F. C. Delius: „Erinnerungen mit großem A“ (und ein paar anderen Buchstaben)

Na, da hat Friedrich Christian Delius – häufig gekürzelt als F. C. Delius – aber ein bisschen geschummelt. Die selbstgesetzte Vorgabe für seine „Erinnerungen mit großem A“ (Untertitel) lautete, dass die Bruchstücke aus seiner Biografie allesamt, quasi-lexikalisch, just mit dem Anfangsbuchstaben A überschrieben sein sollten.

Doch einer wie Delius hat sich nicht in ein derartiges Schreibkorsett gezwängt, er ließ mit Freuden fünfe gerade sein. Will er etwas über den Beatle Paul McCartney mitteilen, so läuft das eben unter A wie Abbey Road, geht es um den großen Georg Christoph Lichtenberg, so lautet das Stichwort „Agamemnon“ (weil L. diesen Namen in einem berühmten Aphorismus verwendet hat). Und so weiter, über zahllose Einträge hinweg. Viele stimmen jedoch auch bruchlos überein, was das A anbelangt. Beispiel: Adorf, Mario. Ein grundsympathischer Mensch, dessen Heiterkeit in wohltuender Weise ansteckend gewesen sei. Auch das glauben wir gern.

Delius, am 30. Mai 2022 verstorben, würde am 13. Februar 80 Jahre alt werden. Er ist eines von etlichen Pastorenkindern der deutschen Literatur, sein Vater war zeitweise Pfarrer an der Deutschen Evangelischen Kirche in Rom, deswegen ist F. C. Delius dort geboren, dann freilich in der hessischen Provinz (genauer: Wehrda bei Marburg) aufgewachsen, die es literarisch ebenfalls „in sich“ hat.

Ein erbärmlich schlechter Schüler – sogar in Deutsch

Tatsächlich zieht Delius hier, aller Fragmenthaftigkeit zum Trotz (das Leben besteht ja eh aus Bruchstücken), eine biographische und vielfach auch literarische Bilanz (wer will das bei ihm voneinander trennen?), die durch das Auswahlprinzip kleinteilig, kurzweilig und kristallin funkelnd geraten ist. Ein Leitsatz dazu stammt von Annie Ernaux, derzufolge es keine zweitrangigen Erlebnisse gibt. Man muss sie halt „nur“ zu schildern wissen. Bei Rilke wiederum holte sich Delius ein ergänzendes Motto, das da sinngemäß heißt, bloße Erinnerung reiche nicht aus, es müsse ein Gärungsprozess hinzukommen. Delius war stets klug und vorsichtig genug, derlei Entwicklungen abzuwarten, bevor er geschrieben hat. Gleichwohl haben seine Prosa und die Gedichte auch einen entschieden spontanen, erfrischenden Anteil.

Unter dem Zensuren-Schlagwort „Ausreichend“ berichtet Delius, dass er – selbst im Fach Deutsch – ein erbärmlich schlechter Schüler gewesen sei und lange Zeit heftig gestottert habe. Auch mit sportlichen oder musikalischen Taten habe er die Defizite bei weitem nicht ausgleichen können. Drum hat er oft lieber geschwiegen und sich den sprachlichen Innenwelten zugewandt. Gut denkbar, dass „1968″ mit seinen Vorläufern (Delius bezeichnete sich lieber als „66er“) für ihn als Befreiung gerade recht kam. Später hat er sich couragiert in mancherlei Debatten eingemischt und Reden vor hunderten Zuhörern gehalten. Erstaunlich genug und Hoffnung für viele verheißend.

