Hagener Friedhof Wehringhausen: Hinfälliger Bewahrer großer Namen des Ruhrgebiets

Erst mal wählen gehen. Gesagt, getan, zwei Kreuze und dann wieder in den Sonntagmorgen. Ein wenig zu würdig erschienen mir die Mitglieder des Wahlvorstandes. Schau da, die Sonne bestrahlt auf einmal die Szene. Gleich nebenan liegt ein Friedhof, den mir Andrea schon lange mal zeigen wollte. Vom Bergischen Ring in Hagen aus habe ich ihn schon oft gesehen.

Zugänglich ist er aber nur von der Grünstraße, wo auch das Wahllokal lag, in das wir zum Kreuzemachen spaziert waren. Diesmal und auch weil die Sonne uns wärmte, gingen wir hinein. Es war nicht etwa ein nekrophiler Anfall meinerseits, ich wollte nur ein wirklich wesentliches Stück Hagener Stadtgeschichte aus der Nähe sehen, und das ist der ehrwürdige und an so vielen Stellen leider auch hinfällige Friedhof in Wehringhausen ganz sicher.

Die Grabplatte von Lieselotte Funcke.

Die Grabplatte von Lieselotte Funcke.

Als Liselotte Funcke 2012 starb, da war ich wieder auf den Wehringhausener Friedhof aufmerksam geworden, weil ich las, dass die große und bewundernswert aufrechte alte Dame der FDP dort zu Grabe getragen wurde. Und nicht sehr weit entfernt vom Eingang, vorbei an einigen Grabstätten, die zwischen ungemein gepflegt und da und dort auch pflegebedürftig schwanken, zwingt mich zunächst der Namenszug Osthaus zur Aufmerksamkeit.

Dann die bescheidene, aber edle Grabplatte der verstorbenen Ehrenbürgerin Liselotte Funcke, der Name Harkort taucht auf, dann Elbers, Post. Der nicht so furchtbar große, mit seiner innenstadtnahen Lage auch nicht so völlig idyllisch-ruhige Friedhof ist ein veritables Stück Industriegeschichte der Stadt Hagen und des Ruhrgebietes. Und viele Grabstätten – auch wenn manche von ihnen inzwischen altersgrau oder bemoost sind – sind auch kulturgeschichtliche Zeugen einer Zeit, in der Hagen-Wehringhausen eine der bürgerlichen und besonders wohlhabenden Gegenden der Stadt war.

Kommerzienräte, Sanitätsräte, Doktores ing., phil. oder jur., Generationen übergreifende Gruften, große Familiengrabstätten, Einzelgräber. Auch Grabstätten, die aufgelassen wurden, Grabsteine, die noch erinnern, aber kein Grab mehr kennzeichnen, Stelen moderner Herkunft. Gräber, deren Zustand den Eindruck macht, als seien inzwischen auch die Hinterbliebenen nicht mehr am Leben. Der kleine Friedhof wirkt wie ein historischer Querschnitt durch die Hagener Stadtgeschichte und wie deren Spiegel. Denn auch die Stadt blüht hier, bröselt da und wird dort umgepflügt, in der Hoffnung, dass sich irgendwann in naher Zukunft die entstandene Brache mit neuem Leben bevölkert.

Und einige Stellen des schönen alten Geländes zeugen davon, dass private Initiative Geld aufbrachte, um alte Zeitzeugen jungen Nachkommen zu erhalten. So wie beim Mahnmal an Hagener Soldaten, die 1870 gegen Frankreich zu Felde zogen. Da muss meiner Einschätzung nach noch viel mehr in den kommenden Jahren kommen, denn dem Kulturschatz zwischen Bergischem Ring, Lange- und Grünstraße sollte mehr Pflege angedeihen, als es die finanziell sieche Kommune Hagen leisten kann. Viele der Frauen und Männer, die dort zu Grabe getragen wurden, entstammen einer großen Tradition Wohlhabender, die es noch verstanden, Gemeinsinn und Geschäftssinn erfolgreich zu verbinden. Sie zu ehren, könnten Wohlhabende von heute zur Verpflichtung führen, sich dort dem Gemeinsinn zu widmen.

Stumme Gesten, die zeigen, dass hier Erinnerung gepflegt wird.

Stumme Gesten, die zeigen, dass hier Erinnerung gepflegt wird.




Magie der monumentalen Baukörper: Bilder von Walter Eisler im Hagener Osthaus-Museum

Der Maler Walter Eisler stellt ins Zentrum seiner Bilder meist riesenhafte Gebäude, die er aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen gelöst hat – von der Brauerei bis zum biblischen „Turm zu Babel“. Sind die Bauten von Landschaft umgeben, so bleibt die Natur bloße Kulisse, lediglich ein Kontrast zu den gefügten Steinen.

Doch nichts und niemand trumpft hier auf. Diese Bilder sind gleichsam defensiv, sie wirken wie nach innen gerichtet, in sich selbst versunken. Gerade deshalb üben sie allerdings eine stille, durchaus rätselhafte Anziehungskraft aus.

Walter Eislers Fabrikbild "Krasnaja Snamija", 2009, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Walter Eislers Fabrikbild „Krasnaja Snamija“, 2009, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

„Krasnaja Snamija“ heißt die kleine Schau, die das Hagener Osthaus-Museum Eisler jetzt in der oberen Galerie ausrichtet. Die russischen Worte bedeuten „Rotes Banner“ und beziehen sich auf eine Textilfabrik in St. Petersburg (seinerzeit Leningrad), die 1926 vom berühmten Architekten Erich Mendelsohn geplant wurde und die Eisler 2009 ins Bild gesetzt hat. Die am Bug charakteristisch gerundete, schräg zum Betrachter gestellte Elektrozentrale dieser Fabrik sieht aus wie ein gigantisches Dampfschiff. Auf einem anderen Bild schwimmt „Die Brauerei“ sogar vollends auf dem Wasser. Fremde, in Bewegung geratene Dingwelt.

In einer ähnlich diagonalen Ausrichtung stellt Eisler auch das – ebenfalls von Mendelsohn entworfene – Stuttgarter Kaufhaus Schocken (das 1960 in einem barbarischen Akt abgerissen wurde) keilförmig vor uns hin. Auch hier schiebt sich der grandios gerundete Gebäudeteil in den Vordergrund und eröffnet, als wär’s eine Entscheidung, die man vor dem Bild zu treffen hätte, zwei Wege – links und rechts am Baukörper vorbei. Rechts vor dem Scheideweg findet sich eine unscheinbare Absperrung mit Bausteinen, die freilich den ganzen Bildaufbau durchbricht. Ein seltsam irritierendes und somit bannendes Detail.

Gebäude in Potsdam: "Einsteinturm", 2005, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Gebäude in Potsdam: „Einsteinturm“, 2005, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Ein weiteres Gemälde, das sinnbildlich aufgeladen ist, greift eine Entscheidung, vor die der Betrachter gestellt sein könnte, auch noch im Titel auf: „Die Schaltwarte“ (2002) lässt eine verwirrende, nahezu labyrinthische Raumfolge ahnen, in der man sich schwerlich zurechtfinden kann.

Den monumentalen, im realistischen Duktus eines späten Nachfahren der Neuen Sachlichkeit gemalten Bauten wohnt also eine sonderbare Magie inne. Sie weisen offenkundig weit über ihre Architektur hinaus – aber wohin? Zwar liegt auf den ersten Blick die Gestaltung recht offen zutage, sie scheint sich aber bei näherem Hinsehen vor dem Betrachter zu verschließen, sich jeder raschen Deutung zu verweigern und hermetisch abzuriegeln. Es ist zuweilen, als habe der maskierte „Zauberer“ (2008) seine Hände in solch einem Spiel der Verwandlung.

Hat es mit der Herkunft des Malers zu tun? Walter Eisler wurde 1954 in Leipzig geboren. Er ein einer von zwei Söhnen des DDR-Malergranden Bernhard Heisig (1925-2011) und hat den Nachnamen der Mutter angenommen – wohl auch, um nicht namentlich im Schatten seines Vaters zu stehen, von dessen Stil er sich mittlerweile auch deutlich emanzipiert hat. Schon zu DDR-Zeiten dürfte freilich auch Eisler (und sein Bruder Johannes, gleichfalls Künstler) gelernt haben, Kunstwerke vieldeutig anzulegen und zu verrätseln. Diese Strategie, zu der es im SED-Staat kaum gangbare Alternativen gab, scheint bis heute Walter Eislers Bildsprache mitzuprägen.

Geheimnisvoller Hintergrund: "Infantin", 2010, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Geheimnisvoller Hintergrund: „Infantin“, 2010, Öl auf Leinwand (© Walter Eisler/Foto: Lars Wiedemann)

Die rund 35 Bilder umfassende Werkgruppe, die jetzt in Hagen zu sehen ist, stammt jedoch aus den letzten zehn Jahren und ist noch von keinem Museum gezeigt worden. Insofern kann man von Entdeckungen sprechen. Einzig ein noch ganz anders geartetes Selbstporträt von 1986 markiert einen früheren Punkt auf der Strecke, die Eisler seither durchmessen hat.

Angesichts weniger menschlicher Figuren, die das neuere Oeuvre denn auch nur spärlich bevölkern, meint man die Präferenz für gemalte Architektur nachvollziehen zu können. Ein wenig unsicher, manchmal geradezu etwas ungelenk stellt Eisler leibliche Formen dar, vor allem Hände („Die Infantin“, 2010) wirken – sofern ausgeführt – bisweilen wie starre Fremdkörper oder werden gleich nur schemenhaft dargestellt.

Doch kleine Schwachstellen tun den subtilen Stimmungswerten, die in diesen Bildern aufgehoben sind, keinen Abbruch. Gewiss: Mal mag man sich an Giorgo de Chirico, mal an Edward Hopper erinnert fühlen – oder just an die Neue Sachlichkeit. Aber es ist denn doch etwas sehr Eigenes um Eislers Schaffen. In manch einem Bild kann man sich lang verlieren, um die Fährtensuche zu beginnen.

Walter Eisler: „Krasnaja Snamija“. Osthaus-Museum, Hagen (Museumsplatz 1 – Navigation: Hochstraße 73). 26. Juli bis 1. September. Geöffnet Di, Mi, Fr 10-17 Uhr, Do 13-20 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 6 Euro, ermäßigt 2 Euro. Kein Katalog.




Hauptbahnhof in Hagen: Vom Dom der Mobilität zur „Endstation Denkmal“

Imposant: Hauptbahnhof Hagen.

Imposant: Hauptbahnhof Hagen.

Friedrich Harkort, dessen Namen der 1931 fertiggestellte Ruhrstausee im Dreistädteeck Hagen/Wetter/Herdecke trägt, sorgte im 19. Jahrhundert dafür, dass das Bergische mit dem industriellen Dortmund im wachsenden Schienennetz verbunden wurde.

Im Revolutionsjahr 1848 war Hagen daran angeschlossen, entwickelte sich fortan zum ausgewachsenen Logistikstandort, blieb es bis heute. Als 1861 in Ruhr-Sieg-Strecke hinzu kam, war Hagen ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt, hatte erste Höhepunkte im industriellen Aufbau und alles rief danach, dass dieses immer wohlhabender werdende Hagen einen repräsentativen Bahnhof im Stadtkern brauche.

Es dauerte indes noch bis zum 14. September 1910, dann wurde das Empfangsgebäude seiner Bestimmung übergeben. Repräsentativ war es und eine Zierde für die einstige Prachtstraße (heute B7), die vom Reichtum stolzer Bürger kündete und sich durch die ganze Stadt zog; eine Kathedrale der mobilen Welt, mit einem „Glockenturm“ neben dem Eingang, der auch heute noch den Reisenden die Zeit zeigt, bevor sie in das gewaltige Tonnengewölbe der Empfangshalle treten. Weiter führt der Weg zu den Gleisanlagen, die von einer zweischiffigen Halle überspannt werden, die im Ruhrgebiet und in Westfalen einzigartig ist, in ganz Deutschland zu den Raritäten zählt. Prachtvoll eben.

1911 war es Karl-Ernst Osthaus, der sicher war, dass dem Bahnhof ein weiteres Juwel zugeeignet werden müsste. Er sorgte dafür, dass der Holländer Jan Thorn-Prikker ein riesiges Glasgemälde für den Eingangsbereich schuf: „Der Künstler als Lehrer für Handel und Gewerbe“. Hagens Hauptbahnhof wurde so Spiegel der erfolgreichen und reichen Industriestadt ebenso wie der Kulturstadt mit paneuropäischer Anziehungskraft.

Zierde der Empfangshalle: Jan Thorn-Prikkers Glasgemälde, gestiftet von Karl-Ernst Osthaus.

Zierde der Empfangshalle: Jan Thorn-Prikkers Glasgemälde, gestiftet von Karl-Ernst Osthaus.

Drei Sanierungsschübe hübschten das Gebäude wieder auf – nach dem 2. Weltkrieg, der wundersamer Weise nur überschaubare Zerstörungen in diesem Bereich hinterlassen hatte, während die Bombardements fast die gesamte Innenstadt zerlegten. Zunächst war es der eilige Wiederaufbau, der mehr das Zweckmäßige denn das Industriedenkmal in den Mittelpunkt rückte, 1990 gab es dann große denkmalpflegerische Anstrengungen und noch einmal – mit Blick auf die Fußball-WM 2006 – eine großangelegte Sanierung.

Und heute? Das Unternehmen Deutsche Bahn (DB) hat anscheinend das Interesse verloren, fleißige Mitarbeiter vor Ort feilen da und dort die gröbsten Gemeinheiten der Zeit weg. In manchen Bereichen umweht Verfall das einstige Schmuckstück am Berliner Platz, dessen spröde Innenstadtarchitektur ohnehin sparsam mit lobenswerten Details aufwartet. Bis heute bemüht sich (bemüht sie sich überhaupt?) die DB vergeblich darum, einen Einzelhandelsnachfolger für den Platz zu finden, der seit der Havarie der Schlecker-Gruppe leer steht. Trockenbauplatten, die – warum auch immer – den Blick auf alte Bausubstanz verstellen, sind teilweise zerschlagen und werden mit Netzen umhüllt, dass die Tauben nicht hineinfliegen und Nester oder anderes bauen. Im geräumigen Flugraum der Empfangshalle sind so viele Flattermänner unterwegs wie nirgendwo, aber sie haben ja auch reichlich Raum für ausgedehnte Rundflüge. Wenn sie denn mal was verlieren, hängt es an den einst geweißten Wänden.

Elegant, schön und selten: die zweischiffige Gleishalle.

Elegant, schön und selten: die zweischiffige Gleishalle.

Der Dom des jahrhundertwendigen Fortschritts ist in einem siechen Zustand. Bedauerlich. Und die Eigentümerin DB sieht derzeit keinen Anlass zum Eingreifen, gibt vor (stimmt wahrscheinlich auch), Schlimmeres beseitigen zu müssen. Sei es (und das ist auch prima), dass mein alter Heimatbahnhof in Dortmund-Hörde neu gebaut wird oder der kleine Unnaer immer einladender wird. Dass ein großes Denkmal einer großen Zeit der großen Stadt Hagen so vor sich hin dämmern darf, ist weder fortschrittlich noch kundenfreundlich, es ist schlicht peinlich. Gegenüber zahlenden Reisenden genauso wie gegenüber einer Stadt, die ein ansehnliches Entrée verdient.




Auf dem Weg zur Moderne: Otto und Paula Modersohn im Hagener Museum

Seit Januar und noch bis zum 21. April kann man sich in einem wirklich schönen Museum etwa 140 meist kleinformatige Gemälde und fast ebenso viele Zeichnungen von Otto Modersohn ansehen. Das Hagener Kunstquartier nennt in seinen Ankündigungen das Projekt zwar eine Doppelausstellung, doch Ottos Ehefrau Paula Modersohn-Becker ist nur in einem kleineren Nebenraum des Karl-Ernst-Osthaus-Museums mit wenigen Bildern vertreten.

Otto Modersohn, Landschaft im Winter.(Foto: Museum Hagen)

Otto Modersohn, Landschaft im Winter.
(Foto: Museum Hagen)

Otto Modersohn, Mitbegründer der Worpsweder Malerkolonie, wird hier zum ersten Mal in Hagen mit einer Ausstellung von Werken aus allen Schaffensperioden gezeigt. Dabei hatte er durch seine Freundschaft mit Osthaus schon eine besondere Beziehung zu der westfälischen Industriestadt: Zusammen mit Heinrich Vogeler organisierte Modersohn vor hundert Jahren in genau diesem Museum die erste Retrospektive Paula Modersohn-Beckers, die in jungen Jahren nach der Geburt des zweiten Kindes gestorben war.

Die Schau macht deutlich, dass Otto Modersohn tatsächlich ein exzellenter Landschaftsmaler war, der Stimmungen durch Schatten und andere Lichteffekte sehr stark ausdrücken konnte. Aber auch die wenigen Bilder mit Personen, überwiegend Kinder oder die Ehefrau Paula, zeigen seine malerische und auch handwerkliche Qualität.

Die Bilder stammen überwiegend aus Privatbesitz, dazu zählen auch die Modersohn-Stiftung in Worpswede und das Museum in Fischerhude, Modersohns Wohnort. Dies und die kurze Lebenszeit seiner Frau Paula erklärt auch das Ungleichgewicht in dieser Ausstellung. So könnte man durch die getrennte Hängung und die kleine Anzahl der Bilder Paulas den Eindruck eines Qualitätsgefälles bekommen, aber eher das Gegenteil ist richtig. Paula Modersohn-Becker war ohne Zweifel die modernere und ausdrucksstärkere Künstlerin. Das zeigen sogar schon diese wenigen Gemälde, und die Nationalsozialisten haben sie gerade deshalb als „entartet“ aus den Museen verbannt. Das wirkt bei diesen Bildern schon fast wie eine Adelung, aber selbst das hat Paula Modersohn-Becker natürlich nicht nötig. Jedenfalls zeigt die Hagener Ausstellung das alte Dilemma, das entsteht, wenn die Exponate nicht nach Qualität, sondern nach Verfügbarkeit zusammengestellt werden.

Otto Modersohn: Landschaften der Stille – Paula Modersohn-Becker: Eine expressive Malerin. Werke aus Privatbesitz. Bis 21. April 2013. Karl-Ernst-Osthaus-Museum, Hagen, Museumsplatz 1. Eintritt 6 Euro, Katalog 28 Euro. Öffnungszeiten: Dienstag, Mittwoch, Freitag 10 bis 17 Uhr, Donnerstag 13 bis 20 Uhr, Samstag und Sonntag von 11 bis 18 Uhr, Montag geschlossen.




Hagen: Mit immer weniger Geld doch noch Theater machen

Die Stadt Hagen geht finanziell am Stock, und entsprechend will sie ihrem Theater an den Kragen. Aber auch im neuen Jahr wird dennoch weiter Programm gemacht, wie die Vorschau auf den Januar zeigt. Natürlich beginnt alles wieder mit dem Neujahrskonzert des Philharmonischen Orchesters in der Stadthalle – unter dem Motto „Wien –Moskau“. Solistin ist Maria Klier (Sopran), zu hören sind Werle von Strauss, Tschaikowsky, Glinka und anderen.

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Szene aus dem „Nussknacker“
(Foto: Theater Hagen)

Im Kinder- und Jugendtheater wird am 7. Januar „Superzahn und die Karieshexe“ wieder aufgenommen, und am 27. Januar folgt die Uraufführung des Stücks „Lucy und der Hungerbauch“. Am 13. Januar gibt es im Großen Haus die Operetten-Premiere von „Die Großherzogin von Gerolstein“, ein weniger oft gezeigtes Werk von Jacques Offenbach. Wer Lust hat, kann bei freiem Eintritt am 5. Januar ab 17 Uhr in der Reihe „Werkstatt“ an einem „Produktionsgespräch“ teilnehmen. Außerdem bietet das Theater dazu am 10. Januar einen „Lehrertisch“ an. Den bisher begeistert aufgenommenen Swing-Abend „Fly me to the Moon“ können Musikfreunde am 4., 16. und 20. Januar wieder erleben.

 

Am 19. Januar ist Götz Alsmann mit seinem „Paris“-Programm zu Gast, und wer den Don Giovanni noch mitbekommen möchte, der hat nur noch am 31. Januar die Chance – „zum letzten Mal“ gibt man diese Inszenierung der Mozart-Oper. Das gilt auch für die letzte Aufführung des Tschaikowsky-Balletts „Der Nussknacker“ am 17. Januar. Weiter im Programm bleiben Verdis „Don Carlo“ (23. Januar) und „Tue Rocky Horror Show“ mit Guildo Horn am 29. Januar.

 

 

 




Wer heiratet, darf gratis ins Theater

Schauspielhäuser, Opern und Tageszeitungen haben oft ein ähnliches Problem: Junge Menschen wenden sich ab, das Publikum oder die Abonnenten werden immer älter und sterben dann natürlicherweise aus. Im Theater Hagen will man ein Verjüngungsmittel gefunden haben.

