Von Dichtung, Faschismus, Alltag, Jungsein und Schule – fünf neue Bücher über fast alles

Hier mal wieder ein paar bemerkenswerte Bücher – im Fünferpack, zum Selberlesen oder Verschenken. Naturgemäß nicht nur zur Weihnachtszeit.

Er hat sie fast alle gekannt

Unter den lebenden deutschsprachigen Verlags- und Büchermenschen dürfte es schwerlich noch so einen geben, der wohl alle wesentlichen Schriftsteller der Nachkriegszeit persönlich gekannt hat. Michael Krüger kann denn auch aus einem wahren Füllhorn von Erzählbarem schöpfen, wenn es um solche bezeichnenden Begegnungen geht. Allein schon das Foto auf dem Cover, 1981 in Australien entstanden, lässt es ahnen. Es zeigt Michael Krüger mit den gewichtigen Literaten Arnfrid Astel, Jürg Federspiel, Peter Rühmkorf, Hans Magnus Enzensberger und Reinhard Lettau – ein reiner Männerbund freilich, der heute mit Einsprüchen rechnen müsste. Michael Krüger: „Unter Dichtern“ (Suhrkamp, 618 Seiten, 34 Euro) lässt jene Zeiten und all die Gespräche noch einmal lebendig werden. Eitelkeit nicht völlig ausgeschlossen: Jede Begegnung adelt gleichsam auch den, der davon zu berichten weiß. Es sind gesammelte Texte aus den letzten Jahrzehnten, in denen Krüger (der übrigens am 9. Dezember 82 Jahre alt wird) sich seine Gedanken u. a. über Elias Canetti, Oskar Pastor, Hermann Lenz, Jürgen Becker, Botho Strauß, Nicolas Born, Peter Handke, die erwähnten Rühmkorf und Enzensberger, Ernst Meister und Ilse Aichinger macht. Überdies gibt es auch wenige Rückgriffe in frühere Epochen (Andreas Gryphius, Eduard Mörike). Eine Fundgrube für alle literarisch Begeisterten!

Es geschah und kann wieder geschehen

Es ist wohl eine der wichtigsten Neuerscheinungen des vergangenen Bücherherbstes: Götz Aly „Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945″ (S. Fischer, 762 Seiten, 34 Euro) stellt die immer noch und für alle Zukunft brennende Frage, warum so viele Deutsche für Hitler und die NSDAP gestimmt haben und welche höllische Mischung aus sozialen Wohltaten und polizeilicher Willkür die Gewaltherrscher damals angerichtet haben. Die eigentlich kriegsmüden Deutschen ließen sich sodann in einen erneuten Angriffskrieg und unfassbare Verbrechen hineinziehen. Götz Aly versucht, die Beweggründe und Mechanismen solchen Widersinns zu ergründen. Er geht dabei auf zahlreiche Phänomene der NS-Machtergreifung und Machtsteigerung ein. Auch Kenner der Materie werden hier auf neue Einsichten gebracht. „In dankbarer Erinnerung“ widmet Aly das Buch u. a. dem lange Zeit (1968-1996) an der Ruhr-Uni Bochum tätigen Historiker und maßgeblichen NS-Spezialisten Prof. Hans Mommsen. Ein hauptsächlicher Antrieb seines Schreibens wird in Götz Alys letztem Kapitel deutlich, er nennt es mahnend „Was geschah, kann wieder geschehen“. Wenn doch nur Bücher dieser aufrüttelnden Art den bedrohlichen Befund etwas weniger wahrscheinlich machen würden! Als der Band endlich wieder lieferbar war und ich ihn erwerben konnte, lag er immerhin schon in der dritten Auflage vor. Das wiederum wird wohl mit unguten Vorgängen in unserer Gegenwart zu tun haben. Vielen Menschen ist offenbar bewusst, dass sie sich wappnen müssen.

