Festspiel-Passagen I: „Faramondo“ als überzeugende Händel-Rarität in Göttingen

Das edle Tier im Fadenkreuz: Die Allegorie des Bühnenvorhangs passt zu Händels "Faramondo". Fotos: Händel-Festspiele Göttingen

Das edle Tier im Fadenkreuz: Die Allegorie des Bühnenvorhangs passt zu Händels „Faramondo“. Fotos: Händel-Festspiele Göttingen

Der edle Hirsch bäumt sich auf, fällt, bedrängt von der Meute der Hunde. Gary McCann hat den Vorhang zu seinem Bühnenbild für Händels „Faramondo“ in Göttingen mit einer dramatischen Jagdszene bemalt. Wenn er sich schließt, verändert er sich: ein Fadenkreuz wird auf den König des Waldes projiziert, später leuchten die Augen der hetzenden Hunde tückisch auf.

Die Allegorie auf den dramatischen Kern von Händels Oper spricht deutlich: Mag der Edle auch stark sein, er ist gefährdet durch die Meute seiner Feinde, durch die Hatz von Niedertracht und Intrige.

Im Falle der zentralen Opernaufführung der 94. Göttinger Händel-Festspiele heißt der Titelheld Faramondo: Der Urvater der Merowinger, dem die Historiker heute nur noch eine legendäre Existenz zugestehen, liegt im Kriege mit den Kimbern und verliert auch noch seine Verbündeten, die Schwaben, weil er sich unabsichtlich in die Angebetete des Schwabenkönigs verliebt. Diese heißt Rosimonda und ist dummerweise ausgerechnet die Tochter des Feindes, des Königs Gustavo. Der wiederum hat Faramondos Schwester Clotilde als Geisel in der Hand – und verliebt sich, genau wie sein Sohn Adolfo, in die Dame aus dem fränkischen Lager.

Zwei Frauen, jede von zwei Männern begehrt, dazu ein unheilvoller Racheschwur und ein vertauschter Sohn: Ein Gebräu von Beziehungen und Emotionen, das am Ende nur ein Ziel hat: die Edlen als edel zu erweisen, die Liebe über das Schicksal triumphieren zu lassen und zu zeigen, wie Tugend die Leidenschaften zähmt.

Händels Opern – eine Herausforderung für die Regie

Für einen Regisseur sind Händels verwickelte Konstellationen stets eine Herausforderung, aber „Faramondo“ erschwert mit einem getöteten Königssohn, der gar keiner war, die Durchschaubarkeit noch einmal erheblich. In Göttingen lässt sich Paul Curran nicht einschüchtern: Er setzt auf deutlich abgegrenzte zwei Parteien und eine konturenreiche Personenführung, die er situativ entfaltet, ohne sich in den Zusammenhängen zu verkrampfen. Damit ist er nahe an Händel, der mit einer – auch im Falle dieses selten aufgeführten Werks – immer wieder überraschenden Musik tief in die seelischen Abgründe seiner Figuren eindringt.

Georg Friedrich Händel. Stich von William Bromley nach einem Gemälde von Thomas Hudson.

Georg Friedrich Händel. Stich von William Bromley nach einem Gemälde von Thomas Hudson.

Händel schrieb die Oper Ende 1737, von einem Schlaganfall genesen, in nicht einmal zwei Monaten in wiedererstarkter Schaffenskraft, um seine Position als führender Opernkomponist in London zu bekräftigen. Dass er auf einen „Faramondo“ des Italieners Francesco Gasparini zurückgriff, schmälert die Qualität seiner Musik nicht. Im Vergleich mit Gasparinis Arien zeigt sich eher, wie bewusst Händel auch mit vorliegendem Material umging und wie sensibel er es musikalisch an die Charaktere anpasste.

Curran legt seine Regie auf eine moderne Körper- und Gestensprache an, scheut sich auch vor leiser Ironie nicht. Ein mondänes Casino – dunkelrote, schwere Tapeten, dunkle, kostbare Hölzer – lässt Politik zunächst als Spiel erscheinen, aber der Racheschwur des Chores zeigt schnell, dass es mit dem Spielen zu Ende ist. Der Beinahe-Mord an der Geisel Clotilde auf dem Spieltisch lässt die Kurve der Erregung schnell steigen. Zwei mafiöse Banden bekriegen sich: Waffen stehen im Wandschrank bereit, sitzen locker im Halfter und fliegen schnell in die Hand.