Schön ist es ja, das Hagener Haus. (Foto: Stadt Hagen)

Die architektonisch so schöne Spielstätte leidet besonders unter der Annähernd-Pleite ihrer Mutter, der Stadt Hagen. Aber es gibt einen rührigen Theater-Förderverein, und der geht nun mit einer neuen Idee ans Werk: Ab Januar des nächsten Jahres erhalten alle Paare, die sich vor einer Hagener Standesbeamtin oder einem -beamten das Ja-Wort geben, einen Gutschein für den Besuch einer Aufführung ihrer Wahl im Theater Hagen. „Sie trauen sich – wir laden sie ein“ heißt der eher wenig originelle Leitspruch der Aktion. Und der Förderverein schickt in der Pressemitteilung seine eigenen Bedenken gleich hinterher: „Bleibt zu hoffen, dass die Wahl der Aufführung nicht gleich zu einer ersten Ehekrise führt.“

Man denke nur an „Die Hochzeit des Figaro“ oder die „Geschichten aus dem Wienerwald“, und bei Romeo und Julia sind am Ende sogar alle tot, von Wagners Ring ganz zu schweigen. Nun wird der Ring in Hagen eher selten gespielt, und ob die Ehepaare jung sind, ist ja auch nicht gesagt. Mancher heiratet zum zweiten oder dritten Mal und ist in einem Alter, in dem er schon die Silbernadel für 25 Jahre Theaterabo trägt. Dann kann er oder sie den Gutschein immer noch verschenken, an die Enkel aus der früheren Eheschließung, als es noch nicht solche Prämien gab.




Zwischen Weltgeltung, Utopie und herben Verlusten: Das Hagener Osthaus-Museum spürt seiner Geschichte nach

Hagens Osthaus-Museum nimmt jetzt die eigene Geschichte in den Blick – von den Uranfängen anno 1902 bis heute. Doch man geht dabei nicht streng geordnet vor, sondern gleichsam essayistisch, kursorisch, nach Art von Flanierenden.

Damit macht man aus der Not eine Tugend. Denn weite Teile der ursprünglichen Bestände sind ja nicht mehr zur Hand, so dass in einer bloßen Chronologie arge Lücken klaffen müssten. Bekanntlich sind die hochbedeutenden Kernbestände der Sammlung im Jahr 1922, nach dem Tod des Hagener Mäzens und Museumsgründers Karl Ernst Osthaus (1874-1921), nach Essen gelangt. Sie bildeten dort den reichen Fundus des heutigen Folkwang-Museums. In Essen frohlockten sie über den immensen Zuwachs, denn Osthaus hatte mit den Bilderschätzen (u. a. Renoir, Van Gogh, Cézanne) in Hagen ab 1902 das weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst begründet, und zwar gegen den herrschenden Ungeist der Zeit, in der Kaiser Wilhelm II. die Werke der Franzosen als „Rinnsteinkunst“ bezeichnete.

Die wirtschaftsmächtigen Essener konnten Osthaus’ Erben einfach mehr Geld bieten, als Hagen es vermochte. Auch Gerichtsprozesse ums Kunsterbe fruchteten nichts. Es war ein gigantischer Verlust, im Grunde bis heute nicht völlig zu verschmerzen. Hagen verfiel damals für Jahre in eine Art Schockstarre. Erst 1930 wurde mit dem Rohlfs-Museum wieder nennenswertes Neuland betreten. Doch diesen Künstler wiederum verfemten die Nazis bald darauf als „entartet“. Den Hagenern gingen in der Folgezeit rund 400 Werke von Christian Rohlfs verloren – nicht zuletzt durch Plünderung. Eine Sammlungsgeschichte mit Verlusten und Verwundungen.

Ferdinand Hodler: "Der Auserwählte" (1903, zweite Fassung), Öl auf Leinwand, © Osthaus Museum Hagen.

Ferdinand Hodler: "Der Auserwählte" (1903, zweite Fassung), Öl auf Leinwand, © Osthaus Museum Hagen.

Den zentralen Platz im Entrée der Ausstellung „Der Folkwang Impuls. Das Museum von 1902 bis heute“ nimmt nun Ferdinand Hodlers grandioses Gemälde „Der Auserwählte“ (1903) ein, das gottlob noch zum Hagener Besitz zählt. In diesem Kontext wird noch einmal überdeutlich: Das Werk sollte nie und nimmer verkauft werden dürfen, so sehr steht es für den lebensreformerischen Impuls der Anfangszeit. Zwischenzeitlich hatte es ja Gerüchte gegeben, dass Lokalpolitiker der überschuldeten Stadt Hagen auf einen namhaften Millionenerlös bei britischen Versteigerern spekulierten.

Karl Ernst Osthaus hat keineswegs nur Impressionisten und später Expressionisten gesammelt. Das Hagener Folkwang-Museum hat er sich ungleich vielfältiger vorgestellt. Er war offen auch für außereuropäische Schöpfungen. Von ausgedehnten Reisen, insbesondere in den Orient, hat er zahlreiche Kunstgegenstände mitgebracht, die jetzt großzügig präsentiert werden.

Gebrauchskunst in Handel und Gewerbe sowie Architektur gehörten gleichfalls zu seinen Vorlieben. Überdies hegte der Mann, der durch eine Erbschaft (nach heutigem Wert ca. 30 Millionen Euro, bei relativ moderaten Preisen auf dem Kunstmarkt) unabhängig geworden war, naturwissenschaftliche Interessen. Er besaß eine heute verschollene Kollektion mit Abertausenden von Schmetterlingen und Käfern. Besonders die Farbenpracht der Schmetterlinge hat Osthaus fasziniert. Mit all dem verfolgte er – im Zeichen eines gehörig erweiterten Kunstbegriffs – durchaus pädagogische Absichten. Kunst sollte das ganze Leben ergreifen und die Menschen durch Schönheit veredeln. Welch ein Impuls, welch eine Vision, welch eine Utopie!

Osthaus’ Lebensstationen und seine staunenswert vielfältigen Interessen werden nicht nur mit Kunstwerken, sondern auch anhand von zahlreichen Archivalien (Briefe, Dokumente, Fotos, Plakate etc.) belegt, denn immerhin zählt seit 1963 das Osthaus-Archiv zum Hagener Bestand. Wohl noch nie wurde es für eine Ausstellung derart gründlich ausgewertet wie jetzt durch den emsigen Kurator Christoph Dorsz.

Mit der auf 2300 Quadratmetern in Alt- und Neubau weit ausgreifenden Schau würdigt man zwar zwangsläufig auch die großen Gründungsjahre von 1902 bis 1922, als hier ein veritables Weltmuseum entstand, doch weitet man die Perspektive. Schließlich ist auch in den „restlichen“ 90 Jahren seither weiter gesammelt worden; nicht immer, aber doch wesentlich den frühen Folkwang-Impulsen folgend. Die bringen vor allem die Verpflichtung mit sich, ein waches Augenmerk auf die jeweilige Gegenwartskunst zu haben und dabei auch die örtliche und regionale Szene nicht zu vernachlässigen.

Nach 1945 hat die damalige Osthaus-Chefin Herta Hesse-Frielinghaus die verbliebenen Bestände durch Neuerwerbungen nach Kräften verdichtet. Nun wurden beispielsweise auch Arbeiten der Informel-Künstler, darunter natürlich der Hagener Emil Schumacher, gesammelt. Schritt für Schritt kann man an ausgesuchten Beispielen die Genese des heutigen Eigenbesitzes verfolgen.

Hier kommt einiges am passenden Platze zusammen. Es wird etwas vom Geist des Gründervaters spürbar, je mehr man in die Dokumente eintaucht. Auch Facetten des allgemeinen Zeitgeistes lassen sich erahnen. Und schließlich waltet der Geist des Ortes, vor allem im imposanten Brunnensaal des Museums, dessen historische Zusammenhänge hier gleichfalls beleuchtet werden.

Die Ausstellung ist somit auch eine Selbstvergewisserung des jetzigen Teams um Museumsleiter Tayfun Belgin. Dem Bezug zur lokalen Szene etwa kommt man nach, indem auf Bilder der weltkriegszerstörten Stadt Hagen die Schwarzweiß-Fotos des jungen Hagener Fotokünstlers Andy Spyra folgen. Er hat den Folgen des irakischen Bürgerkriegs für die verbliebenen Christen nachgespürt. Was als thematischer Bruch erscheinen könnte, gehört in Wahrheit hierher. Auch die Dialoge mit den Rändern des Kontinents und mit nicht-europäischer Kunst will man bewusst weiterführen. 2010 war die Türkei an der Reihe, 2013 wird Korea folgen.

Mit dieser Ausstellung begibt sich das Museum auf Spurensuche nach seiner Identität. In Essen (das einige Leihgaben zu den 300 Exponaten beisteuert) hätten sie das wohl nicht in diesem Maße nötig. Aber gerade solche schweifenden Suchbewegungen können ja neue Wege im Gefolge der Traditionen weisen.

„Der Folkwang Impuls. Das Museum 1902 bis heute“. 21. Oktober 2012 bis 13. Januar 2013. Osthaus Museum Hagen. Museumsplatz 3 (Navigation: Hochstraße 73). Geöffnet Di/Mi/Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr. Katalog 19, 90 Euro. Eine Reproduktion der 1912 – also vor 100 Jahren – erschienenen ersten Hagener Folkwang-Katalogbroschüre kostet 4 Euro.
Internet: www.osthausmuseum.de




Zum 100. des Hagener Malers Emil Schumacher: Vergleich mit seinen Zeitgenossen

In Hagen kann man jetzt malerischen Energieströmen nachspüren – zwischen Fließen und Stocken, spontaner Bewegung und Innehalten der Linienführung, zwischen schützender Versiegelung und vehementer Durchbrechung der Bildoberflächen. Von den zahllosen weiteren Nuancen gar nicht zu reden.

Der Ausstellungsanlass ist gewichtig: 100 Jahre alt wäre der aus Hagen stammende Maler Emil Schumacher (1912-1999), ein Künstler von anerkanntem Weltformat, am 29. August geworden. Ursprünglich hatte man in seiner Himatstadt eine umfangreiche Retrospektive ausrichten wollen, die sich aufs Emil-Schumacher-Museum und das benachbarte Osthaus-Museum erstreckt hätte.

Emil Schumacher "Temun" (1987), Öl auf Holz (Emil Schumacher Stiftung, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Emil Schumacher "Temun" (1987), Öl auf Holz (Emil Schumacher Stiftung, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Dann aber, so Emil Schumachers Sohn Ulrich (langjähriger Leiter des Bottroper Museums, dann spiritus rector des Emil-Schumacher-Museums), sei man zu der Einsicht gelangt, dass eine solche Werkschau einigermaßen unsinnig wäre. Denn das nun von Rouven Lotz geleitete Haus zeigt ja ohnehin unentwegt Schumacher-Bestände vor, wenn auch sukzessive und in wechselnden Zusammenhängen.

Nun also sind ausgewählte Bilder Schumachers im internationalen Vergleich mit Werken einiger Zeitgenossen zu sehen. Der Titel geht auf ein abgewandeltes Schumacher-Zitat zurück: „Malerei ist gesteigertes Leben“. Die von Gastkurator Prof. Erich Franz eingerichtete Schau konzentriert sich auf 62 Arbeiten. Hochkarätige Künstlerliste: Außer Schumacher stehen darauf Jean Dubuffet, Lucio Fontana, Franz Kline, Willem de Kooning, Robert Motherwell, Emil Nolde, Pierre Soulages, Antoni Tàpies, Cy Twombly, Emilio Vedova und Wols. Und noch ein paar weitere Namen. Dies und das reichhaltige Beiprogramm sind nur mit Sponsoren möglich, die der Katalog getreulich verzeichnet.

Emil Schumacher "Documenta II", 1964, Öl auf Leinwand (Osthaus-Museum, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Emil Schumacher "Documenta II", 1964, Öl auf Leinwand (Osthaus-Museum, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Kurator Franz vertraut darauf, dass auch Menschen ohne sonderliche Kunstkenntnis hier manche Zusammenhänge erkennen werden, weil die Formen für sich selbst sprechen. Doch man muss wohl schon einige Seherfahrungen mitbringen, um mit der nötigen Feinheit unterscheiden zu können. Wer etwa die Urkräfte eines Wols-Bildes mit jenen vergleichen will, die bei Emil Schumacher walten, sollte möglichst kein Museumsneuling sein. Andererseits ist es mit elaboriertem Kunstwissen allein nicht getan. Hier ist – vielleicht mehr als sonst – auch einlässlich emotionales Schauen gefragt.

Emil Schumacher hat die scheinbar urwüchsig „wilde“ Linien-Dynamik immer wieder ganz bewusst mitten im Schwung angehalten oder jäh umgelenkt, weil ihm ungehemmte Spontaneität nicht geheuer war. Trotzdem gibt es laut Erich Franz „keine ruhige Stelle in seinen Bildern“. Er wollte den Betrachter sinnlich und existenziell berühren, ja mit der Materialität des Farbauftrags gleichsam anspringen. Darf die Linie nicht frei fließen, sondern muss sich mühsam Wege bahnen, muss sie Hindernisse und Widerstände überwinden, so resultiert daraus eine noch ungleich heftigere Energie. Auch führt das Liniengeflecht dann mehr Spuren des Erlebens und Erleidens mit sich – und nicht zuletzt errungenes Glück.

Franz hat die Exponate weitgehend chronologisch gehängt, meidet aber klugerweise Direktvergleiche, die zwischen je zwei Bildern womöglich flach ausfallen würden. Man wird hier beständig hin und her gehen und etliche Blickachsen erproben müssen, um Querbezüge oder auch energetische Abstoßungen zu entdecken.

Wols, o. T. (um 1946/47), Grattage auf Leinwand (Franz Haniel & Cie. GmbH, Duisburg / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Wols)

Wols, o. T. (um 1946/47), Grattage auf Leinwand (Franz Haniel & Cie. GmbH, Duisburg / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Wols)

Früheste Anregungen, die nachvollziehbar ins Werk der 1930er Jahre eingeflossen sind, empfing Schumacher von Christian Rohlfs und Emil Nolde, sodann auch von Matisse, dessen Schaffen er anfangs nur aus Büchern kannte. So scheint noch Schumachers „Strandbild“ (1950) von Matisse-Bildern wie „Das blaue Fenster“, 1913) inspiriert zu sein.

In den 1950er Jahren markieren fulminante Bilder mit sprechenden Titeln wie „Eruption“ (1956) Schumachers künstlerischen Weg, den auch eine singuläre Erscheinung wie Wols (hier mit zwei Bildern von 1946/47 vertreten) gebahnt haben mag. Um 1957 sprengen Schumachers Tastobjekte die Leinwand und wachsen als Reliefs in den Raum, beispielsweise, indem der Farbauftrag mit Nägeln durchschossen wird. Natürlich liegt hier die Assoziation zu Günter Uecker (allzu?) nahe, dessen „Nagelbaum“ von 1962 hier zu sehen ist.

Antoni Tàpies "Graue Tür auf schwarzem Grund" (1961), Mischtechnik auf Leinwand (Sammlung Lambrecht-Schadeberg/Rubenspreisträger der Stadt Siegen im Museum für Gegenwartskunst / © Fondacio Antoni Tàpies und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Antoni Tàpies)

Antoni Tàpies "Graue Tür auf schwarzem Grund" (1961), Mischtechnik auf Leinwand (Sammlung Lambrecht-Schadeberg/Rubenspreisträger der Stadt Siegen im Museum für Gegenwartskunst / © Fondacio Antoni Tàpies und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Antoni Tàpies)

In seinen „Hammerbildern“ hat Schumacher die Leinwand denkbar heftig attackiert und verletzt – ganz anders als Lucio Fontana, der seinen Bildträgern nur sanfte Schnitte zugefügt hat. In solchen Fällen lässt eine Gegenüberstellung eher die Kontraste hervortreten.

Gleichviel! Es ist jedenfalls spannend, die teilweise subtilen Bezüge und Eigenheiten nachzuempfinden. Besonders fruchtbar könnten vertiefende Vergleiche zwischen den äußerlich verkrusteten, erdig verhärteten Bildern Schumachers und den schier undurchdringlichen Oberflächen bei Dubuffet oder Tàpies ausfallen. Auch dürfte eine Zusammenschau der Linien- und Flächenverläufe bei Schumacher, Motherwell und Twombly zu feinsten Differenzierungen führen, die an den Ursprung alles Bildnerischen rühren. Doch dies ahnt man ebenfalls: Auf diesem erhabenen Qualitätsniveau ist jeder Künstler letztlich ein Planet für sich.

Robert Motherwell "Elegy to the Spanish Republic", No. 133 (1975), Kunstharz auf Leinwand (Bayrische Staatsgemäldesammlung, München - Pinakothek der Moderne / © Dedalus Foundation, Inc. und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Robert Motherwell)

Robert Motherwell "Elegy to the Spanish Republic", No. 133 (1975), Kunstharz auf Leinwand (Bayrische Staatsgemäldesammlung, München - Pinakothek der Moderne / © Dedalus Foundation, Inc. und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Robert Motherwell)

Bei all dem hilft die kunsthistorisch eingeübte Begrifflichkeit, derzufolge Schumacher zum vermeintlich formlosen „Informel“ zählt (wahlweise auch zum Tachismus, Action Painting oder zum Abstrakten Expressionismus), nicht wesentlich weiter. Prof. Ernst-Gerhard Güse, der just ein neues Standardwerk über Schumacher verfasst hat, wertet nicht nur das mit über 70 Jahren geschaffene Spätwerk auf, sondern verweist darauf, dass Schumacher selbst sich keineswegs als Vertreter des „Informel“ verstanden hat. Noch die explosivsten Bilder seien immer auf Form und Gegenstand rückbezogen. Nur eine akademische Debatte? Oder der Ansatz zu einer grundlegenden Neudeutung?

„Malerei ist gesteigertes Leben – Emil Schumacher im internationalen Kontext“. 29. August 2012 (Eröffnung nach einem um 19 Uhr beginnenden Festakt mit geladenen Gästen in der Stadthalle Hagen, Festredner Bundestagspräsident Prof. Norbert Lammert) bis zum 20. Januar 2013. Am Eröffnungsabend ist das Museum bis Mitternacht geöffnet.

Reguläre Öffnungszeiten Di/Mi/Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 9 Euro (ermäßigt 2 Euro), Familie 18 Euro, Kinder unter 6 Jahren frei.

Katalog (Hirmer Verlag), 160 Seiten, 29,90 Euro im Museum.

Weitere Neuerscheinung: Ernst-Gerhard Güse „Emil Schumacher. Das Erlebnis des Unbekannten“, Verlag Hatje Cantz. 504 Seiten, 49,80 Euro




Im Oktober gibt es wieder Mozarts „Don Giovanni“ in Hagen

Bald ist die Sommerpause nicht nur in der 1. Fußball-Bundesliga, sondern auch in den Stadt- und sonstigen Theatern vorbei. Aus Hagen liegt bereits das Programm für September vor. Mit „Cabaret“ geht es gleich am 1.9. los. Hier soll es nun einen kurzen Vorgeschmack über die weiteren Aufführungen geben.

Mit "Cabaret" geht es im Theater Hagen wieder los . (Foto Stadt Hagen)

Eigentlich beginnt die Hagener Saison ja schon am 25. August, aber nicht im Haus selbst, sondern davor: Bei Beginn der Dämmerung zeigt das Haus bei freiem Eintritt auf dem „FilmSchauPlatz“  den Streifen „Moulin Rouge“ mit Nicole Kidman und Ewan McGregor.

„Cabaret“ wird dann ab 1. September an vier Tagen aufeinander gegeben, es folgt am 8. September die Premiere des Kinder-Musicals „Zorro jagt den Carmen-Schatz“.. Danach am Abend und am Folgeabend wieder  „Cabaret“, am 11. und 12. Zorro,  abends „Cabaret“, am 16. September morgens das 1. Kammerkonzert, am 25 das 1. Sinfoniekonzert und dazwischen immer wieder „Cabaret“. Die zweite Premiere ist wieder ein Kinderstück: „Nur ein Tag“ am 30. September.

Man sieht, dass man wenig sieht im ersten Monat, zumindest wenig Unterschiedliches. Freuen kann man sich aber auf den 7. Oktober: Da wird der sehr positiv besprochene „Don Giovanni“ von Mozart wieder aufgenommen, und ab 25. Oktober tritt Guildo Horn wieder in „The Rocky Horro Picture Show“ auf.




Fachwerk neben moderner Architektur im Hagener Freilichtmuseum

Nach längerer Zeit waren wir mal wieder im Hagener Freilichtmuseum. Offiziell heißt es ja „LWL-Freilichtmuseum Hagen – Westfälisches Landesmuseum für Handwerk und Technik“ und liegt zwischen Wald und Landwirtschaft im idyllischen Mäckingerbach-Tal am Südrand der Stadt.

Ein altes Antriebsrad im Museum Hagen. (Foto: Ruhrtourismus)

Von früheren Besuchen mit den Kindern in deren Anfangsjahren kannten wir vieles, aber noch nicht den neuen Eingangsbereich und die NE-Metallwerkstätten und –gießereien, den schnuckeligen Friseurladen und das gerade eröffnete Restaurant.

Dieser glatte Neubau mit der großen Terrasse spaltet offensichtlich die Geister. Sowohl aus den Gesprächen anderer Besucher als auch aus den Kommentaren in der Familie kann man überwiegend Ablehnendes hören. Ähnlich der Glaspyramide am Louvre beißt sich die moderne Glas-Holzkonstruktion natürlich mit dem großen Fachwerkhaus, in dem das Schmiedemuseum untergebracht ist und an das die Gastwirtschaft direkt angeschlossen wurde, aber gerade dieser Kontrast ist sicher gewollt.

Im großen Paris haben sich die Touristen und Einheimischen längst an den spannenden Gegensatz gewöhnt, vielleicht kommt das im Kleinen ja auch im Sauerland so. Ich persönlich finde das Projekt jedenfalls gelungen – „Handwerk und Technik“ zeigen sich schließlich auch im zeitgenössischen Bauwesen.




