Der „Simplicissimus“ im Ruhrgebiet

Im berühmten Schelmenroman vom „Simplicissimus“ über den Dreißigjährigen Krieg erwähnt der Autor Grimmelshausen auch den kaiserlichen General Melchior von Hatzfeld. Dieser General hinterließ seine Spur aber nicht nur in der Literatur, sondern auch im heutigen Ruhrgebiet, genauer an dessen Rand, in Hagen und in der heutigen EN-Kreishauptstadt Schwelm.

Der Dreißigjährige Krieg, in dem es vordergründig um die Religionsausübung ging, hatte 1618 begonnen. In den Jahren ab 1622 war auch der Raum südlich der Ruhr zunächst durch die Besetzung mit katholischen (spanischen) Truppen betroffen. In der Stadt Schwelm hielt jedoch die protestantische Bevölkerung auch nach dem Abzug der Spanier an ihrer reformierten Konfession fest.

Titel des "Simplicissimus"

Darüber ärgerten sich die verbliebenen Katholiken so sehr, dass sie 1630 die kaiserlichen Soldaten aus dem bergischen Radevormwald und aus Lennep herbeiriefen, die dann „die Stadt ganz und gahr ausplünderten“, wie der Historiker Gerd Helbeck in seinem lokalgeschichtlichen Werk zitiert. Der Erbkirchrat der Schwelmer Kirche, Junker Georg von Vaerst, wurde gefangen genommen, sein Wohnhaus total verwüstet.

Erst 1631 gab der Droste von Wetter der lutherischen Gemeinde Schwelm ihre Kirche zurück, denn inzwischen hatten die protestantischen Schweden in den Krieg eingegriffen und die Position des hier in der Grafschaft Mark herrschenden Kurfürsten von Brandenburg gestärkt. Unter anderem erlebten die Schwelmer 1632 den Einzug eines Finnischen Regiments.

Nicht nur Schwelm, auch viele andere Städte mussten in diesem Krieg immer wieder Plünderungen und Brandstiftungen hinnehmen oder sich durch Zahlungen an die Soldaten und ihre Anführer frei kaufen. Dann gab es einen Schutzbrief, von denen mehrere in Schwelm erhalten geblieben sind.

Zu den Schutzmaßnahmen der Stadtbürger gehörten auch die Ausgaben für Boten und Kundschafter, damit man frühzeitig von der heranziehenden Soldateska oder von marodierenden Freibeutern erfuhr. Die Bürger suchten dann Fluchtorte aus, zum Beispiel in der Kluterthöhle in Altenvoerde (heute Ennepetal), und sie versteckten ihre Wertgegenstände. So ist zu erklären, dass sich immer wieder Münzen und Gegenstände aus dieser Kriegszeit in Verstecken oder im Boden finden.

Im September 1640 zog der zu Beginn erwähnte General von Hatzfeld in Schwelm ein. Mit seiner Einheit wollte er weiter nach Hagen, und um den Weg zu finden, musste ihn ein Schwelmer Bürger begleiten. Dieser Dienst wurde entlohnt, und über das Entgelt ist ein Eintrag in der Schwelmer Stadtrechnung erhalten. Insgesamt hat die Stadt Schwelm in den Jahren 1640/41 für Erpressungen, Kontributionen und sonstige kriegsbedingte Zahlungen fast 1700 Reichtaler ausgegeben.

Mit dem Friedensvertrag von Münster und Osnabrück endet 1648 der Dreißigjährige Krieg. Für den Bekenntnisstand wurde darin als Stichjahr 1624 festgelegt, und für Städte mit gemischten Konfessionen wurde die Gleichheit der Bekenntnisse hergestellt. Daher gab es auch in Schwelm nach Kriegsende weiter eine reformierte und eine katholische Gemeinde.




Genazinos „Courasche“-Stück: Sex zwischen Ödnis und Angst

Vor Jahresfrist war’s ein Skandal zum Blätterrauschen: Da weigerte sich die Schauspielerin Veronica Ferres, bei der RuhrTriennale die Titelrolle im neuen „Courasche”-Stück des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino zu spielen. Der bis jetzt wie ein Geheimnis gehütete Text war ihr seinerzeit zu „pornographisch”. Nun weiß man: Dieser Vorwurf zielt ins Leere.