„Ich blättre. Lilli bügelt.“

Wenn es in Nachkriegsdeutschland veritable Kult-Schriftsteller gegeben hat, so dürfte Arno Schmidt gewiss in vorderster Reihe zu nennen sein. Der Mann mit dem unvergleichlichen Schreibstil hat noch heute scharenweise eingeschworene Anhänger und willige Exegeten, die sich eingehend mit Leben, Werk und Wirkung befassen. Sie alle erhalten nun neue Nahrung, denn die Arno Schmidt Stiftung hat einen voluminösen Band mit Aufzeichnungen herausgebracht: Arno Schmidt: „Tagebücher der Jahre 1957-1962″ (Suhrkamp, 778 Seiten, 68 Euro). Schmidt führte mit seiner Frau Alice (genannt „Lilli“) seit 1958 in Bargfeld (Heidedorf in Niedersachsen) ein einsiedlerisches Leben, weit abseits von den Zumutungen allgemeiner Alltäglichkeit und doch tief in seinen eigenen Alltag vergraben, in selbstgewählte Begrenztheit. Hier erhalten wir nun Kunde bis hinein in fast schon bizarre und dennoch immer wieder aufschlussreiche Banalitäten. Beliebiges Beispiel aus dem März 1958: „Ich blättre. Lilli bügelt.“ Kurz darauf: „Ich wurmisiere. Lilli Aufräumen + Abwaschen / Kaffeerausch; und über mehreres nachgedacht (…) Lilli badet (…) / Noch lesen: {ich Herder} Lilli Kreuzworträtsel!“ Derlei Mitteilungen Zeile für Zeile und Zug um Zug über Hunderte von Seiten zu lesen, ist schon eine arge Herausforderung, zumal man den Mann keineswegs sympathisch finden muss. Man lese nur die teilweise hundsgemeinen Äußerungen über seine dienstbare Frau, deren Unterordnung ihm allerdings kaum je genügt… Register, Fotos, Fußnoten, Faksimiles und zeitliche Einordnungen erschließen dies und jenes, es handelt sich um eine (von Susanne Fischer herausgegebene) sorgfältige, ja geradezu liebevolle Edition; ganz so, wie es einem Arno Schmidt zukommen könnte. Was ER dazu wohl gesagt hätte? Wahrscheinlich hätte er haltlos geschimpft, wie beinahe über alles. Übrigens hatte, später ebenfalls von Susanne Fischer ediert, Alice Schmidt zuvor Tagebuch geführt und dies recht abrupt aufgegeben. Es gibt heutige Leser, die ihre Aufzeichnungen seinen Auslassungen bei weitem vorziehen.

Wie war das noch mit 16 Jahren?

Der Romantitel könnte vor allem Frauen ansprechen, die zu jener Zeit ihre Pubertätsjahre erlebt und durchlitten haben: Linn Ullmann „Mädchen, 1983″ (Luchterhand, 286 Seiten, 24 Euro) erzählt von einer damals 16-Jährigen, die einem Modefotografen erlauben wollte, in Paris Fotosessions mit ihr zu machen – gegen den Willen der Mutter, was ihren Freiheitsdrang jedoch erst recht befeuert hat. Nun, beinahe 40 Jahre später, will sie sich Rechenschaft über ihr Leben als junges Mädchen und die Zeit seither ablegen. Kann sie den Menschen verstehen, der sie seinerzeit gewesen ist? Der norwegischen Schriftstellerin Linn Ullmann wurde in einigen Rezensionen bescheinigt, sie gehöre in die Tradition der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Immer diese Vergleiche! Jedenfalls weitet sich der Roman zu einer generellen, streckenweise furiosen Reflexion über Irrungen und Wirrungen eines exemplarischen (Frauen)-Lebens. Dabei beginnt der allererste Satz doch so unscheinbar und schlicht: „Ich bin sechzehn Jahre alt…“

Wider die Waldorf-Ideen

Ehemalige Waldorf-Schülerin übt grundsätzliche Kritik an der Waldorf-Pädagogik. Mit dieser knappen Feststellung und mit dem länglichen Untertitel des Buchs ist die Stoßrichtung umrissen. Bettina Schuler: „Der Waldorf-Komplex. Zwischen Mystik und Pädagogik: Die Schattenseiten des anthroposophischen Bildungssystems“ (Droemer Paperback, 218 Seiten, 20 Euro) hält mit den Absichten nicht hinter dem Berg. Die dem Plakativen nicht vollends abgeneigte Autorin (vorheriger Erfolgstitel: „Schlachtfeld Elternabend“) geht zurück auf die weltanschaulichen Herleitungen der anthroposophischen Pädagogik und findet dabei wissenschaftsferne und autoritäre Elemente zuhauf. Obwohl sich Bettina Schuler nicht ungern an die eigene Schulzeit erinnert, benennt sie doch typische Waldorf-Lehrinhalte, die schlimmstenfalls sogar die Demokratie gefährden könnten. Sie setzt daher ihre Hoffnungen auf einen kreativen Sinneswandel in den öffentlichen Schulen, denn Waldorf-Pädagogik sei kaum veränderbar, sofern sie auf Rudolf Steiners Ideen beharre. Und wenn sie diese Basis verlasse, sei es eben keine wirkliche Waldorf-Pädagogik mehr.