Politskandal aus der Bismarck-Zeit: Als der Kanzler gegen die Liberalen vor Gericht zog

Wenn man die Reinwaschungsversuche unseres Bundespräsidenten sieht, dann fallen sie gegenüber den Sitten in früheren Zeiten ja noch richtig harmlos aus. Hier soll deshalb an einen ähnlich ungewöhnlichen Vorgang vor mehr als 120 Jahren im Berliner Reichstag erinnert werden, den so genannten „Hödur-Skandal“.

Otto von Bismarck

Reichskanzler Bismarck hatte in einer Debatte über die Kolonialpolitik deren Gegner, die „Freisinnigen“ (Liberalen), beschimpft und ihre Wähler mit jenem Hödur aus der germanischen Sagenwelt verglichen, der blind sei und sich nur durch Verführung (durch die liberalen Führer) dem nationalen Fortschritt in den Weg stelle.

Diese Wähler-Beschimpfung führte im ganzen Reich zu Protesten in den liberalen Vereinen. Resolutionen wurden verfasst und verschickt, und eine davon kam aus dem Wahlkreis Hagen. Der liberale Verein Voerde (heute Ennepetal) hatte seinen Protest gegen den „dämlichen Hödur-Vergleich“ dem Kanzler per Einschreiben zukommen und in der Hagener Zeitung veröffentlichen lassen.

Weil dieser Protest den Reichskanzler ausgerechnet an seinem 70. Geburtstag erreichte, an dem sich die übrige Nation in einem regelrechten Bismarck-Taumel befand, ließ Bismarck über eine Anwaltskanzlei die Voerder herauspicken und vor Gericht bringen. Es folgte also am 18. Juli 1885 der „Hödur-Prozess“ am Landgericht Hagen, der später im Wahlkreis Hagen-Schwelm noch über Jahrzehnte für Gesprächsstoff sorgte. Der Staatsanwalt warf den sechs Beschuldigten – Kaufleute, Unternehmer und der Hagener Verleger – vor allem die Formulierung vor, der Reichskanzler habe sich mit seinem Hödur-Vergleich einer „bedauerlichen Anmaßung“ schuldig gemacht. Er forderte fünf Monate Haft, doch der Landgerichtsdirektor Consbruch verurteilte die Angeklagten „lediglich“ zu Geldstrafen. Außerdem musste das Urteil in der Hagener Zeitung veröffentlicht werden, was auch geschah. Zuvor hatten die Verurteilten noch vergeblich versucht, beim Reichsgericht in Leipzig Revision zu erreichen.

Die Voerder Liberalen sahen sich nach dem Urteil jedoch nicht als Verlierer, sondern sie feierten den Prozess, weil sie so Aufmerksamkeit für die Sache der Freisinnigen erreicht hatten, und sie ließen sich in einer Weise fotografieren, wie es sonst nur erfolgreiche Jagdgesellschaften zu tun pflegten.

Bei der anschließenden Wahl zum preußischen Abgeordnetenhaus wurden alle Verurteilten zu Wahlmännern gewählt, und ihre Partei errang im Wahlkreis Hagen-Schwelm einen deutlichen Sieg.




Die 10 Millionen-Euro-Versuchung für Hagen: „Christie’s“ will Hodlers „Der Auserwählte“

Nun erwarte ich gespannt, was sich Jörg Dehm und Kolleginnen und Kollegen in ihre Sinne kommen lassen, wie sie denn mit dem unmissverständlich bekundeten Interesse von „Christie’s“ an Ferdinand Hodlers „Der Auserwählte“ umgehen wollen. Taxierte 10 Millionen Euro ist dem Londoner Auktionshaus das Bildnis wert, Hagens christdemokratischer Oberbürgermeister Dehm gerät vollends in Wanken und stubst die Chefs der im Rat der Stadt vertretenen Fraktionen kräftig an, dass sie mit im Gleichtakt wanken. 10 Millionen Euro, das wäre mal ein Wort fürs finanzgestresste Hagen.

Schon fühle ich mich an meine düsteren Gedanken mit schwacher Vision für eine nennenswerte Zukunft lokaler Kultur erinnert. Einst wollte ein gewisser Karl-Ernst Osthaus mit dem „Hohenhof“ ein Gesamtkunstwerk erschaffen, und sorgte gemeinsam mit dem Architekten Henry van de Velde dafür, dass außen wie innen in einem engen Zusammenspiel der „Hohenhof“ nicht einfach ein Jugendstilgebäude wurde, sondern eine vollendete Hülle für bildende Kunst.

Jener Karl-Ernst Osthaus hinterließ seinem Hagen indes nicht nur den „Hohenhof“, den man ja eigentlich ins UNESCO-Weltkulturerbe einordnen möchte, er hinterließ ein kaum zu überschätzendes Museum mit einer durchaus weltweit großartigen Sammlung, er rief die Folkwang-Bewegung ins Leben und schuf damit die Grundlage dafür, dass ein Großteil seiner Bemühungen schon in den frühen 1920er Jahren von den Hagenern versilbert werden konnten – nach Essen, mit dem heute der Name Folkwang verbunden ist.

Karl-Ernst Osthaus hatte einen Traum: dass Kunst und menschliches Leben miteinander versöhnbar seien. Oberbürgermeister Dehm und die anderen Hagener Politiker seien daran erinnert: Ferdinand Hodlers flächiges Gemälde wurde von Karl-Ernst Osthaus und Henry van de Velde geradezu in den Empfangsraum des „Hohenhofes“ eingepasst, sozusagen umbaut. Das Bild ist Teil der Architektur und diese, wenn man so will, der Rahmen des Bildes. Denkt bitte nicht im Traum daran, dieses (wegen versicherungstechnischer Randerscheinungen ins Osthaus-Museum ausgelagerte) Ensemble dauerhaft zu zerstören, um Geld für die Stadt zu erwirtschaften!




Ernst Meister: An den Grenzen des Daseins

Aus der Münsteraner Ausstellung (siehe Hinweis am Ende des Beitrags): Ernst Meister, Selbstporträt o. J., Pastell ung Kohle auf Papier (Foto: LWL)

Aus der Münsteraner Ausstellung (siehe Hinweis am Ende des Beitrags): Ernst Meister, Selbstporträt o. J., Pastell ung Kohle auf Papier (Foto: LWL)

„Abend erscheint.
Rauchig ist die Stadt
meiner Mutter, rauchig
die Stadt meines Vaters
von den Eisenöfen.“

Was haben wir da? Ruhrgebietsliteratur der bodenständigen, realistischen Art? Eigentlich ganz und gar nicht, obwohl sich die Verse auf Hagen beziehen. Es handelt sich um den Anfang eines Gedichts von Ernst Meister (1911-1979), der dieser Stadt sein Lebtag treu geblieben ist – wie der Maler Emil Schumacher. Da könnte man fragen: Was hatte Hagen, was andere Ruhrgebiets-Kommunen nicht hatten? Aus all den weiteren Revierstädten haben sich die Größen doch zeitig verabschiedet.

So fassbar konkret wie im anfänglichen Zitat klingt es im gesamten Auswahlband der Gedichte (Bibliothek Suhrkamp) kaum noch einmal. Statt dessen geht es um Ganze der flüchtigen Existenz – vor dem allgegenwärtigen, übermächtigen Horizont des Todes.

Die von Peter Handke getroffene Auswahl ist zur 100. Wiederkehr des Geburtstages von Ernst Meister erschienen. Vorlage war die 17-bändige (!) Ausgabe sämtlicher Gedichte Meisters (Rimbaud-Verlag, Aachen).

Handke schreibt im knappen Vorwort, er habe sich „spontan für die Gedichte in diesem Buch entschieden“. In Meister, so steht zu vermuten, verehrt er einen Vorläufer. Apropos: Zu den wichtigsten und fruchtbarsten Einflusslinien der gesamten Literatur im Ruhrgebiet zählt sicherlich, dass der junge Nicolas Born (aus Duisburg stammend) sich an den bereits etablierten Hagener Meister wandte, um vom Älteren zu lernen.

Meister ist allerdings unvergleichlich. Er steuert immer aufs Wesentliche zu. Jeder Zeile merkt man an, wie lang sie bedacht sein muss. Also muss man ihr gleichfalls lang nachhorchen, nachsinnen.

Auch ahnt man, wie viele mögliche andere Zeilen im Verlauf des Dichtens entfallen sein müssen, bis die Essenz übrig blieb. Diese ungemein komprimierte Lyrik bewegt sich nah und näher am Saum des Schweigens. Vielfach werden pflanzliche Kreatur oder Steine zu Zeugen des Daseins aufgerufen.

Wie ein Schock wirkt es, wenn in diesen Kontext unversehens Alltäglichkeit drängt:

GUTE NACHT

Gute Nacht
sagen sie abends um sechs
im Sägewerk.

Und ein Mann geht heute,
grau von sprühendem Holz,
satt die kreischenden Blätter,

nach Haus,

wo sein Kind schreit,
weil es Grimmen hat
und nicht
schlafen kann.“

Sonst aber geht es gleich bis zu den Grenzlinien des Lebens. Als Leser mag man sich vorkommen wie der Passagier eines Fährmanns, der sich weit, weit hinaus gewagt hat. Doch man kann ihm dort draußen vertrauen, auch wenn seine Stimme – im Höchsten und Tiefsten der Sprache – gelegentlich stammelt, stockt und strauchelt. Wer könnte denn geläufig reden, wenn es um die letzten Dinge geht?

Noch lebend, glaubt das lyrische Ich, schon die Totenschuhe anzuhaben („Anderer Aufenthalt“), „Ein lebend Tödliches“ lautet der bezeichnende Titel eines anderem Gedichts, wobei solche Überschriften stets in Versalien (Großbuchstaben) gesetzt erscheinen.

So rasch rauscht hier das Leben vorüber, dass es immer schon fast vorbei ist, der Jahreslauf eilt so:

„Daß man sah
des Jahres Zeiten,
die Blume geöffnet,
das Tropfen der Früchte,
der Äste Starrn.“

Die Totenwelt ragt unabweisbar in die lebende hinein. Und doch bleibt diese Lyrik vollkommen irdisch und diesseitig, sie wirft ihre Worte nichts leichtfertig ins Jenseits, will nicht visionär übers hiesige Leben hinaus reichen. Auch das Gedenken an die verstorbenen Eltern bescheidet sich so:

„…Vater und Mutter zum Beispiel,

grabsäuberlich,
Leben beglichen.
Ach, der Gedankensohn.“

Zeilen, die interpretierend schwerlich zu erschöpfen sein werden. Meister ist in Zonen gesegelt, in denen Genie an Scharlatanerie grenzen und unversehens parodierbar werden könnte. Es scheint jedoch, als hätte er solche Klippen samt und sonders umschifft.

Man sollte ihn von Mal zu Mal, man sollte ihn wieder und wieder lesen.

Ernst Meister: „Gedichte“. Ausgewählt und mit einem Vorwort versehen von Peter Handke. Bibliothek Suhrkamp. 150 Seiten. 13,90 Euro.

Bildnerische Ergänzung: Das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte zu Münster zeigt noch bis zum 27. November 2011 eine Studio-Ausstellung mit Aquarellen und Zeichnungen von Ernst Meister (geöffnet Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr, Katalog mit Bestandsverzeichnis auf CD 19 Euro). Infos: http://lwl-landesmuseum-muenster.de




Kunst kommt von Können – aber nicht immer

Lange war es geschlossen, das Osthaus Museum in Hagen. Seit es 2009 mit dem angeschlossenen Schumacher-Neubau wieder eröffnet wurde, zieht es vor allem Architektur-Freunde an.

In diesem Sommer nun hat das Haus eine frühere Tradition wieder aufgegriffen: Die Ausstellung „Hagener Künstlerinnen und Künstler“. Alle zwei Jahre soll sie stattfinden. Für 2011 hatten sich 117 bildende Künstler beworben, 42 wurden durch eine Jury ausgewählt, und bei dieser Menge – im Verhältnis zur Größe der Stadt Hagen – kann man sich vorstellen, dass es deutliche Qualitätsunterschiede gibt.

Das Osthaus Museum in Hagen

Auf drei Ebenen verteilt finden sich Malerei, Collagen und Skulpturen, aber auch großformatige Fotografien und Computerkunst. Interessante Strukturen auf durchlöchertem Sperrholz oder Experimente mit Kunststofffolien hängen neben konventionell abstrakten Acrylbildern. Übergroße Spermien aus Pappmaché schmücken eine Querwand, und der stets präsente Uwe Nickel durfte mehrere seiner knallbunten, noch am Kubismus orientierten Wandgemälde beisteuern. Die sind, wie so oft in der Kunst, eher Geschmacksache.

Einige Künstlerinnen und Künstler widmen sich der Kombination von Fotos, die auf Leinwände gedruckt wurden, und ihrer nachträglichen Bearbeitung mit Öl- oder Acrylfarben. Das bringt verblüffende Effekte, erinnert jedoch stark an die verwischten Richter-Bilder, und der kann es wirklich besser. Natürlich ist ein solcher Vergleich etwas ungerecht, aber wer sich mit seiner Kunst in ein renommiertes Museum begibt, der muss auch damit rechnen.

Am Ende des Rundgangs kommt man auf der dritten Ebene in eine Sonderausstellung des früh verstorbenen Hagener Malers RappaPort – „Objekt und Farbe“ heißt diese Präsentation, zusammen gestellt vom „Freundeskreis RappaPort“. Figürliches vermisst man hier völlig, stattdessen beeindrucken aber seine seriellen Bilder. Das hat schon was.

Und dann blickt man durch eine Seitentür in einen Raum der ständigen Sammlung, da hängen die Bilder von Christian Rohlfs, und schlagartig wird einem der Unterschied klargemacht: Kunst kommt von Können, aber nicht immer.

Osthaus Museum Hagen, Hochstraße 73. Erwachsene 6 Euro. Bis 28. August 2011




Neulich im Kreuzworträtsel: Wo endet das Ruhrgebiet?

Neulich im Kreuzworträtsel die Frage: Stadt im Sauerland mit neun Buchstaben. Als Lösung sollte man dort „Ennepetal“ eintragen, aber liegt Ennepetal im Sauerland?

Wie der ganze Ennepe-Ruhr-Kreis gehören Ennepetal und die anderen acht Städte politisch zum Ruhrgebiet, sind also Mitglied im „Regionalverband Ruhr“. Landschaftlich fühlt man sich in Städten wie Breckerfeld und Ennepetal oder im Hagener Süden aber tatsächlich wie im Sauerland. Wer durch die Kreisstadt Schwelm bummelt und die verschieferten Fachwerkbauten mit den grünen Fensterläden bewundert, der wähnt sich eher im Bergischen Land. Ähnlich sieht es an den anderen Rändern des Reviers aus: Haltern ist doch kulturell und landschaftlich mehr eine münsterländische Stadt, und Xanten oder Wesel liegen natürlich am Niederrhein.

Das Ruhrgebiet ist eben eine künstliche Struktur, orientiert an der Industrieentwicklung und an dem Wunsch, eine gemeinsame Landschaftsplanung zu erreichen. Klar, die ersten Kohlen grub man aus den Pingen auf den Haßlinghauser Wiesen, bevor der Bergbau in Witten unter die Erde ging und weiter nach Norden wanderte. Klar, die erste Kleinmetallindustrie entstand in den Seitentälern der Ruhr-Nebenflüsse, und das war natürlich das Sauerland, dem Namen nach also das „Süderland“ – doch südlich wovon? Wahrscheinlich entstand die Bezeichnung aus Sicht der frühmittelalterlichen Machtzentren, und die lagen in Soest und Dortmund, in Essen, Hattingen und Werden. Das Süderbergland war der unterentwickelte Süden, das Mezzogiorno Westfalens, aber dennoch Keimzelle der heutigen Industrieregion.

Was sagt also ein Ennepetaler anderswo in der Welt, wenn man ihn fragt, wo das denn liegt? „Zwischen Hagen und Wuppertal“ lautet meist die Antwort. Das ist schon sehr genau, ein „Zwischen“ eben – nicht richtig Ruhrgebiet, nicht richtig Sauerland.

In Amerika fragte uns mal ein Arzt nach unserer Herkunft. „From Germany“ war die erste Antwort. Und genauer? „Near Cologne“. Und dann seine überraschende Rückfrage: „Is that in France?“

So relativiert sich mit der Entfernung die Bedeutung von Grenzen.




Kultur und Infrastruktur

Wer es besser weiß, der möge mich ohne jede Hemmung korrigieren – das gilt übrigens stets und ständig, wer ist denn schon von Irrtümern verschont? Aber hat irgendwer einmal davon gelesen, dass ernst zu nehmende Menschen aus dem noch ernster zu nehmenden Bereich der Betriebs- oder Volkswirtschaft einen Straßenbau angezweifelt hätten, weil dieser sich womöglich nicht rechnen könnte – oder gar ein Minus gebären könnte?

Ich weiß, niemand käme auf solch eine ungeheuerliche Idee. Hingegen geht so etwas pfeilschnell, wenn Theater oder Orchester oder Museen nicht das einspielen, was der ernst zu nehmende Betriebs- oder Volkswirt errechnet hat. Oder wenig ernst zu nehmende Politiker.

Im kulturell noch immer beseelten Hagen war vor gar nicht allzu langer Zeit das Theater (wie vielerorts) flink zur Disposition gestellt, wenige Hände hoben sich für Bestandspläne, wenige Stimmen waren so vorlaut, Schließungsgedanken ins Reich der Absurdität zu debattieren.

Im wesentlich kleineren Unna entspinnen sich Auseinandersetzungen um die Finanzausstattung des internationalen Lichtkunstzentrums, deren Niveau an provinzieller Qualität schneller zulegt als „The Biggest Loser“ im Mob-TV abnehmen könnte.

Beispiele gibt es noch reichlich, Städte mit ergänzungsbedürftiger Fernsicht ebenfalls. Sie haben alle eines gemeinsam, dass sie nämlich um den Erhalt von gesellschaftlicher Infrastruktur streiten. Nichts anderes sind Theater, Museen, kulturelle Einrichtungen insgesamt, aber auch (man möge mir vergeben, dass ich dergleichen Alltägliches in Augenhöhe erwähne) Schwimmbäder oder Sportplätze und Turnhallen. Sie sind ebenso wie Straßen, wie Autobahnen oder Schienenstränge lebensnotwendige Infrastruktur.

Ich komme noch einmal auf die besagten Straßen zurück. Während sich furchtbar gern und ultra populistisch darüber gestritten wird, ob x-tausende Euro besser für Kindergärten oder Schulen angelegt sind als für ein Kultur-Objekt, werden Straßenbaupläne durchgewunken und abgenickt in einer stets silberpfeiligen Geschwindigkeit. Allenfalls zwisten Grüne bei diesem Thema, sie sind aber mit ausreichend begleitenden Radfahrgelegenheiten (selbstverständlich asphaltiert) zu sedieren.

Hingegen ist die „Hinterfragebereitschaft“ bei kulturellen Angeboten wesentlich ausgeprägter.

Ich kenne das nur aus den Lagerfeuer-Erzählungen noch erfahrenerer Menschen. Nach dem Krieg, Straßen und Schienenstränge, viele Autobahnen und Städte waren zerschlissen und zerstört – da sorgten zwei Männer namens Alfred Gleisner und Hubert Biernat im Kreis Unna dafür, dass die Keimzelle für ein Landesorchester gelegt wurde. Es existiert heute noch unter dem Namen Neue Philharmonie Westfalen. Hatten die denn keine anderen Sorgen?

Gute Frage – noch bessere Antwort: Die hatten erkannt, dass Straßen und Schienenstränge wieder aufgebaut werden können, dass aber, wenn man den Wiederaufbau der Menschen vernachlässigt, man irreparable Schäden hinterlässt.

Noch einmal zurück nach Hagen. „Sieben Sagen“ titelte das 3. Familienkonzert des Philharmonischen Orchesters Hagen. Wolfram Buchenberg hatte diese Musik für die Ruhr und ihre sagenumwobene Geschichte komponiert. Und wer miterlebte, wie begeistert Schulkinder sich als Teil des Orchesters einbrachten, sich vom Dirigenten Florian Ludwig lenken ließen, als hätten sie nie etwas anderes getan, wie sie nahtlos zum Teil eines Kultur-Betriebes wurden, der verschwendete keinen Gedanken daran, die roten Zahlen den Kindergärten und Schulen gegenzurechnen. Auch Infrastruktur, wie ich meine, die man nicht antasten würde, so lange es ausreichend junge Menschen gibt.




Er ist wieder da!

Er hat anscheinend einen anderen Tagesrhythmus gewählt. Morgens fehlt er dem gewohnten Bild im Streckenabschnitt Hagen – Unna des RE 7 nach Rheine. Wie er missmutig dreischauend, angestrengt schnaubend, hypertonisch roten Kopfes Zug auf Zug ab marschierte und die Sitzplätze oder Müllbehälter nach Leergut absuchte. Wenn er fündig wurde, befüllte der Mittfünfziger (grobe Schätzung) sorgsam seine Kunstleder-Aktentasche, deren Design für ein Aktentaschen-Methusalem-Alter sprach, denn so eine hatte ich auch mal, als ich noch zur Schule radelte.

Nun, er war eine Zeit verschwunden, machte seine Runde nicht mehr im Zug. Traf in Schwerte nicht mehr seinen Bekannten, der gleichgesinnt durch die Abteile stöberte und sammelte. Bis vergangenen Freitag, als wir uns im Nachmittagsverkehr des RE 7 Richtung Hagen wiedertrafen. Das hypertonische Rot war keineswegs gewichen, immer noch dieselbe langdienende Aktentasche, auch schaute er nicht wohlgelaunt in die Runde. Nur eine Änderung: Er hat ein Depot geschaffen, einen Bierflaschenträger in einem Abteil installiert, darin die gläsernen Fundstücke gut aufgehoben werden können.