„Courasche oder Gott lass nach” kam jetzt endlich als Triennale-„Kreation” (Regie: Stephanie Mohr) in Duisburg heraus. Mit literaturgeschichtlichen Seitenblicken auf Grimmelshausen und Brecht (siehe Info-Kasten) werden sexuelle Machtverhältnisse quer durch die Zeiten erkundet. Egal ob in Krieg oder Scheinfrieden: Männer wollen allzeit „rammeln” – und Frauen lauern auf dürre Vorteile inmitten des sexuellen Elends. Betrüblicher Befund. Zwar hin und wieder drastisch formuliert, doch gar nicht pornographisch.

Drei Darstellerinnen verkörpern die „Courasche”-Varianten simultan in verschiedenen Lebensaltern. Die zumal in der Barockdichtung zelebrierte Vergänglichkeit irdischen Seins ist somit stets präsent. Vor diesem Horizont sehen wir – jeweils dreifach – eine Hure von heute, dann eine durch wüste Not irrende Vertriebene des Zweiten Weltkriegs und ein Dienstmädchen um 1900. Sie alle machen die Beine breit – je nach Lage der Dinge für Geld, für einen Kanten Brot oder für eine Wohnung, die ein frivoler Familienvorstand seinem Liebchen bezahlt. Auf welcher dürftigen Schwundstufe auch immer: Die Frauen profitieren. Doch sie leiden am männlich bestimmten Sex zwischen Ödnis und Angst.

Wo war der ideale Punkt zum Neuanfang?

Die gottlosen Zeiten werden rückwärts gespult – bis zum Dreißigjährigen Krieg und zu Bert Brechts „Mutter Courage”, die gegen Schluss als Marketenderin kurz durch die Szene geistert. Ganz so, als suche man in ferner Vergangenheit den idealen Punkt zum Neuanfang; als solle die Historie von vorn beginnen und die schmerzliche Verewigung der Verhältnisse aufgehoben werden. „Dann bin ich aufgestanden” lautet der letzte Frauensatz. Ein Einspruch gegen alles Geschehene.

Das Bühnenbild (Andrea Uhmann) besteht aus vier beinahe zum Quadrat gefügten Dreiecken (die Lücken erinnern an Schützengräben), auf denen bergeweise Frauenkleidung liegt. An der Decke spiegelt oder abstrahiert ein großer Bildschirm die Vorgänge. Diese Video-Installation (Nives Widauer) birgt schöne Momente, wirkt aber eher selbstbezüglich. Weiteres Element: Deutsche Volksweisen von Ehrfurcht, Gottvertrauen und „Jungfrauen in grünen Auen” (dargeboten vom Vokalensemble der Philharmonia Wien) hören sich an wie verlogene Beschwichtigungen, sie stehen aber auch für utopische Sehnsüchte. Schönklang als Refugium. Andererseits wirkt der kleine Männerchor manchmal wie eine Schar geiler Freier.

Der weitgehend monologische Text erschwert den Schauspielerinnen Julischka Eichel, Barbara Nüsse und Anna Franziska Srna die Entfaltung. Was hat Genazino, der sonst so wunderbare Prosa schreibt, an diesem Stoff bloß so dringlich und theaternotwendig gefunden? Vielfach scheint er frauenbewegte Geschichtslektionen nachzuschmecken, ja sogar etwas flau nachzubeten. Sein Stück trifft nicht gerade mitten ins Herz unserer Gegenwart.

Termine (Duisburg, Landschaftspark Nord, Gebläsehalle): 5., 6., 8., 9., 10. Oktober. Karten: 0700/2002 3456. http://www.ruhrtriennale.de/

___________________________________________________

INFO:

  • Genazino bezieht Anregungen für „Courasche oder Gott lass nach” aus der Literaturgeschichte.
  • Eine Inspiration ist der 1670 erschienene Roman „Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche” von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen.
  • Aus Grimmelshausens Werk über Wirren und Gräuel des Dreißigjährigen Krieges schöpfte auch Bert Brecht – für sein Stück „Mutter Courage und ihre Kinder”.