußballverein gefiebert (nennen wir ihn mal probehalber Borussia Dortmund), und der würde am Ende tatsächlich obsiegen, so wird sich in alle Freude etwas ernüchternd Prosaisches mengen. Kann es sein, dass viele just eine Ahnung dieses Gefühls mit Alkohol betäuben? Dass sie die keimende Enttäuschung niedergrölen?

Sowieso hat der gute Goethe auch dazu seinen Senf gegeben. Oft zitiert, nie erreicht: „Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen.“ Was soll man dagegen einwenden? Der Teufelskerl hat’s mal wieder auf den Begriff gebracht. Und Schopenhauer hat steigernd gewusst: „In einem Schlaraffenland würden die Menschen zum Teil vor langer Weile sterben oder sich aufhängen.“ Zum Teil.

Deutsche Meisterschaft im Fußball. Bei Licht betrachtet, mag es reichlich läppisch sein. Es gilt doch, die Welt vorm Niedergang zu retten. Utopien harren der Verwirklichung, so dass Tore, Punkte und Tabellen vergleichsweise kläglich gering anmuten. Ja, sagt das mal den Leuten, die jetzt bis in den Morgen feiern.

Ich habe heute in dieser Stadt viele glückliche Gesichter gesehen. Auch bei Menschen, die sonst wahrlich nichts zu lachen haben. Selbst ein Mann, der seine ganze Habe in einer Tüte mit sich tragen kann, lächelte selig vor sich hin. Besitzt er auch so gut wie nichts, so bleibt ihm doch diese frische Zuversicht. Ihm solche Spurenelemente von Lebensmut nehmen zu wollen, wäre zynisch. Doch kann es nicht dabei bleiben. Doch muss da erheblich mehr kommen. Doch reicht das beileibe nicht aus.

Ach, wie unvermischt war unsere Freude noch, als wir Kinder gewesen sind. Wie sehr waren wir jäher Absturz und erneutes Auffahren! Was ist daraus geworden?

Und jetzt?




Dortmunder Handschriftensammlung: Friedrich der Große bedankt sich für Heringe

Dortmund. Das soll Friedrich der Große geschrieben haben? Diese unscheinbaren, winzigen Buchstaben, jede Linie ausgesprochen blass, macht- und kraftlos wirkend? Ja, es stimmt. Und es war sogar der wohl letzte Brief, den der berühmte Preußenkönig (am 1. Juli 1786) verfasst hat. Das historische Papier gehört zu den wertvollsten Stücken der Dortmunder Handschriftensammlung.

Die wenigen Zeilen, die der kranke König aufs Blatt strichelte, sind auch inhaltlich bemerkenswert, wenn auch unscheinbar: Der Monarch bedankt sich bei einem Markthändler für die jüngste Herings-Lieferung. Derlei höfliche Bescheidenheit wirkt in dieser Schriftform schlichtweg anrührend. Kein Abdruck könnte ein solches Gefühl wecken. Dies vermag nur die originale Handschrift. Die Dortmunder Sammlung in der Stadt- und Landesbibliothek, die auch frühe Druckwerke und Dichter-Nachlässe umfasst, ist mindestens bundesweit bedeutsam. Ob Goethe, Annette von Droste-Hülshoff, Karl Marx, Thomas Mann, Albert Schweitzer oder auch US-Präsidenten wie Coolidge und Nixon – hier werden eigenhändige Schriftstücke vieler Größen aus Kunst, Kultur und Politik verwahrt.

Heinrich Zilles Entschuldigung für „Radaubetragen“

Wenn Jens André Pfeiffer, der Leiter der Handschriftenabteilung, einen ins „Allerheiligste“ vorlässt, kann einem schon etwas feierlich zumute werden: Im weitläufigen, akkurat klimatisierten Tresorraum lagern etliche Schätze der Geistesgeschichte. Forscher aus allen Weltgegenden verbringen hier zuweilen mehrere Wochen, um Handschriften buchstäblich mit der Lupe zu untersuchen.

Jede Schrift hat ihre spezielle Aura. Archivar Pfeiffer sagt, dass es längst nicht immer um Hochgeistiges geht, sondern um Alltag: „In vielen Briefen ,menschelt‘ es sehr.“ Kurzum: In diesem Paradies für Graphologen glaubt man häufig, den Schreibenden gleichsam über die Schulter zu schauen. Da beschleicht einen auch schon mal das Gefühl, ein klein wenig indiskret zu sein. Beispiel: Der „Milljöh“-Zeichner Heinrich Zille dürfte kaum geahnt haben, dass seine zerknirschte briefliche Entschuldigung für ein bierseliges „Radaubetragen“ in unbefugte Hände Nachgeborener geraten könnte. Recht privat muten auch Goethes Wein-Bestellungen und seine Klagen über Gallenbeschwerden an. Und an einen Tierpräparator, der für Goethe eine Schnepfe aufbereiten sollte, schreibt der Geheimrat, er erwarte jedes Knöchelchen des Vogels zurück. Klingt nach Ärger, falls denn doch etwas gefehlt haben sollte.

Karl Marx, der des öfteren an den Dichter Ferdinand Freiligrath geschrieben hat, meldet dringenden Geldbedarf an und lamentiert wieder einmal über seine Furunkel. Und Hermann Hesse hat einen Brief geradezu kindlich kunterbunt illustriert – Zeichen eines sonnigen Gemüts?

Wie kamen all diese Dinge nach Dortmund? Nun, in der Gründerjahren der 1908 er öffneten Bibliothek waren so genannte Autographen noch vergleichsweise preiswert zu haben. Zudem spendeten Stahlbarone und andere betuchte Bürger Geld für den Erwerb kostbarer Manuskripts und Drucke. Der damalige Bibliotheksdirektor Erich Schulz hatte ein Faible für Handschriften und konnte den Grundstock für die Sammlung legen, die dann stetig ausgebaut wurde und heute zigtausende von Katalognummern enthält.

Was man in Dortmund nicht unbedingt erwartet: Auch ein unvergleichlich gut erhaltenes Exemplar vom Text des Deutschlandliedes findet sich hier. Die sorgsame Reinschrift, die August Heinrich Hoffmann von Fallersleben am 26. August 1841 angefertigt hat, wird nicht verliehen – zu wertvoll, zu empfindlich ist das Kleinod.

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Infos:

  • Die Dortmunder Handschriftensammlung umfasst nahezu 30 000 Einzelstücke, etwa 115 Nachlässe und mehrere Tausend Frühdrucke ca. ab 1500 n. Chr., so auch die deutsche Erstausgabe von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“(1720).
  • Hinzu kommen rund 900 historische Landkarten und Stadtansichten.
  • Ältester Besitz ist ein Pergament-Schriftblatt von Gregorius Magnus, das zu einem Codex des 9. Jahrhunderts gehört.
  • Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Westfälisches Handschriftenarchiv. Königswall 18, 44137 Dortmund. Leitung: Jens André Pfeiffer 0231/750-23 206

(Der Beitrag stand am 2. Februar 2009 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Alter Mann liebt junges Mädchen – Martin Walsers Goethe-Phantasien

Oje, das könnte wieder Vorwürfe hageln! Martin Walser bringe „sabbernde Altmännerphantasien” zu Papier, haben böswillige Kritiker(innen) dem Schriftsteller zuletzt vorgehalten. Und was legt er nun vor? Altmännerphantasien!

In seinem Roman „Ein liebender Mann” geht es um den 73-jährigen Dichterfürsten Goethe, der sich heftig in die 19-jährige Ulrike von Levetzow verguckt. Die Episode ist historisch verbürgt, jedoch bis heute geheimnisumwittert.

Wer will es Walser (80) verübeln, dass er sich tief in eine solche Liebe einfühlt? Und sein Buch hat ja auch so gar nichts Geiferndes, nichts ungebührlich Geiles an sich. Im Kern handelt es von der existenziellen Verunsicherung des Mannes, dem alle Welt „Größe” nachsagt. Doch wie’s da drinnen aussieht . . .

Eine Art Rechtfertigung steht gleich im allerersten Satz: „Bevor er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen.” Diese mädchenhafte Frau mit den engelhaft schwerelosen Bewegungen und dem bannenden Blick hat also buchstäblich selbst ein Auge auf den alten Herrn Goethe geworfen. Drum fühlt er sich zu kleinen Kühnheiten ermutigt.

Und tatsächlich. Wenn die beiden – Arme untergehakt – im traulichen Gespräch miteinander durchs Kurgelände von Marienbad (Böhmen) spazieren, kann ihnen nichts und niemand etwas anhaben. Lachend trotzen sie allen neugierigen Blicken und ignorieren das Tuscheln der Leute. Es gibt Momente, da ist es ihnen, als bestehe gar kein Altersunterschied. Und irgendwann der erste scheue Kuss.

Von Goethes letzter großer Liebe weiß man nicht allzu viel Verlässliches. Walser hat somit genug Freiraum zum sprachmächtigen Fabulieren. Er versetzt sich innig in den betagten Geheimrat hinein, folgt manchen Windungen schwankender Gefühle.

Der Klassiker Goethe tritt gleichsam als sein eigenes Denkmal auf. Gar sehr ist dieser bürgerliche Kleinunternehmer (er beschäftigt Diener, Sekretäre usw.) mit literarischem Adelsanspruch auf sein Selbstbild bedacht. Oft stellt er sich vor, wie ihm etwa Menschen nachschauen, von denen er sich gerade verabschiedet hat. Was halten sie von seinem Gang? Wirkt er genialisch genug?

Doch wenn er die Tür hinter sich schließt und an Ulrike denkt, steigen fiebrige Vorstellungen in ihm auf. Ja, es entfahren ihm sogar Schmerzensschreie. Peinlich. Wie soll er sich zusammenhalten? Zumal etliche kleine Vorfälle ihm bedeuten, dass er nicht nur körperlich, sondern auch geistig ein Mann von gestern ist. Welch ein Zeitenwandel: Die ersten jungen Mädchen träumen schon von künftigen Rechenmaschinen.

Goethes innerer Widerstreit durchzieht den gesamten Roman – ebenso wie die mal jauchzende, mal elegische Schwärmerei für die junge Frau. Sehr ausgiebig malt sich Walser das aus. Es könnte auf Dauer langatmig werden.

Im Sinne der Roman-Ökonomie ist es gut, dass sich Hindernisse aufrichten. Ulrike tritt fast stets im Anstands-Gefolge ihrer verwitweten Mutter und zweier Schwestern auf. Kaum wittert die Mutter Goethes Interesse (das in einem stümperhaft übermittelten Heiratsantrag gipfelt), da entzieht sie ihm Ulrike durch familiäre Abreise. Es bleibt ihm nur das Sehnen – und das Schreiben.

Schlimmer noch: Ein steinreicher, smarter Schmuckhändler will sich an Ulrike heranmachen. Widerlich! Was, wenn sie ihn erhört? Goethe leidet aus der Ferne höllische Eifersuchtsqualen. Er verfasst Briefe an Ulrike, und man weiß nicht recht, ob er sie je abschickt, ob sie von seiner Schwiegertochter Ottilie abgefangen werden – oder ob er sich das alles nur einbildet.

So weit geht die wahnhafte Verwirrung des ehedem so heiter-ausgewogenen Genies, dass er sein bisheriges Werk als lebensferne „Kulturlüge” verachtet und sich in Selbstmordgedanken ergeht – wie einst seine Figur Werther.

