Alfried Krupp auf der Bühne: Heinrich Marschners Bergbau-Oper „Hans Heiling“ als Ruhrgebiets-Familienstory in Essen

Zechenschließungen drohen und Hans Heiling (Heiko Trinsinger) liebt ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu. Foto: Thilo Beu

Zechenschließungen drohen und Hans Heiling (Heiko Trinsinger) liebt ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu. Foto: Thilo Beu

Die Schätze, die schliefen in ewiger Nacht, fördern die Erdgeister in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ ans Licht – den Menschen zum „Heil und Verderben“. Das „schwarze Gold“, das dem Ruhrgebiet fast 200 Jahre lang Reichtum und Elend gebracht hat, versiegt in diesem Jahr: Mit Prosper-Haniel in Bottrop schließt am 21. Dezember 2018 die letzte Steinkohlenzeche. So lag es für das Aalto-Theater nahe, sich mit Marschners romantischer Oper an den vielfältigen Aktivitäten rund um das Ende dieser Ära zu beteiligen.

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Marschner wusste, worüber er Musik schrieb; er erinnerte sich wohl an die Braunkohlenförderung rund um seine Heimatstadt Zittau und den traditionsreichen Bergbau im benachbarten Gebirge.

Regisseur Andreas Baesler und sein Bühnenbildner Harald B. Thor knüpfen daran an: Sie rücken die böhmische Sage vom designierten König der Erdgeister, der auf die Erde flieht, um menschliche Liebe zu erlangen und dabei scheitert, eng an eine Geschichte aus dem Ruhrgebiet. Und decken verblüffende Parallelen auf: Hans Heiling wird zu Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, die Königin der Erdgeister schreitet als perlenbehangene Mutterfigur Bertha Krupp umher.

Zwei gescheiterte Verbindungen

Der Konflikt erinnert an die Heirat Alfrieds mit der geschiedenen Anneliese Lampert im Jahr 1937. Sie mag den Krupp-Erben glücklich gemacht haben, war aber eine Ehe gegen den Willen seiner Eltern. Nach drei Jahren trennte er sich – wohl auf Betreiben der Mutter – von Frau und Sohn, übernahm die Firma, führte aber ein zurückgezogenes, innerlich einsames Leben.

Hans Heiling muss entsetzt erkennen, wie seine mit „rasendem Verlangen“ geliebte Anna ihrem unheimlichen Bräutigam aus einer anderen Sphäre immer fremder wird, sich in der Gesellschaft der einfachen Leute wohler fühlt und schließlich (ihre wahren Gefühle erkennend und unter dem Einfluss der Geisterkönigin und ihres dämonischen Gefolges) Konrad heiratet, einen einfachen Mann aus ihrer Schicht.

Die herrschaftliche Sphäre der Villa Hügel als Reich der Erdgeister, in dem die Königin (Rebecca Teem) ihren Sohn Hans Heiling (Heiko Trinsinger) vom Weg in der Menschenwelt abhalten will. Foto: Thilo Beu

Die herrschaftliche Sphäre der Villa Hügel als Reich der Erdgeister, in dem die Königin (Rebecca Teem) ihren Sohn Hans Heiling (Heiko Trinsinger) vom Weg in der Menschenwelt abhalten will. Foto: Thilo Beu

Bis ins Detail arbeitet das Produktionsteam die Gleichsetzung durch: Gabriele Heimann lässt sich von dem bekannten Familienporträt der Krupps zu nobel-dezenter Nachkriegsmode inspirieren. Der Chor trägt das Gewirk einfacher Leute aus den sechziger Jahren, als sich die Zechenstilllegungen ankündigten, aber in dem im Bild zitierten Essener „Blumenhof“ bei Tanztee und Schnitzeltag das gesellschaftliche Leben florierte.

Der gewaltige vertäfelte Saal der Villa Hügel kontrastiert mit der beengten Stube mit Bett, Kohleherd und Schwarz-Weiß-Fernseher, in der Witwe Gertrud die Rückkehr ihrer Tochter Anna bei nächtlichem Sturm erwartet. Gefeiert wird in einem hohen, schmutzigweißen Raum, wie einst auf großen Zechen als Lohnhallen oder Waschkauen zu finden. Dort spielt auch das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen in schönsten Bergmannsuniformen das Glückauf-Lied.