 




40 Jahre danach: Abrechnung mit den 68ern – Persönliche Erinnerungen und nachträgliche Analysen zur Revolte

Von Bernd Berke

Vierzig Jahre ist es nun schon her, doch das Thema scheint schier unerschöpflich: Was ist vom Mythos des rebellischen Jahres 1968 geblieben? Was wirkt weiter? Was hat sich womöglich „erledigt“? Mit solchen Fragen befassen sich in diesen Jahr etliche Buchautoren. Eine Auswahl:

Höchst provokant geht Götz Aly zu Werke, ein einstiger Mitstreiter der Revolte. Verglichen mit damals, vollzieht er eine komplette Kehrtwende. Schon der Titel seiner Abrechnung, „Unser Kampf 1968″, der gefährlich an Adolf Hitlers „Mein Kampf“ anklingt, lässt es ahnen. Zwar kann auch Aly bis heute die Anstöße zum Aufstand (verdrängte NS-Vergangenheit, Vietnamkrieg, Springer-Presse) nicht ganz leugnen, doch wendet er ansonsten alles gegen die studentischen Akteure.

Als wolle er sich und seine Generation nachträglich selbst bestrafen, bezeichnet Götz die Studentenrevolte als eine „Bewegung“, die manches mit den verhassten Vätern aus der NS-Zeit gemein gehabt hätte – bis hin zur Figur des Anführers, dem laut Aly „machthungrigen“ Rudi Dutschke.

Seine Quellen waren u. a. Akten vom Verfassungsschutz. Skepsis wäre da angebracht gewesen. Statt dessen: schnöder Verrat an der eigenen Jugendzeit! Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung vertritt ähnliche Thesen, doch ungleich leiser. Sein mit Anmerkungen gespicktes Buch „Acht und Sechzig. Eine Bilanz“ kehrt totalitäre Versuchungen und Tendenzen der Revolte hervor, wie sie seinerzeit schon der Philosoph Theodor W. Adorno angeprangert hat.

Andere sagen’s gänzlich anders: Laut Peter Schneider war Rudi Dutschke ein Mensch „reinen Herzens“, und Reinhard Mohr attestiert dem Studentenführer schlichtweg mitreißendes Charisma. Der Schriftsteller Peter Schneider (Romanerfolg „Lenz“) hat für „Rebellion und Wahn – Mein 1968″ seine Tagebücher von damals neu gelesen – mit wachem Sinn für beide Lebensphasen. Er macht die Impulse seiner jungen Jahre nicht nieder, sondern nimmt sie wichtig, ohne sie zu glorifizieren. Ein betrüblicher Befund: Das Private sei in jenen Jahren unterm Politischen verschüttet worden. So bemerkt Schneider heute mit Erstaunen, dass er damals eine Liebesgeschichte durchlitten hat, die im Grunde mindestens so bedeutsam war wie all die Demos, in deren Sog man anfangs eher per Zufall hineingeraten sei.

Reinhard Mohr („Spiegel online“) ist kein Achtundsechziger, sondern ein Nachgeborener. In „Der diskrete Charme der Rebellion“ betrachtet er die Dinge aus ironischer Distanz, was als Gestus des „Darüberstehens“ nicht immer angenehm ist. Recht ausführlich zeigt er die Vorgeschichte: Stumpf- und Biedersinn der Adenauer-Zeit; erste Gegenkräfte, etwa bei den Schwabinger Gaudi-Krawallen der frühen 60er Jahre.

Mohr schildert Konflikte zwischen dem strengen Studentenbund SDS und der „Spaßguerilla“ rund um die „Kommune 1″. Kommunarde Fritz Teufel, so erfahren wir, habe viele Groupies gehabt, während Dutschke verbissen die Klassiker las. Mohrs Fazit: Vieles sei neoromatische Halluzination gewesen, Selbstüberschätzung aus bloßen Stimmungen heraus – mit Ausläufern bis in die RAF-Terrorszene. Diese Schattenseiten vergisst kein Autor.