Der fast von aller Welt verehrte Dichter als letztlich bestürzend einsamer Mann. Die Liebespein als schiere Notwendigkeit des Lebens. Das ist schon flammender Rede wert. Herzlos, wer sich davon nicht berühren lässt.

Martin Walser: „Ein liebender Mann”. Rowohlt. 285 Seiten. 19,90 Euro.

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INFOS

  • Walser hat den Roman „Ein liebender Mann” in nur acht Wochen geschrieben – in völliger Abgeschiedenheit.
  • Es ist sein erster historischer Roman. Bisher hatte er stets die Angestelltenwelt der Gegenwart im Blick.
  • Nach der „Urlesung” in Anwesenheit des Bundespräsidenten (Mittwoch) las Walser gestern zum Auftakt des Festivals Lit.Cologne.
  • Am Sonntag, 27. April (18 Uhr), wird Martin Walser das Buch im Dortmunder Harenberg City-Center vorstellen – in der Reihe „Kultur im Tortenstück”. Karten: 0231/90 56-166.



Woran Goethe glaubte

Düsseldorf. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) war von Haus aus Protestant, sein Vater gar ein recht strenger, orthodoxer Lutheraner. Warum ist einem das nicht bewusst? Weil der Dichter weit über Konfessionen hinaus gedacht hat und als Weltbürger vielfältige Toleranz walten ließ.

Auf seiner berühmten Italienreise ließ er sich auch von der sinnlichen Bild- und Symbolkraft des Katholizismus „anstecken”. Und im Umkreis seines Werks „Der west-östliche Diwan” hat er sich auch mohammedanische Anschauungen anverwandelt.

Mit der weihnachtlichen Ausstellung „Goethe und die Bibel” betritt das Düsseldorfer Goethe-Museum wahrlich ein weites Feld. Von der Taufanzeige bis zu Goethes letzten Gesprächen mit seinem Vertrauten Eckermann reicht der zeitliche Bogen der ansprechenden Vitrinenschau. Zahlreiche Originalausgaben, zeitgenössische Illustrationen und Handschriften sind zu sehen. Wer viel davon haben will, muss sich hier über manches Schriftstück beugen.

Jenseits der
amtskirchlichen
Verkündigung

Schon als Kind hatte Goethe in Frankfurt reichlich religiöses Anschauungs-Material. Der Vater besaß eine umfangreiche Büchersammlung zu geistlichen Fragen, so auch eine bebilderte Merian-Bibel (1704), in der Goethe neugierig geblättert hat, als er des Lesens noch unkundig war.

Ein mächtiger Foliant wie die „Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie” (1699) des Gottfried Arnold führte Goethe später auf Wege jenseits der amtskirchlichen Verkündigung. Hinzu kamen Einflüsse der gefühlvollen Frömmigkeits-Strömung des Pietismus, deren Anhänger den Weg zum (ganz persönlichen) Glauben in stiller Einkehr suchten.

Goethe hielt denn auch alsbald die offizielle Kirche mit ihren Riten und Dogmen für bloßes Menschenwerk und zeigte eher Sympathien für eine pantheistische Naturreligion. Seliger Grundgedanke: Gott ist in allen Dingen, in jeder Pflanze und jedem Stein. Passende Goethe-Weisheit, mit kaum verhohlenem Selbstbewusstsein hingeschrieben: „Die Natur verbirgt Gott. Aber nicht jedem.”

Stets legte Goethe überdies Wert darauf, dass Vernunft und Glauben einander nicht widersprechen. In diesen Zusammenhang gehört auch seine intensive Beschäftigung mit den Büchern des Philosophen Immanuel Kant. Überhaupt dachte der „Dichterfürst” im Horizont der Aufklärung. So fand er es „in meinen Augen wichtiger als die ganze Bibel”, dass der Mensch die Bewegung der Erde um die Sonne nachgewiesen hat.

Goethes Bibelkenntnis kann durch Hunderte von Fundstellen im Werk belegt werden. Er hat sich auch zum Atheismus geäußert. Zitat aus „Dichtung und Wahrheit”: „Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zu Mute, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit all seinen Gestirnen verschwand . . .”

Besonderes
Interesse
an einer Sekte

Allen Anfechtungen zum Trotz, hat Goethe wohl zeitlebens seinen Glauben nicht verloren, wenn er auch wechselnden Gottes-Vorstellungen anhing. In einem Brief schrieb er: „Des religiösen Gefühls wird sich kein Mensch erwehren, dabei aber ist es ihm unmöglich, solches in sich allein zu verarbeiten . . .”

Sein Hauptwerk „Faust”, an dem er Jahrzehnte arbeitete, enthält etliche religiös inspirierte Passagen – vom „Prolog im Himmel” bis zur Formel über Gretchen: „Sie ist gerichtet . . . ist gerettet.” Sprichwörtlich wurde die mädchenhaft bange „Gretchen-Frage” an Faust: „Nun sag‘, wie hast du’s mit der Religion?”

Ein emsiger Kirchgänger soll Goethe jedenfalls nicht gewesen sein. Lange Zeit bewegte ihn jene Frage, die auch heute noch viele Menschen umtreibt: Wie kann Gott das Böse, wie kann er Katastrophen zulassen? Die Nachrichten übers schreckliche Erdbeben von Lissabon, das am 1. November 1755 rund 70 000 Todesopfer forderte, erschütterten seinen bis dahin naiven Kinderglauben.

Als gereifter Mann befasste sich Goethe eingehend mit der Hypsistarier-Sekte, die im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. in Kappadokien (heute Anatolien) „das Beste” aus antiker Götterwelt, Judentum und Christentum vereinen wollte. Solche Offenheit kam dem großherzigen Naturell Goethes gewiss entgegen: Nichts von vornherein ausschließen, alles wohlwollend wägen – und dann zur Synthese schreiten.

„Goethe und die Bibel”. Goethe-Museum, Düsseldorf, Schloss Jägerhof (Jacobistraße 2). Bis 20. Januar 2008. Di bis Fr und So 11-17, Sa 13-17 Uhr. Vom 24. bis 26. Dezember und Silvester/Neujahr geschlossen. Tel.: 0211/899 62 62.




Goethe: Liebe, Geld und weise Worte

Kinder, wie die Zeit vergeht: Goethes Tod ist morgen auch schon wieder 175 Jahre her. Ist denn nicht alles über ihn gesagt? Offenbar sind nicht mehr die ganz großen Würfe über den angeblich größten Dichter der Deutschen gefragt, sondern eher anregende „Häppchen” zu Werk und Leben. Gepflegte Lektüre-Anstöße für eilige Leser. Dabei muss es ja nicht bleiben.

Der Germanist Gero von Wilpert rückt mit seinem vergnüglichen Buch „Die 101 wichtigsten Fragen – Goethe” dem Phänomen recht nahe. Was man da lernt! Der Dichterfürst war im Altersdurchschnitt 1,74 Meter groß – so viel zum Thema „Größe”. Wir erfahren, wie der Olympier sich in verschiedenen Phasen seines Lebens gekleidet hat (teils ziemlich geckenhaft); dass er 12 bis 20 Prozent (!) seines Jahreseinkommens für Wein ausgegeben hat, aber ein unwirscher Raucher-Feind gewesen ist. Auch Hunde und Brillen hat er gehasst.

Weiter geht’s mit dem historischen Tratsch: Goethe hatte angeblich wenig Humor, schlief für gewöhnlich etwa von 22 Uhr bis 5 Uhr morgens, besaß rund 6500 Bücher, war Pazifist, verabscheute Revolutionen, verschmähte vermutlich Sex ohne Anflug von Liebe (die ihn freilich manchmal rasch ereilte). Er hat leidlich gezeichnet, war aber unmusikalisch.

Goethe hat stets knallhart mit seinen Verlegern verhandelt. Wie hoch waren seine literarischen Gesamteinnahmen zu Lebzeiten? Nun, sie werden auf 140 000 Taler geschätzt, was etwa 5 Millionen Euro entspräche. Und wie weit ist er gereist? Insgesamt rund 40 000 Kilometer, für die damalige Zeit beachtlich. Aber in den Metropolen Paris, London und Wien ist er nie gewesen. Doch als junger Mann wäre er um ein Haar nach Amerika ausgewandert.

Genug, lieber Gero von Wilpert, an dieser Stelle erst mal genug! Nur noch ein nettes Anekdötchen. Goethe trat als Intendant des Weimarer Theaters zurück, weil gegen seinen Willen ein Hund auf der Bühne erschien . . .

Zwei weitere Bände wollen uns die Goethe-Lektüre anhand von konzentrierten Auszügen schmackhaft machen. Holger Noltze, der an der Dortmunder Uni Musikjournalismus lehrt, offeriert das Bändchen „Goethe für die Westentasche”, alphabetisch nach Sachgebieten geordnet. Die 56 Kapitel (jeweils strikt auf zwei Seiten begrenzt, wie zähneknirschend mag Noltze da zuweilen gekürzt haben!) sollen ganz verschiedene Zugangswege eröffnen. Aufs Stichwort Internet folgt hier Iphigenie. Das genüsslich schweifende Interesse am Gegenstand findet dabei nicht nur Hauptstrecken, sondern auch ein paar exquisite Nebenwege. Wir finden hier übrigens auch die ersehnte Vergleichsziffer zur Körpergröße: Während Goethe – wie gesagt – 1,74 maß, brachte es Schiller auf 1,81 Meter. Jetzt wissen wir’s.

Manfred Wolf geht in „Leser fragen – Goethe antwortet” gleichfalls nach dem Alphabet vor. Auch dieser Band ist gewiss als Anregung, nicht als Ersatz für die eigentliche Goethe-Lektüre gemeint. Der Zitatenschatz reicht von Aberglaube und Alter bis Zufall und Zustand. Die Fragen werden gestellt, als befinde sich Goethe im Interview. Dann antwortet er mit seinen weisen Sentenzen.

Aus dem reichen Fundus hier drei Beispiele. Goethes gereimter Rat im politischen Streit: „Nichts wird rechts und links mich kränken, / Folg ich kühn dem raschen Flug; / Wollte jemand anders denken, / Ist der Weg ja breit genug.” Übers Lesen: „Man liest viel zuviel geringe Sachen, womit man die Zeit verdirbt und wovon man weiter nichts hat.” Und zum Lebensgenuss, recht rustikal: „Ohne Wein und ohne Weiber / Hol der Teufel unsre Leiber.”

Hier vorgestellte Bücher:

Gero von Wilpert „Die 101 wichtigsten Fragen”. C. H. Beck, 166 S., 9,90 Euro.
Holger Noltze: „Goethe für die Westentasche”. Piper, 128 Seiten, 9,90 Euro.
Manfred Wolf: „Leser fragen – Goethe antwortet”. Eichborn. 128 S., 9,95 Euro.

Außerdem neu:
Goethe: „Der Mann von 50 Jahren”. Novelle. Insel-Taschenbuch, 115 S., 8 Euro.
Goethe: „Sämtliche Gedichte”. Insel, Sonderausgabe, 1141 Seiten, 15 Euro.