Wir stiegen beide in Hagen aus dem Zug. Er trug den Bierkasten und die prall gefüllte Aktentasche zur nächstgelegenen Verkaufsstelle, dass das Pfand eingetauscht werde.

Gut zu wissen, dass vieles Bestand hat, dass sich nur die Rhythmen ändern. Ich wünsche ihm noch ganz viel Pfand und noch mehr sei ihm Freude gewünscht.




Immobilien-Theater – Raumfessel oder Trutzburg

Steht erst einmal ein Gebäude, kann dort kein anderes stehen. Eröffnet man zum Beispiel in diesem Gebäude ein Theater, kann man die folgenden Jahrzehnte kein anderes eröffnen. Da ist der geschlossene, umbaute Raum. Dort ist das Theater verortet, ob der Mensch will oder nicht.

Und im Innern, in den dunklen Räumen ohne Fenster arbeitet der Theatermensch, der Opernmensch oder an mancher Stelle auch der Tanzmensch an seinem Werk, umschlossen vom Schutzraum, der ihm es gestattet, ja gebietet, dort das Theater mit Leben zu füllen. Es hat also eine Adresse, für die Verantwortung getragen wird. Es wird Geld ausgegeben, damit die Kunst lebendig bleibt. Der Staat, das Land, die Stadt – sie sind die Ermöglicher und eine Immobilie zu betreiben, ist ein verwalterischer Akt, so wie auch manche Kunst in der Immobilie.

Ganz anders im Falle des Museums. Da kann sehr wohl eines neben dem anderen eröffnet werden. Die Museums-Immobilie ist – im Gegensatz zur Theater-Immobilie – vervielfachbar. Dort bewahrt man Kunst auf, die von Menschen erstellt wurde, auf die der Mensch selbst aber keinen Anspruch mehr erhebt. Die Immobilie lebt fortan ohne den Künstler, sie hat ja sein Werk und das Werk muss nicht essen und hat keine Familie – in der Regel. Das Kunstwerk klopft auch nicht an und sagt: „Ich will in Eurem Haus arbeiten“. Es wird gesammelt, gekauft oder ausgeliehen, das Kunstwerk. Und wenn es nicht mehr gebraucht wird oder niemand es mehr sehen will, kommt das Kunstwerk in den Keller oder es wird archiviert. Und manchmal fehlt dem Museum ein Keller oder ein Archiv. Dann wird dafür ein Gebäude bereit gestellt. Wenn also eine Immobilie da ist, kann sehr wohl daraus eine weitere Museums-Immobilie werden, je nachdem, welcher Politiker sich daneben und dahinter stellt.

Ganz anders bei der darstellenden Kunst. Hier sind Menschen, die auf den Nerv gehen können, weil sie eines Tages eine Rente bekommen wollen, krank werden oder eine Lohnerhöhung verlangen. Aber es soll hier ja erst einmal um Gebäude gehen. Lassen wir also den Menschen weg, es sei denn, er ist Bauarbeiter oder Renovierer, Restaurator oder Vermieter.

In der Politik, besonders auch in der Kulturpolitik, zählt das Gebäude. Das sieht man auch daran, dass sie früher mal besetzt wurden, an mancher Stelle auch wieder heute, aber in einer symbolischen Form. Man drängt also in ein Gebäude und sagt: „Wir sind Künstler und wir brauchen Raum, besonders diesen hier.“ Und je nach Wetterlage, wird den Besetzern zugehört. Und man sagt: „Sehet her! Hier sind junge Leute, die brauchen Raum. Kümmern wir uns darum!“ Für den Kunst geneigten Politiker ist das eine schöne Plattform, die er erst wieder verlässt, wenn sich alles auflöst und letztlich wird der Raum einer Logistik-Firma übergeben oder gar der Selbstverwaltung überlassen, was in der Regel bedeutet, dass der Mensch sich übernimmt und am Ende wieder auf seinem Sofa sitzt.

Festival Theater der Welt am Essener Grillotheater

Aber schon wieder gleite ich ab, schweife in Gassen umher, um die es hier und jetzt nicht geht. Bleiben wir da, wo wir sind: Hier im Ruhrgebiet, wo es damals, vor Jahrzehnten, Gebäude gab, die man für das Theater gebaut hatte. Essen hatte Herrn Grillo, die anderen die Stadt: Gelsenkirchen, Bochum, Duisburg, Dortmund, Oberhausen, Recklinghausen, Hagen, später dann Mülheim. Und die SPD wollte und bekam die alternativen Häuser, meist alte Immobilien, die sonst für Parkplätze hätten herhalten müssen und da sollte dann der junge Mensch, vor allem der alternative junge Mensch, sein Zuhause finden für seine alternativen Theater und Tänze. Später auch für die Fort- und Weiterbildung, für Geselligkeit mit nicaraguanischem Kaffee.

Und die damals dort arbeiteten, arbeiten immer noch dort und die Kinder sind jetzt Angestellte, Unternehmer oder Taxifahrer auf Lebenszeit. Und wenn Kinder etwas wollen, werden sie ins Kindertheater gelockt.

Eine schöne Landschaft hier im Revier – Stadthallen, Theater, Opern, Kulturzentren – alle von Mauern umgeben und wie Trutzburgen gefestigt als Teil der Kulturlandschaft.

Room 2.0

Der Künstler selbst, also der Mensch, muss sehen, wie er Platz findet in den Gebäuden. Eigentlich ist Stillstand angesagt – mit ein paar Ausnahmen, wie man sie immer hat, ob bei der Bahn oder beim Wetter. Eigentlich ist Sommer, aber der Regen und das Thermometer…Ausnahmen.

Etwas Neues kommt nicht zustande. Nachwachsende, ob jung oder alt, haben eigentlich keine Chance, es sei denn, sie drängen in die vorhandenen Immobilien. Aber – wie gesagt.

Dortmund hat annähernd 600 000 Einwohner, Essen auch. Schaut man sich die Theaterlandschaft an, wird einem schwindelig vor lauter Nichts. Der Mensch im Revier ist zu doof. Er interessiert sich nicht für die darstellende Kunst. Das hört man oft, zwar nicht so wörtlich, ist aber Allgemeingut bei allen Kulturpolitikern und den Menschen selbst. Deshalb reicht, was da ist, es sei denn, es handelt sich um Musik oder Museen. Da kann es nicht genug geben.

Köln hat gefühlte 100 Theater, Tallinn in Estland macht den Eindruck, es bestünde aus Theatern. 400 000 Einwohner und überall stehen Theater, die auch besucht

Strawtheatre in Tallinn 2011

werden. Dort ist 2011 Kulturhauptstadt. Hier war 2010 Kulturhauptstadt und für das Theater, vor allem das sogenannte Freie oder nomadisierende, wurde geradezu nichts getan. Fragt der Nomadisierende, also der ohne Immobilie, nach Raum, verweist man auf die vorhandenen. Ansonsten ist er eine Ansammlung von ein paar Menschen, die ohne Raum auch ohne Stellung sind, ohne Trutzburg. Der nomadisierende Künstler kostet nichts oder wenig und damit zeigt sich seine Bedeutung. Wenn ein neues Gebäude, aus einem alten entstanden, eröffnet wird, dann lässt man die Nomaden nicht hinein, sondern Werke oder Kunstvermittler, nicht den Künstler selbst. Und dann steht der Mensch vor dem Gebäude und denkt: Ich bin flüchtig, meine Kunst ist flüchtig, also bin ich ein Flüchtling und brauche Asyl. Und das ist ein heikles Thema.

Hier soll zunächst mal Schluss sein und der Autor weiß um sein diffuses Pamphlet. Aber so ist er, der Kopfreisende, der in dunklen Räumen nicht denken kann. Er braucht das Licht und die Natur.

Und so etwas wird nicht gedacht ohne eine Forderung. Ohne Forderung kann der Künstler nicht existieren. Er fordert sich, manchmal seine Zuschauer und –hörer.

Kisten

Eine Region mit dieser Einwohnerzahl und Geschichte muss sich viele Theater leisten können. Theater- und Tanzräume, in denen das Lebendige nach außen dringt und die Lebendigen von draußen hineinzieht, die Künstler hinaustreibt, um angefüllt mit neuen Ideen, wieder hineinbringt. Offene Türen, offene Proben, offene Gesinnung, groß und vielräumig, wild und poetisch – mit starken Konzepten und klugen Leuten, die mehr zulassen als  weglassen. Aber es herrscht das Loch in der Region.

Das Stadttheater ist nicht die einzige Anlaufstelle für „den Theaterabend“. Die BürgerInnen wuseln umher und folgen immer mehr den Verlockungen der Löcher – dem Nichts der übermäßigen Farbenpracht, der Vielfalt der Bildschirme und Displays in allen Größen.

Wo ein Loch ist, kann da noch ein anderes sein?

Ich empfehle die Lektüre von Kurt Tucholskys „Zur soziologischen Psychologie der Löcher“

 




Komm nach Hagen…

„Komm nach Hagen, werde Popstar“, so hieß vor langer Zeit ein knackiger Song von „Extrabreit“ – und danach eine in Westfalen oft zitierte „Spiegel“-Schlagzeile Anfang 1982. Damals machte die „Neue Deutsche Welle“ (NDW) etlichen Wind – erstaunlicherweise vor allem von Hagen aus. Diese Geschichte darf nun auf gehörig gehobenem Niveau-Plateau ergänzt werden. Demnach könnte es jetzt heißen: „Komm nach Hagen, sei ein Kunstfreund.“ Oder bleibe es…

Am 28. und 29. August wird in der sonst meist nicht allzu aufregenden und schon gar nicht glamourösen Stadt ein „Kunstquartier“ eröffnet, das im Lande seinesgleichen sucht und zu einer Bastion der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 werden kann.

Neue Rangfolge im Land

Gewiss: Köln und Düsseldorf bleiben die vorherrschenden Metropolen der musealen Szene in NRW. Doch dann kämen schon Bonn, Münster, Duisburg – und künftig vielleicht Hagen. Dortmund wird sich höllisch anstrengen müssen, um mit seinem Ex-Brauereiturm „U“ (wo auch das bisherige Ostwall-Museum einzieht) wieder halbwegs zum südlichen Nachbarn aufzuschließen.

Das altehrwürdige Hagener Karl-Ernst-Osthaus-Museum (rühriger Direktor: Tayfun Belgin; Schwerpunkt: Expressionismus) ist gründlich restauriert und erweitert worden, u. a. um eine Kinder- und Jugend-Abteilung. Das allein wäre schon Anlass zur Freude. Doch es kommt endlich, endlich ein singulärer Anziehungspunkt hinzu, nämlich das neue Emil-Schumacher-Museum.

Im Nachhinein mutet es noch grotesker an, dass in der (allerdings hoch verschuldeten) Stadt derart viele – teilweise dumpfe – Vorbehalte gegen dieses Projekt hochgekocht sind. Solche Querelen sind hoffentlich für immer ausgestanden. Viel nachhaltiger kann man rund 26 Millionen Euro nämlich kaum anlegen. Die Investition wird sich für Hagen auch touristisch auszahlen. Fehlt freilich noch ein vernünftiger Ankaufsetat fürs Osthaus-Museum…

Einige Wochen vor der Eröffnung hatte ich jetzt Gelegenheit zum ausgiebigen Rundgang durch beide Häuser. Zwar steht und hängt noch nicht alles an seinem Platz, zwar arbeiten an allen Ecken noch Handwerker, doch kann man bereits sagen, dass hier Großes entstanden ist.

Im neuen Haupteingangs-Foyer wird man sich bald entscheiden dürfen, ob man sich nach rechts (Osthaus-Museum mit Alt- und Anbau) oder nach links (Schumacher-Museum) wendet. Fürwahr kein leichter Entschluss. Man sollte halt beides nicht versäumen und am besten wiederkommen. Die Kombikarte kostet übrigens moderate 6 Euro.

Die Bühne ist bereitet

Begeben wir uns zunächst nach links. Das imposante Treppenhaus lässt es schon ahnen: Hier wird dem weltberühmten Hagener Maler Emil Schumacher (1912-1999) eine Bühne bereitet, die wohl weltweit unvergleichlich ist. Vor allem der weitläufige Oberlicht-Saal, in dem Schumachers fulminante Großformate prangen, nimmt einem schier den Atem. Man sollte sich dieses Erlebnis am besten für zuletzt aufheben. Die Farbe – hier wird sie eruptives Ereignis! Da schwelgt man in ungeahnten Kräften von Rot, Gelb, Blau. Bilder wie „Palmarum“ und „Pinatubo“ wirken nahezu wie vulkanische Naturschöpfungen.

Bevor man diesen Gipfel erklimmt, ist man behutsam didaktisch zu Schumachers Werk-Essenzen hingeführt worden. Ganz unten ist sein Atelier weitgehend getreulich nachgebaut, dazu läuft ein Film, so dass man sich eine Vorstellung von seiner zuweilen heftigen gestischen Arbeitsweise machen kann. Gelegentlich wurde gar die schiere Wut produktiv. Zutiefst unzufrieden mit einem Bild, ist Emil Schumacher der Leinwand zornig mit dem Hammer zuleibe gegangen – und siehe da: Die Einschläge bildeten ganz eigentümliche Formen, aus denen sich etwas gewinnen ließ. Eine ganze Reihe von „Hammerbildern“ folgte…

Alexander Klar, wissenschaftlicher Leiter des Schumacher-Museums, will den Besuchern die „Angst“ vor abstrakter Kunst nehmen. Abstraktion und Figürlichkeit seien bei Schumacher beileibe kein Widerspruch, sondern zwei Aspekte derselben Ur-Sache. Eins greift ins andere über, es wogt aus gleichem Antrieb hin und her. Man kennt das auch von anderen großen Künstlern, von Picasso bis hin zu Gerhard Richter.

Es lässt sich anschaulich verfolgen, wie bestimmte Motive bei Schumacher (Brückenbögen, Vogelschwärme, Pferde) hernach in vermeintlich abstrakten Fügungen wiederkehren. Die subtile Hängung ermöglicht immer wieder Zwiesprachen der Bilder über Blickachsen hinweg. Man kann auch weniger bekannte Serien entdecken, wie etwa die Moscheen-Bilder, die Schumacher 1988 im Irak mit genialischem Strich „hingeworfen“ hatte. Die meditativen Umrisse wirken wie eine letzte Zuflucht vor all dem drohenden Kriegsgetöse.

Das neue Haus, das von der Emil-Schumacher-Stiftung getragen wird, schmiegt sich ans Osthaus-Museum und wirkt doch als sichtbar eigenständiger, gläsern transparenter Baukörper. Gründungsdirektor ist Emil Schumachers Sohn: Ulrich Schumacher war von 1976 bis 2002 Museumschef in Bottrop. Keiner kennt das Werk Emil Schumachers mitsamt den lebensweltlichen Hintergründen so gut wie er.

Das Ausstellungsprogramm wird sich künftig natürlich in erster Linie um Emil Schumachers reichhaltiges Schaffen ranken. Bereits der eigene Fundus reicht für viele, immer wieder neue Perspektiven aufs Werk. Doch auch Querverweise auf andere, womöglich in irgendeiner Art „verwandte“ – oder aufschlussreich gegenläufige – Künstler sind eine Aufgabe schon für die nähere Zukunft. Ab Mai 2010 werden beispielsweise Bilder von Albert Oehlen zu sehen sein.

Geist des Ortes

Spezieller Vorzug in Hagen: Hier waltete seit Karl Ernst Osthaus’ Zeiten ein zuweilen recht reger künstlerischer Geist des Ortes, der freilich immer wieder von kulturfernen und sogar kulturfeindlichen Strömungen konterkariert wurde. Jedenfalls werden hier nicht einfach beliebige Künstler und ihre Werke präsentiert, sondern vor allem auch solche, die mit und in der Stadt innig zu schaffen hatten.

Der große Anreger und Mäzen Osthaus hatte sich hier niedergelassen und 1902 das Folkwang Museum gegründet, mit dem die Stadt vorübergehend ein Zentrum der Moderne wurde. Doch die Hagener ließen die bedeutenden Sammlungen ziehen. Nach Osthaus’ Tod (1921) verkauften dessen Erben die Kunstschätze eilig an die Stadt Essen, wo höhere Erlöse lockten. Ein unwiederbringlicher Verlust, der bis heute schmerzt. Und doch: Vielleicht hat die einstige Präsenz der Kunst ja insgeheim doch nachgewirkt?

Bevor wir gar zu esoterisch spekulieren, fahren wir fort und stellen nüchtern fest: Der gebürtige Hagener Emil Schumacher lebte und wirkte zeitlebens von hier aus – und hier schrieb ein weiterer großer Sohn der Stadt, ein Lyriker von hohem Rang: Ernst Meister (1911-1979), der auch sehr respektabel gemalt und gezeichnet hat (davon soll es nun regelmäßig Proben im Osthaus-Museum geben).

Eine von Birgit Schulte betreute Osthaus-Sonderausstellung ist jetzt zudem Christian Rohlfs gewidmet, der gleichfalls in Hagen gearbeitet hat und 1938 hier gestorben ist. Eine umfangreiche Schenkung hat die ohnehin schon beachtlichen Hagener Rohlfs-Bestände in jüngster Zeit auf über 500 Arbeiten anwachsen lassen.

Als wäre all das noch nicht genug an Ortsbezügen, hat eine Gegenwarts-Künstlerin das Haus zur hauptsächlichen Wirkungsstätte erkoren: Die 1943 geborene Sigrid Sigurdsson erweitert hier stetig und unermüdlich ihr ungemein vielfältiges Archiv unter dem Titel „Vor der Stille – Ein kollektives Gedächtnis“. Das eigentümliche Amalgam aus zeitgeschichtlichen und persönlichen Erinnerungs-Stücken füllt – in Folianten und Schaukästen dargeboten – einen großen, würdevoll dunklen Saal des Museums. Last und Ernst des Erinnerns scheinen zu überwiegen, doch wer Zeit mitbringt und sich ins Einzelne versenkt, wird auch ganz andere Facetten ans Licht holen.

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INFOS:

Adresse des Kunstquartiers: Museumsplatz 1 (für Navigationsgeräte die frühere Anschrift: Hochstraße 73) in 58095 Hagen. Für auswärtige Besucher der Stadt empfiehlt sich außerdem das Jugendstil-Ensemble Hohenhof (Stirnband 10, 58093 Hagen).

INTERNET

Ausführliche Informationen über Eröffnung, Anfahrt, Preise, Ausstellungsvorhaben etc. auf folgenden Internet-Seiten:

http://www.osthausmuseum.de

http://www.kunstquartier-hagen.de

http://www.esmh.de

Foto (Bernd Berke): Ulrich Schumacher vor einem Bild seines Vaters Emil Schumacher




Das Buch als Ware – und als Kulturgut / Von Hagen aus steuert Michael Busch die Handelskette Thalia

Von Bernd Berke

Hagen. Hätten Sie’s gewusst: dass der vielleicht einflussreichste Buchmanager Deutschlands in Hagen arbeitet? Er heißt Michael Busch, ist 42 Jahre alt und leitet die Geschicke der Buchhandelskette Thalia. Die WR hat den „Herrn der Bücher“ in der Hagener Firmenzentrale besucht.

Die Gebäude im Gewerbegebiet Bathey wirken gediegen, doch schmucklos und gar nicht auftrumpfend. Von hier aus werden halt nüchterne Geschäfte gelenkt. Und wie! In Teilen der Branche hat der rasante Aufstieg von Thalia Befürchtungen geweckt. Thalia-Chef Busch äußert gewisses Verständnis: „Größe und Wachstum machen Menschen teilweise Angst. Wir können das nachvollziehen.“

Neuerdings ist Thalia freilich nicht mehr Marktführer, sondern die (gewichtige) Nummer zwei. Durch den Zusammenschluss von Hugendubel und Weltbild zur DBH ist ein noch etwas größerer Handelsriese entstanden. Busch: „Diese Fusion hat uns nicht überrascht, wir haben früher damit gerechnet.“ Die Konkurrenz belebe jedenfalls seinen sportlichen Ehrgeiz.

Einstieg in Dortmund „gut vorstellbar“

Allerdings, so Busch: „Marktführerschaft an sich hat ja erst einmal nur eingeschränkten Wert. Wichtiger ist die Qualität.“ Die Strategie seines Hauses bleibe wie bisher: „Einerseits die Eröffnung neuer Läden, andererseits die Integration und der Erwerb bestehender Buchhandlungen.“ Oft könne nur auf diese Weise das Weiterbestehen einer Buchhandlung gesichert werden. Busch versichert: „Thalia hat hier individuelle Lösungen umgesetzt.“ Wird Thalia eines Tages auch in Dortmund antreten, etwa im umgebauten Bahnhof? „Gut vorstellbar“, meint Michael Busch. Dortmund habe die nötige Größe und Kaufkraft.

Insgesamt wolle man das nationale Netz verdichten, doch nicht um jeden Preis: „Wir möchten vor allem rentable Standorte haben.“ Von einem Kampf der Konzerne um die besten Plätze mag Busch nicht reden: „Das wäre schematisch betrachtet. Alle Unternehmen wollen sich vernünftig und mit Augenmaß weiterentwickeln.“ Künftige Ladenschlusszeiten werde Thalia je nach Situation in den Städten regeln. „Unsere Leute vor Ort wissen am besten, was richtig ist.“

Literarische Vielfalt ade?