Als sich Autoren ums „richtige“ Schreiben prügelten

Eine gewisse Schüchternheit muss dennoch nachgewirkt haben, hat er doch nach eigenem Bekunden eher befremdet und etwas ängstlich verfolgt, wie sich Autorenkollegen in den zuweilen so rigorosen Meinungskämpfen der 1970er Jahre über die richtige Art des Schreibens lauthals gestritten haben. Nach langem, immer wieder an der Beleidigungsgrenze fortgesetztem Disput, hatte sich zwischen Yaak Karsunke und Hans Christoph Buch so viel Wut aufgestaut, dass sich diese beiden Schriftsteller um die wahre Lehre geprügelt haben. Ja, auch solche anekdotisch getönten Innenansichten aus dem Literaturbetrieb zumal der 60er bis 80er Jahre enthält dieses Buch reichlich. Somit ist es eine Zeugenschafts-Quelle ersten Ranges.

Und wen hat er nicht alles gekannt! Mehr oder weniger alle wichtigen Protagonisten der Nachkriegsliteratur seit den Tagen der „Gruppe 47″, auch war er ein Wanderer und Mittler zwischen dem östlichen und dem westlichen Deutschland. Hier kommt er abermals auf seinen zermürbenden und kostspieligen juristischen Streit mit dem Siemens-Konzern (über das Buch „Unsere Siemens-Welt“) zurück; zudem greift er noch einmal die bewegten Verlagsjahre als Lektor bei Wagenbach auf, wo harsche ideologische Frontstellungen (vor allem die Haltung zum RAF-Terrorismus betreffend) zur Spaltung und zur Gründung des Rotbuch-Verlages führten, wo sogleich Peter Schneiders exemplarische Erzählung „Lenz“ Furore machte. Schneider forderte – sicherlich auch in Delius‘ Sinn – im literarischen Gewand mehr lebendige Dimensionen von den „Achtundsechzigern“ ein, die übers rein Politische hinausweisen sollten. Eine Diskussion, die damals praktisch alle linken Gemüter bewegte, sofern sie nicht in Rechthaberei erstarrt waren.

Ein undogmatischer Linker, dessen Stimme fehlt

Mit Klaus Wagenbach hat sich Delius nie wieder so richtig aussöhnen können, obwohl er es „beim Italiener“ versucht hat. Aber dazu hätten zwei gehört. F. C. Delius war ein durch und durch undogmatischer, geistig beweglicher Linker, dem die Orthodoxie vieler Richtungen und Splittergruppen fremd war. Gerade in den heutigen Zeiten vermisst man eine solche Stimme schmerzlich. Auch in diesem Buch benennt er das ein- und nachdrückliche Festhalten von Augenblicken als Wesen der Literatur, statt dass sie Gesinnungsprosa gleich welcher Couleur liefere.

Das Buch ist eine Fundgrube, so recht zum Stöbern, auch hin und her, vorwärts und rückwärts ist es lesbar, immer mit Gewinn. Gar manche Erfahrung lässt sich nur zu gut nachvollziehen, so etwa unterm Stichwort „Ahnung“ Delius‘ vage Frühzeit-Erinnerung an die Sechsjährige mit Erstklässler-Schulranzen, in die er sich als Fünfjähriger „verguckt“ hat. Bemerkenswert die ängstliche Regung des längst arrivierten Autors, vom hellsichtigen Großdenker Alexander (mit A) Kluge als „mittelmäßig“ durchschaut zu werden. Auch der einstige „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki kommt vor. Wohl kein Kritiker seiner Generation habe mit seinen Urteilen so oft danebengelegen wie MRR. Dennoch zollt Delius ihm milden Respekt. Auch seine Kritik am Kultautor Rolf Dieter Brinkmann hat etwas für sich. Über Brinkmanns „Rom, Blicke“ heißt es: „…teils geniale, teils banale Tiraden, aber sein Hass, seine Ego-Sicht machen ihn blind für die Widersprüche der Stadt und ihrer Bewohner…“