Das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen wirkt auf der Aalto-Bühne mit. Foto: Thilo Beu

Das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen wirkt auf der Aalto-Bühne mit. Foto: Thilo Beu

Popularmythen des Potts strapaziert

Couleur locale also allenthalben, liebevoll entworfen. Das geht immerhin über die bloße Äußerlichkeit hinaus, wie sie 2008 in Essen in Wagners „Tannhäuser“ von Hans Neuenfels und Reinhard von der Thannen bemüht wurde. Lästig wird’s dann aber, wenn Hans-Günter Papirnik langwierige Dialoge in breiten Ruhri-Slang überträgt und von der Brieftaube bis zum Karnickel alle Popularmythen des Potts bemüht. Zur Sinnfindung tragen derlei biedere Anleihen, wie wir sie aus missglückten Operettenabenden kennen, nichts bei.

Unheimliche Heimeligkeit: Die Wohnung von Annas Mutter Gertrud erinnert an die Verhältnisse im Ruhrgebiet in den Sechziger Jahren. Foto: Thilo Beu

Unheimliche Heimeligkeit: Die Wohnung von Annas Mutter Gertrud erinnert an die Verhältnisse im Ruhrgebiet in den Sechziger Jahren. Foto: Thilo Beu

Auch im ehrgeizig gedachten dramaturgischen Ausbau knirschen die Stempel. Die Bergleute-Metapher funktioniert noch einigermaßen: Unter Tage sind die Arbeiter mit Helm und Grubenlampe die Geister, die ihren König zurückhalten wollen und deshalb gegen die Verbindung mit einem Menschen opponieren. Oben demonstrieren sie mit Spruchband und Schildern gegen Stilllegungen und damit gegen den Krupp-Heiling aus der Oberschicht.

Grenzen der soziologischen Sicht

Aber wenn Anna in der neusachlichen Sechziger-Jahre-Villa ihres noblen Bräutigams im „Zauberbuch“ blättert und maßlos erschrecken soll, aber nur die Vorhänge wehen wie in einem schlechten Gruselfilm; wenn in der von Marschner genial konzipierten Arie „An jenem Tag“ Hans Heiling plötzlich in türkisgrünes Licht getaucht ist, wenn im nächtlichen Park rotes Hilfslicht die Erscheinung der „Geister“ beglaubigen soll, ist sichtbar, wie das Konzept Baeslers an seine Grenzen kommt. Der Konflikt erschöpft sich eben nicht in der Klassen-Herkunft seiner Protagonisten, lässt sich soziologisch nur oberflächlich beschreiben. Eher wäre danach gefragt, die Konstellationen psychologisch zu erschließen oder die romantische Doppelnatur eines Hans Heiling überzeugend zu dechiffrieren.

Noch eins ist schade: Die bemühte Verortung in der Region rückt Marschners allzu selten gespielte Oper in die Ecke einer Ausgrabung, die man gerade mal aus passendem Anlass auf den Spielplan setzen kann. Mitnichten: Schon in den siebziger Jahren haben Aufführungen in Frankfurt, Zürich oder Bielefeld die innovativen musikalischen Errungenschaften Marschners und die dramatische Qualität des Librettos von Eduard Devrient erwiesen. Dass „Hans Heiling“ auf der Bühne selten zu erleben ist – zuletzt am Theater an der Wien und in Regensburg – spricht nicht gegen die Oper, sondern eher gegen routinierte Spielplan-Bastler.

Der Dirigent der Premiere von "Hans Heiling", Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Der Dirigent der Premiere von „Hans Heiling“, Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Frank Beermann und die Essener Philharmoniker machen die Qualität der Musik hörbar – und lassen nebenher erfahren, wie ungeniert sich etwa der Bayreuther Meister Richard Wagner bei Marschner bedient hat, dessen Oper er 1833 brandneu in Würzburg mit einstudiert und den er später in seinen Schriften höhnisch niedergemacht hat.

Dirigent Beermann setzt auf eine aufgehellte, vor allem zu Beginn im Tempo etwas zu rasche Lesart, auf brillant-durchsichtige Bläser und schlanke, manchmal zu wenig betonte Streicher. Aber in Szenen wie dem unerhört expressiven Melodram der Gertrud, in den bedeutenden Arien von Heiling und Anna oder in den auffallend großräumig konzipierten Finali kehrt er die vielgestaltige und farbenreiche Musik heraus und zeigt, dass sich Marschner vor Zeitgenossen nicht verstecken muss.