Die Franken um Faramondo sind gefährlich gerüstete schwarze Krieger. Sie brechen mit einem gekonnten Coup de théâtre in den Salon ein: Curran setzt den Effekt punktgenau ein und macht ihn damit überwältigend und glaubwürdig. Die düsteren Pläne und zwielichtigen Vereinbarungen werden draußen ausgeheckt, in einer trostlosen Atmosphäre zwischen dem nackten Grau von Beton und irgendwelchen obskuren Rohrleitungen. Wenn im dritten Akt der rote Salon zerstört ist, die Tapeten in Fetzen hängen und Soldaten zerstreute Papiere am Fußboden sichten, passt das Bild zur desaströsen Gefühlslage aller Beteiligten.

Krieg und Gewalt sind in Händels "Faramondo" allgegenwärtig. Szene aus der Göttinger Inszenierung Paul Currans mit Emily Fons in der Titelpartie (stehend).

Krieg und Gewalt sind in Händels „Faramondo“ allgegenwärtig. Szene aus der Göttinger Inszenierung Paul Currans mit Emily Fons in der Titelpartie (stehend).

Das Libretto von Apostolo Zeno, einem der damals maßgeblichen Theaterdichter, lässt den Personen keinen Raum, sich zu entwickeln. Gustavo, König der Kimbern und Gegner Faramondos, ist verbohrt in Rachsucht und Begierde und bereit, diesen Affekten sogar seinen verblieben Sohn Adolfo zu opfern: ein negativer Charakter von königlichem Format. Der Bass Njåll Sparbo charakterisiert ihn mit harter Stimme mit schnellem Vibrato und im dritten Akt mit zu brachial gebrüllten Rezitativen.

Eine komplexere Persönlichkeit steht mit dem Schwabenkönig Gernando auf der Bühne: zärtlich, aber vergeblich verliebt, erst loyal, dann schäumend vor Eifersucht gegen seinen Rivalen Faramondo, aber auch intrigant und listig. Der Counter Christopher Lowrey hat die Stimme, die gegensätzlichen inneren Antriebe auszudrücken; pendelt zwischen zärtlicher Hoffnung mit einem Hauch von Resignation („Non ingannarmi …“), düsterer Entschlossenheit („Voglio che mora …“) und ungebremster Wut („Nella terra, in ciel, nell’onda …“).

Koloraturen und kantable Linien

Lowrey zeigt sich nicht nur den Koloraturen gewachsen, sondern kann auch die kantable Linie mit einem schönen, gestaltvollen Ton erfüllen. Doch nicht nur gesanglich setzt er sich an die Spitze des Ensembles: Dass seine Liebe zu Rosimonda obsessive Zügen trägt, stellt er in Haltung und Gestik treffend dar. Dass er sich offenbar eine ganze Sammlung Slips seiner Geliebten zugelegt hat, gibt der Figur einen Zug ins Abseitige. Auch Maarten Engeltjes, der zweite Countertenor der Produktion, kann als Adolfo mit rhythmischer Prägnanz und facettenreichem Klang punkten, nur in den Höhen der Kadenzen geraten ihm manche Töne zu dünn-falsettig.

Unter den nach Timbre und Tessitura sorgfältig ausgewählten Damen-Ensemble sticht Emily Fons als Faramondo heraus: Der amerikanische Mezzosopran brilliert mit einer tadellosen technischen Durchbildung der Stimme – Voraussetzung für eine musikalisch vielgestaltige Ausdeutung ihrer Rolle, die sich keiner rhetorischen oder stimmlichen Tricks bedienen muss, um den Text expressiv auszudeuten. Nicht nur das seelenvolle Zwiegespräch mit Rosimonda im ersten Akt und das erhabene Arioso „Si, torneró a morir“ werden so zu Höhepunkten des Abends, sondern auch das Schlussduett des zweiten Aktes und die auch psychologisch zentrale fünfte Szene des dritten Aktes.

Anna Devin als Clotilde in "Faramondo" in Göttingen.

Anna Devin als Clotilde in „Faramondo“ in Göttingen.