Was die junge Japanerin filmen wollte

Und dann ist da noch die Story unter dem Etikett „Ärsche“ – mit den beiden jungen Frauen, darunter eine Japanerin, die ihn und einen Freund 1967 in London bei einem Rockkonzert angesprochen haben, weil sie ihrer beider nackte Hinterteile filmen wollten. Holla! Nach etwas Hin und Her lehnten die Deutschen ab. Später erfuhren sie, dass es sich bei der Asiatin um die seinerzeit noch nicht so bekannte Yoko Ono handelte, die wahrhaftig zu ihrem Karrierestart einen solchen Film gedreht hat. Delius fragt sich nachträglich: Wäre die Rockgeschichte anders verlaufen, wenn sie zugesagt hätten? Hätte Yoko Ono dann eventuell John Lennon nicht oder erst später kennengelernt? Delius‘ Freund galt schließlich als ausgemachter Womanizer. Dabei kann man anderswo nachlesen, dass John und Yoko sich zum fraglichen Zeitpunkt bereits gekannt haben. Egal. Trotzdem eine nette Was-wäre-wenn-Geschichte.

So weit ein paar willkürlich gewählte Beispiele. Den ganzen großen „Rest“ möge jede(r) für sich erschließen. Bliebe lediglich noch zu klären, warum das Buch so heißt, wie es heißt: „Darling, it’s Dilius“ war der Ausruf mit angloamerikanischem Zungenschlag am anderen Ende der Leitung, wenn Delius bestimmte Freunde in den USA angerufen hat. Auch eine hübsche Idee, daraus den Titel zu basteln.

Friedrich Christian Delius: „Darling, it’s Dilius!“ Erinnerungen mit großem A. Rowohlt Berlin, 320 Seiten. 24 Euro.

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Gewissermaßen eine Vorläufer-Publikation war der 2012 erschienene Delius-Band „Als die Bücher noch geholfen haben“ – unsere damalige Besprechung findet sich hier.




„Apokalypse Afrika“: Auf Dauer ratlos

Diese Lektüre bringt einen ins Schlingern. Manchmal weiß man gar nicht mehr, in welchem Land Afrikas man sich gerade befindet, so sehr schwirrt einem der Kopf vom beschriebenem Chaos. Tatsächlich sind ja vielfach die staatlichen Strukturen fast gänzlich zerstört.

Hans Christoph Buchs neuer Band „Apokalypse Afrika“ setzt u. a. in hochkolonialistischer Zeit an und protokolliert mehrmals mit zeitgenössischen Berichts-Fragmenten die Kongo-Konferenz, die 1884/85 in Berlin stattgefunden hat. Die Europäer hielten sich damals einiges darauf zugute, dass sie der offenen Sklaverei und dem „Negerhandel“ abschworen. Nach außen hin nüchtern und rational, in pathetischen Momenten gar nahezu karitativ, doch in Wahrheit zutiefst gierig, suchten sie hier ihre Interessen-Sphären und Handelszonen aufzuteilen, wobei manche Passage so klingt, als sei damals vor allem Portugal von den anderen Mächten „gemobbt“ worden. Das ist aus heutiger Sicht allerdings zweitrangig, wurden doch hier die bis in unsere Zeit nachwirkenden Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Kontinent nicht zur Ruhe kam, weil zahllose Statthalterkriege angezettelt wurden. Doch zur Saat des Kolonialismus kam noch etwas Ungutes, letztlich Unbenennbares hinzu, wie Hans Christoph Buch findet. Auch seine Texte können und wollen keine Klarheit schaffen.

Der einleitende Text des Bandes bezieht sich auf ein Ereignis des Jahres 1816, das schon auf künftige Katastrophen vorausdeutet. Das (von Théodore Géricault auf einem berühmten Bild gemalte) „Floß der Medusa“ steht nicht nur für schlimmsten Schiffbruch, sondern für kannibalistische Entgrenzung in napoleonischer Zeit, als Frankreich sich anschickte, Senegal zu unterwerfen.

Die vielleicht bizarrste Geschichte handelt von jener „Hottentotten-Venus“, die in London und Paris als Weltwunder gegen Geld vorgezeigt und mit abgründigen sexuellen Phantasien besetzt wurde. Die Historie zwischen Europa und Afrika, so ahnt man, ist weitaus mehr als politisches Kalkül, sie ist durchaus pathologisch, wahn- und körperhaft geprägt.

