„Pimmel ab“ oder: Was Vierjährige hören sollen

So manches Mal habe ich mich schon gefragt, wie die Altersangaben auf Büchern, CDs, Spielen oder Puzzles für Kinder zustande kommen.

Inzwischen glaube ich, dass dabei wohl vielfach auf gut Glück verfahren wird. Nicht selten werden babyhaft leichte Aufgaben erst ab 6 Jahre ausgeschildert. Andererseits gibt es gelegentlich auch den umgekehrten Fehlgriff.

Vor mir liegt eine Hörspiel-CD mit einer Produktion des Berliner Grips Theaters: „Bella, Boss und Bulli“ erzählt die Geschichte des Mädchens Bella, das murrend in ein anderes Stadtviertel umziehen muss, weil die allein erziehende Mutter dort Arbeit gefunden hat. Bella lernt dort zwei höchst unterschiedliche Jungen kennen: Bulli war schon mal im Erziehungsheim, Boss wird vom livrierten Chauffeur im Benz zur selben Schule gebracht. Mit solchen Kontrasten erzählt es sich natürlich besser. Also geschenkt, ob es realistisch ist, dass alle drei Kinder in derselben Gegend wohnen und in eine Schulklasse gehen.

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Im weiteren Verlauf der Geschichte kommt es zu „Erpressungen im schulischen Umfeld“, um es mal vornehm auszudrücken. Ein größerer Junge hat Bulli beim Diebstahl beobachtet und droht nun, ihn zu verpfeifen – falls er ihm nicht hier mal fünf, dort mal zehn Euro gibt.

Das alles wird gekonnt als Hörspiel aufbereitet (Text: Volker Ludwig) und mit zündenden Liedern (Musik: Birger Heymann) garniert. Gewohnte Grips-Qualität eben. Nicht nur gut gemeint, sondern auch gut gemacht. Kinder ab 7 oder 8 können hier auf unterhaltsame Weise was lernen. Beispielsweise, wie man Erpressern das Handwerk legt.

Doch darum geht es hier nicht. Der Patmos Verlag, in dem die CD erschienen ist und der übrigens traditionell vorwiegend religiöse Bücher herausbringt, nennt das Ganze ein „Hörspiel ab 4 Jahren“. Also haben wir die Platte guten Glaubens für unsere Tochter gekauft, die in einigen Tagen 4 wird. Auf dem Cover deutet nichts auf eine sonderlich ruppige Gangart hin.

Heute haben wir die CD zusammen angehört. Recht unvermittelt wird da ein Junge von einem anderen bedroht: „Geld her – oder ich schneid‘ dir den Pimmel ab!“ Und dergleichen weitere Nettigkeiten. Ich muss zugeben, dass ich ein wenig in Erklärungnot geraten bin.

Wahrscheinlich gibt es Leute, die das ganz dool großstädtisch, „cool“ oder prima punkig finden und wegwerfend sagen, ein solch rauher Tonfall komme spätestens in der Grundschule ohnehin zum Zuge. Ich kann auch sagen, wie ich die Altersangabe finde: ungemein dämlich und unverantwortlich. Angesichts des sonstigen, schwer katholisch geprägten Verlagsprogramms sollten die Zuständigen sich vorsehen, dass sie nicht weitere Punkte für die Vorhölle sammeln.




Chaos in Küche und Kneipe – Stücke von Volker Ludwig und Kerstin Specht beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb

Von Bernd Berke

Mülheim. Oft ist das Theater seiner Epoche voraus, doch manchmal hat es Mühe, mit dem Lauf der (technischen) Welt Schritt zu halten. Da keimt die Versuchung, Zeitnähe durch Äußerlichkeiten zu bekunden. Nimmt man die Auftakt-Ereignisse des Mülheimer Dramatikerwettbewerbs „stücke 98″ zum Maßstab, so geschieht dies vorzugsweise durch den Bühnen-Einsatz von Mobiltelefonen.

