Die feine Art des Speisens: Vincent Moissonniers Ratgeber „Der Käse kommt vor dem Dessert“

Das literarische amuse gueule, also das geschmacksanregende Vorwort stammt vom Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, einem sinnenfrohen Genießer. Autor des Haupttextes ist indes der aus Frankreich stammende Küchenchef Vincent Moissonnier. Er hat sich seit langer Zeit mit seinem Spitzenrestaurant in der vermeintlich „französischsten“ deutschen Stadt niedergelassen, in Köln. Das Prädikat ist anfechtbar, aber egal.

In frankophilen Zusammenhängen, so weiß man, wird seit jeher am edelsten gespeist. Auch die zugehörigen Benimmregeln sind ursprünglich aus der höfischen Kultur Frankreichs hervorgegangen. Just um die heute wünschenswerten Varianten und Nuancen geht es im vorliegenden Buch „Der Käse kommt vor dem Dessert“. Untertitel: „Goldene Regeln für den Restaurantbesuch – von Dresscode bis Trinkgeld“.

Sind wir etwa wieder in Zeiten angelangt, in denen förmlicher Benimm abermals eine größere Rolle spielt? Mit mehr oder weniger wohligem Gruseln erinnern sich die Älteren unter uns an bestens parodierbare Publikationen wie „Der gute Ton in allen Lebenslagen“. Doch wahrscheinlich brauchen wir ja dringlich solche Gegenkräfte zur oftmals waltenden Rüpelhaftigkeit; wenn auch nicht mehr so steifleinen wie ehedem.

Köln mit französischen Akzenten

Argwöhnische Menschen mögen „kölschen Klüngel“ dahinter wittern, andere die kuschelige Vertrautheit zu schätzen wissen: Vorwortgeber Ortheil ist gebürtiger und überzeugter Kölner. Moissonnier betreibt just dort sein Gourmet-Restaurant, in dem gewiss auch Ortheil gelegentlich zu dinieren pflegt. Ko-Autor des Buches ist Joachim Frank, seines Zeichens Mitglied der Chefredaktion beim Kölner Stadtanzeiger, der wiederum im Dumont-Verlag erscheint. Kein Wunder also, dass dieses Buch im Dumont-Buchverlag herauskommt. Man ahnt: Hier herrscht gesteigerte Kölschigkeit mit französischem Akzent, mithin nicht nach lässiger Art der ortsüblichen Köbes-Gastronomie.

Moissonnier will uns einerseits die Furcht vor allzu rigiden Verhaltensregeln nehmen, es gehe vornehmlich darum, ein Gefühl für Stil zu entwickeln. Eine seiner Grundregeln lautet: Hauptsache, dass alle Beteiligten sich wohlfühlen. Dennoch häuft er im Laufe des Buches viele, viele Empfehlungen an, die sich denn doch zum dicht geflochtenen Regelwerk summieren. Was da alles zu beachten ist!

Sind Smoking und Frack vorhanden?

Wann verschickt man die Einladungskarte, was sollte draufstehen, wie wird zu- oder abgesagt, welcher Dresscode soll jeweils gelten (hoffentlich haben alle Herren zur Not wenigstens einen Smoking und einen Frack parat, es wird hier quasi vorausgesetzt), wie verhält es sich mit der Sitzordnung, wie schaut der perfekt gedeckte Tisch aus, wie die Speisen- und Getränkefolge, wann und wo darf zwischendurch geraucht werden, wie wird diskret reklamiert, wie am besten bezahlt und ein Trinkgeld gegeben, wie genau wird das auch nicht ganz unkomplizierte Begrüßungs- und Abschiedsritual absolviert? Und so weiter, und so fort. Puh!