Daten und Fakten:

Johann Wolfgang von Goethe wurde am 28. August 1749 in Frankfurt/Main geboren. Er starb am 22. März 1832 in Weimar – morgen vor 175 Jahren.
Berühmteste Werke: „Die Leiden des jungen Werther(s)”, „Faust”, die „Wilhelm Meister”-Romane und zahllose Gedichte.
Auch naturwissenschaftlichen Ehrgeiz hat er entfaltet, so etwa bei eingehenden Studien zum Zwischenkieferknochen. Doch seine Farbenlehre fand nicht den Beifall der Fachwelt.




Goethe muss natürlich unbedingt ins Sturmzentrum – Eine Traumelf deutscher Dichter und Denker aufstellen

Von Bernd Berke

Heute geht’s endlich gegen Argentinien rund. Aber gestern und vorgestern waren bei der WM erstmals spielfreie Tage. Seufz! Da wusste man ja fast schon gar nicht mehr, was man mit der leeren Zeit anfangen sollte.

Was tut man also? Sich doch mal wieder spielerisch mit Kultur und Fußball befassen. Etwa mit der reizvollen Idee, eine Traumelf mit ruhmreichen deutschen Dichtern und Denkern aufzustellen. Richtig gelesen.

Wer steht im Tor? Immanuel Kant! Der Mann hat sich in der T-Frage gegen Leibniz und Heidegger durchgesetzt. So abgeklärt wie er ist sonst keiner. Er bleibt nicht auf der Linie kleben, sondern denkt weit voraus. Und er dient der ganzen Mannschaft als Ansprechpartner in moralischen Sinnfragen.

Viel wild er wohl nicht auf den Kasten kriegen. , Denn wir haben ja hinten unsere Weltklasse-Viererkette – mit Hölderlin (dichtet, äh, dribbelt jeden schwindlig), dem willensstarken Nietzsche (gefürchtete Blutgrätsche!), E. T. A. Hoffmann (macht schon mit flackernder Miene dem Gegner Angst) sowie dem kompromisslosen preußischen „Abräumer“ Kleist. Die Härte! Aber Vorsicht vor gelben Karten, die Schiri Reich-Ranîcki so freihändig verteilt.

Fürs 4-3-3-System postieren wir vor die Abwehr kreative Spieleröffner, die auch Defensivaufgaben nicht scheuen: den schnörkellosen Büchner, den gewitzten Heine (bei Paris St. Germain unter Vertrag) und den listigen Lessing, der die ganze Dramaturgie eines Spiels lesen kann und mit allen Freiheiten hinter den Spitzen agiert. Ein solches Mittelfeld schmückt ungemein.

Weiteres Prunkstück ist der Angriff. In der Mitte lauert der wendige junge Goethe („Sturm und Drang“) auf Chancen. Von links bedient ihn der schlaue Bert Brecht mit frechen Flanken, von rechts kommt brachial Gottfried Benn, der auf dieser exponierten Position dem hüftsteifen Ernst Jünger den Rang abgelaufen hat. Jedenfalls: Unsere beiden ,Außen“ gehen konsequent bis zur Grund(satz)linie – und dann schnackelt’s.

Da können es sich der schwäbische Trainer Hegel (Devise: „Das Wirkliche ist vernünftig“) und sein Assistent Marx sogar erlauben, Joker wie Schiller, Thomas Mann, Eichendorff oder Fontane auf der Bank zu lassen. Ihre Stunde kommt noch – ebenso wie die der Talente Heinrich Böll und Günter „Odonkor“ Grass.




Variationen einer Dreiecksbeziehung – Uwe Hergenröder inszeniert Goethes „Stella“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Jux und Dollerei. Anfangs jagen sie wild um einen Tisch herum, bis zur Atemlosigkeit. Das soll Goethes Drama „Stella“ werden? Nun, immerhin: Die Dreiecksgeschjchte entstammt ja der heftigen Sturm- und Drang-Phase des nachmaligen Dichterfürsten. Da darf man sich vielleicht schon mal austoben.

Zudem leuchten im Lauf des Abends noch mancherlei andere Gefühlswerte mit hinein. Auf einem mit Herbstlaub bedeckten Boden (oh, Vergänglichkeit!) hat Uwe Hergenröder das Stück im Dortmunder Schauspiel-Studio inszeniert. Er hat die Vorlage um und um gewendet, sie von einigen Seiten betrachtet und diverse Haltungen erprobt, die man gegenüber dem rund 200 Jahre alten Werk einnehmen kann. Mal nähert er sich dem hohen Ton und den großen Gefühlen, mal betont er Distanzen. Und schließlich erscheint alles wie ein märchenhaftes Narren- oder Kinderspiel. Abgetan ist’s in bloß 90 Minuten, doch man hat geschickt gekürzt, so dass der Text integer bleibt.

Das oszillierende Spektrum der Darstellung reicht von inniger Einlässlichkeit bis zum vorübergehenden Ausstieg aus den Rollen. „Ich kann das nicht spielen!“ ruft unvermittelt Birgit Unterweger, die die Stella bis dahin so heißen Herzens verkörpert hat. Und auf einmal streitet das Ensemble lauthals über den Sinn des ganzen Unterfangens. Denn schließlich: Zwischen Männern und Frauen habe sich doch seither so unendlich viel geändert.

Ein entblößter Rücken lockt im Stil der Sexwerbung

Schon das Programmfaltblatt markiert eine Entfernung: Rückenansicht der entblößten Frau Unterweger, dazu der lockende Schriftzug „Bin einsam“ und eine heiße Telefonnummer (och, nur die Theaterkasse!) – ganz nach Art der „Ruf mich an“-Sexwerbung. Dahin haben wir’s gebracht. Und doch treiben einen Goethes Geisterstimme noch um, denn das bürgerliche Konzept der „romantischen“ Liebe bestimmt insgeheim auch noch unser aller Sehnen.

Der fesche Herzensbrecher Fernando wird gespielt von einer Frau: Silvia Fink. Dieser Geschlechterwandel trägt keine sonderlichen Früchte, schadet aber auch nicht. Gelegentlich fällt dieser Fernando in Wiener Schmäh-Dialekt und wirkt dann gleich wie ein verantwortungsloser Stenz. Als er nun den beiden Damen wieder begegnet, die er verlassen und unglücklich gemacht hat, steigert er sich zuweilen feurig in (eingebildete?) alte Gefühlswallungen hinein. Doch es wirkt eher wie eine eitle Aufgipfelung des eigenen Ich, nicht wie wahres Liebesweh.

Er spielt alle Optionen durch: Die eine Frau haben, die andere, alle beide oder keine. Ein Stück der fortwährenden Indifferenz, der Unentschiedenheit. Auch Goethe selbst war ja schon unschlüssig. Erst schrieb er die Fassung mit einer für damals unerhörten Dreier-Lösung, beide Frauen versichern Fernando am Ende unisono: „Wir sind dein“. Dann verfiel er auf Anraten von Schiller aufs Trauerspiel mit Selbstmorden. Beide Varianten sind in der Dortmunder Inszenierung flackernd präsent.

Den stärksten Eindruck hinterlassen die beiden Frauengestalten. Die holde „Stella“ brennt und lodert vor Liebe, sie verliert sich in Tollheit und schwärmerischer Raserei. Die in Kummer ergraute Cäcilie (Harriet Kracht) scheint hingegen nur noch in den Ascheresten ihrer Gefühle zu stochern, doch auch darunter glimmt es noch. Wer in dieser Konkurrenz mehr liebt und leidet, lässt sich nicht sagen.

Termine: 3., 11., 26. Feb., 10., 23. März. Karten: 0231/50 27 222.

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ZUR PERSON

Vielseitiger Regisseur

  • Der Regisseur Uwe Hergenröder hat Literaur- und Musikwissenschaft sowie Kirchenmusik in Hamburg studiert.
  • Er war in den letzten Jahren vorwiegend am Kölner Schauspiel tätig, gehört aber auch zum Regieteam in Dortmund.
  • In Köln hat er u. a. Stücke von August Strindberg, Federico Garcia Lorca, Tankred Dorst, Bernard-Marie Koltès, Eugene lonesco und Sarah Kane in Szene gesetzt, in Dortmund inszenierte er u. a. „Amadeus“ und „Der arme Vetter“.
  • Auch im Opernfach hat Hergenröder Regie-Erfahrungen gesammelt, so bei seiner Inszenierung von Puccinis „Tosca“.
  • Am 20. Mai wird Hergenröders nächste Dortmunder Regiearbeit Premiere haben: „Salome“ von Oscar Wilde.

 

 




Alte Schätze der Sprache – Das Grimmsche Wörterbuch auf CD-Rom

Von Bernd Berke

Man stelle sich vor: Hunderte von Chinesen, die in zwei großen Gruppen (unabhängig voneinander) je 300 Millionen lateinische Schriftzeichen zur digitalen Erfassung eintippen. Textvorlage war das gigantische Wörterbuch, das einst die Gebrüder Grimm begründet haben. Mit anderen Worten: d i e „Schatztruhe“ der deutsehen Sprache schlechthin.

Der Kraftakt in fernen Landen war nur eine von vielen Etappen auf dem beschwerlichen Weg zur elektronischen Ausgabe des berühmten Grimmschen Wörterbuchs, wie sie nun beim Verlag Zweitausendeins vorliegt. Eigens ausgefeilte Computer-Programme haben die chinesischen Gruppen-Versionen verglichen und offenkundige Irrtümer getilgt. Sodann war ein penibler Datenabgleich mit den konventionell gedruckten Büchern (320 000 Schlagwörter!) fällig. Und noch so mancher Arbeitsgang mehr.

Hoffnung der Macher: Wenn Chinesen solch „fremdartige“ deutsche Texte tippen, neigen sie nicht zu eigenmächtigen Schreibweisen, sondern achten (wie sie’s von ihrer Schrift kennen) auf haarfeine Formunterschiede – auch bei mannigfachen Sonderzeichen.

Die Fleißarbeit unter Federfühmng eines Trierer Germanisten-Teams und vieler weiterer Fachleute kann es fast mit den Mühen der Brüder Grimm aufnehmen, die ja keinesfalls nur Märchen aufgezeichnet haben. Mindestens ebenso bedeutsam ist ihr legendäres Wörterbuch-Projekt, das sie 1838 in Angriff nahmen. 1854 erschien der erste Band.Jacob und Wilhelm Grimm beschäftigten zur Fundstellen-Suche etliche Helfer in allen deutschsprachigen Regionen. Schließlich galt es, das Schriftgut seit Erfindung des Buchdrucks zu durchforsten und zudem Vorläufer (Althochdeutsch usw.) einzubeziehen.

Ergebnis von über 100 Jahren Arbeit

Wie man früher zu sagen pflegte, starben beide Brüder „in den Sielen“, also gleichsam bei der Arbeit. Wilhelm Grimm war bis zum Buchstaben „D“ gekommen, als er 1859 verstarb. Jacob Grimm saß vor seinem Tod (1863) über dem Stichwort „Frucht“. Generationen von Germanisten haben das Wörterbuch fortgesetzt, bis es (nach über 100 Jahren des Forschens und Sammelns) 1960 komplett erschien.

Doch was heißt hier „komplett“? Entgegen dem (eh schon etwas lädierten) Ruf, besonders effektiv zu sein, haben wir Deutschen ein zwar ungemein reichhaltiges, doch auch ziemlich chaotisches Wörterbuch. Der Oxford Dictionary fürs Englische und der „Trésor“ fürs Französische sind sehr viel ordentlicher aufgebaut als das „Grimmsche“. Hauptgrund: Weil sich das hiesige Unterfangen mehr als hundert Jahre hinzog, wechselten vielfach die Methoden, Vorlieben und Perspektiven.