Zeitsprung: Als Groteske der etwas milderen Observanz erweist sich Horst Köhlers bundespräsidiale Goodwill-Tournee durch afrikanische Länder. Hans Christoph Buch gehörte seinerzeit zur Entourage. Hier feiern rundum alle Klischees vom „Schwarzen Kontinent“ Urständ – vom Operettenstaat bis zur immerwährenden Tanzwütigkeit der „Eingeborenen“. Alles nur Kulissenschieberei, in der auf kläglichste Weise „Politik“ inszeniert wird. Kein Wunder, dass etwa der eine oder andere journalistische Beobachter die Restbestände seines Bewusstseins mit Sex und Suff betäubt.

Weitere Passagen des Buches dringen bis in lebensgefährliche Bereiche des jetzigen Afrika vor. Die Hölle auf Erden, mit nur allzu bekannten Stichworten: Marodierende Banden, Kindersoldaten; Bürgerkriege, in denen Hunderttausende Menschen viehisch abgeschlachtet werden; Diktatoren, die ihre Völker bis aufs Blut ausbeuten. Als Hans Christoph Buch eine Gewaltszene mit eigenen Augen sieht, blättert auch bei ihm der Lack der Zivilisation ab, wie er erschütternd ehrlich eingesteht: „Beim Anblick des an die Kehle gesetzten Messers geriet ich in unkontrollierte Erregung, die sich zu sadistischer Lust steigerte, als sein Blut zu fließen begann – am liebsten hätte ich mich an seiner Folterung beteiligt…“ Dabei hatte er sich offiziell für die Freilassung des Bedrohten eingesetzt. Welche Kräfte sind da am Werk, wenn ein politisch absolut unverdächtiger Mann wie Buch, der mit dem kolossalen Thema Afrika nicht fertig werden kann und mag, derart an sich irre wird? Wo ist links, rechts, oben und unten?

Dies alles lesend, kann man wahrlich verzweifeln. Hoffnungsschimmer sind ach so gering, wenn überhaupt vorhanden. Puritanisch gewendet, fragt es sich gar, ob just dieser Band in der bibliophilen Edition „Die andere Bibliothek“ hat erscheinen müssen, oder ob ihm nicht Schmucklosigkeit besser angestanden hätte.

Solche monströsen Themen lassen sich jedenfalls kaum stilistisch „bändigen“, sie bleiben buchstäblich so fassungslos wie in diesem Falle Autor und Leser. Hans Christoph Buch arrangiert und collagiert die geradezu surrealen Partikel der schrecklichen Wirklichkeit nach Kräften, doch sie zerrinnen ihm gleichsam unter den Händen, von Ordnung kann hier eben keine Rede sein. Jede gefälligere Zurichtung des Stoffes wäre wohl infam gewesen. Buchs persönlicher Zugang bringt allemal mehr Ertrag als noch so klug und scheinbar schlüssig formulierte Ferndiagnosen. Und so lässt „Apokalypse Afrika“ einen am Ende ratlos zurück; ganz so, wie es die bittere Wirklichkeit vermag.

Hans Christoph Buch: „Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern“. Eichborn Verlag / Die andere Bibliothek, 252 Seiten, 29 Euro.




VS-Kongreß mit erbitterten Grabenkämpfen – bedenkliche Fraktionsbildung in Berlin

Von Bernd Berke

Berlin. Sekunden, nachdem Wahlkommissionsleiter Josef Reding (Dortmund) verkündet hatte, daß Hans-Peter Bleuel erneut zum Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Schriftsteiler (VS) gewählt sei, stürmte am frühen Samstagabend Berlins VS-Vorsitzender Hans Christoph Buch ans Mikrofon: „Meine Berufsehre als Schriftsteiler erlaubt es mir nicht, noch länger Mitglied in diesem Verband zu bleiben!“

Ihm auf dem Fuße folgten Hans Christian Kirsch, Vorsitzender des Landesbezirks Rheinland-Pfalz, der sein Amt zur Verfügung stellte, und Karin Struck, die in äußerster Verbitterung ihren Austritt aus dem VS erwog. Beginn einer von vielen befürchteten neuen Austrittswelle? Der Anfang vom Ende des VS?