Anna Starushkevych hat als Rosimonda den etwas präsenteren, metallischeren Mezzo-Klang, den sie in Rezitative ausdrucksstark intensiviert, in ihrer Arie „Vanne, ché più ti miro“ aber etwas zu affektiert ausstellt und in der Kadenz zu flach führt. Als Clotilde hat Anna Devin einen starken Auftritt in der Eröffnungsszene, in der sie das Trauma aus dem grausam-zynischen Spiel mit ihrem Leben beeindruckend darstellt. Aber sie ist auch eine starke Frau, die ihre Selbstbestimmung trotz allen Leidens nicht aus der Hand geben will. Der präsente Sopran Devins passt zum Charakter, auch wenn manchmal flache, manchmal gestoßene Töne und eine nicht immer optimal kontrollierte Emission den Eindruck trüben.

Laurence Cummings, Dirigent und seit 2012 Künstlerischer Leiter der Händel-Festspiele Göttingen.

Laurence Cummings, Dirigent und seit 2012 Künstlerischer Leiter der Händel-Festspiele Göttingen.

Mit dem Festspielorchester bewährt sich Laurence Cummings als Dirigent, der straff artikulieren lässt, einen unverstellten, präsenten Klang sucht, übertriebene Eile meidet. Den intensiven Ausdruck der langsamen Arien unterstreicht Cummings mit organisch pulsierendem Tempo, das den Stimmen Raum gibt, Farbe und Klangdetails zu entwickeln. Auch die Solisten des Orchesters demonstrieren, wie aus einer schlichten Streicherbegleitung eine nuancenreiche Palette von feinen Farben zu gewinnen ist.

Wieder hat Göttingen bewiesen, wie ein selten gespieltes Werk – „Faramondo“ war in Deutschland nur 1976 in Halle zu sehen – zu einem kraftvollen Stück Musiktheater wird. Dazu braucht es solch sensible Regisseure wie Paul Curran, aber auch ein engagiertes Ensemble und nicht zuletzt einen musikalischen Leiter, dem der aktuelle Blick auf Raritäten von Händel ein Anliegen ist.




Festspiel-Passagen VIII: Zwischen Carmen-Leid und Händel-Leidenschaft

Die Zeit der sommerlichen Festivals ist vorüber, der Alltag erwartet uns wieder. Vorbei die letzte Vorstellung des früher ungeliebten, jetzt mit Wehmutstränen verabschiedeten Bayreuther „Tristan“ Christoph Marthalers; vorbei die Dernière des begeistert gefeierten Herheim-„Parsifal“, dessen Absetzung immer noch unverständlich ist, denn so wird das Wagner-Jahr 2013 am Hügel ohne das Stück gefeiert, das Wagner für das Festspielhaus geschrieben hat. Das Bayreuther Festspielorchester nebst Chor und Solisten war gefeierter Gast in Barcelona, um dem krisengeschüttelten Spanien mit erlösungsschwangeren Wagner-Klängen die Wunden zu salben.

Stefan Herheims "Parsifal"-Inszenierung lief heuer zum letzten Mal. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Stefan Herheims "Parsifal"-Inszenierung lief heuer zum letzten Mal. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Salzburg hat den ersten Pereira-Hype hinter sich; die Bilanz des neuen, aus Zürich gekommenen Chefs ist durchwachsen. Auf der einen Seite stehen Überflutung mit Luxus von Domingo bis Netrebko und überflüssige Zelebration massentauglicher Werke wie die mit Magdalena Kozená fragwürdig besetzten „Carmen“. Auf der anderen Seite ein Aufbruch wie die Konzertreihe „Ouverture spirituelle“ oder die ehrgeizig geglückte Inszenierung der „Soldaten“, Bernd Alois Zimmermanns Ikone des modernen Musiktheaters.

Gerühmt: Salzburgs Inszenierung von Zimmermanns "Soldaten". Foto: Ruth Walz

Gerühmt: Salzburgs Inszenierung von Zimmermanns "Soldaten". Foto: Ruth Walz

Und es gab in Salzburg auch weniger beachtete „Events“, die dem Festival jenseits des Opern-Spielplans (2013 wird er leider arg populistisch ausfallen) Profil geben könnten. Die vierzehn „Salzburg contemporary“-Konzerte sind ein Beispiel: Der musikalische Kosmos Heinz Holligers war zu erschließen; der Komponist war auch als Dirigent und Oboist zu erleben. Oder das Konzept des neuen Chefs der Schauspielsparte, Sven-Eric Bechtolf, der sich auf Werk und Text statt auf Material und Dekonstruktion besinnen will.