Warum nun die elektronische Ausgabe? Ganz klar: Die Suchmöglichkeiten sind enorm. Man kann sekundenschnell nach jeder erdenklichen Wortkombination fahnden oder etwa gezielt Zitate aus bestimmten Quellen erschließen. Auch lassen sich systematisch ganze Wortfelder „abgrasen“ – mitsamt Definitionen, sprachgeschichtlicher Herleitung und edlen Fundstellen. Immens ist die Zahl der nicht mehr gängigen, jedoch ungeahnt kraftvollen oder auch zartsinnigen Worte. Ein Beispiel für Tausende: „liebefasernd“ aus einem Gedicht von Friedrich Rückert. „fühle wurzelnd dich hinein, liebefasernd ihr ins herz…“

Luther und Goethe am meisten zitiert

Zwei Größen standen für die Grimms beim Zitieren obenan: Luther (Bibelübersetzung) und Goethe. Doch auch Ausdrucke aus Mundarten oder Bauern- und Handwerkersprachen wurden als Bereicherung bewahrt. Leitlinie war das Grimmsche Ideal einer bildreichen, lebendigen, wandelbaren Sprache, die man durch „Gesetze“ nicht zu sehr einschnüren solle.

Übrigens: Die 33-bändige Buchausgabe kostete vordem 5010 Euro. Sie ist jetzt zwar als Paperback-Reprint für 499 Euro zu haben, doch die CD-Roms sind mit 49,90 Euro unschlagbar preiswert. Mit diesem Wörterbuch kann man so recht in der Sprache schwelgen, ja man kann in ihren (historischen) Tiefen versinken.

Das nur scheinbar paradoxe Schlusswort gebührt Jacob Grimm: „Die Sprache ist allen bekannt und ein Geheimnis.“

• „Deutsches Wörterbuch. Der digitale Grimm“. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 2 CD-Roms. Benutzerhandbuch, Begleitbuch. 49,90 Euro. Versand/Läden des Verlags Zweitausendeins, Frankfurt/Main. 069/420-8000. Internet: www.zweitausendeins.de

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Hintergrund: Die Gebrüder Grimm

Jacob Grimm wurde am 4. Januar 1785 in Hanau geboren. Er arbeitete u. a. als Bibliothekar in Kassel und als Professor in Göttingen. Er gilt als eigentlicher Begründer der Germanistik.

Mit weiteren freiheitlich gesinnten Professoren protestierten er und sein Bruder Wilhelm (geb. am 24. Februar 1786, gleichfalls in Hanau) anno 1837 gegen einen Erlass des Königreichs Hannover. Sie machten Widerstandsrecht geltend. Die so genannten „Göttinger Sieben“ wurden deswegen ihrer Ämter enthoben. Danach reiften die Pläne zum deutschen Wörterbuch. Ein Leipziger Verleger hatte die Idee an die Brüder herangetragen.

Im bürgerlichen Revolutionsjahr 1848 gehörte Jacob Grimm zu den Abgeordneten im Frankfurter Paulskirchen-Parlament. Die berühmten „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm waren bereits von 1812 bis 1822 in drei Bänden erschienen.




Lizenz zur Goethe-Zerlegung: Samuel Schwarz inszeniert die „Clavigo“-Tragödie in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Publizist Clavigo gleicht einem Schilfrohr im Winde. Frommt es seiner Karriere beim spanischen Hofe, so ist er flugs bereit, sein Heiratsversprechen zu brechen und Marie zu verlassen. Wird er aber von deren Bruder drangsaliert, so kehrt er eilends zu ihr zurück. Nicht wahre Reue ist’s, sondern letztlich Berechnung. Daher hat auch diese Haltung keinen Bestand.

War nicht auch der „Clavigo“-Autor Goethe ein solcher Wendehals und Fürstenknecht? „Aber ja!“ ruft uns die Bochumer Inszenierung des Schweizers Samuel Schwarz triumphierend zu. Und so schickt man sich an, den Klassiker, der dieses Stück in seiner „Sturm und Drang“-Phase (24jährig, binnen acht Tagen – wow!) hinwarf, zu dekonstruieren. Ist das nun raffiniert und schneidig oder nur frech?

Nur noch tauglich für ein B-Movie oder ein TV-Melodrama

Das Drama darf nicht für sich bestehen. Schon in einem angepappten Vorspiel wird der wankelmütige Clavigo (Maik Solbach) mit dem Verfasser Goethe überblendet. Später gibt es immer wieder epische Einschübe, die den Text perforieren. Maries rachsüchtiger Bruder Beaumarchais (Thomas Büchel) springt oft mitten im Dialog aus seiner Rolle und erzählt in prosaischer Rückschau, was er „damals“ getan und gesagt habe. Um Goethes Tonfall aufzugreifen: Oh, über diesen vermaledeiten Verfremdungseffekt!

Genüsslich wird ein Mer(c)k-Satz zitiert: Dieses ganze Stück sei „Quark“. So verwarf Goethe-Mentor Johann Heinrich Merck seinerzeit den „Clavigo“. Der Regisseur nimmt’s als Lizenz, den Text zu zerlegen. zerlegen. Er behandelt die Tragödie als gesunkenes Kulturgut, nur noch tauglich für ein B-Movie oder ein TV-Melodrama. Da geraten selbst die klassizistischen Figürchen, die anfangs auf ihren Podesten standen, ins trollhafte Tänzeln.

Mit kindlicher Beschwörungslust reagiert die Regie auf bloße Stichworte. Ist vom Blitz die Rede, schlägt er gleich ein. Geht’s um spanische Momente im Leben, so ertönen Flamenco-Akkorde. Wer wollte sich bei all dem noch um die feineren Regungen der Figuren kümmern? Sie sind ja eh in erster Linie Marionetten ihrer schalen Interessen.

Dramaturgische Schlaumeierei erobert die Bühne

Der totenbleiche, vampiristische Zyniker Carlos (Fabian Krüger), der dem Freund Clavigo die Karriere-Geilheit einflüstert und sich zum Spielleiter aufschwingt, scheint homoerotisch getönte Neigungen nur notdürftig zu bemänteln. Auf der anderen Seite sieht es so aus, als begehre Beaumarchais seine Schwester Marie inzestuös.

Hier wird die Dramaturgen-Schlaumeierei eines Programmhefts mitinszeniert: Ausführlich kann der französische Revolutions-Anreger und „Figaro“-Textautor Beaumarchais darlegen, wie schändlich er sich von Goethe im Stück verwurstet fühle. Ein zwielichtiger Gewährsmann. Auch wird Goethe vorgehalten, was in historischer Wirklichkeit aus den Figuren geworden ist ganz so, als dürfe Dichtung nicht Wahrheit verwandeln.

Wallende Vorhänge, ein Boden mit apartem Gittermuster (Bühnenbild: Chantal Wuhrmann, Andy Hohl); dazu allerlei schöne Figuren-Tableaus: Die Aufführung hat vielfach den Reiz eines Gemäldes. Doch sobald sie sich bewegt und sich in teilweise geckenhaften Kostümen (Rudolf Jost) erhitzt, neigt sie zur Überzeichnung und gerät aus den Fugen, Wenn etwa Marie (Lena Schwarz) sich erregt, dann mit wahnwitzigen Zuckungen (was schelmische Anwandlungen im nahezu selben Moment nicht ausschließt).

Im Suff Worte wie „Pissnelke“ und „Titten“ lallen

Überhaupt ist das antikisierende Gehäuse, das die Beaumarchais-Schwestern Marie und Sophie einzwängt, ein Tollhaus für Farce und Randale. Hausfreund Buenco (Johann von Bülow) säuft und nölt, darf Worte wie „Pissnelke“ und „Titten“ lallen und so dem Überdruss prollig-punkigen Ausdruck verleihen. Lustig, lustig – aber viel zu hoch dosiert.

Den Tod Maries und Clavigos Krokodilstrauer erlebt man nur als überdimensional irrlichterndes Schattenspiel. Goethes „Erbe“ erschleichen und dann so achtlos verschleudern; Geister beschwören, Geist verscheuchen. Da fahre doch ein Donnerwetter hinein!

Termine: 28. Mai; 1., 21., 24. Juni. Karten: 0234/3333-111.




Alle Gefühle zeigen, aber keines festhalten – Uwe Dag Berlin inszeniert Goethes Drama „Stella“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Auf der Bühne stehen ausgestopfte Hühner. Ganz allerliebst und wie von Geisterhand bewegt, zuckelt nun eine kleine Spielzeugkutsche quer über die Szenerie. Soll das etwa heißen: Goethe und die Welt seiner „Stella“ sind weit von uns entfernt, sie wirken nur noch niedlich?

Oh, nein. Das putzige Eingangsbild ist wohl nur eine Anspielung auf die etwaige Neigung, den Stoff als „erledigt“ zu betrachten. Plötzlich brandet in Uwe Dag Berlins Bochumer Inszenierung des Dreiecks-Dramas Autolärm auf. Zwischen den Szenen ertönt fortan Furcht erregend das Geräusch dumpfer Schläge. Hier herrscht Verstörung, nicht Verniedlichung. Und der Konflikt ist ganz von heute: Mit dem historisch noch gar nicht so alten Konzept einer „romantischen“ Liebe samt lebenslanger Treue plagen wir uns noch.

Hysterisch verkichern Madame Sommer (Friederike Kammer) und Tochter Lucie (Susanne Weber) ihre ersten Sätze. Ihre gewiss geröteten Augen verbergen sie hinter Sonnenbrillen. Vor Jahren hat Fernando (Horst Kotterba) beide, hat Weib und Kind verlassen. Jetzt soll Lucie Gesellschafterin bei jener „Stella“ werden, die als Geliebte vom selben Manne dasselbe Schicksal erlitten hat. So treffen also deren Mutter und Stella zusammen, die beiden Liebesversehrten.

Alsbald stellt sich auch der halbwegs reuige Fernando ein, Urheber des Unglücks. Und es erhebt sich die Frage: Ist ein Liebesglück zu dritt denkbar? Auf der im Geiste der Minimal-Art sparsam möblierten, gleißend weißen Bühne (Entwurf: Annette Murschetz) entsteigt Fernando einem Schrankkoffer. Aus dem Spalt lugt er mit schlechtem Gewissen ins Gelände. Derweil haben sich die verlassenen Damen (in sanfte Selbsterfahrungsgruppen-Farben zwischen Orange, Pink und Violett gehüllt) frauenbewegt verschwistert. Auch das wirkt nur wie ein flüchtiges Spiel.

Ist dauerhaftes Liebesglück zu dritt denkbar?

Die Aufführung flimmert zwischen Nähe und Distanz zur Textvorlage. Mal drückt Stella (man sieht ihr atemlos zu: Steffi Kühnert) das ganze Weh aus, dann wirft sie unvermittelt Satzkaskaden im pragmatischen oder gar abgebrühten Tonfall hin. Ähnlich changieren die anderen Figuren. Es sind keine ausgeformten Charaktere, sondern gleichsam Menschen und Haltungen auf Probe – oder auch postmodern zersplitterte Seelen, nicht so recht fassbar. Sie kennen alle Gefühlsstufen, können alles vorführen, aber nichts festhalten.