Einige Kritiker unken, die großen Buchhandelsketten könnten irgendwann bloße Verkaufsstationen für Bestseller werden – literarische Vielfalt ade? Busch sieht das ganz anders: „Wir glauben, dass wir sehr stark zum Thema kulturelle Vielfalt beitragen. Unsere Buchhandlungen sind in der Regel relativ groß. Sie sind deshalb groß, weil wir diese Fläche brauchen, um das Sortiment angemessen vielfältig darstellen zu können.“

Generell müsse der Buchhandel Innovationen nachholen, die in anderen Wirtschaftszweigen längst vollzogen seien. Das Buch konkurriere mit vielen anderen Warengruppen. Es müsse im Sinne des Erlebniskaufs attraktiv „inszeniert“ werden, u. a. mit Service, Freundlichkeit und Aufenthaltsqualität (Sitzecken, Cafés usw.) in den Buchhandlungen.

Irritationen bei einigen Verlagen

Ungefähr vor Jahresfrist gab es Irritationen bei einigen Verlagen, von denen Thalia Kostenzuschüsse für seine Neueröffnungen, Umbauten und Renovierungen forderte. Der Konflikt ist aus Buschs Sicht weitgehend ausgeräumt. Buchhändler und Veleger hätten ein gemeinsames Ziel: „Die Ware und das Kulturgut Buch zu verbreiten.“ Kulturgut? Richtig. Busch betont: „Ich bin ein uneingeschränkter Verfechter der Buchpreisbindung. Deren innerster Kern ist das Bekenntnis zum Buch als Kulturgut.“ Thalia setze aufs volle Sortiment. Überdies veranstalte man häufig Abende mit Autoren, und man engagiere sich auch in der Leseförderung.

In Hagen und Westfalen sei Thalia fest verwurzelt, dies sei auch ein (offenes) Geheimnis des Erfolgs, findet der Manager: „Wie haben hier eine tolle Mannschaft, die sich über Jahre hinweg entwickelt hat. Das ist ein ganz wichtiger Teil der Unternehmenskultur.‘ Auch auf logistischem Felde: Das Thalia-Zentrallager operiert von Holzwickede aus. Und was liest Busch selbst gerade? „Für die Freiheit sterben“, eine Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs. „Historische Zusammenhänge haben mich schon als Kind fasziniert“, sagt Busch. Geschäftlich allerdings blickt er, bei allem Respekt vor Traditionen, stets nach vorn.

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HINTERGRUND

Die großen Drei der Branche

  • Größte Handelsketten: DBH (Buch Handels GmbH), im August 2006 entstandene Fusion aus den Unternehmen Weltbild und Hugendubel. Jahresumsatz inklusive der Billiganbieter Weltbild plus und Jokers: rund 672 Mio. Euro.
  • Thalia: Jahresumsatz inklusive Österreich/Schweiz etwa 514 Mio. Euro. Jüngste Zukaufe: die kleineren Ketten Gondrom und Grüttefien. Thalia erzielt seine Umsätze nur mit Vollsortiment-Buchhandel.
  • Thalia gehört zur Hagener Douglas Holding mit Douglas (Parfümerien), Christ (Schmuck), Appelrath-Cüpper (Mode) und Hussel (Süßwaren).
  • Mayersche Buchhandlung: Beschränkt sich auf NRW und setzt ca. 115 Mio. Euro um. Durch den Einstieg bei Bücher Krüger eindeutiger „Platzhirsch“ in Dortmund.
  • Das Bundeskartellamt vermutet eine „marktbeherrschende Stellung“ erst ab 33 Prozent Marktanteil. DBH und Thalia liegen derzeit, bundesweit berechnet, bei je knapp über 7 Prozent. Sie könnten also noch kräftig expandieren.

 




Das Beste vom Osten – Kunst vor der „Wende“ aus vielen Ländern in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. Was bleibt von Osteuropas Kunst aus kommunistischen Zeiten? Diese Frage erwägt jetzt ein vielfältiges Ausstellungs-Projekt im Hagener Osthaus-Museum.

Es geht dabei keineswegs um den grauslichen Sozialistischen Realismus, der die „Errungenschaften der Arbeiterklasse“ in heroisch-kitschigen Bildern pries. In den Blick rücken vielmehr allerlei Arten der widerständigen oder zumindest inoffiziellen und auf Autonomie beharrenden Kunst, die zwischen 1945 und 1985 im Osten entstanden ist.

Die letzte Hagener Schau des scheidenden Museumsdirektors Michael Fehr hat eine windungsreiche Vorgeschichte. Vor wenigen Jahren entstand eine „Fast Art Map“, also eine Landkarte osteuropäischer Kunst aus 22 ehedem sozialistischen Ländern einschließlich der DDR. Datenbasis waren die Vorlieben von just 22 Kunstkritikern, die jeweils ihre heimischen Favoriten benannten – insgesamt 226 Werke.

Aus der Befragung hat sich folglich eine Art Kanon oder Bestenliste ergeben. All das soll auf eine Museumsgründung in Berlin hinauslaufen. Auch Tourneen durch den früheren Ostblock sind geplant. Jetzt aber sind ausgewählte Arbeiten erst einmal in Hagen zu sehen. Eine bemerkenswerte Vorreiterschaft.

„Fahndung“ nach den Exponaten

Die Beschaffung der Exponate war nicht leicht: Diverse Gruppierungen, allen voran die slowenische Formation „Irwin“, beteiligten sich an der Fahndung. Gar manches war in den Wirren der politischen Wende oder durch Emigration der Künstler verloren gegangen. Zudem lautet eine vorsichtige These der Schau, dass „der“ Osten vor allem konzeptionelle Kunst hervorgebracht habe, sprich: Arbeiten, die auf ausgiebiger Denkarbeit beruhten und oft gar nicht so sehr auf materielle Dauer angelegt waren.

Zu den Urhebern der rund 50 Hagener Ausstellungsstücke zählt auch internationale Prominenz, so etwa Christo & Jeanne-Claude (signierte Plakate), Marina Abramovic (Fotografie von einer lebengefährlichen Feuer-Performance), Ilya Kabakov oder Komar & Melamid. Doch darauf kommt es nicht in erster Linie an. In der Gesamtansicht wird jedenfalls deutlich, dass wenigstens diese Künstler Osteuropas dem Westen nicht nachstanden. Schon in den frühen 1960er Jahren wurde auch dort mit ausgesprochen avancierten (Aktions)-Formen experimentiert.

Formen des Widerspruchs

Ein Künstler etwa plakatierte in Zagreb (Ex-Jugoslawien) überlebensgroße Fotoporträts zufälliger Passanten – listiger Protest gegen die ansonsten übermächtige Partei-Propaganda. Auf noch stillere Weise meldete Valery Charkasow Einspruch an: Ein Tisch und Besteck. Sonst nichts. Doch die Lage der Messer und Gabeln ergibt (in kyrillischer Schrift und russischer Sprache) den schlichtweg ergreifenden Satz: „Ich will essen.“

Die Hagener Schau fasert noch weiter ins Grundsätzliche aus. Bonner Student(inn)en der Kunstgeschichte haben spielkartenkleine Reproduktionen des gesamten Kanons (mithin 226 Werke) wie in Puzzles neu sortiert – nach Nationen, Themen und Genres. Lerneffekt: Eine solche Ausstellung könnte auch ganz anders aussehen. Oder: Die jetzige ist nur ein Vorschlag.

„East Art Museum“. Hagen, Osthaus-Museum (Hochstr. 73). 11. Sept bis 13. Nov. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 3 €. Kein Katalog.

Internet: www.keom.de (Museum) und www.eastartmap.org (Gesamtprojekt – Homepage mit Debattier-Möglichkeit).




Was ist uns die Kultur noch wert? – eine dringliche Frage anlässlich der finanziellen Streitfälle in Dortmund und Hagen

Von Bernd Berke

Man stelle sich vor: Es ist kurz nach 20 Uhr, die Geschäfte haben nun allesamt geschlossen. Wer sorgt dafür, dass die Bürgersteige nicht gleich ganz „hochgeklappt“ werden, dass die Stadt nicht menschenleer und öde daliegt?

Gewiss: Gaststätten, Discos und wohl auch manches schummrige Etablissement. Nun ja. Doch vor allem Opern, Sprechtheater, Kinos, Konzerte oder Lesungen bringen lebhaften abendlichen Betrieb mit sich – und Museen, sofern sie gelegentlich Öffnungszeiten zu späterer Stunde anbieten, wie in echten Metropolen üblich.

In der seit Jahren laufenden Kosten-Debatte. die sich angesichts kommunaler Haushaltsnöte zuspitzt, drängt sich die Frage auf: Wozu brauchen wir Kultur, warum sollten wir sie uns auch „in Zeiten knapper Kassen“ (so die gängige Formel) leisten? Ein Thema mit vielen Aspekten und Emotionen.

Zwei gewichtige Streitfälle in unserer Region erhitzen die Gemüter und füllen Leserbriefspalten: Das Dortmunder Konzerthaus macht abermals erhöhten Zuschussbedarf geltend (morgen Thema im Stadtrat), und das für Hagen geplante Emil Schumacher-Museum droht(e) an Finanzfragen zu scheitern.

Damit die Städte lebendig bleiben

In beiden Städten spielen zwar auch politische und menschliche Klimafragen ihre Rolle doch letztlich geht’s ums Geld. Manche, die schnell fertig sind mit dem Wort, behaupten kurzum, Kindergärten oder Schwimmbäder seien wichtiger als Kultur. Es ist läppisch leicht und irrwitzig, dies gegeneinander auszuspielen. Eins wie das andere gehört zur menschlichen „Daseinsvorsorge“, wie (nicht nur) der Deutsche Kulturrat unermüdlich betont.

Das eingangs skizzierte Szenario lässt es ahnen: Wir brauchen Kultur nicht nur, um uns unseres Herkommens, unserer Werte und Aussichten zu vergewissern. Kulturgenuss gibt’s auch daheim (mit Buch oder CD), vor allem aber belebt er unmittelbar die Städte. Zudem profitieren Wirtschaftszweige davon, so etwa Gastronomie oder Hotels; ganz zu schweigen von der eigentlichen Kulturwirtschaft mit Verlagen, Galerien, Kinos, an denen etliche Arbeitsplätze hängen.

Die Sache mit den „Subventionen“

Wer wollte bestreiten, dass das vor einigen Jahren noch recht finstere Dortmunder Brückstraßen-Viertel durchs Konzerthaus erheblich vitaler und urbaner geworden ist? Davon hat beileibe nicht nur das „gehobene Bürgertum“ etwas.

Zunächst einmal ist es zweitrangig, ob öffentlich finanzierte Häuser, private Einrichtungen oder die „Freie Szene“ das Lebensgefühl steigern. Auch sind Sponsoren, denen es um die Sache geht, jederzeit willkommen. Bei ambitionierten Programmen geht es allerdings kaum ohne öffentliche „Subventionen“. Jedoch: Was gestern noch sperrig schien, ist morgen schon fast Allgemeingut. Kultur bedeutet somit auch Zukunft.

Nicht von ungefähr steht der Begriff „Subventionen“ hier in Anführungsstrichen. Denn eigentlich sind Kulturausgaben Investitionen – längst nicht nur, aber auch im wirtschaftlichen Sinn. Öffentliche Mittel sorgen dafür, dass Eintrittskarten nicht noch teurer werden. Je preiswerter die Tickets, desto breiter die möglichen Zielgruppen. Und am oberen Ende der Gehaltsskala? Nun, unsere Firmen brauchen gute Manager. Die arbeiten meist ungern in Städten, welche kulturell wenig bieten.

Pflichtaufgabe und Staatsziel

Mit landläufige „Schnäppchenjäger-Mentalität“ ist auf kulturellem Felde nichts zu bestellen. Geiz ist gar nicht geil. Umsichtige Sparsamkeit aber schon. Denn natürlich haben auch die Kulturschaffenden eine gewisse Bringschuld: Selbstgefällig gleißende, sündhaft teure Inszenierungen wirken in Zeiten, da manche auf manches verzichten müssen, mitunter obszön. Auch jene eitlen Regisseure, die mit ihrer Weltverachtung Zuschauer vertreiben, sind keine idealen Sendboten der Ästhetik.

Gern schmückt sich der Staat mit etablierter Kultur vom Beethoven-Quartett zur Feierstunde bis zum Kunstwerk in der Amtsstube. Der vormalige Bundespräsident Johannes Rau ist mit sie eben nicht ohne einige Schritte weiter gegangen, und Kulturstaatsministerin kann Christina Weiss ist ihm darin gefolgt: Wir reden von der Forderung, Kultur zur Pflichtaufgabe zu erklären, sie als Staatsziel in den Verfassungen zu verankern – damit sie eben nicht ohne weiteres weggespart werden kann.

Vielleicht lässt sich dies derzeit nicht politisch durchsetzen, doch als Denkimpuls sollte es fruchten. Wann wird man dazu ein paar klare Worte von unserem jetzigen Staatsoberhaupt Horst Köhler hören?




Das Erbe von „Tegtmeier“ wirkt weiter – Jürgen von Manger wurde vor 80 Jahren geboren

Von Bernd Berke

Nun ja, es stimmt: Nirgendwo sonst als in Koblenz wurde Jürgen von Manger am 6. März. 1923 (also morgen vor 80 Jahren) geboren. Die Stadt am Mittelrhein in allen Ehren, doch wir wollen sie nun ganz rasch ausblenden. Denn das, was Manger alias „Tegtmeier“ ausgemacht hat, begann, als er mit 9 Jahren nach Hagen kam. Hier, am Saum des Ruhrgebiets und von außen her kommend, hat er wohl ein besonders genaues Gespür für die Sprache dieser Region entwickeln können.

Der 1961 von ihm ersonnene und seither bodcnständig verkörperte Rcvier-Kumpcltyp „Adolf Tegtmeier“ hat die an Ruhr und Emscher gesprochene Mundart in die letzten Winkel Deutschlands getragen; auf zahllosen Tourneen, via Hörfunk, Fernsehen oder Schallplatte – und übrigens auch auf einer Scheibe, die er seinerzeit eigens für die Leser der Westfälischen Rundschau produzierte.

Die immensen Mühen der Bildungssprache

Es war kein redseliges Idiom, das Tegtmeier im Munde wälzte. Letztlich war’s eine Kunstsprache, freilich gespeist aus dem wirklichen Wortgebrauch der Gegend. Stets merkte man Tegtmeier die immensen Mühen des Satzbaus an, die Reibung der Alltagsausdrücke mit Hoch- und Bildungssprache. Aus solchen Nöten erwuchs Komik, jedoch keine hämische. Denn hier zeigten sich auch Wahrhaftigkeit und Würde der „kleinen Leute“. Nur deshalb konnte die Figur Identität stiften – bis heute, wo etwa ein Herbert Knebel die Tradition fortführt.

Anhand einer neuen CD-Edition (mit vier Scheiben) kann man ihn nun nachschmecken – diesen ureigenen Humor, der nie schnellfertig oder brachial daherkommt, sondern sich stets langsam entfaltet: Noch einmal sind hier die makabren Einlassungen des „Schwiegermuttermörders“ vor Gericht („Da hab‘ ich ’se gesächt“) zu hören; abermals erleben wir mit dem freudig-beflissenen Halb-Banausen Tegtmeier „Wilhelm Teil“ im Theater. Trefflicher ist die (überwindbare) Schwellenwirkung der hehren Kultur .selten geschildert worden. Der Gang zum „Heiratsvermittler“, Gedanken über „Feines Benehmen“ und „Die Mieterversammlung“ – all‘ dies und noch viel mehr ist drauf auf den Silberlingcn.

Jugendzeit und erste Auftritte in Hagen

Zurück nach Hagen: Hier hatte Jürgen von Manger das Fichte- und das Dürer-Gymnasium besucht, hier war er bereits von 1939 bis 1941 Statist (u. a. im „Tell“) beim Theater.

Von 1941 bis 1945 war Jürgen von Manger Soldat. Die bitteren Erfahrungen in Russland blitzten zuweilen auch in späteren Sketchen auf. Schon 1945 kehrte er ans Hagener Theater zurück, diesmal als regulärer Darsteller (Stücke von „Othello“ bis „Maria Stuart“). 1947 zog es ihn ans von Saladin Schmitt geleitete Bochumer Schauspielhaus, zeitweise spielte er auch in Gelsenkirchen. Parallel dazu absolvierte Jürgen von Manger zudem ein komplettes Jura-Studium in Köln. Es kam beizeiten auch Tegtmeier zupass: Sein Ringen mit Juristen- und Amtsdeutsch beruhte auf Kenntnis.

1985 erlitt Jürgen von Manger einen Schlaganfall und konnte fortan nicht mehr auftreten. Mit 71 Jahren starb er am 15. März 1994 in Herne, beigesetzt wurde er in Hagen-Delstern. Seine Witwe, Ruth von Manger, die heute bei Kassei lebt, hat dem Bochumer CD-Label Roof Music den gesamten Nachlass ihres Mannes anvertraut.

Jürgen von Manger: „Wunderbar“. 4 CDs (25,90 Euro) bei Roof Music, Bochum (Tel. 0234/29878-16). Indigo-Bestell-Nr.: 21612 / Internet: www.roofmusic.de




Die Sprachschützer sehen Dämme brechen – Hagen: Erste Regionalgruppe des Bundesverbandes formiert

Von Bernd Berke

Hagen. Sie waren bundesweit am schnellsten: Von allen Sektionen des „Vereins Deutsche Sprache e. V.“, der sich vornehmlich gegen ein Übermaß englischer Begriffe wendet, hat sich die Regionalgruppe im Postleitbezirk 58 als erste satzungsgemäß formiert. Sie nennt sich „Verein Deutsche Sprache – Grafschaft Mark“.

Der Name klingt konservativ, und auch die Forderungen, die zur Vereinsgründung im Hagener Lokal „Zum Bauernhaus“ („gutbürgerliche Küche“) erhoben wurden, hatten eher mit ängstlichem Bewahren zu tun. Eigentlich kein Wunder: Das Durchschnittsalter der Erschienenen lag bei 60 Jahren. Jedenfalls war unentwegt von der „Flut“ angloamerikanischer Wörter; die ins Deutsche eindringen, die betrübte Rede.

Vereinzelt vernahm man auch schon mal solche Töne: Warum nur solle man nicht stolz auf die deutsche Sprache sein? Das dürfe man ja heute nicht mehr laut sagen, bedauerte einer. Nun ja, wenigstens Patriot wolle er sein dürfen. So wie die Franzosen, die ihre Sprache ganz anders verteidigten als wir, die den Kindern das Englische bald schon im ersten Schuljahr beibringen würden. Dann, so das Lamento, wäre einer der letzten Abwehr-Dämme gegen fremdes Wortgut gebrochen.

Insgesamt hat der vom Dortmunder Professor Walter Kramer geleitete Verein fast 11000 Mitglieder. Zwischen Witten, Schwelm, Schwerte, Iserlohn und Lüdenscheid (besagter „58er“-Bereich) sind es etwa 150, davon kam rund ein Drittel zum allerersten Treff.

Lehrer ansprechen und die Medien beobachten

In Hagen konnte man alle Geburtswehen einer treudeutschen Vereinsgründung erleben: Wie wird abgestimmt, was gehört auf die Tagesordnung, ist der Vorsitzende automatisch Delegierter bei künftigen Bundesversammlungen? So sehr verhedderte man sich in derlei Fragen, dass sämtliche Sprachprobleme vorübergehend in den Schatten traten.

Rasch ging’s hingegen mit der Wahl des regionalen Vorsitzenden: Dr. Wilhelm Werth (74) aus Wetter hatte sich geradezu aufgedrängt; nicht zuletzt, weil der rüstige Herr offenbar tatendurstig ist. Vor Wochenfrist hatte er in seiner Heimatstadt Veranstaltungsplakate eines Seefestes („Fun-Sport“, „Livebands“, „Bungee-Jumping“) mit der Formel „Wir sprechen auch Deutsch!“ überklebt, was ihm prompt Rechtshändel mit den Veranstaltern einbrachte. Auch die Post missfällt Werth ganz besonders: „Die mit ihrem Englisch: ,Call-City‘ und wie der Quatsch alle heißt…“

Nun wollen er und seine Getreuen es dem Dortmunder Bundesvorstand, „der manchmal etwas lahm ist“ (Werth), so richtig zeigen: Infostände für allerlei Gelegenheiten müssen her. Lokalpolitiker, Lehrer und Germanisten müssen im Sinne der Vereinsziele angesprochen werden. Und sogleich ernannte man für jede Stadt Beauftragte, die die lokalen Medien eingehend „beobachten“ sollen. Wehe also, wenn ein Kollege etwa beim Kinderfest am Wochenende „coole Kids“ sichten oder auf dem Sportplatz „Highlights“ erblicken sollte. Dann könnte es Leserbriefe hageln, oder man steht bei den Redakteuren gleich „auf der Matte“

Der Vize-Vorsitzende Alfred Bielefeld (Witten) brachte das Thema Internet zur Sprache: Man müsse die eigene „Homepage“ zur Überzeugungsarbeit nutzen. Wie bitte? Bielefeld, ein wenig verlegen: „Oh, dafür fällt mir auch kein passender deutscher Begriff ein“.




Ein lauer Schwank im Licht der Tütenlampen – „Der Raub der Sabinerinnen“ in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. „Was gestrichen ist, kann nicht durchfallen“ und „Da strömt schon wieder einer“ (nämlich ins Theater) – mit solchen Sentenzen haben Franz und Paul von Schönthan die anekdotische Rede vom Bühnenwesen gewürzt.