Er hat auch eine Nürnberger Puppenspieler-Truppe nach Salzburg eingeladen, die sich „Thalias Kompagnons“ nennt. Joachim Torbahn und Tristan Vogt heißen die kreativen Köpfe des Teams, das in Ferdinand Raimunds „Der Bauer als Millionär“ Naivität in Tiefsinn verwandelt, das Moralische wie das Parodistische in der Distanz der Puppenwelt von Banalität und Schwere befreit: weise Einfalt!

Dem Blick über die sommerliche Kultur-Landschaft bieten sich traditionsreiche Fixpunkte wie die Händel-Festspiele in Göttingen und Halle. Die Universitätsstadt an der Leine hat mit Laurence Cummings einen neuen künstlerischen Leiter gewonnen, der den zwölf musikalischen Tagen rund um Händel sein Siegel erst noch aufprägen muss. Die Oper dieses Jahres, Händels „Amadigi di Gaula“, konnte nicht restlos überzeugen: Das Konzept der Regisseurin Sigrid T’Hooft, die strengen Bewegungsregeln des barocken Theaters ins Heute zu übertragen, geht ästhetisch auf, gibt dem Zauber- und Ritterstück aber keinen dramatischen Zug.

Konflikte und Leidenschaften bleiben „historisch“. In der musikalischen Umsetzung gelingt Andrew Parrott die Vergegenwärtigung schlüssiger: Das Festspielorchester spielt kompakt und kantig, schroffer als unter dem bisherigen künstlerischen Leiter Nicolas McGegan, manchmal aber auch weniger subtil. Die Sänger lassen technisch zu viel zu wünschen übrig, um Ausdruck und Schönheit des Singens miteinander zu verbinden.

In Halle lag im 80. Jahr der Festspiele der Schwerpunkt auf einem Blick auf Händels Verhältnis zur Religion und auf die Erinnerung an Händels Lehrer Friedrich Wilhelm Zachow, der vor 300 Jahren, am 7. August 1712, gestorben ist. Ein abwechslungsreiches Programm bot oratorische Spezialitäten wie das Auferstehungsspiel „La Resurrezione“, das allegorische Oratorium „L’Allegro, il Pensieroso ed il Moderato“ und die selten zu hörende „Brockes Passion“. Dazu kam „Il Martirio di Santa Teodosia“ von Alessandro Scarlatti, einem der italienischen Anreger Händels, aufgeführt von dem renommierten spanischen Ensemble „Al Ayre Espanol“ unter dem so charismatischen wie tiefgründigen Eduardo López Banzo.

Aber auch die Akademie für Alte Musik Berlin und der Rias Kammerchor sorgten unter Hans-Christoph Rademann mit Händels „Josuah“ für einen Höhepunkt der Festspiele an der Saale. Dem Thema „Händel und die Konfessionen“ widmete sich eine inhaltsreiche wissenschaftliche Konferenz, von der viele Anregungen zum Weiterdenken ausgingen.

Mit der Tanzpantomime „La Terpsichore“ kam im historischen Goethe-Theater in Bad Lauchstädt eine Kunstgattung zu Ehren, die noch zu entdecken ist. Die Musik zu Ehren der griechischen Muse der Tanzkunst lieferten Georg Friedrich Händel und sein französischer Zeitgenosse Jean-Féry Rebel. Die Musiker von Les Talens Lyriques entfachten ein regelrechtes Tanzfeuer unter der Leitung von Christophe Rousset: jeder Ton passte akkurat. Ideal wirkt der markant-schroffe Schönklang mit tief empfundenen lyrischen Momenten und einer unermüdlichen Lust an barocker Klangpracht.

Choreographin Béatrice Massins Hauptinteresse gilt dem barocken Bühnentanz, sie nutzt ebenso einige freie Darstellungsformen um die Ausdruckspalette der Tänzer von Les Fêtes galantes anzureichern. In dem rund 80-minütigen Werk wirkte das freilich auf Dauer etwas ermüdend, da die Schrittfolgen und Positionen sich häufig wiederholen. Das Programm 2013 der Festspiele in Halle verspricht mit den Opern „Almira“ und „Alessandro“ und dem Oratorium „Judas Maccabäus“ wieder anregende Begegnungen mit Händel.

(Mitarbeit: Tony Kliche, Halle/Saale)