Es scheint, als trauten Regie und Darsteller Goethe nie ganz über den Weg, als fühlten sie sich aber doch in den Bann gezogen. Man tastet sich wachsam heran und bekommt so viel mehr Nuancen in den Blick, als wenn man textfromm vorginge. Also erleben wir die Spiegelungen hoffnungsloser Abhängigkeit, das gelegentlich Debile in der Liebe, alle Bitterkeit des Verlassenseins, aber auch den fahrigen, fast unbeteiligten Umgang mit derlei Regungen.

Einmal platziert Stella jenen Fernando wie ein fragwürdig gewordenes Idol auf einen Drehteller, wo er zu fern verwehenden Grammoption-Klängen rotiert wie eine Porzellanfigur. Zunächst gibt’s Gelächter im Publikum. Doch diese Szene dauert an – und setzt zunehmend eine elegische Stimmung frei. Ein Bild, in dem man sich verfängt.

Für den Dreier-Konflikt gibt es keine eindeutige Lösung: In Bochum spielt man mit der Pistole Russisches Roulette, doch niemand kommt zu Tode wie in Goethes Zweitversion (1805). Sodann folgt Goethes Schluss von 1776: Beide Frauen wollen mit Fernando und miteinander leben. Fernando grunzt zufrieden, doch in seinem Laut kündigt sich schon neues Unglück an.

Langer Beifall für alle.

Termine: 25., 27. Nov., 8., 19. Dez. Karten: 0234/3333-111




Gebremster Freiheitsdrang – Holk Freytag inszeniert Goethes „Egmont“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Freiheit und Privilegien, Freiheit und Privilegien!“ So skandiert das Volk seine Forderungen. Die drei Darsteller, die es in Wuppertal verkörpern, schlagen dabei rhythmisch auf die Spielfläche. Sie wirken wie infantile Tyrannen. Doch wenn sich Abgesandte, der Obrigkeit blicken lassen, kuschen die Bürger sogleich. Dann pfeifen sie auf die Freiheit, und es bleibt das Bangen um ihre Privilegien.

Solch einen Verrat der Ideale an die Interessen soll’s in der Geschichte des Bürgertums des Öfteren gegeben haben. In Holk Freytags Wuppertaler Inszenierung des Goethe-Klassikers „Egmont“ wird man mit einer Farce daran erinnert. Doch ansonsten geht es gemessener zu.

Die Niederlande ächzen unter spanischer Fremdherrschaft. Statthalter Graf Egmont (historisch: 1522-1568) steht für gewisse Hoffnungen auf Selbstbestimmung. Es gärt im Volk. Doch an Egmont statuiert man ein Exempel: Am Ende wird er auf Herzog Albas Geheiß öffentlich hingerichtet.

Der Wuppertaler Egmont (Martin Bringmann) strahlt kein Charisma aus, er wirkt eher wie ein lavierender Liberaler. Das Volk, das jeder Parole nachläuft, lässt ihn denn auch mit seinem etwas faden Freiheitsdrang sehr bald allein. Trotzdem scheint dieser Egmont kaum Konflikte mit sich auszutragen. Edelmut von Anfang an – nicht sonderlich aufregend.

Kulturelle Dosis mit Beethoven erhöht

Das in ihn verliebte Klärchen (Tessa Mittelstaedt) gebärdet sich naiv, sie achtet wohl mehr auf Egmonts Insignien gräflichen Glanzes als auf seine politischen Worte. Nun die Majestätsbeleidigung: Goethes Stück ergeht sich streckenweise im steifen Austausch von Thesen. Manche Figuren erscheinen wie stillgestellt, von Leidenschaft befreit oder auch geläutert. Einiges von dieser marmornen Glätte bleibt an der Wuppertaler Aufführung haften. Sie ist recht gediegen, stellt den (gekürzten) Text in großer Klarheit vor uns hin, gefällt auch durch solide Sprachbehandlung und prächtige Kostüme. Doch eine Dringlichkeit, diese Tragödie jetzt zu spielen, wird nicht so recht erkennbar.

Auf der schräg in den Raum ragenden Spielfläche (Bühne: Wolf Münzner) prangt das Bild eines namenlosen flämischen Meisters, es zeigt eine spanische Königskrönung. Aus dem Stütz-Gestänge unter dieser großen Platte rappeln sich die Figuren hervor wie aus einem Kellergewölbe der Historie. Später tut sich ein Spalt auf in diesem Bild; ein Riss in der Welt, den man dieser Inszenierung sonst kaum anmerkt.

Die eigentliche Bühne wird eingenommen vom Sinfonieorchester Wuppertal (Leitung: Stefan Klieme). Das erhöht die kulturelle Dosis: Goethes Drama wird – einer früheren Tradition folgend – durch Beethovens „Egmont“-Musik ergänzt und beglänzt. Es erhebt die Seele. Das Freiheitsbegehren scheint in den Tönen inniger aufgehoben als im Text.

Termine: 23., 24.0kt; 15., 17. Dez. – 0202/569 4444.




Goethe, Grass und Görner im Rucksack – ein Rundgang durch die Hallen der Frankfurter Buchmesse

Aus Frankfurt berichtet Bernd Berke

Der Buchmesse-Rundgang gerät an manchen Stellen ins Stocken. Nicht nur, weil die Leute blättern oder einen Schwatz halten wollen, sondern weil Menschenknäuel rund um die Hochprominenz die schmalen Wege verengen. Beispielsweise gestern am Econ-Stand. War Oskar Lafontaine mal wieder da? Nein, nein, nicht immer nur er! Manfred Krug gab sich die Ehre des Signierens.

Schöne Anblicke: Nebenan verteilte eine Dame im Brautkleid Rosen, derweil stehen zwei Nonnen ganz dicht beim „Kommissar Stöver“, der heuer „66 Gedichte“ präsentiert. Von hinten ruft ein Zaungast: „Der sieht aber schlecht aus.“ Nun ja: Krug war nicht eigens „in der Maske“, ihm ist’s warm unter den Scheinwerfern.

Beim Durchzwängen merkt man, wie viele Besucher die unvermeidlichen Rucksäcke tragen. Das kostet Platz. Gewagte Überleitung: In diesen Beuteln steckt oft viel drin, in den Büchern mitunter auch. Beispielsweise im Brockhaus-Lexikon „Multimedial 2000″, das auf drei CD-Rom-Scheiben 89 000 Stichworte bietet und jederzeit übers Internet aktualisiert werden kann. Zu vielen Schlagwortcn bekommt man noch „Links“ (Verbindungen zu anderen Internet-Adressen), wo man beim Durchklicken noch mehr erfährt – weit übers Lexikon hinaus.

Die Belletristik treibt zwar oft die schönsten Blüten am Bücherbaum, doch die meisten Regale sind mit Ratgebern gefüllt. Es findet sich alles, womit man gesund, reich, schön und glücklich werden soll.

Der Sammler hat das Jahrhundert gern „komplett“

Die meisten Verlage haben irgendetwas zum Thema „Millennium“ im Programm, es ist eben die hohe Zeit der Rückblicke. Der Büchersammler hat das Jahrhundert gern „komplett“. Danach sehen und lesen wir weiter. Doch wer einmal mit Sachbüchern Tagesumsatz macht, schmückt sich auch gern mit der schönen Literatur, mit Dichtung „für die Ewigkeit“. Bestes Beispiel ist DuMont. Mit ihrer noch recht jungen belletristischen Reihe zählen sie schon zur Creme.

Wer einen Grass hat, zeigt ihn deutlich vor – in erster Linie Steidl und der Deutsche Taschenbuchverlag. Auch Goethe „zieht“ – zumal bei den „Hörbüchern“: I.utz Görners Gedicht-Rezitationen und der „Faust“ mit Gründgens stehen auf den beiden obersten Plätzen der akustischen Hitliste.

„Picknick mit Eckermann“

Auch Kochbuchverlage sind in diesem Jahr gern „Zu Gast bei Goethe“. Gelegentlich darf’s auch schon mal ein „Picknick mit Eckermann“ sein, Goethes Vertrautem der späten Jahre. Unterdessen bietet der Leipziger Miniaturbuch-Verlag Goethes „Faust I“ im Streichholzschachtel-Format. Das spart etwas von dem Platz ein, den die Rucksäcke kosten…

Manche Verlagskojen wirken traurig. Ein einziger Autor sitzt melancholisch herum. Andere hingegen geben sich triumphal, es sind die großen Gemischtwarenläden, die jedem etwas bieten: Bertelsmann besetzt eine ganze Standlandschaft; die Gruppe Droemer/Weltbild braucht turmartige Lichtsäulen, um all die Verlage zu nennen, die zu ihr gehören. Wer hat, der hat.

Über das Gastland Ungarn, das sich in der Halle 3 gediegen präsentiert, hat der Autor Peter Esterhazy Wesentliches gesagt: Man sei literarisch eine Weltmacht geworden, aber in der so besonderen Sprache eingekerkert. Wohl wahr. Die Übersetzer sind nicht zu beneiden. Bleibt der Rat: Achten Sie in der Buchhandlung Ihres Vertrauens auf die Ungarn – auf Namen wie György Dalos, Imre Kertesz, Laszlo Krasznahorkai, György Konrad, Terezia Mora und all die anderen.

Frankfurter Buchmesse: Bis einschl. heute (Freitag) nur für Fachpublikum. Samstag/Sonntag (9-18.30 Uhr) für alle zugänglich. Tageskarte 12 DM. Messekatalog mit CD-Rom und allen Adressen 45 DM.




Eine schrille Zicke namens Iphigenie: Durchs Wasser patschen und Worte hervorwürgen – Wie Regisseur Volker Lösch mit Goethe umspringt

Von Bernd Berke

Essen. Im Essener Theatercafé trug eine Kellnerin zur Premiere ein T-Shirt mit der offensiven Aufschrift „Zicke“. Doch wer hätte gedacht, dass dieses Wort hernach auf der Bühne so konkrete Gestalt annehmen würde? Da gebärdete sich Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als kreischiges Furienwesen. Überhaupt wurde Goethe im Zerrspiegel gezeigt.

„Wasser – Der Film“. So etwas gab’s vor einigen Jahren mal im Kino. Jetzt haben wir gleichsam „Wasser – Das Stück“. Denn Volker Löschs barsche Inszenierung des Goethe-Klassikers führt uns in einen ringsum turmhoch eingemauerten Bezirk. Dort tut sich vor dem Sockel, auf dem Iphigenie als Diana-Priesterin waltet, ein Planschbecken auf, in dem die Darsteller fortan immer wieder herumpatschen.

Mit Goethe an den Baggersee

Iphigenies Bruder Orest taucht einmal sogar minutenlang unter. Bei allem Staunen über die sportlich-technische Leistung (Atemgerät unter der Oberfläche?): Da ersäuft jeder Sinn. Es tobt sich ein blosses Körpertheater aus, dem der Text nur noch ein vager Anlass zu sein scheint. Mit Goethe an den Baggersee…

Beim Dichter ist Iphigenie, die sich aus dem Barbarenstaat des Königs Thoas nach Griechenland zurücksehnt, eine sanftmütig Leidende. Sie hat Thoas überredet, die Menschenopfer am Altar der Göttin Diana abzuschaffen. Überhaupt steht sie für eine Abkehr von wilden Rache-Mythen, von hin und her wogenden Geschwister-, Gatten- und Elternmorden in des Tantalus‘ Geschlecht. Unter Gefahr für Leib und Leben scheut sie schließlich gar die Lüge, die ihr und ihrem Bruder Orest zur Flucht vor Thoas‘ wachsendem Zorn verhelfen könnte. Derlei Lauterkeit und Edelmut galten schon Goethe selbst als „verteufelt humanistisch“.