Bedauerlich, dass der spätere Hannoveraner Hofkapellmeister nie wieder ein so zündendes Libretto gefunden hat: In späteren Jahren beklagt er sich bitter über die Qualität der Opern-„Dichtungen“. Aber über die Qualitäten seiner Musik lässt sich nichts aussagen. Opern wie „Des Falkners Braut“, „Das Schloss am Ätna“ oder „Der Bäbu“ kennt einfach kein Mensch mehr, und die Forschung ist über tradierte Allgemeinplätze auch kaum hinausgekommen.

Bewährtes Ensemble im Einsatz

Das Aalto-Theater setzt bei den Sängern auf sein bewährtes Ensemble und fährt in den meisten Partien gut damit. Heiko Trinsinger fügt mit „Hans Heiling“ seinem breiten Repertoire – das etwa auch Marschners „Vampyr“ umfasst – eine weitere wichtige Bariton-Rolle hinzu. Wirkt die fordernde Höhe anfangs noch etwas erzwungen und fest, steigert sich Trinsinger in der früher noch in Wunschkonzerten und Arienabenden beliebten große Szene „An jenem Tag“ überzeugend, befeuert den brennend schmachtenden Ton des rasend Verliebten, verliert sich in seine Rachefantasien, falls Anna – was später ja auch geschieht – ihm die Treue bräche. Als Darsteller bleibt er in der steifen Rolle des Außenseiters in allen Welten; am Ende bricht er als Entwurzelter zusammen und löst eine Sprengung aus: Im Hintergrund fliegt in historisierendem Schwarz-Weiß ein Zechengebäude in die Luft, stürzen Fördergerüste ein – eine Projektion, die Heilings innere Katastrophe nachzeichnet: Den Wunsch, diese Welt hinter sich zu lassen, die ihm kein Heil, aber bitteres Verderben brachte.

Psychologisches Meisterstück in der Musik

Oft unterschätzt wird die Figur der Anna, die Jessica Muirhead vor Soubretten-Putzigkeit bewahrt. Die Rolle entwickelt sich vom leichten Tonfall der jungen, noch recht naiven Tochter zu den dramatischen Linien einer jungen Frau, die sich und ihrer wahren Gefühle bewusst wird. In der Stimme beglaubigt Muirhead diesen Weg in leuchtendem Ton, in der Gestaltung der Rolle lässt sie die Regie in diesem Punkt eher im Stich. Auch Bettina Ranch als Gertrud erfasst das Spektrum der Figur zwischen den angedeutet buffonesken Zügen der Mutter, die ihrer Tochter die reiche Partie zuschanzen will, und des im Melodram vom Unbewussten ins Erkennen wandernden Schrecken – ein stimmlich einfühlsam nachgezeichnetes psychologisches Meisterstück in Marschners Musik.

Jeffrey Dowd ist über den Konrad längst hinaus: Statt seines reifen Tenors, dem in der Höhe Glanz und Frische fehlt, bräuchte es ein jugendliches Timbre für den Liebhaber und Retter Annas. Rebecca Teem orgelt als Königin der Erdgeister nach schlechter Wagner-Manier – das bedeutet flackernde, bisweilen gewaltsame Tonemission, und eine monochrome tour de force. Teem ist freilich nicht die einzige Sängerin, die mit dieser Partie ihre Probleme hat: Den Typ des dramatischen, aber schlank-beweglichen Soprans mit strahlender Höhe, wie ihn etwa auch Rezia in Webers „Oberon“ fordert, gibt es kaum mehr. Karel Martin Ludvik und Hans-Günter Papirnik stehen ihren Mann an der Seite des forschen Konrad.

Der Opernchor des Aalto-Theaters wirkt in der Szene der Erdgeister anfangs noch dünn und inhomogen – liegt das an der breiten Aufstellung im Hintergrund? –, findet aber schnell seine bewährte Form, für die Jens Bingert als Chordirektor in allen Stilformen einsteht.

Heinrich Marschners Oper „Hans Heiling“ steht bis Juni auf dem Spielplan in Essen. Am 10. März um 19.05 Uhr wird die Aufzeichnung aus dem Aalto-Theater auf Deutschlandradio Kultur übertragen, am 1. April um 20.04 Uhr auf WDR 3. Eine CD-Aufnahme ist geplant.