Die Benutzung der Servietten (selbstverständlich aus Stoff, keine – so wörtlich – „gottverdammten Papierservietten“) möge als kleines Beispiel dienen. Zitat:

„Zum Essen legen Sie die Serviette einmal quer gefaltet auf Ihre Beine, die offene Seite zu Ihnen gewandt, und putzen sich die Lippen immer mit der Innenseite ab. Wenn Sie die Serviette danach zurücklegen, bleibt die Außenseite sauber und man sieht die Flecken nicht. Denken Sie auch daran, während des Essens jedes Mal die Serviette zu benutzen, bevor Sie etwas trinken. Fettränder vom Essen am Glas sehen einfach scheußlich aus. (…) Am Ende des Essens landet die Serviette bitte nicht auf dem Teller. Das ist eine Katastrophe…“

Mit Gläsern anstoßen oder nicht

Man hat ja schon von schlimmeren Katastrophen gehört, aber sei’s drum. Auch nationale Unterschiede der Esskultur geraten hin und wieder in den Blick. Die englische und US-amerikanische Angewohnheit etwa, die Linke aufs Knie zu legen, während die Rechte nur noch mit der Gabel operiert; die deutsche Sitte, mit den Trinkgläsern anzustoßen, die in Frankreich unbekannt ist; die angeblich vorwiegend niederländische Neigung, sich am Buffet für ganze Tage zu versorgen… Moissonnier wird es wohl wissen, er hat Gäste aus praktisch allen Ländern dieser Erde bewirtet. Freilich wohl kaum aus unteren Schichten der Gesellschaft.

Der Buchtitel bezieht sich natürlich aufs Finale der Speisenfolge. Der alte Merksatz, demzufolge „Käse den Magen schließt“, sei unsinnig, befindet Moissonnier. Stets gehöre das Dessert ans Ende eines stilvollen Essens. Dazu gibt es einleuchtende Begründungen.

Butter nicht streichen, sondern heben

Zuweilen geht es allerdings arg ins Detail. Wird etwa Brot auf einem Vorspeisenteller kredenzt, so sollen wir die Butter um Himmels Willen nicht schnöde aufstreichen, sondern mit dem Messerchen als hauchdünne Schicht aufs Brot heben. Tja. Wer solche Feinheiten nicht befolgt, steht in diesem Kontext ganz schön belämmert da. Vor einem Besuch im „Moissonnier“ zu Köln (oder vergleichbar ambitionierten Etablissements) sollte man tunlichst dieses Buch gelesen haben, sonst tuschelt eventuell das Personal – oder es erscheint gar der Maître persönlich am Tisch, was in besonders peinlichen Fällen geschehen sein soll.

Einzelheiten muten übertrieben penibel an. Dass jedoch gewisse Grundformen gewahrt und gepflegt werden, ist keinesfalls nur hochnäsiger Unsinn im bourgeoisen Sinne. Insofern haben wir hier doch einen kundigen Ratgeber aus wahrlich berufenem Munde. Muss auch nicht jeder Satz beherzigt werden, so eben doch der Geist und das stilistische Empfinden.

Vincent Moissonnier / Joachim Frank: „Der Käse kommt vor dem Dessert.“ Mit einem Geleitwort von Hanns-Josef Ortheil und Illustrationen von Nishant Choksi. Dumont. 160 Seiten, 20 Euro.

 




Lauter Sonderlinge – Hanns-Josef Ortheils „Charaktere in meiner Nähe“

Hanns-Josef Ortheil zählt zu den ganz wenigen deutschsprachigen Autoren dieser Zeit, die Milde walten lassen, die Hoffnung und Sympathie für ihr Romanpersonal hegen, aber dennoch nicht ins Seichte geraten. Damit nimmt Ortheil eine gewisse Sonderstellung in der ernstzunehmenden Literatur ein, in der allerlei Dystopien deutlich höher im Kurs stehen.

Ein ausgemachter Freund des Gelingens und Genießens, erkundet Ortheil in seinem neuesten Buch „Charaktere in meiner Nähe“ (Titel) einige Aspekte je besonderen Menschseins, die freilich ins Allgemeine der Gattung weisen. In 50 Miniaturen, jeweils nur ein bis drei Seiten umfassend, erkundet er ein Gebiet der Marotten, Spleens und Besessenheiten. Es ist kein leichtes Unterfangen, könnte der Schreibende doch geneigt sein, sich derlei Charaktere „zurechtzubiegen“, auf dass sie so recht ins typisierende Schema passen.