Vulgäre Psychopathologie

Nun aber die Essener „Iphigenie“, die von Hannah Schröder verkörpert wird. Sie nölt, jault und quiekt dermaßen drauflos, dass man sich fragt, warum Thoas diese – mit Verlaub – Zîcke zur Frau nehmen will. Thoas (Claus Boysen) tappt wie ein trüber, tumber Tanzbär einher. Er und Iphigenie würgen vielfach einzelne Worte und Sätze hervor, brechen sie brachial aus dem Verstext heraus, als seien sie nicht mehr sagbar. Dabei ist es doch nur unsäglich, was man hier mit der Vorlage anstellt!

Orest (Benjamin Morik) und sein Gefährte Pylades (Denis Petkovic) kommen als offenbar schwules Duo wie zwei Preisboxer daher. Mit seinem Schwesterlein darf Orest auch schon mal hospitalistisch schaukeln. Vulgäre Psychopathologie der Sagenwelt.

Damit sie wach bleiben, werden die Zuschauer nach jeder Szene mit Missionen traktiert und von der Bühne her grell angestrahlt. Am Schluss ahnt man auch, warum sich Iphigenie so schrill benimmt – wegen der argen Männerwelt. Thoas, bei Goethe am Ende zur Friedfertigkeit überredet, brüllt hier sein finales „Lebt wohl!“ nur widerwillig heraus. Orest und Pylades gefallen sich beim stummen Nachspiel in bewaffneten Posen, während Iphigenie verzweifelt ein Schlupfloch in jener großen Mauer sucht. Die Männer sind eben nicht friedensfähig, und daran leiden auf ewig die Frauen. Dachten wir’s uns doch…

Termine: 24. Sept., 1. und 2. Okt. Karten: 0201 /8122-200. 




Goethe zum Schmökern und Staunen – eine Bücherschau zum 250. Geburtstag des Dichters

Von Bernd Berke

„Rätin, er lebt!“ soll seine Großmutter erleichtert der Mutter zugerufen haben, als er endlich den ersten Schrei tat. „Mehr Licht!“ hat er angeblich selbst geflüstert, als er 1832 starb. Sozusagen zwischen den beiden Momenten verfasste er seine allzeit, aber immer wieder anders gültigen Klassiker vom „Werther“ bis zum „Faust“. Die WR hat einen stattlichen Stapel neuer Bücher über Goethe gesichtet.

Der muntere Knabe guckt oben aus dem Fenster. Doch was tut er denn da? Lachend wirft er Tassen und Teller aufs Straßenpflaster. Klirr! Drunten stehen Leute und feuern ihn an: «Mehr! Mehr!“ Das schöne Familien-Geschirr…

Die Szene, die Goethe selbst in seinen Lebenserinnerungen „Dichtung und Wahrheit“ beschreibt, trug sich in seiner Vaterstadt Frankfurt am Main zu – und kann jetzt auch im Comic-Strip betrachtet werden. Das Leben des Dichterfürsten in bunten Bildchen mit Sprechblasen? Ja, wenn es der Leseförderung dient. Das Goethe-Institut und die Stiftung Lesen haben sich in die Edition eingeklinkt. Folglich tauchen keine Kürzel wie „Ächz“ oder „Sabber“ auf, sondern vornehmlich edle Originaltexte des Olympiers („Zum Sehen geboren“ / „Zum Schauen bestellt“, Ehapa Verlag, 2 Bände, je 52 Seiten, je 19,80 DM).

Mit „Goethe – Sein Leben in Bildern und Texten“ (Insel Verlag, 414 S. Großformat, 39,80 DM) kann man visuell in die damalige Ära eintauchen: So also hat Goethes Puppentheater ausgesehen, so sein Geburtshaus und so die Stadt Frankfurt zur fraglichen Zeit.

Zwei weitere Bildbände widmen sich dem Zeichner und Kunstkenner. Erstaunlich preiswert: „Goethe und die Kunst“ (Hatje, 644 S., 49,80 DM). Hier werden auch Themen wie „Wolkenstudien der Goethezeit“ aufgegriffen. Und man lernt, dass Goethe wichtige Künstler seiner Zeit wie Turner oder Goya praktisch ignoriert hat. Er war eben auch nur ein Mensch. Freilich einer, der fleißig zeichnete und von dem 2700 Blätter erhalten sind. Etliche stellt das Buch „Goethe. Der Zeichner und Maler“ (Callwey, 208 S., 99,90 DM) vor. Stets spürbar: die Freude am prallen Blühen der Natur.

„Goethes äußere Erscheinung“ (Insel-Taschenbuch. 200 S., 27,80 DM) besteht aus vielen Goethe-Porträts und Eindrücken der Zeitgenossen. So schrieb der Mime Wilhelm Iffland: Goethe hat einen Adlerblick, der nicht zu ertragen ist.“ Und Freund Friedrich Schiller bemerkte: „Er ist von mittlerer Größe, trägt sich steif und geht auch so; sein Gesicht ist verschlossen, aber sein Auge sehr ausdrucksvoll.. .“

Viele wollen Goethe ans Leder. So wurde ausgerechnet der so oft in weibliche Wesen Vernarrte als schwul „geoutet“, als Rabenvater oder politischer Reaktionär gebrandmarkt. Hier setzt auch dieses Buch an: W. Daniel Wilson „Das Goethe-Tabu“ (dtv, 414 S., 24,90 DM),

Wilson möchte partout beweisen, dass Goethe als Geheimrat in Weimar ein perfides Spitzelsystem aufgebaut habe, welches sich nicht nur gegen Studenten, sondern auch gegen Autorenkollegen wie Herder und Fichte gerichtet habe. Zudem habe er gnadenlos junge Burschen als Soldaten außer Landes verkauft. Just das Gegenteil liest Ekkehart Krippendorf aus den Quellen heraus: In „Goethe. Politik gegen den Zeitgeist“ (Insel. 232 S., 44 DM) würdigt er den Dichter als Förderer der Toleranz und der Abrüstungspolitik.

Federn lässt der Mythos des Dichters wiederum im Roman von Hugo Schultz: „Goethes Mord. Der Seelenmord an J. M. R. Lenz“ (Edition Isele, Eggingen. 441 S, 44 DM). Hier wird ein Verhalten beleuchtet, das Goethe nicht gerade sympathisch macht. Kaum einen seiner Zeitgenossen ließ er neben sich gelten. Besagten Dichter Lenz hat er ebenso kühl abblitzen lassen wie Heinrich Heine, Heinrich von Kleist oder Jean Paul – wahrlich keine zweitklassigen Schreiberlinge.

Ein wenig ins andere Extrem verfällt Gertrud Fussenegger in „Goethe – Sein Leben für Kinder erzählt (Lentz-Verlag/Herbig, München. 224 S., 24.90 DM). Hier ist sozusagen jede Zeile von Dankbarkeit erfüllt. Aber der Text klingt durchaus kindgerecht und gaukelt kein Wissen vor, das wir Heutigen nicht haben können. Der historische Abstand wird nicht verkleistert, sondern mit Würde gewahrt.

„Hat er, oder hat er nicht – und wann mit welcher?“

Wer sich ausgiebig mit Dichters Erdenwallen befassen will, greift vielleicht zu den Wälzern von Nicholas Boyle: „Goethe“ (Verlag C. H. Beck. Band 1: 1749-1790. 884 S., 78 DM / Band 2: 1790-1803, 1115 S., 88 DM). Der Brite geht wirklich in die Einzelheiten. Einen dritten Band ähnlichen Kalibers will er noch nachreichen. Bemerkenswert übrigens, dass Sigrid Damm: „Christiane und Goethe“ (Insel, 49,80 DM), eine intensive biographische Erkundung über Goethe und seine Frau Christiane Vulpius, seit Wochen die Sachbuch-Bestsellerliste anführt.

Falls man es lieber knapp und alphabetisch sortiert mag, erwirbt man das „Taschenlexikon Goethe“ (Piper, 316 S., 16,90 DM). Der Text gibt sich flockig. Unter dem Stichwort „Frauen“ erhebt sich die Frage: „Hat er, oder hat er nicht – und wann mit welcher?“ Hehe!

Nähern wir uns den Texten des Meisters selbst: „Verweile doch“ (Insel, 512 S.. 39.80 DM) heißt eine Auswahl von 111 Goethe-Gedichten mit Interpretationen. Ausgerechnet Marcel Reich-Ranicki knöpft sich Goethes berühmte Kritikerschelte vor… „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent“. Reich-Ranickis bezeichnender Befund: Das sei Volksverhetzung…

Dass auch Genies nicht immer auf einsamer Höhe stehen, lässt die schmale Kollektion „Goethes schlechteste Gedichte“ (Residenz-Verlag, 95 S., 19.80 DM) ahnen. Die Herausgeber haben hier vor allem auf‘ Gelegenheitslyrik (zu Geburtstagen, Jubiläen usw.) zurückgegriffen, die Goethe nebenbei aus dem Handgelenk schüttelte. Kostprobe: „Die Welt ist ein Sardellen-Salat / Er schmeckt uns früh, er schmeckt uns spat“. Nun ja. Gemein ist’s, solche lässlichen Sünden zu sammeln.

Ungleich ernsthafter gehen die Herausgeber der auf 40 Bände angelegten Gesamtausgabe vor. Soeben erschienen: „Goethes ästhetische Schriften 1816-20. Über Kunst und Altertum 1-11″ (Deutscher Klassiker Verlag. 1622 S., 198 DM). Titel und Preis lassen ahnen, dass wir es hier mit einem Monument penibler Germanistik zu tun haben. Die Erläuterungen beginnen bereits auf Seite 617, umfassen also rund 1000 Seiten und erdrücken Goethes Worte nahezu.

Auf Reisen war meistens ein Diener dabei

Eigentlich unglaublich: Für 99,90 DM kann man 22 Bände Goethe („Berliner Ausgabe“) nebst wichtigen Briefen, den Gesprächen mit seinem Vertrauten Eckermann und 120 Artikel aus dem Goethe-Handbuch erwerben. Allerdings nicht zum gemütlichen Schmökern, denn es handelt sich um einen Daten-Silberling für den Computer. Mit Suchfunktionen kann man z. B. herausfinden, an welchen Stellen Goethe etwa Worte wie „Liebe“ oder „Italien“ verwendet hat. Um den elektronischen Kraftakt „Goethe – Zeit, Leben, Werk“ (CD-Rom, 99,90 DM) mit Textmassen, Bildern und Tönen zu bestehen, haben sich die Verlage Metzler, Aufbau und Schroedel mit dem Südwestrundfunk (SWR) und der Stiftung Weimarer Klassik vereint.

Goethe unterwegs, Goethe als Feinschmecker – auf dem Buchmarkt gibt’s alles: „Goethe auf Reisen“ (Weltbild, 144 S., 39,90 DM) verknüpft den historischen Rückblick mit Reisetipps für heute. Goethes Touren waren weit beschwerlicher als unsere, er hatte aber meist einen Diener dabei.