Die Sätze kommen in ihrem Stück „Der Raub der Sabinerinnen“ (uraufgeführt 1884) vor. Jetzt holte Hagens Theater, ansonsten ein Hort des Musikalischen, den angeblich unverwüstlichen, insgesamt aber doch ziemlich lau gewordenen Schauspiel-Schwank aus der Versenkung.

So geht’s zu: Gymnasialprofessor Gollwitz (Peter Bisang), Altphilologe und pedantischer Kenner antiker Verhältnisse, hat ein unsäglich gereimtes „Sabinerinnen“-Drama verfasst. Der munter sächselnde Theaterdirektor Striese (phasenweise ein Lichtblick: Jürgen Dittebrand) will es mit seiner kläglichen Wandertruppe aufführen. Gollwitz ist eitel genug, dies zuzulassen, doch seine holde Gattin Friederike (Edeltraud Kwiatkowski) darf um Himmels Willen nichts davon erfahren, woraus sich das ehedem übliche Versteckspiel zwischen Patriarch und Ehedrachen ergibt.

Unter Strieses Hand bleibt derweil kein Text-Stein auf dem anderen. Die Römer-Tragödie mutiert zur grandiosen „Schmiere“, wird aber vor dem Skandal gerettet, indem man sie flugs zur Parodie erklärt – so jedenfalls in der Fassung von Curt Goetz, die der Hagener Mühsal zu Grunde liegt.

Inszenierung von bestürzend biederem Geist

Gar putzig ist das Bühnenbild (Peter Umbach) zu Peter P. Pachls Inszenierung geraten: Eine zweistöckige „Puppenstube“ mit sechs Räumen erhebt sich da, vollgestopft mit Mobiliar der 50er Jahre, also Tütenlampen, Dreieckstisch und dergleichen. Ach, wie nett-und wie unumstößlich vorgestrig. Es ist eine Theater-Zeitreise der schaurigen Art, wir sitzen in der Geisterbahn. Festhalten!

In besagter Stube also hockt der verdruckste Bürger, Professor Gollwitz. dem das lockere Theatervölkchen hernach so zusetzt. Seine altväterliche Beziehung zu Ehefrau („Pummelchen“) und Tochter darf eigentlich gar nicht mehr wahr sein, wird aber ohne Bruchlinien gespielt, wie denn überhaupt die letzten 40 Jahre spurlos am bestürzend biederen Geist dieser Inszenierung abgeglitten zu sein scheinen. Das Höchstmaß an Ironie (oder etwa Zynismus?) ist bereits erreicht, wenn auf einem bemalten Bühnenprospekt röhrendes Rotwild nebst Zielscheibe zu sehen ist.

Augenzwinkernd zur Rampe hin

Die schauspielerischen Mittel, das Geschehen in absurde Überdrehungen oder ins trockene Understatement zu treiben, sind – nehmt alles nur in allem – nicht vorhanden. Also gibt man den Text schlichtweg von sich und rudert mit ausladenden Gesten reichlich hilflos durch das Stück. Die Pointen reicht man uns kaum mit schöner Beiläufigkeit, sondern heftig augenzwinkernd zur Rampe hin. Regionale Schenkelklopfer (Striese darf am Ende Hagener Theaterchef werden, eine Figur ist „so stur wie ein Finanzbeamter in Iserlohn“) kommen erschwerend hinzu.

Oh, große Wirrnis: Vielleicht geht man ja einfach zu oft ins Theater, ist zu sehr auf ästhetische Verfeinerung und zeitgemäße Durchdringung der Texte versessen. Aber nein.So wie jetzt in Hagen „geht“ Theater einfach nicht mehr. Die Frage muss schon gestellt werden: Warum nur hat man es sich hier in den Kopf gesetzt, man müsse pro Saison partout eine Sprechtheater-Produktion anbieten? Es gibt doch etliche achtbare Häuser ringsum: Dortmund, Bochum, Wuppertal und so fort. Wenden wir’s mal günstig: Nach diesem Abstecher ins Bodenlose schwillt die Vorfreude auf Hagens nächste Opern-Premiere.

Termine: 2., 4., 6., 9. Februar. Karten: 02331/207-3218.

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Leserbrief

Freude des Publikums nicht erkannt

Betr.: Raub der Sabinerinnen

Nun haben Sie es uns gezeigt: Sie sind ein Welttheaterkritiker, wir sind Provinzler und leben hinter dem Mond als ewig Gestrige. Ja, ja wir haben es begriffen, während Sie in ihrem Hochmut vieles nicht begreifen: Dieser „lau“ gewordene Schwank ist ein herrliches Stück Theater, das Peter P. Pachl dankenswerterweise (fast) ohne die heute üblichen Brechungen und Zerschlagungen inszeniert hat. Nicht erkannt von Ihnen die Freude des Publikums, seine verdienten, langjährigen Sängerdarstller als Schauspieler zu erleben, eine wunderbare Erica Pilari, die Vollblüter Horst Fiehl und Werner Hahn werden von Ihnen gar nicht erwähnt. Dieses Publikum liebt seine Künstler wegen seiner großen Leistungen, so auch der dieses Abends.

Peter Pietzsch, Intendant Stadttheater Hagen




Über allem schwebt ein Licht: Zwei Ausstellungen über Christian Rohlfs – Münster sticht Hagen deutlich aus

Von Bernd Berke

Münster/Hagen. Viele, viele Jahre hat der Künstler Christian Rohlfs in Hagen gelebt, 1938 ist er hier gestorben. Man sollte denken, dass ihm, der längst zum Ehrenbürger der Stadt ernannte wurde, an diesem Ort eine Retrospektive ausgerichtet wird, weil sich sein Geburtstag (22. Dezember 1849) zum 150. Mal jährt.

Doch die Hagener lassen es im Hohenhof beim relativ knappen Einblick in den reichen Eigenbesitz bewenden. Derweil präsentiert das Landesmuseum in Münster die weitaus umfangreichere Schau – übrigens auch mit einigen Leihgaben aus Hagen. Absprachen wurden ansonsten offenbar kaum getroffen, denn gestern luden beide Häuser zur Vorbesichtigung ihrer Rohlfs-Ausstellungen ein – auf die Minute zeîtgleich.

Bearbeitung mit der Drahtbürste

Hagens „Heimvorteil“ ist leider dahin: Bevor man sich also der Kunst wegen in zwei Teile zerreißt, sollte man die prachtvolle Münsteraner Auswahl (Koproduktion mit der Kunsthalle Emden) vorziehen. Unter dem poetischen Titel „Das Licht in den Dingen“ sind hier rund 170 Arbeiten zu besichtigen, mehrheitlich Tempera-Bilder aus dem ungeheuer leuchtenden Spätwerk.Der Künstler bevorzugte mit zunehmendem Alter diese wasserlösliche Farbsorte, weil sie es ihm erlaubte, seine Bilder lichter und transparenter zu gestalten. Er wusch manche Bildpartien regelrecht aus und rückte ihnen gar mit einer Drahtbürste zuleibe, um jenes ganz besonders helle „Schweben“ der Farben zu erzielen. So gerieten vor allem die überaus zahlreichen Blumenmotive zu schwerelosen Erscheinungen.

Christian Rohlfs gilt gewissen Kunstlexika immer noch als Parteigänger des Expressionismus, doch mit derlei Einordnung erfasst man sein allzeit experimentierfreudiges Wesen nimmer. Er war ja auch schon in seinen 50ern. als die Künstlergruppe „Die Brücke“ gegründet wurde, und damit eher eine Vaterfigur für die Expressionisten. Der Mann mit dem Faible für Freiluftmalerei hatte bereits naturalistische und impressionistische Werkphasen abgeschlossen. Schon 1901 war er, auf Bitten des Mäzens Karl-Ernst Osthaus, von Weimar nach Hagen umgesiedelt. Später zog es ihn oft nach Ascona, und er verbrachte meist nur noch die Wintermonate in Westfalen.

Vielleicht war es ein psychologischer Impuls für das Spätwerk, dass der fast 70-Jährige (übrigens im damaligen Hagener Folkwang-Museum) 1919 die um vieles jüngere Helene Vogt heiratete. Neue Liebe, neue Schaffenskraft.

Eigentlich alle Werke, die nun in Münster zu sehen sind, zeugen von tief empfundener Liebe zum Dasein, zu den kristallinen Momenten des Wachsens und Werdens in der Natur. Hier darf der Betrachter meist in sanften Harmonien schwelgen und zum bildnerischen Augenblicke sagen: „Verweile doch, du bist so schön…“

Doch nicht alle Bilder wirken ätherisch. Rohlfs konnte durchaus „zupacken“ und bedrohliche Szenarien („Mondschein mit schwarzer Wolke“, 1934) aufragen lassen.

Etwas letztlich Ungreifbares waltet über all den Blumensträußen, Gebirgs- und Seenlandschaften. Farbklänge und sprühender Lichteinfall setzen pure Energieströme frei, die weit über das jeweilige Motiv hinausweisen. Auf solche Art scheinen gar ganze Kirchen auf einem Lichtpolster gen Himmel zu streben.

Die Rituale der Ausdruckstänzerin

Formidabel auch der „Tatjana“-Zyklus, jetzt in seltener Vollständigkeit versammelt. Er zeigt, mit einer feinsinnigen Neigung zur asiatisch inspirierten Stilisierung, die Bewegungs-Rituale einer Ausdruckstänzerin, mit der sich Rohlfs angefreundet hatte.

Bescheiden und konzeptionslos wirkt demgegenüber der Hagener Griff in die eigenen Bestände (auch hier lockt freilich ein lyrischer Titel: „Musik der Farben“).

Vereinzelte Temperabilder sind in Hagen gleichfalls zu sehen. Allerdings lernt man eine ganz andere Seite des Christian Rohlfs kennen, der offenkundig auch einen Sinn fürs Karikaturistische hatte. So entwarf er – willkommen im üblen Club – per Holzschnitt gar ein „Stinkbock-Diplom“. Wem er’s wohl zugeeignet hat?

Landesmuseum Münster (Domplatz 10). Bis 13. Februar, Di-So 10-18 Uhr, Eintritt 10 DM, Katalog 48 DM.

Hohenhof Hagen (Stirnband 10). Bis 30. Januar 2000. Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 5 DM. Kein Katalog.

 




Satelliten über dem Kuhstall – Hagen: NS-Kunst mit bäuerlicher Wirklichkeit konfrontiert

Von Bernd Berke

Hagen. Osthaus-Museumsleiter Dr. Michael Fehr ist kein Freund des Augenschmauses ohne Hintersinn. Lieber zeigt er Bilder-Folgen, die Gedankenspiele anregen. Darauf zielt auch die Schau „Landschaft und bäuerliches Leben in Südwestfalen“ ab.

Ausgangspunkt sind jene Bilder, die zwischen 1938 und 1944 in den Hagener Museums-Fundus eingingen und seit Kriegsende aus gutem Grund im Depot blieben. Quelle der Ankäufe waren seinerzeit die „Großen Sauerländischen Frühjahrsausstellungen“. Dort gab es Kunst, die den NS-Machthabern genehm war: Bruchlos wurde der Mythos vom treudeutschen Landmann bedient. Das war verlogen, denn gerade in jener Zeit wurde die Rationalisierung bäuerlicher Betriebe vorangetrieben.

Das Schlagwort „Nazi-Kunst“ trifft nur bedingt. Nicht alle diese Werke, die vielfach tradierte Formen aufgreifen, sind gleich schlecht. Ja, es ergeben sich gelegentlich gar ästhetische Anklänge an Arbeiten etwa einer Käthe Kollwitz, die als Kontrast gezeigt werden. Doch bei Kollwitz ist bäuerliche Arbeit kein heroischer Akt für Blut und Boden, sondern irdische Mühsal. Und wenn ein Ewald Mataré ein Rind zur Skulptur formt, so. kommt die behutsame Abstraktion dem Wesen des Tieres ungleich näher als jene muskulösen Wunder-Viecher der meisten NS-Maler.

Der beherrschende Blick von oben

Minder begabte Künstler hielten sich oft an die Überlieferung eines von oben herab beherrschenden Blicks auf die Landschaft. Gespenstisch, wie diese Sicht heute technisch auf den Begriff gebracht wird: Man sieht einen Lehrfilm zur Satelliten-Navigation, mit der aus dem All sämtliche Anbaugebiete der EU metergenau kontrolliert werden. Eine Museumswand ist mit Formularen tapeziert, die ein Bauer heute ausfüllen muss. Sein Hauptarbeitsplatz ist nicht der (automatisierte) Kuhstall, sondern der Computer. Der- Dortmunder Landwirt Erhard Freudenberger, der die Schau mitgestaltet hat, bestätigt es seufzend.

Nicht nur die ausgestellten Schulbücher und Schautafeln lassen es ahnen: Trotz aller Technik wird unsere Vorstellung immer noch vom Rösslein geprägt, das der Bauer im Märzen anspanne. Mit solch grotesken Bewusstseins-Verspätungen geht man am besten ironisch um. Der Künstler Bernd Gutzeit (vormals Karikaturist der WR) hat es getan. Seine raumgreifende Installation mit ausgestopften Tieren und allerlei altem bäuerlichem Gerät lässt uns schmunzeln, aber auch wehmütig spüren, dass diese Welt längst im Meer der Zeit versunken ist.

Osthaus-Museum. Hochstraße 73. Vom 19. Sept. bis 31. Okt.




Ein Halt in der Bilderflut – Selbstbefragungs-Schau „Museum der Museen“ in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. Museumschef Michael Fehr erkennt die Zeichen der Zeit: Gegen heftige Medien-Konkurrenz muß sich jede Kunstsammlung behaupten. Sie muß sich als Halt in der Bilderflut erweisen; als Ort, an dem man Bilder noch wirklich wahrnimmt und nicht nur flüchtig hinschaut.

Die neue Schau im Hagener Osthaus-Museum befaßt sich hintersinnig mit dem Wesen der Institution. Archiv, Sammelpunkt, Laboratorium, Wunderkammer, Stätte der Utopie – all das und etliches mehr kann ein Museum sein. Seit jeher haben Künstler diese Funktionen kundig und kritisch überprüft. So auch hier. Das „Museum der Museen“ (Titel) ist auf viele Räume verteilt und gesellt sich so zu den hauseigenen Beständen. Das stiftet zunächst etwas Verwirrung, aber auch viele subtile Querbezüge.

Michael Badura hat ein imaginäres „Museum der Klumpen“ fotografisch dokumentiert – Anspielung auf Sammlerfleiß, der auf „komplette“ Kollektionen aus ist und nie ans Ziel kommt. Just als Sammler gehen Martin Schack (Dortmund) und sein Augsburger Kunstpartner Schreiner zu Werke: Sie nehmen alle möglichen Fundstücke aus Telefonzellen mit, kleben sie auf, katalogisieren sie – von der zertretenen Zigarettenkippe bis zur achtlos zerknüllten Notiz. Hübsche Geschichten ließen sich dazu ausdenken. Schnell hatten die Künstler ein „Museum“ des Liegenlassens beisammen. Bei Fundsache No. 1000 soll Schluß sein.

Sammeln und Fetischismus

Ungleich ernster: Von verlorenen Gegenständen gelangen wir zu vermißten Menschen. Aus Verlust-Meldungen des DRK-Suchdienstes haben die Leute vom Berliner „Bilderdienst“ eine Diaschau erstellt: Gesichter wie aus einer Welt, in der es nur noch Verschollene gibt. Wolfgang Stiller (Berlin) hat ein Zimmer gebaut, in dem sich bizarr wuchernde Gebilde aus streng riechendem Latex häufen. Schöpfen und Sammeln hat wohl auch mit Fetischismus zu tun.

Der New Yorker „Salon de Fleurus“ führt uns in ein fiktives Land, aus dem ein Zeichner allerlei Ansichten zu Kunst, Natur und Technik mitgebracht habe. Als vollends virtuell erweist sich Hans-Peter Porzners Münchner „Museum für Moderne Kunst“, das nicht nur mit trügerischen Einladungskarten für sich wirbt. Es sind schon Leute von weither an die Isar gereist, um die erfundene Sammlung zu sehen. Sie haben (echten) Ärger gemacht.

Aus dem „Museum of Jurassic Technology“ (Los Angeles) kommt der üppigste Beitrag: eine Wunderkammer, gespeist aus dem barocken Geiste eines Universal-Gelehrten, des in Geisa (Thüringen) geborenen Jesuiten Athanasius Kircher (1602-1680). Der hat u. a. die Laterna Magica ersonnen. Magisch erscheint denn auch die Ansammlung kurioser Arrangements, Apparaturen und 3D-Animationen, die hier zu bestaunen sind. Das Wundersame, heraufbeschworen mit modernsten Mitteln – auch dies könnte eine Aufgabe fürs Museum der Zukunft sein.

Osthaus-Museum, Hagen, Hochstraße 73. Vom 24. April bis 20. Juni. Di-So 11-18 Uhr.




Die Erinnerung an das Unrecht ist eine unendliche Aufgabe – Sigrid Sigurdssons Kunstprojekt „Deutschland – ein Denkmal – ein Forschungsauftrag“ in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. Wie können Künstler dem Unfaßbaren Gestalt geben, wie können sie die NS-Zeit und zumal den Holocaust in Erinnerung rufen?

Manche wagen die große Gebärde, wie etwa der Amerikaner Peter Eisenman mit seinem umstrittenen Entwurf für das Berliner Holocaust-Mahnmal. Einen völlig anderen Zugang zum schwierigsten aller Themen sucht Sigrid Sigurdsson. Ihre Ausstellung „Deutschland – ein Denkmal – ein Forschungsauftrag“ ist im Hagener Osthaus-Museum zu sehen.

Die aus Norwegen stammende Künstlerin, deren Vater an den Folgen einer KZ-Haft starb, befaßt sich seit drei Jahrzehnten mit den furchtbaren Fakten der NS-Zeit, besonders mit dem System der Lager. Betritt man die Hagener Ausstellungsräume, so spürt man sofort den Ernst und die Würde der Auseinandersetzung.

Freilich ist die spröde, zurückhaltende Form der Darbietung auch sperrig. Zwei bis drei Stunden wird man aufbringen müssen, um Schneisen zu finden, um sich all den Dingen an den Schnittstellen zwischen Kunst und historischer Forschung zu nähern.

Viele, viele Wahlzettel mit Kreuzen für Hitler

Eingangs sieht man, karg aufgereiht, Dutzende von Titelseiten des „Hamburger Fremdenblatts“ aus den Weltkriegsjahren 1939-1945. Das nüchterne Arrangement läßt an eine ewige Wiederkehr des Immergleichen denken. Höllisehe Gleichförmigkeit. Ähnliches gilt für die Schaukästen mit vielen, vielen Original-Wahlzetteln, auf denen Deutsche 1933 ihr Bleistift-Kreuz für Hitler gemacht hatten.

Der zweite Raum vermittelt eine Aura zwischen Gedenkstätte und Archiv. Tatsächlich kann man hier (anhand von Landkarten, Akten, Forschungsberichten und Büchern) Informationen zum NS-Lagersystem sammeln. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland: Die Karte der Schreckensorte (vom KZ bis zum Arbeitslager) ist mit schwarzen Markierungen übersät – bis in alle Winkel der Regionen hinein. Diese Informationen sind auch im Internet zugänglich (www.keom.de) und können per e-mail (elektronische Post) kommentiert oder um Ergänzungsvorschläge bereichert werden. Die Kunst-Installation wird somit zur Keimzelle eines umfassenden „Forschungsauftrags“, an dessen Verwirklichung sich nach Sigrid Sigurdssons Vorstellung möglichst viele Menschen beteiligen sollen.

Keine Meinung vorgeben, nichts zensieren

Auf Arbeitstischen liegen gebündelte Papiere, es sind vor allem Lebensläufe aus jener Zeit. In Hagen ist schon einiges hinzugekommen. Denn jeder, ob Täter, Opfer, Zeitzeuge oder Nachfahre, kann hier biographische Fragmente oder Konvolute hinterlassen. Eine Zensur findet nicht statt. Überhaupt will sich die Künstlerin „keine Meinung anmaßen“. Jede Belehrung, auch jeden Zwang zum Erinnern möchte sie vermeiden. So lagern sich gleichsam immer mer mehr Sedimente der Erinnerung in ihrer Arbeit ab. Oder soll man sagen: sie wuchern?

Denn auch Beliebiges oder Schlimmeres könnte sich einfinden. Doch selbst wenn alle Zulieferungen der Sache dienlich wären und eine feste Bleibe fänden: Wer wollte noch sichten und ordnen, wenn die Sache eines Tages ins Uferlose gewachsen ist?

Man könnte Sigurdssons Installation der Konzept-Kunst zurechnen. Es zählt also in erster Linie die Idee, die einen Prozeß in Gang setzen soll, der hier im prinzipiell unendlichen „Forschungsauftrag“ besteht. Wichtiger Impuls: Erinnerung ist eine Aufgabe für alle Zeiten, die niemals aufhören darf. Während Eisenmans Holocaust-Mahnmal seine Ausmaße monumental vorweisen würde, wirkt Sigurdssons Arbeit bescheiden, obwohl auch sie gedanklich ins große Ganze ausgreift.

Umfassendes, wenn auch begrenztes Anwachsen prägt eine weitere Abteilung. Hier hat Sigrid Sigurdsson (unter dem Titel „Die Architektur der Erinnerung“) Hunderte ihrer Zeichnungen zu Themen-Folianten gebündelt. Hundert mal hundert (also 10000) Blätter sollen es einst werden, fertiggestellt sind 25 Hunderter-Mappen, aus dreien sind jene rätselvollen Bilder der Gewaltsamkeit entnommen, die an den Wänden hängen.