Alle leben in ihrer eigenen Welt

Wir begegnen jedenfalls lauter Leuten, denen eine „wesentliche Prägung“ eigen ist. Da sind zum Exempel: die „Aber-Sagerin“, die sich stets unter Vorbehalt äußert und Gegenreden parat hat; der „Appetitor“, den immerzu etwas Essbares lockt; das „Familientier“, das alles und jedes auf Kinder bezieht. Und so geht es fort und fort: Der „Hedomat“ ist allzeit auf die kleinen Freuden aus. Der „Codaist“ lebt im Bann permanenter Abschiede. Die „Ausreden-Virtuosin“ weicht in jeder Gesprächs- und Lebenslage aus. Der Neutrale entscheidet sich niemals eindeutig, der Kultivierte lässt nur das Erlesene gelten. Die Eilfertige ist allen Gelegenheiten und Gefahren voraus, sie hat immer schon „gegoogelt“, bevor es ernst wird. Die Italiensüchtige kennt eigentlich (nur) alles Italienische, die „Waldgängerin“ ist eine Puristin der Stämme, Äste, Zweige und Blätter. Ergo: Auf einem Felde sind sie alle unschlagbar, auf vielen anderen recht begrenzt. Jede(r) lebt in einer eigenen Welt.

Genug der Beispiele. Anhand der Worte wie „niemals“, „alles“, „immer“, „stets“ und „nur“ lässt sich schon ahnen, dass die Protagonisten samt und sonders von einer Passion (oder Abneigung) beherrscht werden, die sie am vollen Leben hindert. Auch ein Sprachkünstler und Könner wie Ortheil kann es nicht gänzlich vermeiden, dass solche stark geprägten Charaktere mitunter beinahe zur Karikatur geraten. So ergeht es auch Zeichnern, die das Typische hervorkehren wollen. Ortheil aber möchte gerade vermeiden, dass sich Verzerrungen ergeben.

Blinde Flecken, tote Winkel

Seine Figuren schildert der Autor freundlich, teilnehmend, manchmal sanft kopfschüttelnd, niemals jedoch verurteilend. Er breitet ein wahres Panoptikum, wenn nicht gar einen Zoo der Sonderlinge vor uns aus. Er skizziert, wie sich die Probanden in bestimmten Situationen gebärden. Seltsame, merkwürdige Wesen sind sie allemal. Alsbald keimt der Verdacht, dass ihre Eigenheiten zutiefst mit der allgemeinen Conditio humana zu tun haben. So darf man sich fragen, ob nicht alle Menschen an etwas hängen, was ihnen selbst nicht so sehr auffällt, wohl aber der Mitwelt, sofern sie aufmerksam und empfänglich ist. Die Sonderlinge bemerken oft weder blinde Flecken noch tote Winkel.

Ein wenig vermisst habe ich die an und für sich gängige Unterscheidung zwischen vorherrschenden, halbwegs fluiden Verhaltensweisen und ziemlich fest betoniertem „Charakter“. Es will mir scheinen, als spräche „man“ heute nicht mehr so über psychische Befindlichkeiten. Aber vielleicht irre ich mich auch gründlich und Ortheil belebt eine alte Schule der Menschenbetrachtung wieder, die nicht vernachlässigt werden sollte. Außerdem dürfte die Vermutung stimmen, dass sich in diesen 50 Kurzporträts Ansätze zu ungleich differenzierteren Erzählungen oder Romanen verbergen. Wir harren der Weiterungen, die da hoffentlich kommen werden.

Hanns-Josef Ortheil: „Charaktere in meiner Nähe“. Reclam. 128 S., 18 Euro.

 

 




„Ohne Schreiben hätte es kein Leben gegeben“ – Zum 70. Geburtstag von Hanns-Josef Ortheil

Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Er schreibt Romane, Essays, Reisenotizen und Bücher über Musik. Das Gesamtwerk des am 5. November 1951 in Köln geborenen Hanns-Josef Ortheil umfasst bisher siebzig Werke. Zum 70. Geburtstag des viel gelesenen Autors, dessen Werk mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, kommen zwei weitere Bücher hinzu.

Hanns-Josef Ortheil auf der Buchmesse 2016. (Foto: Released by Verlagsgruppe Random House / Wikimedia) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

„Ombra“ ist der „Roman einer Wiedergeburt“. Denn vor zwei Jahren war der Autor dem Tod näher als dem Leben. Er hatte bereits das Gefühl, von seinen verstorbenen Eltern und toten Geschwistern erwartet und willkommen geheißen zu werden. Dass die toten Familienmitglieder ihm nahe sind, wissen wir aus vielen seiner Bücher. Aber ihnen tatsächlich wieder zu begegnen, war dann doch ein Schock.