Goethe war also ein Genießer, der sich manche Mühsal abnehmen lassen konnte. „Zu Gast bei Goethe“ (Wilh. Heyne Verlag, 215 S., 68DM) fuhrt uns an den Tisch des Lukullikers, der „Welsches Huhn mit Trüffeln“ oder  „Leipziger Allerlei mit Krebsen“ verzehrte. 40 Rezepte aus der Weimarer Hofküche kann man nachbrutzeln.

Der Dichter hasste Hunde und Raucher

Zum Schluss zwei besonders originelle Bücher. „Goethes merkwürdige Wörter“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 216 S., 58 DM) macht anhand von über 1000 Begriffen bewusst, wie weit wir uns sprachlich von Goethes Epoche entfernt haben. Der Blumenliebhaber hieß bei ihm noch „Blumist“, für Pedanterie schrieb er „Kahlmäuserei“. Sagte er „Geilheit“, meinte er Übermut und „Dreistigkeit“ bedeutete ihm Zuversicht. Ein gar schönes Museum der deutschen Sprache.

Angriffslustig gehen Oliver Maria Schmidt und J. W. Jonas in „Gute Güte, Göthe!“(Haffmans-Verlag, 220 S., 24 DM) zu Werke. Unter der Überschrift „bebende Bärte“ werden Goethe-Deuter der verflossenen Jahrhunderte dem Gelächter preisgegeben: lauter salbungsvolle Rechthaber und Erbsenzähler der komischsten Sorte. Welch eine herrliche Realsatire zur Wirkungsgeschichte Goethes!

Schmunzelnd lernen wir hier auch Goethes Abneigungen kennen: Der leidenschaftliche Weintrinker hasste Hunde, Raucher, Brillen, Lärm, Sauerkraut und das „Zerknaupeln“ (Kneten) von Kerzenwachs. Außerdem gab er geliehene Bücher nie zurück. Dem Haffmans-Band entnehmen wir das passende Schlusswort, ein Zitat von Walter Benjamin aus dem Jahr 1932 (100. Todestag Goethes): „Jedes in diesem Jahr über Goethe eingesparte Wort ist ein Segen“. Schon gut. Wir schweigen.

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Der Text stand am 28. August 1999 in der Wochenendbeilage der Westfälischen Rundschau.




Der geile Drang des Menschen – Jürgen Kruse inszeniert Goethes „Urfaust“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Mephisto meint es ehrlich mit der Gottverleugnung. Muß er Worte wie „heilig“ oder „beten“ aussprechen, so beginnt er zu krächzen und die Silben herauszuwürgen, daß er einem fast leidtut. Wenn dann in Jürgen Kruses Bochumer „Urfaust“-Inszenierung jene Zeilen der Rolling Stones erklingen, welche „Sympathie mit dem Teufel“ bedeuten, so summt man eben leise mit. Mh, mh, mh.

Goethes erst 1887 in der Abschrift eines Hoffräuleins entdeckter „Urfaust“ enthält bereits die meisten Hauptmotive des „Faust I“, freilich in roherer, noch nicht klassisch geglätteter Form: Einmal geistert in Bochum eine gravitätische Figur daher (es mag der alte, saturierte Geheimrat Goethe sein) und hält dem noch so ungeschlachten Faust angewidert den Mund zu.

Es fehlt noch die finale Rettung

Es fehlen im „Urfaust“ noch der „Prolog im Himmel“ sowie der ausdrückliche Teufelspakt, und wenn am Ende Gretchen „gerichtet“ ist, widerruft noch keine göttliche Stimme von oben: „gerettet“. Goethes frühes Drama ist nun mal erdnäher. Das muß Jürgen Kruse gereizt haben.

Ein übergreifendes „Konzept“ waltet hier nicht, es wäre Kruse wohl zu bestimmend. zu eindeutig. Statt dessen das schöne Chaos und die Lust, etliches spontan aufzugreifen. Die Bühne (Steffi Bruhn) sieht aus wie ein unaufgeräumtes, mit allerlei Plunder vollgestopftes Kinderspielzimmer.

Am Bühnenhimmel schweben Fischskelett, Sonnenblume, Erdbeere und Puppen. Weinkrüge und Madonnenfiguren säumen den vorderen Bühnenrand. Eine Anhäufung, in der man allseits rasch vielerlei Theater-Alchemie erproben kann. Wozu haben wir denn jetzt grad mal Lust? Nicht die schlechteste Art, diesen Text aufzubereiten. Zumal Kruse ihn keineswegs wahllos wegwerfend ausschlachtet, sondern weitgehend integer darbietet.

Simultan sind die Sphären sofort da. Während Selbstquäler Faust (Wolfram Koch) links in seinem Studierzimmer den öden Weltenlauf bedenkt („Habe nun, ach…“), sieht man rechts die Kindfrau Gretchen, mit Fäden buchstäblich ganz versponnen in ihr kleines Unschulds-Reservat.

Mit Teufels Beistand Weiber und Länder zerstörend erobern

Auch die fühllose Mitwelt ist samt Geistern stets präsent, sie beobachtet das Geschehen meist von einem Umlauf aus, der sich als Halbrund über die Bühne zieht. Lemurenhafte Wesen wie vom Planeten der Affen mischen sich drein, wie denn überhaupt Jürgen Kruse wieder seinem Hang zu populärer Kultur zwischen Comic, Rock (erneut eine Auswahl der Sonderklasse, gebt ihm eine Radiosendung!) und Horror frönt. Seine Fangemeinde lechzt danach.

Aufs Zelt hat jemand eine primitive Erdkarte gekrakelt, ein wabbeliger Kontinent firmiert kurzerhand als „Busch“. Da haben wir wohl das Weltbild des unbehausten Faust, des Kolonialisten, der mit Teufels Beistand Länder wie Weiber zerstörend erobert. Faust mag Mephisto noch so als „Tier“ beschimpfen, er hat ihn schließlich gerufen und angestachelt. Wer ist hier das Ungeheuer? Der faustische Mensch in seinem dunklen geilen Drang.

Auch Gretchen ist nicht gar so himmelsrein: Als sie Fausts Schmuckgeschenk entdeckt, läßt sie die Perlen lüstern in den Mund gleiten. Mephisto (Sabine Orléans) tritt beileibe nicht als dürrer Versucher in Erscheinung, sondern als properer Kumpan; er hat – mit Verlaub – sinnliches Volumen. Und er ist die einzige Figur, die ihrer selbst inne bleibt.

Wie’s ausgeht, weiß man ja. Das geschändete Gretchen („Meine Ruh ist hin…“) wird wegen Mutter- und Kindsmord in den Kerker geworfen. Judith Rosmair, greulich bluttriefend, steigert Gretchens Wehklagen zum furios-wahnhaften Finale zwischen hexenhaftem Fauchen und Engels-Singsang. Kein Exorzist, der dieser Besessenen helfen könnte, aber ein Premierenpublikum, das frenetischen Beifall spendete.

Termine: 3./4./12./13. Juni Karten: 0234/3333-111.




Sprache frißt Liebe auf – Goethes Trauerspiel „Clavigo“ im Essener Grillo-Theater

Von Bernd Berke

Essen. Mit seinem Trauerspiel „Clavigo“ machte Goethe 1774 nicht viel Federlesens. Nach einer Art Wette im traulichen Kreise hat er das Drama binnen einer Woche sozusagen „hingefetzt“. Doch das Stück hat Bestand. Goethe war eben gut. Nun eilt ihm das Essener Schauspiel hinterher und hält sich an die alte Fußball-Weisheit: „Das Spiel dauert 90 Minuten“. Schöne Kurzweil?

Clavigo (Denis Petkovic) befindet sich auf dem Karrieretrip, er rechnet sich Chancen beim spanischen Hofe aus. Als Star-Autor läßt er sich gern von liebenden Musen beflügeln, doch rasch langweilen sie den Sturm- und Drang-Menschen auch wieder. Folglich hat er die süße Französin Marie sitzenlassen, also schmählich entehrt.

„Daß man so veränderlich ist!“, staunt der Wankelmütige über sich selbst. Denn zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust. Auch ein romantischer Träumer glaubt er zu sein und als solcher meint er Gewissensbisse zu haben. Doch die werden ihm vom Einflüsterer Carlos (stark: Manfred Meihöfer) geradezu mephistophelisch ausgeredet – im Sinne schrankenloser Selbstverwirklichung, die dem Genie zustehe. Frauen schänden? Na, klar! Wenn’s dem eigenen Fortkommen dient…

Der Rechthaber als Springteufel

Gegenspieler Beaumarchais schnellt in Essen wie ein Springteufel auf die Bühne. Der Ehrenmann ist nach Madrid geeilt, um seine Schwester Marie (puppenhaft naiv: Sigrid Burkholder) zu rächen. Anders als bei Goethe, läßt er sich hier in diesem brennenden Wunsch nie erweichen. Seine erste Unterredung mit Clavigo beginnt mit gewundenen diplomatischen Floskeln, doch bald fällt die Maske: Mit blutroten Handschuhen angetan, will sich der Rechthaber am Feinde nur gewaltsam gütlich tun. Überhaupt verbirgt die schöne Sprache diesmal nur Falschheit, ja, sie erweist sich im Lichte der wahren Triebe und Interessen als Gesülze. Deutlich wird die liebes- und lebensfressende Gewalt wohlgesetzter Worte bei gleichzeitiger Seelenkälte.

Versöhnung gibt‘ s in der Essener Inszenierung (Regie: Erich Sidler) nicht, höchstens Kumpanei. Und wo bei Goethe die finalen Todesfälle empfindsam beredet werden, ist’s in Essen flugs getan: ein Stich, ein Satz, vorbei.

Am Ende die rohen Tat-Sachen. Unbehauste Welt: keine Möbel, fast keine Gegenstände (Bühne: Miriam Möller). Man sieht anfangs nur einen breiten, ganz flachen „Cinemascope“-Ausschnitt mit blaßblauem Hintergrund. Dieser Einblick, der Distanzen und Künstlichkeit betont, weitet sich langsam, zugleich sinken die Figuren allmählich zum Bühnenboden herab. Vom Himmel des Idealismus werden sie herabgeholt, stellenweise auch etwas achtlos herabgezerrt. Doch einen interessanten Ansatz, das Stück bei den Hörnern zu packen, hat man gefunden. Der Text hält es aus.

Termine: 9., 23. April, 2., 17. Mai. Karten: 0201/8122-200.




Die Posen des jungen Werther – Joachim Meyerhoff im Einpersonen-Stück nach Goethe

Von Bernd Berke

Dortmund. Leuchtenden Blicks betritt der junge Mann die Bühne. Er schaut aus dem Fenster, labt sich am Anblick der Natur. Später wird die Liebe noch mehr Glanz in seine Augen bringen. Doch am Ende flackert der Wahn in den Pupillen. So sind „Die Leiden des jungen Werther“. Aber sind sie es wirklich?

Ist es wirklich noch Goethes Briefroman, der im Studio des Dortmunder Theaters in einer Ein-Mann-Produktion verkörpert wird? Joachim Meyerhoff firmiert als Regisseur, Bühnenbildner und Solodarsteller. Respekt vor seinem Mut! Er hat wohl weitgehend ohne Widerhall gearbeitet. Oh, einsames Spiel, passend zum Liebesweh…

Werthers unerfüllte Sehnsucht nach der schönen Lotte, die bereits dem braven Albert versprochen ist, hat nicht nur literarisch Epoche gemacht. Damals, im „Sturm und Drang“, wurden seine Stulpenstiefel, die blaue Jacke mit gelber Weste Mode – und auch sein Selbstmord wurde vielfach nachgeahmt.