Ging es bis hierhin um Fakten, so nun um die oft alptraumhaften Emotionen. Denn natürlich hinterläßt eine solch einläßliche Beschäftigung mit der NS-Zeit tiefste Spuren in der Seele.

„Deutschland – ein Denkmal – ein Forschungsauftrag“. Osthaus-Museum, Hagen“ (Hochstraße). Bis 4. April. Di-So 11-18, do 11-20Uhr.




Alle Dinge neu erfinden – Hagener Osthaus-Museum präsentiert Allan Wexler und Milly Steger

Von Bernd Berke

Hagen. Im KarI-Ernst-Osthaus-Museum ist jetzt ziemlich viel im Eimer. Nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinne. Denn dem US-Künstler Allan Wexler hat es nun einmal dieser vermeintlich simple Alltagsgegenstand angetan. Er spielt nahezu alle Gedankenbilder durch, die vom Wasserbehälter angeregt werden können.

Es ist, als wollte Wexler (geboren 1949) die Dinge der Welt von Grund auf noch einmal neu überdenken und behutsam umbauen. Da fängt man am besten mit den einfachsten Objekten an. Wexlers schier unerschöpfliche, mit Sanftmut umgesetzte Vorstellungskraft läßt also den Eimer viele, viele Zustände durchlaufen, gleichsam auf Probe. Ganz so, als folge er mit ironischem Sinn dem berühmten Brecht-Satz „Er hat Vorschläge gemacht…“

Es gibt hier Eimer mit und ohne Ausgußtülle, es gibt welche aus Holz, aus Gips, manchmal von herkömmlicher Statur, dann wieder umgeformt: zum Trichter, zur Tröte, zur Wanne. Überhaupt sind es die meisten dieser Eimer leid, gewöhnliche Exemplare zu sein. Diesen kann man zu viert tragen wie eine Sänfte, jener mutiert zum überdimensionalen Meßbecher, ein dritter verbirgt sich im Rucksack, ein vierter unter dem Hut. Und so weiter.

Wexler, von Haus aus Architekt, durchstreift die verwaisten Felder zwischen angewandter und freier Kunst. Seine Modelle könnte man nachbauen, beispielsweise jenes theoretisch riesenhafte Aquädukt, das die gesammelten Wassermassen in einen einzigen – nun ja – Eimer leiten soll.

Liebenswert umständlich

Überhaupt wirken viele Gedanken und Formfindungen Wexlers liebenswert umständlich bis abwegig. Der schnurgerade Weg wäre eben nicht der Königsweg der Phantasie. Und die Schrullen von heute sind oft die Ideen von morgen. Auch Schirme und allerlei Flaschen kommen bei Wexler zum Einsatz, um das offenbar kostbare Nass aufzufangen, zu sammeln und zu bewahren. Sein „Gemeinschaftsbrunnen“ sieht ganz so aus, als sollte er nicht nur ein Grundbedürfnis befriedigen, sondern auch ungeahnte Gemeinschaft zwischen den Menschen stiften; wie denn überhaupt derlei herzliches Bemühen um Wassergewinnung auch politisch-soziale Hintergedanken wecken kann.

In der ersten Etage wechselt Wexler die Gegenstände, im Prinzip aber nicht die überaus experimentierfreudige Produktionsweise. Nun widmet er sich mit nicht nachlassender Detailfreude den Stühlen und Tischen. Auch ihre formalen (Un)-Möglichkeiten werden durchgespielt. Wie ißt man auf einem ganz und gar schrägen Tisch? Man legt passende Keile unter die Teller, dann stehen wenigstens die gerade. So tummelt sich Wexler in den Winkeln der Welt und erfindet sie neu.

Die Frau mit der Kraft eines Büffels

Einen denkbar starken Kontrast zu solchen Versuchen setzt die zweite neue Osthaus-Ausstellung. Sie umfaßt rund 50 plastische Arbeiten von Milly Steger (1881-1948), die lange Zeit in Hagen gelebt und dieser Stadt anno 1911 auch einen handfesten Kunststreit beschert hat, als sie vier überdimensionale nackte Frauenfiguren aufs Theater setzte.

„Die Grenzen des Frauseins aufheben“ heißt, ein wenig pathetisch, diese Schau. Gemeint ist, daß man weiblichen Wesen zu Beginn Beginn des Jahrhunderts weder das räumliche Denken noch die physische Kraft zutraute, um Skulpturen zu schaffen. Milly Steger aber setzte sich in der Männerdomäne derart durch, daß Else Lasker-Schüler sie lyrisch als „Büffelin an Wurfkraft“ pries. Die Skulpturen-Auswahl vermittelt ein uneinheitliches Bild. Mal kommt Milly Steger Zeitgenossen wie Barlach oder Lehmbruck an Ausdruckskraft nah, dann wieder verschwimmen die Züge ihrer Figuren ins gar zu Gefällige.

Karl-Ernst-Osthaus-Museum, Hagen (Hochstraße 73 / 02331 / 207 31 38). Ausstellungen Allan Wexler (Katalog 32 DM) und Milly Steger (Katalog 30 DM), jeweils ab heute bis zum 1. November. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr.




Giftiger Wein von den netten alten Damen – „Arsen und Spitzenhäubchen“ im Hagener Theater

Von Bernd Berke

Hagen. Wenn in Hagen, wo sonst Musiktheater und Ballett auf dem Plan stehen, einmal ein Sprechstück gegeben wird. so sind keine Experimente gefragt. Dann muß entweder bürgerlich gediegene Bildung oder leichte Unterhaltungskost her. Die Serienmord-Farce „Arsen und Spitzenhäubchen“ von Joseph Kesselring erfüllt die zweite Bedingung.

Die beiden liebenswerten alten Damen Martha und Abby Brewster (Erica Pilari, Malwine Moeller) könnten wohl keiner Fliege etwas zuleide tun. Zu schade, daß die zwölf einsamen Herren, denen sie mit vergiftetem Holunderwein „aus Barmherzigkeit“ den Garaus gemacht haben, keine Fliegen gewesen sind. Zwölfe hat auch der Neffe Jonathan (Intendant Peter Pietzsch höchstpersönlich) auf dem Kerbholz, nur daß dieser vierschrötige Kerl mit dem Frankenstein-Gesicht (mißlungene Operation) die Leichen bei einer Hetzjagd um die halbe Welt hinterlassen hat. Daheim, so lernen wir in der Schule des Makabren, ist sogar das Morden am gemütlichsten.

Und auch noch effektiver: Am Ende ziehen die Ladys mit 13:12 Toten an die Tabellenspitze, während Jonathan im Knast schmort. Dessen harmlos verrückter Bruder Teddy (Jean Schmiede), der sich für den US-Präsident Roosevelt hält und im Keller seinen Panama-Kanal gräbt, sowie der nervöse Theaterkritiker Mortimer (Axel Friese) sind weitere Arten im Zoo der Verstörten.

Hier gibt es keine Neudeutung und keine Abgründe

Der Broadway-Erfolg von 1941 ist mittlerweile leicht angestaubt, und in Hagen gibt man sich keine übermäßige Mühe, ihn etwa zu entstauben. Wir sehen, was wir kennen: Schon die herkömmliche, naturalistisch eingerichtete Komödienbühne (Peter Umbach) mit den vielen Türen fürs Hereinplatzen im (un)günstigsten und damit lachdienlichsten Moment, ist von altbackener Solidität.

Regisseur Peter Schütze hat keine sonderlich subtilen Spielchen im Sinn. In absurde Abgründe blickt man da nicht. Wenn man überhaupt erschrickt, dann mit wohligem Schauder. Gespielt wird mit bravem Bemühen. Die Gesten sind nicht immer fein austariert, manchmal wird ziemlich gefuchtelt und gedröhnt, um das Gelächter gleichsam herbeizuzwingen.

Alles in allem war s dennoch eine ganz sympathische Veranstaltung, die mit freundlichem Beifall quittiert wurde. Und niemand mußte grübeln: Was wollten uns die Theaterleute damit sagen?

Unfreiwillige Dreingabe zwischendurch: Zweimal mußte während der Premiere der Vorhang kurz zugezogen werden, weil auf der Bühne die Elektrik ihren Dienst versagte. Und im Programmheft wird einem Optiker für die bloße Leihgabe einer einzigen Brille gedankt. Ist das Theater denn schon so arm dran?

Termine: 30. Januar, 10., 21., 26., 27., 28. Februar. Karten: (02331) 207-3218.




Glück des Gleichgewichts und „geistbewegende Pflanzen“ – Jan Meyer-Rogge und Pablo Amaringo im Osthaus-Museum

Von Bernd Berke

Hagen. Der Künstler Jan Meyer-Rogge will „Sicherheit und Unsicherheit zugleich wecken“. Wie macht er denn das?

Mit empfindlichen Balancen, mit Spielen des Gleichgewichts möchte er die Wirkung erzielen. Sogar Informatiker der Uni Dortmund sahen sich kürzlich nicht in der Lage, die physikalischen Grundlagen dieser Kunst ohne weiteres zu kalkulieren. „Erfahrung, nicht Berechnung“ liegt denn auch jenen Arbeiten zugrunde, die Jan Meyer-Rogge (Jahrgang 1935) jetzt im Hagener Osthaus-Museum zeigt.

Ganz gleich, ob es sich um Ringe, Scheiben, Zylinder oder Vielecke handelt – es würde zumeist ein kleiner Stips genügen, um sie stürzen zu lassen. Auf den Punkt genau sind die labilen Objekte ausgelotet. Es sind Kippfiguren, stets dicht davor, umzuschlagen in etwas anderes, vielleicht Chaotisches. Festgehalten wird der schmale Augenblick des Gelingens. Meyer-Rogge selbst hält angesichts solcher Equilibristik zuweilen den Atem an, „als wenn ich einen Bogen spanne“. Ihn fasziniert der meditative Moment des endlich erreichten und doch schon wieder bedrohten Gleichgewichts, eben jener Moment zwischen Sicherheit und Unsicherheit. Sehr gefährdet erscheint solche Art von Kunst.

Visionen aus dem Regenwald

Gänzlich anders das zweite Projekt, mit dem das Hagener Museum zugleich aufwartet. Geboren ist es nicht aus dem europäischen Geiste der Physik, sondern aus Schamanentum. Der Peruaner Pablo Amaringo hat seine Visionen aus dem bekanntlich gefährdeten Amazonas-Regenwald in Bilder einfließen lassen. Um seine Wahrnehmung in Einklang mit der Natur zu bringen, hat er sich des Saftes einer Lianenpflanze namens Ayahuasca bedient, aus dem man eine Art Droge gewinnen kann – im Umkreis der dortigen Kultur eine völlig andere, mit Tradition und Ritualen unterfütterte Sache, nicht vergleichbar etwa mit Haschisch-Konsum in unseren Breiten. Im Hagener Museum hört man das Wort „Droge“ folglich gar nicht gern, man spricht lieber von „geistbewegenden Pflanzen“.

„Die Pflanze als Lehrer“ heißt die Amaringo-Ausstellung. Sie ruft Vorstellungen von gegenseitiger Beeinflussung von Menschen und Gewächsen wach, in die sich ein Mitteleuropäer wohl nur schwer einfühlen kann.

Nun ist das alles gewiß ethnologisch und kulturgeschichtlich interessant. Zudem ist der Schamanismus durch Joseph Beuys auch in unserer Kunst etwas heimischer geworden. Und schließlich gibt es eben mehr Rätseldinge zwischen Himmel und Erde, als trockene Schulweisheit sich träumen läßt. Doch das künstlerische Ergebnis ist im Falle Pablo Amaringos nicht überwältigend. Die überaus bunten Bilder ähneln letztlich doch jenen naiv in Farbverschlingungen vibrierenden „psychedelischen“ Postern vom Ende der 60er Jahre. Es strömen und fließen die diffusen Energiefelder. Derlei Berauschung ist noch keine große Kunst.

Jan Meyer-Rogge/Pablo Amaringo. Osthaus-Museum, Hagen. Beide Ausstellungen bis 31. Juli. Tägl. außer Mo 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog Meyer-Rogge 30 DM. Katalog Amaringo 130 DM.




„Tegtmeier“ lebt nicht mehr – Ruhrgebiets-Komiker Jürgen von Manger mit 71 Jahren in Herne gestorben

Von Bernd Berke

Für alle Auswärtigen war er die idealtypische Verkörperung des Ruhrgebiets-Kumpels: Jürgen von Manger, der mit 71 Jahren in Herne gestorben ist, erfand 1962 seine Figur „Adolf Tegtmeier“ – und verschmolz nahezu mit dieser Rolle.

Landauf landab verbinden die Menschen das Revier mit seinen Auftritten und glauben zu wissen, wie die Leute hierzulande reden. Was „Tegtmeier“ von sich gab, war allerdings niemals echtes Revier-Deutsch, sondern ein Kunstdialekt.

Tegtmeier war jener „kleine Mann“ von der Straße, der sich freilich bildungsbeflissen gab, sich möglichst gepflegt ausdrücken wollte – und dabei immer wieder in arge Sprachnöte geriet. Komischer Kontrast: Gerade wenn ihm eigentlich die Worte fehlten, war dieser Tegtmeier höchst mitteilungsfreudig. Und er hätschelte seine gesammelten Vorurteile, als seien es Weltweisheiten.

Mit Schiller trieb er besonders viel Schabernack

Besonders am hohen und pathetischen Ton eines Friedrich Schiller konnte sich dieser Tegtmeier regelrecht aufreiben. Unvergessen sein Bericht von einer „WaIlenstein“-Aufführung („Dat is von dem, der auch Schillers Räuber geschrieben hat“). Ähnliche Wirkung erzielte er mit eigenwilligen Deutungen von „Maria Stuart“ und ..Wilhelm Teil“.

Tegtmeier hatte natürlich auch das Patentrezept gegen jeden Bildungsballast parat: „Bleibense Mensch'“ empfahl er stets. Mit anderen Worten: Nur nicht zu weit abheben, alles halb so hoch hängen. Und das war nun wiederum ganz nach Art des Menschenschlags im Ruhrgebiet.

Jürgen von Manger stammte jedoch gar nicht aus dem Revier, er wurde am 6. März 1923 in Koblenz geboren. Seine Schulzeit erlebte er dann allerdings bereits in Hagen, wo er das Humanistische Gymnasium besuchte und im Jahr 1941 Abitur machte. Der Sohn eines Staatsanwalts studierte von 1954 bis 1958 in Köln und Münster Rechtswissenschaften, hatte aber zuvor schon erste Bühnenerfahrungen gesammelt, zunächst als Statist.

Nach einer soliden Schauspiel- und Gesangsausbildung wirkte er an den Bühnen in Hagen (bis 1947), Bochum (1947 bis 1950) und Gelsenkirchen (1950 bis 1963). Dabei spielte er auch unter dem legendären Bochumer Theaterchef Saladin Schmitt.

Die Markenzeichen gepflegt

Jürgen von Manger bekam im Theater zwar mitunter einige ernste Rollen, war aber schon bald als Spezialist für das Fach „Charakter-Komik“ gefragt.

Wie jeder bekannte Komiker, so pflegte auch Jürgen von Manger seine Markenzeichen. Da waren Schnauzbart und Kappe (die er angeblich wegen seiner „Maläste mitte Ohren“ trug), der immer irgendwie schiefgestellte, die Buchstaben geradezu genüßlich-quälerisch mahlende Mund, der so recht ahnen und mitfühlen ließ, wie Tegtmeier nach Worten rang, wenn er uns Gott und die Welt nach seinem Strickmuster erklären wollte; da war das listige Blinzeln unter den buschigen Augenbrauen, und da waren schließlich die immer wiederkehrenden Formeln und Floskeln wie das berühmte „Also äährlich!“

Hinter der etwas biederen Maskierung entfalteten sich manchmal ganz schön makabre Gedanken, zum Beispiel, wenn Jürgen von Manger einen seiner bekanntesten Sketche zum besten gab: den vom „Schwiegermuttermörder“. Dieser Mörder („Da hab‘ ich se gesäächt“) war weder teuflisch noch reumütig, sondern schilderte ganz beiläufig die Einzelheiten seiner Tat, so als gehe es um das Selbstverständlichste von der Welt. Es war übrigens eines der allerersten „Stücksken“ von Manger, mit dem er eigentlich nur die Wirkung beim Publikum testen wollte. Sie war durchschlagend, und er kam von der Figur nicht mehr los.

Makabre und peinliche Situationen

Manger ließ Tegtmeier fortan in alle möglichen und unmöglichen peinlichen Situationen geraten – von der Fahrschulprüfung („Hier hat die Omma Vorfahrt“) bis ins Eheinstitut (wo er eine Dame „mit dicke Oberaahme“ suchte), von der Delinquentenzelle bis in den Lehrgang für Unteroffiziere: „Womit wäscht sich der Soldat? – Mit Seife, Herr Unteroffizier! – Nein, mit nacktem Oberkörper.“ Tegtmeier geriet jedenfalls immer vom Regen in die Traufe, stolperte von einer Kalamität in die nächste. Doch er wurstelte sich immer irgendwie durch.

Großen Anklang fanden nicht nur Mangers insgesamt zwölf Langspielplatten, sondem auch seine Fernsehreihen wie zum Beispiel „Tegtmeiers Reisen“ mit gelegentlich hintersinnigen Plaudereien an den Orten des Massentourismus, wo er auch schon mal einen besonders schönen Kartoffelsalat und Übernachtungen in Jugendherbergen empfahl.

Im August 1985 erlitt Jürgen von Manger einen schweren Schlaganfall und war seither halbseitig gelähmt. Auch das Sprachzentrum wurde in Mitleidenschaft gezogen. Tapfer kämpfte er gegen die Krankheit an und hatte sogar schon bald wieder Pläne für neue Auftritte. Doch er mußte die Pläne aufgeben. Er hat sich nie wieder ganz erholt. Zuletzt lebte der Opern- und Antiquitäten-Kenner sehr zurückgezogen mit seiner Frau Ruth in Herne.




Aids macht auch Künstler hilflos – Hagen: Bilder und Objekte zum Thema Immunschwäche

Von Bernd Berke

Hagen. In einer Ecke des Museums erhebt sich ein Hügel aus lauter Bonbons. Die Info-Tafel verkündet: Jene leckeren Kleinigkeiten wiegen zusammen so viel wie ein abgemagerter Aids-Kranker. Symbolisch dürfen die Besucher den Mann gleichsam weiter schrumpfen lassen, indem sie je ein Bonbon wegnehmen. Welch ein Kurzschluß zwischen Tod und Genuß!

Ist das nun eine eindringliche Mahnung oder schlicht eine Geschmacklosigkeit? Diese Frage kann man sich in der Hagener Ausstellung „Thema: Aids“ ständig stellen.

Hagen ist einzige deutsche Station der Schau, die aus Oslo kommt und praktisch nur Aids-Kunst aus den USA versammelt. Dort ist die Diskussion weiter fortgeschritten und hat ganz offenbar Künstler animiert, sich weniger um ästhetische Werte als um die korrekte Behandlung sozialer Fragen zu kümmern. Wie prekär und zuweilen peinlich derlei beflissene Trauerarbeit sein kann, hat kürzlich Fritz J. Raddatz in der „Zeit“ für die Literatur dargelegt. Manche seiner Bedenken können wohl auf bildnerisches Schaffen übertragen werden.

Symbol, laß nach!

Man schaue sich an. wie etwa Barton Benes das Thema unter sich begräbt: Erst zeigt er Fixernadeln als Molotow-Cocktails, dann setzt er eine Dornenkrone daneben. Symbol, laß nach! Fast untrügliches Zeichen für ästhetische Hilflosigkeit: Einige Künstler brauchen enorm viele Schriftzeichen und Worte, um ihr Anliegen zu verdeutlichen. Schier endlose Listen mit Namen von Aids-Toten sind ein weiteres Mittel, das sich längst abgenutzt hat. Da hilft es auch nichts, wenn die Kolumnen in goldenen Lettern präsentiert werden, als solle das Ableben durch Aids veredelt werden.

Hilflosigkeit liegt dem Thema natürlich nahe. Sie trägt denn auch humane Züge. Davon zeugen etwa die vielen Foto-Sequenzen über körperlichen Verfall. Nur muß man dies nicht unbedingt Kunst nennen, sondern engagierte Dokumentation. Andere nehmen das Thema unter Lupe und Mikroskop: womöglich infektiöses Ejakulat in verfremdender Großaufnahme, desgleichen Blut, Zellen, Viren.

Bundeszentrale als Förderer

Man ist dankbar für verzweifelt-sarkastische Schlenker. so etwa bei jenen zunächst verdeckten GIücksspiel-Karten, die hernach die Konterfeis von Aids-Toten vorweisen. Fast jede Karte ein Verlust, nur ein paar Joker haben gewonnen. Ein Blatt zeigt den Kopf von Keith Haring, der vor einigen Jahren an Aids starb. Sein titelloser Beitrag von 1988, eine Art Virus-Labyrinth als schwarzweißes Riesenformat, zählt zu den besseren Arbeiten.

Im Seitenkabinett sieht man Aids-Aufklärungsplakate aus aller Welt, im Vorraum ebenso gut gemeinte Beiträge der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die das Projekt fördert und als „positive Strategie“ preist. Kann Kunst strategisch wertvoll sein?

Thema: Aids“. Osthaus-Museum, Hagen. Ab sofort bis 9. Januar 1994. Tägl. außer Mo 11-18, Do 11-20, So 11-18 Uhr.