Bei einer Routine-Kontrolle hatte sein Hauarzt eine schwere Herzinsuffizienz festgestellt. Die anschließende Operation verlief nicht ohne Komplikationen und dauerte viele Stunden. Danach lag Ortheil mehrere Tage im Koma, sein Leben stand auf der Kippe. Erst als ihn die Ärzte anbrüllen, er solle doch endlich aufwachen, schlägt er verdutzt die Augen auf und fragt in seinem leichten ironischen und larmoyanten Tonfall, den wir so an ihm schätzen: „Warum um Himmels willen schreien Sie denn so?“

Vor und nach der schweren Krankheit

In seinem Roman literarisiert und fiktionalisiert Ortheil, was ihm widerfahren ist, was er erlebt hat im Reich der Toten und wie seine schwierige Wiedergeburt vonstatten ging. Ihn überkommt ein Gefühl der Ohnmacht und Angst. Alles, was sein Leben ausmacht, ist ihm abhanden gekommen: Seit frühester Kindheit hat er jeden Tag Klavier gespielt und jeden Tag einige Sätze aufgeschrieben, viele seiner Romane beruhen auf diesen Kindheitsnotizen, die er immer mit der Hand und mit dem Bleistift auf weißes Papier skizziert, bevor er sie überarbeitet und fein säuberlich abtippt.

Doch nun hat er keine Kontrolle mehr über seine Hände und Finger, er muss alles neu lernen, kann nicht mehr schreiben und Klavier spielen, muss herausfinden, wie es zu der schweren Krise gekommen ist, wer er vor der Krankheit war und wer er in Zukunft – falls es sie überhaupt gibt – sein will. Er zieht ins verwaiste Haus der Eltern im Westerwald und fährt jeden Tag in eine Reha-Klink, treibt dort Sport, Joga und Gymnastik und macht dabei (auch das beschreibt er mit herrlicher Selbstironie) eine ziemlich lächerliche Figur. Außerdem spricht er mit der Reha-Psychologin, die ihn auf seinem Weg in die Abgründe seines Lebens begleitet und manche verdrängte Einsicht zutage fördert.

Nach und nach wird ihm klar, dass er ein Opfer seiner Schreib-Wut ist, dass er allein in den Monaten vor der Krise drei Bücher geschrieben hat, die ihn an tiefe Ängste und Erlebnisse seines Lebens erinnert und ihn regelrecht krank gemacht haben. Eines handelt von der „Mittelmeerreise“, die er als Kind mit seinem Vater unternommen hat, mit dem Dampfer von Antwerpen nach Athen und Istanbul, im Gepäck Homers „Odyssee“, die er heute noch auswendig aufsagen kann, eine Reise, die ihm geholfen hat, das Verstummen zu überwinden. Denn Ortheil wurde von seiner Mutter, die vier Kinder verloren hatte und kein Wort mehr sprach, komplett von der Welt abgeschirmt, so dass er als Kind ebenfalls verstummte und nur durch die zupackende Art seines Vater und die Aufforderung, alles was er sieht und denkt, aufzuschreiben, gerettet wird.

Mit einem Hemingway-Buch in die Krise

Direkt in die Krise geführt, und das wird Ortheil jetzt klar, hat ihn sein Buch über Ernest Hemingway, „Der von den Löwen träumte“: Ortheil reist auf den Spuren von Hemingway, der seit Jahren keinen Roman mehr zustande gebracht hat, nach Venedig, redet mit Zeitzeugen, schippert durch die Lagune, übernachtet in der Herberge, in der Hemingway 1948 schlief. Er rekonstruiert den Roman, den Hemingway hier endlich schreiben konnte: „Über den Fluss und in die Wälder“. Ortheil identifiziert sich mit der Hauptfigur des Romans, einem herzkranken Soldaten, und merkt nicht, dass er selbst eine Herzkrankheit entwickelt, die ihn fast umbringt, und die er nun verstehen und – am besten schreibend – überwinden muss.

Aber weil die Finger ihm nicht gehorchen und er nicht mehr schreiben kann, diktiert er alles, was er in der Reha erlebt und was er ausbaldowert, um ins Leben zurückzufinden, in sein Smartphone. Abschreiben und literarisch umformen kann er es erst, nachdem er (auf Anregung seiner Psychologin) Stifte und Papier besorgt und einfache Malübungen macht, Striche zieht, Buchstaben kritzelt, bis daraus, nach Monaten, wieder so etwas wie eine eigene Handschrift wird.