Schürfen im Schoß der Erde: Interview mit dem Dirigenten Frank Beermann zur Premiere von „Hans Heiling“ in Essen

Am 24. Februar hat am Aalto-Theater in Essen die Oper „Hans Heiling“ Premiere. Mit dieser Rarität leistet das Essener Musiktheater seinen Beitrag zu den Veranstaltungen rund um den „Abschied von der Kohle“, dem Ende der Steinkohleförderung in Deutschland. Im Interview mit Werner Häußner wirft der Dirigent der Neuproduktion, Frank Beermann, einen Blick auf die Musik von Heinrich Marschner.

Der Dirigent der Premiere von "Hans Heiling", Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Der Dirigent der Premiere von „Hans Heiling“, Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

In Marschners Oper spielt der Bergbau, das Schürfen der Schätze im Schoß der Erde, eine Rolle als Rahmen der Handlung. Der König der Erdgeister, Hans Heiling, verlässt gegen den Willen seiner Mutter sein unterirdisches Reich, um auf der Erde unter einfachen Menschen wahre Liebe zu finden. Dafür muss er auf seine magischen Kräfte verzichten. Doch das Glück währt nicht lange …

Der 1795 in Zittau geborene und 1861 als pensionierter Hofkapellmeister in Hannover gestorbene Komponist wurde lange nur noch als „Bindeglied“ zwischen Carl Maria und Weber und Richard Wagner wahrgenommen, während in den 1830er Jahren als führender deutscher Opernkomponist galt.

Mit „Der Vampyr“ gelang Marschner 1828 ein sensationeller Erfolg, den er 1833 mit „Hans Heiling“ noch steigern konnte. Die dritte unter seinen beliebtesten Opern, „Der Templer und die Jüdin“ nach Sir Walter Scotts „Ivanhoe“, 1829 uraufgeführt, wurde von den Nationalsozialisten in Deutschland unterdrückt und nach dem Zweiten Weltkrieg – auch aufgrund der desolaten Quellenlage – nur noch selten aufgeführt. In den letzten Jahren stoßen Marschners hochromantische Sujets wieder auf gesteigertes Interesse; so wurde „Hans Heiling“ in den letzten Jahren in Wien und Regensburg, „Der Vampyr“ zuletzt in Koblenz gezeigt.

Frage: Herr Beermann, Marschner als „Bindeglied“ zwischen Weber und Wagner: Erschöpft sich die Bedeutung des Komponisten in dieser von der Musikgeschichtsschreibung bis in Gegenwart wiederholten Funktion?

Frank Beermann: Marschner war nicht „dazwischen“, sondern „gleichzeitig“. Seine erste große Oper „Heinrich IV. und Aubigné“ wurde 1820 unter Weber in Dresden uraufgeführt. Seine letzte kam 1863 in Frankfurt heraus, da saß Wagner über den „Meistersingern“. Marschner hat, wenn ich auf den „Fliegenden Holländer“ schaue, über weite Strecken auf Augenhöhe mit Wagner komponiert. Und seine Nähe zu Felix Mendelssohn-Bartholdy – ich denke an dessen „Erste Walpurgisnacht“ – ist wohl schon aus antisemitischen Gründen nicht beachtet worden.

Worin zeigt sich in „Hans Heiling“ der Rang des Komponisten Marschner?

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Beermann: Erstens spürt man, wie wichtig es Marschner war, sehr nahe am Text Eduard Devrients zu komponieren. Er hat wohl äußerst eng mit seinem Librettisten zusammengearbeitet – ein Glücksfall. Den Schritt Wagners, den Text selbst zu schreiben, ist er jedoch noch nicht gegangen. Musikalisch fällt auf, wie verschwenderisch reich seine melodische Erfindung war. Visionär war seine musikdramatische Idee, vor die Ouvertüre ein Vorspiel zu setzen. Und das große Terzett im „Holländer“ folgt dem Vorbild des Terzetts in „Hans Heiling“.

Zweitens ist auffällig, wie frei Marschner mit den musikalischen Formen seiner Zeit umgegangen ist. Die berühmte Arie Heilings „An jenem Tag“ besteht auf den ersten Blick aus den traditionellen Formen Rezitativ, langsamer und schneller Teil. Genau betrachtet ist das Rezitativ jedoch schon eine Agitato-Arie, der langsame Teil entwickelt sich durch Beschleunigung und dynamische Entwicklung zu einem wahnsinnigen Reigen, der fast schon an Hector Berlioz gemahnt. Der schnelle letzte Teil endet eigenartig still, in sich gekehrt. Auch das gespenstische Melodram von Gertrud, der Mutter Annas, steht einzigartig da: Draußen heult der nächtliche Wind, die Mutter wartet auf die Rückkehr ihrer Tochter, spricht zu sich selbst und gerät allmählich, wie unabsichtlich, ins Singen.