Betrifft einen das noch? Wenn man je heftig verliebt gewesen ist: Ja. Und wie! Denn es ist ein reicher, ein unerschöpflicher Text. Meyerhoff“ traut Goethe offenbar nicht ganz über den Weg. Tatsächlich kann man den „Werther“ ja nicht mehr bruchlos spielen. Seine Briefe an den fernen Freund Wilhelm gerinnen hier – in sinnvoll gekürzter Form – zu Selbstgesprächen. Per Dia-Projektion wird jeweils ein Kernsatz des kommenden Abschnitts angezeigt. Dann flammt das zuvor erstorbene Licht wieder auf. Es bewirkt ein stetiges Auf- und Abtauchen der Figur.

Ein Herz pulsiert elektrisch

Und so sehen wir diesen „Werther“, wie er sich behutsam (und manchmal mit einem Anflug von Ironie) an die wunderschöne Sprache herantastet, wie er die Worte wägt, Stuhl und Tisch versuchsweise hin und her rückt. Es ist, als überlege er noch, wie er sich zum Text stellen soll. Mal nimmt er probehalber den Gestus eines Kongreßredners ein, mal hängt er sich an die Wand wie gekreuzigt, oder er reitet zitternd auf dem Stuhle. Solche gesuchten Haltungen erstarren leicht zu Posen. Und manchmal wird es seltsam komisch. Wenn Werther sagt, er habe Lottens Auge gesucht, so wühlt er in den Jackentaschen. Doch es gibt auch gelungene Szenen: Der anfangs glückliche Werther etwa, im beseelten Umgang mit den Requisiten, die er spielerisch leicht handhabt.

Man darf sich aber den „Werther“ leidenschaftlicher vorstellen, drängender, fiebriger. Gewiß: Auch der Dortmunder Werther zeigt eine Leidensmiene vor, windet und krampft sich in sich selbst hinein, spricht verzweifelt dem Rotwein zu. Doch das meiste scheint eher vom kühlen Hirn gesteuert zu sein, nicht so sehr vom heißen Herzen. Ein solches hängt nur als knallrotes Dekorationsstück in der Luft und pulsiert elektrisch.

Weitere Termine: 30. und 31. Januar. 3., 4., 16. und 17. Februar, jeweils 20 Uhr. Karten: 0231 / 16 30 41.




Im „Faust“ wird mit der Maus geblättert – Wie sich Goethes Weltendrama auf einer CD-Rom liest

Von Bernd Berke

Heute legen wir ’ne heiße Scheibe auf: Goethes „Faust“. Dabei geht’s nicht etwa um eine neue Punkgruppe, die sich frech den klassischen Namen anmaßt, sondern um Johann Wolfgang höchstselbst. Dessen Weltendrama ist jetzt auf einer silbernen Datenplatte (CD-Rom) erschienen.

Entsprechendes Laufwerk vorausgesetzt, kann man entweder ein Suchprogramm oder den kompletten „Faust I“ mit allen Begleittexten und sonstigen Zutaten auf die Computer-Festplatte holen. Letzteres kostet freilich mit happigen 8 Megabyte fast so viel Speicherplatz wie das gesamte „Windows“-System (Version 3.1), also die kleinen Bildfenster zum Anklicken mit der Maus.

Und was hat man davon? Nun, bestimmt keine gemütliche Lektüre zum Kaminfeuer. Die Seiten erscheinen mit einer gelbgrau melierten „Tapete“ hinterlegt. Hübschhäßlich.

Man blättert mit dem Mauszeiger. Dieser verwandelt sich zwar nicht in eine Faust (haha), wohl aber in ein kleines Händchen, das auf vor- und rückwärts gespitzte Symbol-Dreiecke deutet. Mit der richtigen Hand in einem richtigen Buch geht’s schneller, vom sinnlichen Gefühl beim wirklichen Blättern ganz zu schweigen. Jedenfalls könnte einem angesichts der flimmrigen Texte schon dieses „Faust“-Zitat einfallen: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten…“

Wo der Hund begraben liegt

Aber die Computer-Ausgabe hat mehr zu bieten. Bestimmte Goethe-Sätze kann man z. B. so ansteuern, daß sich Fenster mit punktgenauen Erläuterungen öffnen. Früher hat man in den Fußnoten oder den Erläuterungen am Ende eines Bandes nachgesehen, nun gräbt man eben direkt unter der Text-Oberfläche. Sodann kann man sich, wenn einem der Sinn danach steht, müßige Späße erlauben: zum Beispiel nachsehen, in welcher Zeile zum ersten Mal Gretchen erwähnt wird und wo sie dann wieder auftaucht. Diese Statistik wollten wir immer schon mal aufstellen. Wir haben uns nur nicht getraut.

Außerdem merkt sich das System die zuletzt aufgeschlagene Seite und kniffelt – wie niedlich! – eine virtuelle Büroklammer an den Rand. Apropos Rand: Wo man ehedem vielleicht seine Anmerkungen hingekritzelt hat, kann man nun ein elektronisches Notizkärtchen aufrufen und seine Ergüsse darauf plazieren. Gepriesen sei der Fortschritt!

Noch’n Test: Wo kommt im „Faust“ das Wort „Hund“ vor? Suchfunktion starten – und man erfährt es. Stelle für Stelle. Erster Fundort: Seite 13 mit dem Zitat „Es möchte kein Hund so länger leben.“ Freilich interpretiert das Programm die Tiergattung doch recht eigenwillig und zeigt später ganz stolz „hund-ert“ oder sogar „gesc-h u n d-en“ vor. Liegt also auch da des Pudels Kern?

„Da steh‘ ich nun, ich armer Tor…“

All das hätte man notfalls ohne Computer bewältigt. Doch auf der (übrigens erstaunlich preiswerten) CD-Rom ertönen an einigen Stellen auch noch Schauspielerstimmen, die Textpassagen auf Abruf vorlesen. Und ein paar kleine Bildchen von alten Theaterzetteln, Goethes Handschrift usw. gibt’s obendrein.

So etwas nennt man heutzutage wohl mutimedial. Es könnte aber auch noch Leute geben, die ihr nüchternes Fazit aus dem „Faust“ beziehen: „Da steh‘ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“

Goethe: „Faust I“. CD-Rom im Reclam-Verlag (14,90 DM). In derselben Reihe: Kafka „Die Verwandlung“, Storm „Der Schimmelreiter“, Lessing „Nathan der Weise“, Schiller „Wilhelm Tell“ u. a.




Farce von der Liebe und ihrer taktischen Abwehr – Amélie Niermeyer inszeniert Goethes „Clavigo“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Schwankende Gestalt: „Der Seiltänzer“ von Paul Klee ziert das Dortmunder Programmheft zu Goethes „Clavigo“. Auch dieser Karrierist am Königshofe von Madrid ist artistisch biegsam und neigt sich – je nach Gelegenheit – wechselhaft zu allen Seiten, um ja nicht abzustürzen.

Ein Mädchen wie Marie könnte auf seinem Weg dort oben nur hinderlich sein. Also verläßt er sie. Doch er hat ein offenes Ohr für Überredungskünste: Also kehrt er zu ihr zurück, wenn ihr Bruder Beaumarchais darauf drängt – und verrät sie dann erneut, weil sein Freund Carlos es so will. Wo Clavigo auch geht und steht, er ruft den Leuten zu: „Ich bin der Eurige“. Ha! Ist das nun eine Tragödie, oder ist es eine Farce?

Wohl eher eine Farce, scheint Regisseurin Amélie Niermeyer zu finden. Sogleich stürmen Clavigo (Michael Ehnert) und Carlos (Frank Voß) herein. Sie liebkosen ihr druckfrisches Zeitungs-Blättchen, das „alle Weiber bezaubem“ werde. Zwei schöne Hallodris haben wir da, fast bis aufs Haar ununterscheidbar. Yuppies bei Hofe, verantwortungslose Selbst-Genießer. Doch man wird sehen: Auch die anderen Menschlein sind nicht viel besser. Carlos, sonst oft nur Bösewicht und Einflüsterei, ist hier eher die zweite Seele in Clavigos Brust.

Seltsam leichtlebige Schwestern

Nun aber dreht sich die aufrecht stehende riesige Zylinderform (zweckdienliches Bühnenbild, abwechselnd eng und weit: Alexander Müller-Elmau) und gibt den Blick in ihr Gehäuse frei: Es ist die Sphäre der verlassenen Marie (Eleonore Bircher), ihrer Schwester Sophie (Katharina Abt) und ihres Schwagers Guilbert (Otmar Schrott). Auch hier spielt man seltsam leichtlebig vor sich hin, kratzt ein wenig auf der Geige, tanzt und kichert sogar. Etwas grotesk und uhrwerkartig ist das sicherlich, doch soll dies ein Haus des Leidens sein? Wenn hier von Liebesschmerz geredet wird, wirkt er wie an-gedichtet, wie bloßer Affekt, nervöses Gebaren. Marie muß denn auch von den Ihren zum vermeintlichen Glück geprügelt werden. Wenn sie später stirbt, hat das vielleicht damit zu tun – und weniger mit Liebesleid. Weder bei Clavigo noch bei Marie kann es mit der Liebe weit her sein. Sie gerinnt zu Ansprüchen und deren taktischer Abwehr.

Und dann erst Maries Bruder Beaumarchais (Kai Hufnagel): Wie der hereinsaust und seine Kreise zieht! Ein wildgewordener Möchtegern-Napoleon, wie frisch aus einem Irrenwitz entsprungen, schnarrt er diktatorisch seinen Rachedurst heraus. Weh denen, die sich von so einem „helfen“ lassen! Man fürchtet schon, nun beginne die große Goethe-Verulkung. Doch das ist nicht wahr: Es folgt ja die großartige, innige Überredungs-Szene, in der Carlos den Clavigo wieder „umdreht“, den er schon zu verlieren drohte. Da fallen die höfischen Perücken.

Zum Schluß rafft es alle dahin

Bei Goethe sterben nur Marie und Clavigo, in Dortmund rafft es im Schlußbild alle dahin. Nur Clavigo überlebt und ruft sämtlichen Toten zu: „Ich bin der Eurige!“ Triumph des Opportunisten über Leichenbergen? Doch so spielerisch sind sie gestorben, daß sie gewiß gleich wieder aufstehen und ihre Intrigen von vorn abschnurren lassen könnten.

Die Inszenierung, von der man nie recht weiß, ob sie den Wallungen ihrer Figuren nur ironisch mißtraut oder ob sie auch echten Gefühlen nachtrauert, überzeugt – aufs Ganze gesehen – durch ihre unverkrampft zupackende Art, ein homogenes Ensemble, prägnante Kostüme (Jasmin Andreae) und gleichermaßen dezente wie eingängige Musik-Überleitungen (Michael Nyman). Jammerschade, daß eine ersichtlich begabte Regisseurin wie Frau Niermeyer Dortmund schon wieder den Rücken kehrt und gen München zieht.

(nächste Vorstellungen: 6. und 19. März)