Hilfreich ist auch, dass er seine Selbst-Isolation aufgibt, mit seinem besten Freund ein paar Kölsch kippt, eine Rembrandt-Ausstellung besucht, versuchsweise den Sendesaal des WDR betritt, in dem er bald aus seinem Hemingway-Roman vorlesen soll. Er stellt sich der Vergangenheit, indem er im Viertel seiner Kölner-Kindheit eine Bleibe sucht und im Ort, wo seine Eltern bis zu ihrem Tod gelebt haben, eine Ladenwohnung mietet und dort alte Möbel, Fotos und Notizen zu einem öffentlich zugänglichen Ortheil-Archiv zusammenstellt. Als er die Reha beendet, rät ihm seine Psychologin, es wäre vielleicht hilfreich, wenn er mit jemandem, der seine Bücher kennt, über sein manisches Schreib-Bedürfnis spricht.

Das Ende des Romans führt deshalb direkt zum nächsten Buch: „Ein Kosmos der Schrift“, ein dreitägiges Gespräch über die Autobiographie seines Schreibens von der Kindheit bis heute, das Ortheil mit seinem Lektor Klaus Siblewski geführt hat und in dem Ortheil zur Erkenntnis gelangt: „Das Schreiben war immer notwendig und existenziell. Ohne Schreiben hätte es kein Leben gegeben. Es war der Kommentar zum Leben, seine Verankerung, seine Vertiefung, seine Deutung.“

Hanns-Josef Ortheil: „Ombra“. Roman einer Wiedergeburt. Luchterhand, München 2021, 299 Seiten, 24 Euro.

„Ein Kosmos der Schrift“. Hanns-Josef Ortheil zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Imma Klemm. btb, München 2021, 364 Seiten, 12 Euro.




Sind Birnen besser als Äpfel? Hanns-Josef Ortheils Buch „Was ich liebe und was nicht“

Manche Schriftsteller schätzt man auf eine Weise, dass man auch mehr über den Menschen hinter den Büchern erfahren möchte. Hier naht eine Abhilfe: Der 1951 in Köln geborene Autor Hanns-Josef Ortheil versorgt uns in „Was ich liebe und was nicht“ gar reichlich mit Ansichten seiner selbst, mit höchstpersönlichen Bekenntnissen und Reflexionen.

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Einige Beispiele gefällig? Bitte sehr, ich verkürze notgedrungen furchtbar ungerecht, doch im Duktus ist es nicht völlig verzerrt:

Mit dem Autofahren und dem Fliegen hat’s Ortheil nicht so, er nimmt lieber die Bahn – und verrät ausführlich, warum das so ist.

In einem umfangreichen Kapitel übers Essen erfahren wir einiges über seine kulinarischen Vorlieben und Abneigungen. Er mag, wie es sich schon auf dem Buchcover andeutet, z. B. lieber Birnen als Äpfel und ordnet weitere Sorten so zu: „Himbeeren sind das Obst der Maler und Dichter. Kirschen dagegen sind das Obst der Komponisten und Filmemacher.“ Es könnte Leser geben, denen das Jacke wie Hose ist.

Doch weiter: Ortheil bevorzugt jenes Hotel, das alle Wünsche flugs erfüllt, aber auch die spartanische Waldhütte ohne Stromanschluss.

Radio hält er für uneitler als Fernsehen. Telefonieren und Mails sind ihm ziemlich zuwider.

Geradewegs zum Verlieben findet er Kunst-Kuratorinnen – beim gemeinsamen Gang durch deren Ausstellungen.

Filme beeindrucken ihn meist mehr als Theater. Hingerissen ist er beispielsweise von Darstellerinnen wie Isabelle Huppert und Mariel Hemingway.

Auch erfahren wir, welche Sportarten Ortheil vorzieht: Schwimmen, Skilanglauf, Basketball, Tennis, Fußball? Raten Sie mal. Oder lesen Sie nach.

Oasengleiche Lieblingsorte werden ebenfalls aufgesucht und atmosphärisch geschildert – in Stuttgart, Köln und tief im Westerwald. Von Italien mal zu schweigen.