Bemerkenswert ist drittens, wie detailliert die Partitur gearbeitet ist. Es gibt zum Beispiel unglaublich viele dynamische Angaben. In der Arie des Hans Heiling schafft es Marschner mit schlichten Mitteln zu zeigen, wie sich der Wahnsinn in die Seele Heilings krallt, wie sich die Liebe zu Anna zur Getriebenheit steigert. Marschner setzt ein Crescendo, eine dynamische Veränderung, und man spürt, wie sich diese Person, halb Mensch, halb Erdgeist, verändert.

Wo finden Sie in Marschners Musik die Beziehung zu Mendelssohn?

"Steile Lagerung", eine Bronzeskulptur von Max Kratz, erinnert hinter dem Essener Hauptbahnhof an die Zeit, als Essen die größte Bergbaustadt Europas war. Foto: Werner Häußner

„Steile Lagerung“, eine Bronzeskulptur von Max Kratz, erinnert hinter dem Essener Hauptbahnhof an die Zeit, als Essen die größte Bergbaustadt Europas war. Foto: Werner Häußner

Beermann: Zunächst in der Orchestrierung. Marschner verwendet die Mittel, die Mendelssohn zur gleichen Zeit – um 1832 – entwickelt hat. Zum Beispiel gibt es in „Hans Heiling“ eine unglaublich schwere Bassstimme in schnellem Tempo über lange Strecken und in unterschiedlichen Tonarten. Die explizite Betonung des Basses ist eine Idee Mendelssohns, gespeist aus der Kenntnis von Johann Sebastian Bachs Musik und den Regeln des alten Kontrapunkts. Auch die Chorbehandlung erinnert an Mendelssohn. Der Gesang in der Kirche im Finale, wenn Anna den gräflichen Leibschütz Konrad heiratet, ist ein reiner Mendelssohn-Choral. Mit dem Chor geht Marschner überhaupt weit über die sonstigen Gepflogenheiten der Zeit hinaus, setzt ihn lautmalerisch und textausdeutend ein.

Wie erklären Sie sich dann das Verschwinden der drei bedeutenden Marschner-Opern aus dem Repertoire?

Beermann: Die Aufführungstradition bricht nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend ab. „Hans Heiling“ etwa wurde in Essen zuletzt 1940/41 gespielt. „Der Templer und die Jüdin“ verschwindet zu Beginn des Dritten Reiches aus ideologischen Gründen. Vermutlich waren die Themen – die Schauerromantik, die Geistergeschichten – überholt und mit der gelebten Realität nicht mehr vereinbar. Aber spätestens mit dem Aufkommen des Regietheaters hätte jemand auf die Idee kommen können, die Stoffe wieder neu zu befragen.

Was muss ein Dirigent beachten, wenn er heute Marschners Musik interpretiert?

Frank Beermann (links), Dirigent der Neuproduktion von Marschners Oper am Aalto-Theater Essen, im Gespräch mit Werner Häußner. Foto: Christoph Dittmann

Frank Beermann (links), Dirigent der Neuproduktion von Marschners Oper am Aalto-Theater Essen, im Gespräch mit Werner Häußner. Foto: Christoph Dittmann

Beermann: Er muss auf die detaillierten Angaben in der Partitur achten und sich anhand der Textur vorstellen können, wie diese Musik in der Zeit ihrer ersten Aufführung geklungen haben mag.

Ein Hinweis ist die erwähnte Nähe zu Mendelssohn. Man sollte Marschners Musik nicht spätromantisch spielen. Mit dem Instrumentarium ihrer Entstehungszeit kommt man auf ein transparentes, leichtes Klangbild. So gewinnt die Musik Tiefenschärfe. Und der Wechsel zwischen dramatischer Anspannung und heiterer Einfachheit in den Szenen der Landbevölkerung wird dramaturgisch einsichtig – ganz im Sinne Verdis, der sinngemäß sagte, jedes Drama werde nur im Spiegel der Komödie dramatisch. So erfahren wir auch die Fallhöhe eines Charakters wie Hans Heiling.