Am gestrigen Schlußtag des Kongresses blieben alle Berliner Delegierten einschließlich Bleuels unterlegener Gegenkandidatin Anna Jonas, der Versammlung fern. Schlechter Stil, wahrlich.

Die Berliner „Rebellen“ und ihre Anhänger (im nichtstimmberechtigten Autoren-Publikum weitaus zahlreicher vertreten als unter den Delegierten) konnten die redlich, aber blaß wirkende Anna Jonas nicht gegen Bleuels stramme Fraktion durchsetzen. Nicht einmal mehr den sprichwörtlichen Fuß haben die Opponenten in der Vorstandstür, denn Ex-DDR-Autor Erich Loest lehnte es strikt ab, dem Gremium ein weiteres Mal unter Bleuels Vorsitz anzugehören.

Neben den Stellvertretern Max von der Grün und Jochen Kelter gehören dem neuen Vorstand als Beisitzer an: Gert von Paczensky, Lenelotte von Bodmer, Wolf Peter Schnetz und Angela Hoffmann – eher ein Funktionärs- als ein AutorenVorstand, sagen die Kritiker.

Bleuel wankte, aber er fiel nicht. Der Mann, dem niemand routinierte Könnerschaft in gewerkschaftlicher Kleinarbeit bestreiten kann, der aber besonders in Fragen des Ost-West-Verhältnisses nicht immer instinktsicher handelte und mit seinem bisherigen Vorstand nicht zurechtkam, saß alle Angriffe gegen seine Amtsführung aus. Auf seine Gefolgschaft, besonders aus Bayern, konnte er sich einmal mehr verlassen.

Literarischer Verein oder Gewerkschaft?

Einig waren sich wohl alle Kongreßteilnehmer in der Bestürzung über das Niveu der vorangegangenen Auseinandersetzungeii. Martin Walsers Worte von der „fraktionierten Lächerlichkeit“, von den Fraktionen, die offenbar die Phantasie völlig verdrängt hätten, bezogen sich auf die von zahlreichen Tiefschlägen begleiteten Debatten (Bleuel wurde gar Organisations-Stalinismus vorgeworfen). Auch Max von der Grün befand: Das Niveau einer Sitzung in seinem Dortmunder Vorort-Verein sei höher als das dieses Schriftsteller-Kongresses.

Zwei panische Versuche, Bleuel in letzter Minute doch noch einen literarisch hochrenommierten Integrationskandidaten entgegenzusetzen, scheiterten kläglich. Martin Walser, als Notkandidat gegen drohende Spaltungstendenzen „aus dem Hut gezaubert“, hatte zu diesem Zeitpunkt (kurz nach seiner besagten Rede) den Kongreß bereits mit unbekanntem Ziel verlassen. Und: Trotz des tosenden Beifalls, der sie zum Podium begleitete und sie wohl zu einer Kandidatur bewegen sollte, mochte sich Ingeborg Drewitz, 1984 von der Fraktion um Bleuel und Bemt Engelmann ausgebootet, nicht noch einmal derart düpieren lassen. Schließlich fand Angela Hoffmanns Versuch, eine Art „Frauenliste“ zu präsentieren („Mindestens 50 Prozent Frauen in den Vorstand!“) bei den 46 Delegierten keine Mehrheit.