Rudolf Sievers verfolgt mit „1968 – Eine Enzyklopädie“ eine völlig andere Absicht. Mit Texten zum bewegten Jahr (Marx, Adorno, Marcuse, Enzensberger, Dutschke, Flugblätter usw.) will er den Zeitgeist von ’68 wieder lebendig machen. Manches liest sich mit Gewinn, doch man steigt nicht zweimal in den selben (Zeit)-Fluss.

Hans-Peter Schwarz hat sich einer Hassfigur der „68er“ gewidmet: In „Axel Springer. Die Biografie“ lässt er dem Mann, dessen „Bild „-Zeitung die Stimmung gegen Dutschke und Genossen seinerzeit anheizte, größtmögliche Gerechtigkeit widerfahren. Es waltet Verständnis für die Motive des Großverlegers. Springer habe „Schneid“ besessen und sich nicht gängigen Meinungen anbequemt. Als nach dem Attentat auf Dutschke die „Bild“-Lieferwagen brannten, habe er freilich tief betroffen über einen (Teil)-Verkauf seines Imperiums nachgedacht.

Die Kulturgeschichte der 60er Jahre, die nachhaltiger gewirkt haben dürfte als alle politisierten Debatten, kommt leider in allen Bänden zu kurz. Auch wird die „Provinz“ kaum in den Blick genommen. Meist nur Berlin, Frankfurt und Paris – das ist nicht die ganze Wahrheit.

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SERVICE

Die vorgestellten Bücher

  • Götz Aly: „Unser Kampf 1968″. S. Fischer Verlag. 256 Seiten, 19,90 Euro.
  • Peter Schneider: „Rebellion und Wahn. Mein ’68“. Kiepenheuer & Witsch, 364 Seiten, 19,95 Euro.
  • Wolfgang Kraushaar: „Acht und Sechzig. Eine Bilanz“. Propyläen. 256 S., 19,90 Euro.
  • Reinhard Mohr: „Der diskrete Charme der Rebellion“. Wolf Jobst Siedler Verlag (wjs). 238 S., 19,90 Euro.
  • Rudolf Sievers (Hrsg.): „1968. Eine Enzyklopädie“. Edition Suhrkamp. 475 Seiten, 18 Euro.
  • Hans-Peter Schwarz: „Axel Springer. Die Biografie“. Propyläen. 600 S., 26 Euro.
  • Außerdem zu nennen:
  • Gerd Koenen / Andreas Veiel (Hrsg.): „1968. Bildspur eines Jahres“ (200 Pressefotos der Zeit). Fackelträger, 190 Seiten, 29,95 Euro.
  • Lothar Menne: 1968. Unter dem Pflaster lagen die Träume“. Goldmann Verlag, 250 S., 14,95 Euro.
  • Michael Ruetz: „1968. Die unbequeme Zeit.“ Steidl Verlag, 224 S., 40 Euro.
  • Norbert Frei: „1968. Jugendrevolte und globaler Protest“. dtv premium, 288 S., 15 Euro.

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EXTRA

Generation ’68 im Revier

  • In Paris gingen sie auf die Barrikaden – und in Berlin. Aber an Rhein undRuhr – gab es da auch die zornige Generation ’68?
  • Der Autor Manuel Gogos beantwortet die Frage auf seiner Feature-CD „Die Revolution mit der Heizdecke“ (8,50 Euro) klar mit ja. In Bonn rauchten freche Studis die Zigarren des Rektors, in Köln rockte sich die Band CAN in Trance, selbst an den Werkstoren im Revier wurde erregt diskutiert. Was haben die Kinder der Revolution gewollt? Warum verflossen Pop und Protest?
  • Als Studenten auf die Barrikaden gingen und Arbeiter mehr Rechte einforderten, war Norbert Kozicki gerade 15.
  • Der Aufbruch faszinierte den heutigen Sozialwissenschaftler. Was den Pazifisten begeisterte: Die jungen Rebellen entdeckten ’68 eine neue, unblutige Waffe – die Sprache.
  • Genau das ist Thema von Kozickis Buch „Aufbruch in NRW. 1968 und die Folgen“ (7,95 Euro).
  • Beide Titel sind im Rahmen der „mediathek für Nordrhein-Westfalen“ ab sofort in den WR-Leserläden zu haben.