Sowohl in Volker Ludwigs klotzigem Berliner Szene-Musical „Café Mitte“ (Grips-Theater, Regie Rüdiger Wandel) als auch in Kerstin Spechts unaufdringlich frauenbewegtem Küchenmärchen „Die Froschkönigin“ (Staatstheater Stuttgart, Regie Markus Trabusch) zirpen die Handys. Ludwig gewinnt dem Auftritt telefonierender Wichtigtuer die wohl beste Gesangs- und Tanznummer des Abends ab, bei Specht vibriert der schnurlose Quälgeist so unvermittelt, daß manch ein Zuschauer schuldbewußt in die Jackentasche greift.

Trostlosigkeit mit Staubsauger

Lange vor dem Handy ertönt in „Die Froschkönigin“ das Geräusch des Staubsaugers als Signatur trostlosen Hausfrauendaseins. Mutter (Helga Grimme) macht mal wieder sauber. Dann wickelt sie behutsam das Kabel auf, stellt die Küchenstühle zurecht, steigt auf einen hinauf – und legt ihren Hals in einen Strick, der von der Decke baumelt. Doch nicht einmal das klappt.

Das Stück versinkt nun keineswegs im Sumpf der Depression, sondern schnurrt ab wie eine Spieluhr. Gewiß steckt Sarkasmus dahinter, doch leichtfüßig hangelt sich Kerstin Specht an Grimms Märchen vom „Froschkönig“ entlang. Vollends verdichtet wird der Stoff freilich nicht, es bleibt bei schön beiläufig auf gereihten Miniaturen.

Einfach Frau sein ohne Last

Die verwitwete Mittvierzigerin bedient ihre beiden unverschämten Nesthocker-Kinder und jenen Faulpelz Stefan König (Klaus Weiss), der sich bei ihr einnistet. Auf sein Geheiß sorgt sie als Hellseherin fürs Einkommen. Wüßte sie doch auch fürs eigene Leben Rat! Ihr Tagtraum: „einfach Frau sein“ ohne Last. Den erfüllt sie sich am Ende durch beherzte Flucht in eine Versorgungsehe mit Kreditkarten-Zugriff. Wenn schon (anders als im Märchen) das Wünschen nicht mehr hilft, muß frau eben zusehen, wo sie bleibt…

Zuvor hatte man dreieinhalb Stunden in Volker Ludwigs Kneipe „Café Mitte“ zugebracht – oder soll man sagen: vergeudet? Berlin köchelt hier im eigenen MetropoIen-Saft, harmlos und Tourismus-tauglich. Der Autor hat alles zum Chaos verrührt, was im Handbuch wohlmeinender Sozialpsychologen steht: Ossi-Wessi-Reibereien, Punks, Skins, Fixer, Russenmafia, Multikulti-Sehnsüchte und mehr. Das meiste klingt, als sei Ludwig mit den erstbesten Dialogen zufrieden gewesen. Hier gibt s fast alles zum Einstiegspreis.

Eine Botschaft wie von Guildo Horn

Die angejazzte Rockmusik (Uli Buhl), lauer Querschnitt durch diverse Jahrzehnte, kann dem Kuddelmuddel um die Straßenkinder Keule, Schnuffi und Ratte nicht aufhelfen. Hätten ihre Eltern sie nur richtig liebgehabt (so eine fast schon Guildo-Horn-verdächtige Botschaft), dann wären sie allemal glücklicher. Und hätte das Grips-Theater nicht bleibende Verdienste angehäuft, so müßte man auch einige Darsteller schelten. Lassen wir das. Nur dies: Sollte Ludwigs Stück gewinnen, so schicken wir 1999 Bruno Knusts umgekrempelte „Dortmund-Revue“ ins Rennen. Dann rappelt’s im Karton.

Ganz anders wird’s am Sonntag zur Sache gehen. Dann gibt es für gestählte Zuschauer Einar Schleefs mit Spannung erwartete fünfstündige Kurzfassung (!) des „Sportstücks“ von Elfriede Jelinek. Die hat soeben den Büchnerpreis bekommen. Legt die Mülheimer Jury vielleicht noch etwas drauf?