Karin Struck, die neben Ingeborg Drewitz und Anna Jonas auf dieser Frauenliste hätte stehen sollen, hatte zuvor noch einmal ein Hauptthema des Kongresses zur Sprache gebracht: die nach ihrer Ansicht unter literarisch-ästhetischen Gesichtspunkten gänzlich unterbelichtete Zusammensetzung der Verbandsspitze. Sie, Karin Struck, habe nichts gegen Sachbuchautoren, aber: „Die Poesie ist das Herz der Literatur. Darum muß einPoet an die Spitze.“ Die bisher praktizierte Art von politischem Schulterschluß zerstöre jedoch jede Poesie und treibe alle sensiblen Autoren aus dem Verband. Dem hielt Bernt Engelmann entgegen: „Wir sind kein literarischer Verein, sondern eine Gewerkschaft!“

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Kommentar

Schriftstellerverband vor Austrittswelle

Schwerer Schaden

Der Verband Deutscher Schriftsteller (VS), gegründet 1969, ist „im Jahre 1 nach Böll“ in der größten Gefahr seit seinem Bestehen. Auf dem Berliner Schriftsteller-Kongreß waren weit und breit keine literarisch renommierten Kandidaten oder Kandidatinnen in Sicht, die die mühselige Kleinarbeit der längst fälligen Integration streitender Fraktionen auf sich nehmen wollten.

Unerbittlich wie nie zuvor stehen sie sich gegenüber: Hie Hans-Peter Bleuel, alter und neuer Bundesvorsifzender samt Gefolge, aus taktischen Erwägungen oft zu problematischen Kompromissen mit DDR-Sprachregelungen neirgend, dort die Sympathisanten des Berliner Landesbezirks, der – nicht zuletzt durch den Zustrom ehemaliger DDR-Autoren – in Menschenrechtsfragen sensibler geworden ist.

Da Baleuels Linie nunmehr für weitere drei Jahre das Feld überlassen bleibt, ist eine weitere Austrittswelle zu befürchten, die der Verband nicht ohne schweren Schaden verkraften wird.

In der angestrebten Medien-Gewerkschaft wird das Gewicht der rund 2400 VS-Autoren nicht nur nach ihrer relativ geringen Zahl, sondern vielleicht noch mehr nach bekannten Namen bemessen werden. Das Austritts-Alphabet reicht aber jetzt schon von Achternbusch bis Zwerenz. Und es ist noch keineswegs ausgemacht, ob Günter Grass, der wegen einer Auslandsreise dem Kongreß fernblieb, noch im VS bleiben wird. Wenn aber die Interessenvertretung der Autoren dermaßen geschwächt, ja gespalten wird, so kann-dies niemandem gleichgültig sein, , dem an der literarischen Kultur dieses Landes liegt.

                                                                                                                       Bernd Berke

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Max von der Grün: Ärger mit der Frau

(bke) Max von der Grün, bekannter Dortmunder Schriftsteller, wurde am Wochenende in Berlin zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden des Verbands Deutscher Schriftsteller (VS) gewählt (siehe auch Bericht auf Seite Kultur).

Von der Grün, der auf Drängen des NRW-Landesbezirks überraschend kandidierte und der einzige prominente Autor im neuen VS-Bundesvorstand ist, gestern in Berlin zur WR: „Jetzt werd‘ ich sicher Ärger mit meiner Frau bekommen, denn das Amt kostet sehr viel Zeit.“

Der Autor, der im Mai 60 Jahre alt wird, war von Kollegen gar gebeten worden, für den Bundesvorsitz zu kandidieren, was er jedoch ablehnte. Von der Grün: „Wenn ich in dieser Eigenschaft bei einem Ministerium hätte vorsprechen müssen, hätte ich eine Allergie bekommen.“ Von der Grün präsidierte gestern erstmals dem Bundeskongreß und hatte dabei noch kleine Probleme mit komplizierten Satzungs- und Geschäftsordnungsverfahren. Schon vor seiner Wahl hatte er allerdings gesagt: „Ich bin auch in meinem jetzigen Alter noch lernfähig.“




Wiederwahl von Bleuel kann eine Austrittswelle auslösen – Beim Schriftsteller-Kongreß in Berlin knistert es hörbar

Von Bernd Berke

Berlin. Die Berliner „Rebellen“ im Verband Deutscher Schriftsteller (VS) haben den VS-Bundesvorsitzenden Hans-Peter Bleuel offenbar aus dem Tritt gebracht. Noch immer ist nicht klar, ob Bleuel auf dem Schriftsteller-Kongreß, der gestern in Berlin begann, wieder für dieses Amt kandidiert.