So geht es also kreuz und quer durch Lebens- und Kulturgefilde: Reisen, Liebe, Literatur, Musik, Filme, Kunst, Mode, Sport, Natur, Wohnen und Philosophie. Und noch etliche weitere. Ortheil schreibt quasi ein Kompendium über sich, dabei den Tonfall öfter wechselnd, damit es unterhaltsam bleibt. Mal gerät er ins Plaudern, mal fasst er sich und seine Themen ernster. Letzten Endes dreht sich das Buch um alles, was sich bei ihm festgesetzt hat, was ihn ausmacht.

Auch wenn er hie und da szenische oder lyrische Elemente einstreut, seine Präferenzen vielfach nachvollziehbar begründet, gekonnt ausschmückt und oft süffig beschreibt, so gibt es doch auch eher banal anmutende Passagen. Nicht alles ist ausgearbeitet, es findet sich sozusagen auch unbehauenes Rohmaterial, aus dem vielleicht später Romane oder Essays keimen werden. Wer weiß.

Muss man Ortheils privaten Kanon derart ausgiebig kennen lernen? Sollen denn gar keine Fragen mehr für beflissene Zuhörer(innen) bei seinen öffentlichen Lesungen mehr übrig bleiben?

Nun gut. Die germanistische und die feuilletonistische Zunft werden sich hier künftig bedienen und mehr oder weniger waghalsige Querverbindungen zum literarischen Werk ziehen können. Wer immer eine Ortheil-Biographie verfassen sollte, wird an dieser Buchvorlage schwerlich vorbeikommen.

Es ist ja auch beileibe vieles interessant und anregend, beispielsweise die Innenansichten des literarischen Schreiballtags oder auch der Vergleich des Schriftstellerlebens mit dem des Pianisten, als der Ortheil in seinen jüngeren Jahren sich verwirklicht hat – bis zu einem gewissen Grade.

Reizvoll sind auch Einblicke in den legendären Stipendiaten-Ort, die römische „Villa Massimo“, und Auslassungen über das raumgreifend großspurige Gehabe bildender Künstler dortselbst, neben denen unscheinbare Schriftsteller schier verblassen.

Doch natürlich mündet das Buch in ein beseeltes Lob des Schreibens als Gipfel der Künste. Eine Wendung, die man füglich erwarten durfte. Wie denn überhaupt Hanns-Josef Ortheil längst für Bücher bekannt ist, die für ihn und uns hoffnungsvoll ausgehen. In diesen Zeiten ist das ja fast schon ein Alleinstellungsmerkmal.

Hanns-Josef Ortheil: „Was ich liebe und was nicht“. Luchterhand Verlag. 366 Seiten. 23 Euro.




Sechs Hinweise zum Fest: Was man ganz früher einmal „Das gute Buch für den Gabentisch“ genannt hat

Hui, hier kommen in jahreszeitlich üblicher Eile noch ein paar Hinweise auf Bücher, die sich (auch) als Weihnachtsgeschenke eignen. Den gereckten Daumen oder alberne Punktwertungen schenken wir uns – wie immer. Und überhaupt…

Unsterbliche Verse
Wenn man Ströme und Strömungen der europäischen Lyrik zurückverfolgt, so gelangt man früher oder später auch an diese ewig frische Quelle: Francesco Petrarcas Gedichtsammlung „Canzoniere“. Jetzt ist eine neue Auswahl der unsterblichen Verse erschienen, die um die zwischen Hoffen und Bangen geliebte Laura kreisen. Karlheinz Stierle hat in seiner Übersetzung versucht, den Reimen so gut zu folgen, wie es im Deutschen nur irgend geht. Eine Herkulesaufgabe, deren Resultat freilich leichthändig wirken muss. Die zweisprachige Ausgabe ziert jede gute Bibliothek. (Insel Verlag, 274 Seiten, 24,90 Euro).