Baukasten des Alltags – Allan Wexler in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. Hier steht ein Plastikbecher, dort liegen hunderte von Zahnstochern. Und nun kommt einer auf diese Idee: Wie bastele ich aus den Hölzchen Halterungen für das unscheinbare Trinkgefäß?

Abenteuerlich komplizierte und komische Konstruktionen kommen dabei heraus, wenn sich der Amerikaner Allan Wexler der Aufgabe annimmt – bis hin zum abstrusen Türmchen, in dessen Zinnen majestätisch der Becher ruht.

Die Sache hat ihren Witz, aber beileibe nicht nur das. Wexler, ein Grenzgänger zwischen Architektur, Design und freier Kunst, macht mit seinen Phantasie-Bauten Alltagsdinge fremd und damit auf kuriose Art bewußt. Seine Hagener Ausstellung ist eine bemerkenswerte Deutschland-Premiere.

Zwar hat der Mann Architektur studiert, aber praktisch nie ein Haus entworfen, das dann auch gebaut wurde. Ein Hauptgrund, so sagt er, war die Protest-Stimmung zur Zeit des Vietnamkrieges. Ihm und seinen Freunden sei es damals eben nicht um Auf bau gegangen, sondern um neue Denk-Konzepte, mithin um „Abriß“ des Herkömmlichen.

Also nimmt er, bis heute, die Dinge lieber mit Lust auseinander. Beispielsweise eine Kaffeemaschine, die er säuberlich in alle Einzelteile zerlegt hat und in einer Art Baukasten präsentiert – mitsamt der fotografischen Anleitung, wie man den Apparat in 51 Arbeitsschritten wieder zusammenfügen kann. Seine kleinen hölzernen Modelle von Häusern oder Badezimmern wären auch in Baugröße schwerlich bewohnbar, sie gehören ins Reich der Freiheit. Da ist mal das Innere nach außen gestülpt, da wuchern winzig witzige Details, da finden sich an allen Ecken und Enden kleine Überraschungen. Das weckt Entdeckerfreude beim Betrachter, und auch der Künstler scheint seinen Spaß gehabt zu haben.

Ersparen wir uns das Schwerdenkertum über Dekonstruktion und Postmoderne – Richtungen, mit denen Wexler spielerisch umgeht – und schauen wir uns lieber noch seinen Eßtisch an. Der steht auf einer schiefen Ebene, alle Tassen und Teller würden rutschen oder umkippen, hätte nicht Wexler mit lauter untergeschobenen Keilen und mit Hilfe von Wasserwaagen das Ganze wieder notdürftig ins Lot gebracht. Welch eine brüchige, fragile „Normalität“!

Allan Wexler. Osthaus-Museum, Hagen (Hochstraße 73). 2. Okt. bis 21. Nov. Di, Mi, Fr und Sa/So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 30 DM.




Kunst gefällig? Museen verleihen Meisterwerke – Mit Leasing könnten Institute den Etat aufbessern

Von Bernd Berke

Im Westen. Das „Phantom der Oper“ treibt seit Jahren in den Musical-Palasten der Welt sein Unwesen. Jetzt scheint es auch ein „Phantom der Museen“ zu geben – und es betätigt sich vorzugsweise im Ruhrgebiet. Die Rede ist von einem eigentlich pfiffigen Kunst-Leasing-Projekt, dessen Früchte aber noch nicht so recht sprießen wollen.

Zwei Frankfurter hatten die Idee: Ulrich Schanda und Reinhold Brunner (beide 35) dachten sich, es sei doch schade, daß so viele Kunstschätze in Depots vor sich hin dämmern. Statt dessen könne man sie (gegen Gebühr) an zahlungskräftige Kundschaft ausleihen. Beispiel: Ein Bild hat einen Versicherungswert von 100 000 DM. Will z. B. ein Unternehmer es in seine Geschäftsräume hängen, sind davon jährlich 10 Prozent Leihgebühr fällig, macht also 10 000 DM – je 5000 DM würden an die Vermittler Schanda/Brunner und ihre „ulyssis art broking GmbH“ sowie an das Geber-Museum fließen. Die Transportkosten gehen zu Lasten der Frankfurter Broker.

Eine verlockende Sache, besonders für Kunsthäuser des Ruhrgebiets, die so ihre schmalen Etats etwas aufbesgern könnten. Denn die Gebühren würden als Spenden oder Beiträge deklariert, so daß keine Stadt die Extra-Erlöse ohne weiteres vom Budget abziehen könnte. Kein Wunder also, daß man hierzulande besonders aufgeschlossen war und daß fast die Hälfte der beteiligten Museen im Revier zu finden ist: Das Städtische Museum Gelsenkirchen ist ebenso dabei wie die Kunsthalle Recklinghausen, das Märkische Museum Witten und das Osthaus-Museum in Hagen. Renommierte Häuser in Nürnberg, Mannheim, Hannover und Ludwigshafen vervollständigen die Liste der Interessenten.

Doch die ganze Sache „hakt“. Dr. Michael Fehr, Chef des Hagener Osthaus-Museums: „Die Idee ist ja ganz gut. Doch wir haben seit einem halben Jahr nichts mehr davon gehört. Das Projekt ist offenbar ,gestorben‘.“ Kein einziges Bild habe den Weg zu einem UNternehmen gefunden.

Die gleiche Auskunft bekam die WR bei der Kunsthalle Recklinghausen: „Die Industrie spielt wohl nicht mit.“ Das Sprengel-Museum in Hannover ist sogar „vorübergehend“ aus dem Verleiher-Pool ausgestiegen. Erst wenn sich Erfolge einstellen, will man wieder mitmachen.

Immerhin, hört man aus Hagen, will das „heute-Journal“ im ZDF über das Projekt berichten. Bis jetzt ist der Beitrag zwar noch nicht gelaufen, doch schöpft man neue Hoffnung, nachdem endlich auch der erste Bild-Transfer geklappt hat. Reinhold Lange vom Städtischen Museum Gelsenkirchen meldete Vollzug: Aus „seinem“ Fundus trat das Bild „Fliegende Formen“ des (nicht am Erlös beteiligten) 86jährigen Konstruktivisten Anton Stankowski die Reise nach Berlin an. Es schmückt nun einen Geschäftsraum der Firma Eternit. Lange: „Ein willkommener Zuschuß für uns.“

Vielleicht bleibt es also doch kein „Phantom“. Über 150 Kunstwerke sind mittlerweile im Angebot – mit Versicherungswerten zwischen 15 000 und 900 000 DM (Spitzenpreis: ein Bild von Max Pechstein). Die Quote der Leihgebühren bewegt sich zwischen 7 Prozent für die teuersten und 15 Prozent für die preiswertesten Arbeiten.

Kunst-Makler Reinhold Brunner beteuert unterdessen im Gespräch mit der WR die seriöse Geschäftsgrundlage. Vor einer eventuellen Leih-Aktion schaue man sich die Geschäftsräume der Unternehmer sehr genau an. Man überprüfe Klima-, Licht und Sicherheits-Bedingungen und ermittle, ob in den Zimmern geraucht wird und wann die Sonne durch welches Fenster scheint. Bei ausgesprochen teuren Werken rede man ausführlich über Bewachung und Alarmanlagen. Natürlich werde aus eine Extra -Versicherung abgeschlossen. Brunner: „Und falls die Museumsleute Bedenken haben, bekommen sie Zutrittsrecht“.

 




Frischer Wind beim Westdeutschen Künstlerbund

Von Bernd Berke

Hagen. Von „Vereinsmeierei“ will man beim Westdeutschen Künstlerbund nichts mehr wissen. Wie der Vorsitzende des in Hagen ansässigen Verbandes, Horst Linn, gestern sagte, seien, die Jahresausstellungen keine gesicherten Felder mehr für altgediente Mitglieder. Im Gegenteil: Der Altersdurchschnitt der beteiligten Künstler sinke. Junge Künstler hätten oft gar keine anderen Ausstellungsmöglichkeiten als beim Künstlerbund.

Für die Ausstellung, die jetzt im Hagener Osthaus-Museum zu sehen ist, hatte man eigentlich ein Leitthema vorgegeben: „Geschichtsbilder“. Doch sei es, daß derzeit einfach zu viel reale Geschichte sich ereignet, sei es, daß die Künstler sich nicht unmittelbar darauf einlassen wollten – es kamen jedenfalls zu wenig Bilder zusammen, die dem Thema entsprachen. Also taufte man die Schau „querbeet“. Das paßt, denn thematisch und stilistisch ist die Auswahl vielfältig.

Über 110 Arbeiten von rund hundert in NRW geborenen oder hier lebenden Künstlern sind zu sehen. Gut, daß es eine offenbar strenge Jurys-Auswahl gab (was für zahlreiche Austritte aus dem Verband sorgte) und daß zudem Gäste eingeladen wurden, die dem Verband nicht angehören, denn dadurch liegt die Ausstellung qualitativ spürbar über dem, was man von anderen Künstlerbund-Schauen kennt.

Die allermeisten Arbeiten sind erkennbar zeitgenössisch; mit bloßem Kunsthandwerk und starrsinnigem Festhalten an längst verblühten Stilen hält sich da niemand mehr auf. Freilich gibt es auch kaum Arbeiten, vor denen man wie gebannt stehenbleibt — und manchmal wird es auch recht oberflächlich, so etwa bei Silke Rehberg, die drei mehr oder weniger edlen Mineralwassermarken vermeintlich passende Türklinken zuordnet — wer das Modewässerchen „XY“ trinkt, hat auch eine moderne Klinke. Wer hätte das gedacht?

Ziemlich simpel auch Bernhard P. Woscheks Arbeit „3 Deutschländer“ — Landkarten-Reliefs aus verschiedenen Materialien. Im dritten Deutschland kann sich der Betrachter spiegeln. Na und?

Doch dann gibt es auch einige formal gelungene und gedanklich durchdrungene Exponate. Stellvertretend für andere seien die Arbeiten von Robert Imhof und Helfried Hagenberg genannt.

Ein Eindruck, den die gesamte Ausstellung nahelegt, ist der einer beschleunigten Beeinflussung: Trends der großen überregionalen Ausstellungen kommen offenbar sehr viel schneller bei einer breiten Menge von Künstlern an als ehedem — wenn auch zuweilen etwas ausgedünnt.

„Querbeet“ (24. Jahresausstellung des WestdeutschenKünstlerbundes). Osthaus-Museum, Hagen. 9. September bis 6. Oktober. Katalog 15 DM.




Eine Welt voller Fälschungen – Hagener Ausstellung über Imitationen

Von Bernd Berke

Hagen. Die „Betenden Hände“ sind im Osthaus-Museum zu sehen, aber sie stammen nicht von Dürer. Auch die „Démoiselles d’Avignon“, Ur-Bild der Moderne, sind hier nicht von Picasso. Und ein gleichfalls berühmtes Pissoir-Becken ist nicht jenes Objekt, das Marcel Duchamp seinerzeit zur Kunst erklärte (wobei der ja selbt schon den Originalitäts-Begriff ad absurdum führte).

Bei der Ausstellung „Imitationen“ dreht sich eben alles – verwirrend vielfaltig, vertrackt vielschichtig – um Fälschungen, Nachahmungen, Duplikate, Simulationen, Kopien, Parodien und dergleichen mehr.

Die Ausstellung kommt aus Zürich. Sie war dort in einer großen Halle des Museums für Gestaltung zu sehen, wo man sich hauptsächlich mit Design befaßt. In Hagen hat man einiges verändert. Die Schau schlängelt sich hier durch weite Teile des Museums, sie greift auch – beinahe dschungelhaft – auf den Altbau über. Aber man hat hier durch das Design-Dickicht „Kunst-Schneisen“ geschlagen, wie es einem Kunstmuseum zu Gesicht steht.

Auf die falsche Toilette gelockt

Auf dem Geländer sitzt ein Junge, er droht in die Tiefe zu stürzen. Wenn man schon „Vorsicht!“ rufen will, merkt man: es ist eine Plastik. Fälschungen überall. Selbst der Feuerlöscher an der Wand stammt von einem Künstler. Ja, die Besucher werden sogar auf eine falsche Toilette gelockt, Fotos von Prominenten erweisen sich als Doppelgänger-Porträts. Und die Exponate aus der Warenweit sind allemal verdächtig. Nicht jedes Hemd mit Krokodil stammt bekanntlich von Lacoste.

Auch der Mensch wird „umgefälscht“. Mal besteht der Körper zum Teil aus Prothesen, mal steckt er, als vermeintlich unverletzbarer „Soldat der Zukunft“, in einer roboterhaften Kampfmaschine. die bei diversen Armeen tatsächlich geplant wird.

Und weiter geht’s: eine vor Jahren in Iserlohn gefunde Bombe – schnöde Attrappe; Stücke aus der Berliner Mauer – trotz eines hingehudelten „Zertifikats“ anrüchig.

Am Ende ist man rundum mißtrauisch

Mitunter bekommt man auch einen Einblick in die Werkstätten der Augentäuschung. So hat der Dortmunder Geigenbauer Volker Bley in einem Kasten alle Utensilien gesammelt, mit denen man nagelneue Instrumente auf „Stradivari“ ummodeln kann, Staubschicht der Jahrhunderte inclusive. Man erhält Verwunderungs-Anstöße en masse. Nur eine vom Bochmer Stadtarchiv zusammengestellte Geschichtscollage aus Fundstücken fügt sich nicht ganz glücklich ein.

Am Ende des Rundgangs ist man jedenfalls dermaßen mißtrauisch, daß man selbst die echten Exponate aus der ständigen Sammlung scheel anguckt. Doch die sind genau so echt wie die Besucher, die man gestern zur Eröffnung einer strengen Ausweiskontiolle, vorgenommen durch einen Schauspieler, unterzog.

„Imitationen“. Osthaus-Museum, Hagen. Bis 15. April. Begleitbuch 35 DM, Ausstellungsführer ca. 18 DM.




„Virginia Woolf“: Routine beim teuflischen Ehedrama

Von Bernd Berke

Hagen. In einem festen Ensemble, das über viele Jahre zusammengewachsen ist und das alle Höhen und Tiefen des Bühnenlebens gemeinsam durchlitten hat, kennen sich die Schauspieler im Idealfall so gut, daß sie auch in feinsten Nuancen aufeinander reagieren können. Bei einem psychologisch durchtriebenen Stück wie Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ können solche Feinheiten entscheidend sein.

In Hagen, wo das Vierpersonen-Ehedrama am Samstag Premiere hatte, steht keine stationäre Sprechtheater-Truppe zur Verfügung. Man behilft sich hier mit dem Engagement von Gastschauspielern.

Ein Quartett erfahrener Profis steht diesmal auf der Bühne, das durchaus geschickt über manche Untiefen hinwegzuspielen, ja stellenweise zu fesseln vermag. Doch diese Darsteller können nicht vollends vergessen machen, daß sie aus sehr verschiedenen Arbeits-Zusammenhängen nach Hagen gekommen sind.

Albees Stück handelt vom maßlosen Geschlechterkampf zweier amerikanischer Ehepaare im provinziellen Professoren-Milieu. Die in den Dialogen geradezu diabolisch gut „gebaute“ Seelenzerfleischung hat seit der Uraufführung (1962) auch Patina angesetzt. Allzu sehr bleibt das Psychodrama freudianischen Konzepten von seelischer Verdrängung und Widerständen haftet. Überdies scheinen mir manche Details – nach den zahllosen „Beziehungs“-Diskussionen der 70er und 80er Jahre – überholt. Diese beiden Dekaden scheinen jedoch an Peter Schützes Inszenierung nahezu spurlos vorübergegangen zu sein. Er bringt das Drama solide, aber höchst konventionell auf die Bühne. Auch Wolf-Reinhard Wusts realistisches Bühnenbild im Möblierungsstil der frühen 60er steht für ein Wieder-sehen, nicht für eine neue Sicht.

Nun muß man ja in Hagen, wo Sprechtheater noch im Einführungs-Stadium steckt, das Publikum auch nicht gleich mit wüsten Avantgarde-Experimenten verprellen. Etwas mehr entschiedener Deutungswille der Regie hätte freilich nicht geschadet. So sehen wir denn gehobenen Boulevard, eingängige Ästhetik à la Tourneetheater. Und doch bleibt das Stück interessant, bedient es doch auch fulminant voyeuristische Bedürfnisse nach ebenso intensiver wie für den Zuschauer schadloser „Teilnahme“ an fremden Ehekrächen.

In Hartmut Stanke (gedemütigter, dann erbarmungslos zurückschlagender Pantoffelheld George) hat die Aufführung den besten Akteur. Barbara Vesterling (Martha) steht an routinierter Präsenz kaum nach. Komische Seiten entlockt Christoph Hemrich seiner Rolle als Nick. Anne-Mylène Biehl hat hingegen Mühe, Nicks Frau Putzi so piepsig-naiv darzustellen wie nötig.

Freundlicher Beifall. Freilich: Edward Albees im Programmheft abgedruckter Wunsch, die Zuschauer sollten nach einer „Woolf“-Aufführung derart betroffen sein, daß sie ihre geparkten Autos nicht mehr finden, wird sich in Hagen kaum erfüllen.




Ahnungen vom Wesen und Wirken der Pflanzen – Herman de Vries will unser Natur-Bewußtsein erweitern

Von Bernd Berke

Hagen. Museen zeigen oft das, was es s o nicht mehr gibt, aber vielleicht (wieder) geben sollte. Das Hagener Osthaus-Museum zeigt Pflanzen. Vorbotschaft drohender Zeiten, in denen wir die Natur nur noch in sorgsam behüteten Relikten, mithin nur als Vergangenes besichtigen können?

Nicht ganz. Der holländische Künstler Herman de Vries (58) sammelt seit Jahren Pflanzen auf Reisen und an seinem Wohnort im fränkischen Steigerwald, wo er noch eine erstaunliche Vielfalt vorfindet. Aus Marokko, dem Senegal und Indien hat er rund 2000 Beispiele (vornehmlich mit heilenden Wirkstoffen) mitgebracht und jetzt erstmals in solcher Fülle arrangiert: Die Ausstellung „Natural relations“ (Natürliche Beziehungen) hat in Hagen Premiere, geht dann weiter nach Holland und Dänemark.

De Vries erhebt keine Anklagen in Sachen Umwelt, er will uns ein sinnliches Naturerlebnis vermitteln, das man auch mit der Nase nachvollziehen soll. Im Museum verströmen nun botanische Boten fremder Länder betörend-exotische Würzdüfte, während das Steigerwald-Grün schon geruchsweise „deutsche“ Herbheit ahnen läßt.

Rauschmittel im „verschlossenen Paradies“

De Vries will keineswegs die wissenschaftliche Botanik außer Kraft setzen, wohl aber sie versöhnen mit verschüttetem, nicht-rationalem Wissen von Wesen und Wirkung der Pflanzen. Dies bedeutet zugleich den Versuch, die Grenzen zwisehen Wissenschaft, Kunst und Leben zu sprengen und schließt auch „geistbewegende“ (de Vries) Effekte ein, deren pflanzliche Urheber in einem ständig bewachten Gewächshaus gezeigt werden. „Das verschlossene Paradies“ (Werktitel) enthält – vom Tabak über Mohn, Stechapfel und „Traumwurzel“ bis zum Mescalin-Kaktus – Gewächse, die zur Erzeugung von Genuß- und Rauschmitteln taugen. Selbst eine vermeintlich harmlose Zierde wie die Buntnessel zählt übrigens dazu. Aufzucht in Hagens Stadtgärtnerei und Aufstellung im Museum mußten eigens vom Bundesgesundheitsamt genehmigt werden.

Der Künstler proklamiert nicht etwa den Gebrauch solcher Mittel. Im Gegenteil: Er glaubt, daß wir uns so weit von den „Ursprüngen“ entfernt haben, daß wir mit solchen Substanzen gar nicht mehr umgehen können. Gleichwohl hat de Vries einiges am eigenen Leibe erprobt und darüber Buch geführt: Es nennt alle Pflanzen(produkte), die er zu sich genommen hat – von Senf und Blumenkohl bis hin zu Drogen. Der Mensch – letztlich ein Produkt und Abkömmling der Pflanzenwelt?

Blüten, Blätter, Stauden, Samenkörner usw. hat de Vries auf langen Tuch-Bahnen ausgelegt, und zwar auf dem Fußboden, denn: Wachstum habe eben mit Boden zu tun; zudem hätten jene Pflanzen, die er auf Märkten erwarb, zu ebener Erde im Angebot gelegen.

Es gibt keine sprachlichen Hilfen, keine Bezeichnungen – und somit auch keine hinderlichen Wort-Barrieren. Die Funde sind lediglich numeriert. Informationen können später im Katalog (800 Seiten!) nachgeschlagen werden. In der Ausstellung selbst muß man die Sinne bemühen, schauen und schnuppern.

Die Pflanzenreihen sind nicht nach künstlich-ästhetischen Mustern sortiert. Mögliche „Aussage“: Natur, allein und für sich betrachtet, ist schön genug, ihr Formen- und Farben-Reichtum ist immens. Auch rückt die bloße Präsentation in einem Museum diese Exponate bereits in einen ästhetischen Zusammenhang. Doch nicht immer verzichtet de Vries auf nach- und ausdrückliche Kunst-Anstrengung: 108 Pfund Rosenblüten wandelten sich unter seiner Hand zum magischen Kreis namens „rosa damascena“.

Osthaus-Museum. Hagen, Hochstraße 73. Bis 24.9., di-sa 11-18 Uhr, do 11-22 Ubr, so 11- 16 Uhr, montags geschlossen. Eintritt 4 DM, Katalog 50 DM.