Bleuel gestern zur WR: „Ich warte erst die Aussprache über die Geschäftsberichte ab.“ Diese Aussprache aber findet, vor den mit Spannung erwarteten Vorstands-Neuwahlen, erst am heutigen Samstag statt. Schon zu Kongreß-Auftakt knisterte es hörbar. Bleuel schalt in seinem Geschäftsund Tätigkeitsbericht die „selbstgefälligen Untätigkeitsberichte“ mehrerer Vorstandskollegen und griff dabei vor allem den Ex-DDR-Autor Erich Loest an, der wiederum in seinem Bericht gegen Bleuel vom Leder zog.

Bleuel beschränkte sich ansonsten darauf, seine mühselige Kleinarbeit als „bescheidener Praktiker“ in tarifpolitischen Fragen herauszustreichen, nahm aber immerhin den Berliner VS-Landesbezirk gegen Vorwürfe aus der Sowjetunion in Schutz – freilich nicht ohne einige Seitenhiebe gegen dessen Vorsitzenden Hans-Christoph Buch. Dieser wiederum zitierte in einem kurzen Grußwort „zahlreiche Nachwuchsautoren“, die dem VS erst gar nicht mehr beitreten wollten und wünschte sich – einen sprachlich mißglückten Bleuel-Satz süffisant zitierend – einen „arbeitenderen Bundesvorstand“ als den jetzigen.

Der Kongreß birgt in der Tat reichlich Zündstoff. Auf einen quasi sportlichen Nenner gebracht hieße die Paarung also Berlin gegen Bayern (samt jeweiligen Gefolge in den anderen Landesverbänden). Doch das „Heimspiel“ der Berliner „Rebellen“ (im Rathaus Schöneberg) hat ernste Hintergründe. Sollte der Münchner VS-Vorsitzende Hans-Peter Bleuel tatsächlich kandidieren und mehr Delegiertenstimmen bekommen als die Berliner Gegenkandidatin Anna Jonas, droht wohl eine weitere Austrittswelle, droht vielleicht sogar die Spaltung der Organisation. Auch für den umgekehrten Fall stehen vermutlich langwierige Querelen ins Haus.

Bereitwillig auf offizielle DDR-Positionen eingelassen

Woher aber jetzt noch die dringend benötigten Kompromisse nehmen? Die Vorstands-Unsitte, sich aus taktisch friedenspolitischen Erwägungen allzu bereitwillig auf offizielle DDR-Positionen einzulassen, hat unter dem Ex-Vorsitzenden Bernt Engelmann hohe, unter Bleuel immerhin noch sichtbare Wellen geschlagen. In letzter Zeit haben die Berliner Opponenten um Hans Christoph Buch, Anna Jonas und Günter Grass einen weiteren Schauplatz der Auseinandersetzungen eröffnet. Es dreht sich dabei um die Frage, ob der VS nur rein gewerkschaftliche Interessenvertretung oder auch eine literarische Größe zu sein habe. Die Berliner, mehrheitlich Belletristen, sehen sich von, wie sie ihn abwertend nennen, dem „Sachbuchautor“ Bleuel samt Anhang nicht repräsentiert. Hans-Christoph Buch verstieg sich gar zu dem beinahe wendeverdächtigen Geraune von dichterischen „Genies“, die endlich wieder zu Ehren kommen müßten.

Kühlere Köpfe bewahrten im Vorfeld des Kongreßes Erich Loest, der gewerkschaftliche und literarische Arbeit gleichrangig behandelt sehen will, und F. C. Delius, der das vielzitierte Böll-Wort von der nötigen „Einigkeit der Einzelgänger“ aufgriff, die jedoch keine Parteigänger werden dürften. Gemeinsam für den Erhalt und Ausbau der Rechte zu sorgen, sich aber weder eine politische noch eine literarische Linie vorschreiben zu lassen – selbst diese Formel dürfte nicht unbedingt konsensfähig sein.