Ins Gelingen verliebt
Wir bleiben in den Gefilden der Sehnsucht. Hanns-Josef Ortheil ist ein Schriftsteller, der ein Projekt verfolgt, mit dem man nur zu gern sympathisiert: Unermüdlich versucht er, glückhaft ausgehende Geschichten erzählbar zu machen, also nicht an den Klippen von Kitsch, Kolportage und Konvention zu scheitern. Man weiß ja: Negatives lässt sich in aller Regel süffiger vortragen und gilt unserem auf Abstürze versessenen Zeitgeist als glaubwürdiger. Mit „Liebesnähe“ unternimmt Ortheil den nächsten Anlauf in gegenläufiger Richtung. Ein Mann und eine Frau treffen sich per Zufall im Hotel – und es entspinnt sich etwas. Ortheil zieht virtuos an den Fäden dieser Verstrickung. Und in den schönsten Passagen klingt seine Sprache nahezu musikalisch. (Luchterhand, 394 Seiten, 21,99 Euro)

Zeiten der Trauer
Ein ungeheuerliches Buch an den Grenzen menschlicher Kraft. Der Niederländer A. F. Th. van der Hejden unternimmt es, den Unfalltod seines einzigen Kindes literarisch zu fassen. Das ist natürlich letztens unmöglich, doch kann man den Heroismus nur bewundern, mit dem dieser großartige Autor dem Tod sozusagen Hoheitsgebiete abtrotzt, wie er die Stirn erhebt gegen das Leiden, das nie mehr aufhören wird. Der 21jährige Tonio (der Vorname ist auch der Romantitel) wurde im Mai 2010 auf seinem Fahrrad tödlich von einem Auto erfasst. Dass der Roman schon vorliegt, lässt darauf schließen, dass van der Hejden von Anfang an keine andere Wahl hatte: Er musste wie besessen versuchen, das Unglück schreibend – nein, nicht zu bewältigen oder mit ihm „fertig“ zu werden, sondern es überhaupt zu ermessen, auszuloten. Die Lektüre ist schmerzlich, erschütternd, ja niederschmetternd, birgt aber auch Trost weit über den Tag hinaus. (Suhrkamp, 672 Seiten, 26,90 Euro)

Held des Scheiterns
Auf Italo Svevo kann man schwören. Seine (und ein paar andere) Bücher würde ich ohne Zögern auf jene einsame Insel mitnehmen. Jetzt ist sein epochaler Roman „Zenos Gewissen“ in neuer Übersetzung (von Barbara Kleiner) erschienen. Es gibt in der Weltliteratur schwerlich einen grandioseren Helden des Scheiterns als diesen Zeno, der zudem die Kunst des ziselierten Selbstbetrugs zur Perfektion erhebt. Allein seine hochkomischen Versuche, das Rauchen aufzugeben, gehören in jede Anthologie zum Tabaklaster. Auch in erotischen Angelegenheiten stellt er sich kaum geschickter an. Eine überaus subtile Neurosenbeschau. Ein Klassiker sondergleichen. Bloß nicht versäumen! (Manesse, 798 Seiten, 24,95 Euro)

Illustrierte Liederschätze
Zum 80. Geburtstag des famosen Künstlers Tomi Ungerer wurde kürzlich ein Standardwerk neu aufgelegt. „Das große Liederbuch“ verdient diesen Namen wahrhaftig. Hier werden reichlich Schätze verwahrt: 204 deutsche Volks- und Kinderlieder sind mit Texten und Noten versammelt. Ungerers herrliche Illustrationen machen den bemerkenswert preisgünstigen Band vollends zum Genuss. Und nein: Es ist in keiner Faser ein deutschtümelndes Buch, sondern die liebevolle Aufbereitung kulturellen Erbes. (Diogenes, 273 Seiten, 19,90 Euro)

Nachkriegs-Krimi
Schließlich ein Krimitipp: Der seit langem in Herne lebende Jan Zweyer hat seinen Hauptkommissar Peter Goldstein unter drei Regimes ermitteln lassen – in der Weimarer Republik (Buchtitel „Franzosenliebchen“), zur NS-Zeit („Goldfasan“) und nun in der deutschen Nachkriegszeit. „Persilschein“ spielt im Ruhrgebiet des Jahres 1950. Wie der Titel ahnen lässt, führt die Handlung in Abgründe der Nazi-Vergangenheit. Dass Zweyer seine spannenden Fälle vor akribisch recherchiertem Geschichtshintergrund ausbreitet, verleiht seinen Krimis zusätzliche Tiefenschärfe. Die nunmehr abgeschlossene Trilogie ist ein achtbares Stück Ruhrgebiets-Literatur. (Grafit Verlag, 320 Seiten Paperback, 11 Euro)