Auch in den Tempi sollte man Marschner trauen. Die „Gemütlichkeit“ der Musik – etwa im Terzett Nr. 4 „Wohlan wohlan, so lasst uns gehen!“ – hat einen dramaturgischen Sinn. Schneller und virtuoser genommen verliert die Musik ihre Folgerichtigkeit und lässt den Aspekt der Textgestaltung außer Acht.

Herr Beermann, Sie sind in Hagen geboren, also auch der Region verbunden. Bis 2016 waren Sie GMD in Chemnitz und Chefdirigent der Robert-Schumann-Philharmonie. Seit 2007 haben Sie dort eine Menge vergessener Opern aufgeführt, etwa Otto Nicolais „Il Templario“ oder Franz Schrekers „Der Schmied von Gent“. Viele davon sind auf CD dokumentiert, so Hans Pfitzners „Die Rose vom Liebesgarten“ oder Emil Nikolaus von Rezniceks Persiflage „Benzin“, die zur Zeit in Bielefeld nachgespielt wird. Ein Höhepunkt Ihrer Tätigkeit war wohl Giacomo Meyerbeers – ebenfalls auf Tonträger vorliegender – „Vasco da Gama“, bisher bekannt unter dem Titel „L’Africaine“. Seit 2016 sind Sie frei tätig. Wo setzen Sie Ihre künftigen Schwerpunkte?

Beermann: Mein Interesse verlagert sich in die deutsche Romantik und Spätromantik. Für diese Epoche wird man als international tätiger deutscher Dirigent als erstes gefragt. Viel Zeit habe ich mir für das einzigartige Projekt genommen, in Minden den „Ring des Nibelungen“ zu erarbeiten. Es ist eine wunderbare Arbeit, Wagner Wort für Wort und Takt für Takt zu lesen. In Essen habe ich 2017 auch „Tristan und Isolde“ dirigiert.

Im September 2018 folgt in Minden die „Götterdämmerung“, danach bin ich häufig in der Schweiz, etwa in Lausanne mit der „Fledermaus“ und Richard Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“. Außerdem ist in Frankreich ein „Parsifal“ geplant. Im Konzert dirigiere ich jetzt verstärkt Richard Strauss, Anton Bruckner und Gustav Mahler. Beim KlassikSommer in Hamm leite ich im Juni 2018 drei Konzerte. Im Mittelpunkt dieser Programme steht Strawinskys „Sacre du Printemps“, worauf ich mich sehr freue.

 




„Dies Scheusal hier – ist ein Vampyr“: Vor 150 Jahren starb der Komponist Heinrich Marschner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der Vater ist verzweifelt. Die Tochter, jung, frisch verliebt, ist durchgebrannt. Abgehauen mit ihrem Liebhaber. Mitten in der Nacht. Man geht auf die Suche. Im einsamen Wald findet sich eine Spur. Fackeln, ein Schrei, und nacktes Entsetzen: Das Mädchen liegt leblos an einer Höhle. Am Hals eine blutige Spur. Die Männer im Suchtrupp wissen: „Sie ward zum Opfer dem Vampyr“ …

So dramatisch geht es zur Sache in Heinrich Marschners Oper „Der Vampyr“. Drei Opfer muss der elegante Blutsauger binnen 24 Stunden zu Tode beißen, damit ihm die Hölle Fristverlängerung gewährt. Schafft er es? Das ist die bange Frage. Am Schluss überstürzen sich die Ereignisse. Eine Hochzeit wird verhindert, ein Schwur gebrochen. Aber nach Marschners Willen siegt das Gute:

Wer Gottesfurcht im frommen Herzen trägt, im treuen Busen reine Liebe hegt, dem muss der Hölle dunkle Macht entweichen. Kein Zauber kann ihn je erreichen!“

Die Oper über den Vampyr, der selbst unter seinem „schrecklichen Beruf“ leidet, war 1829 ein überwältigender Erfolg. Nach der Uraufführung in Leipzig zog sie eine gruselige Spur durch Europa. Romantische Schauergeschichten waren damals in Mode, und Marschners „Vampyr“ befriedigte den Wunsch nach Geheimnisvollem und Unheimlichem.

Ruthven, der Vampyr – eine gebrochene Gestalt

Doch Heinrich Marschner schuf nicht nur eine Zeitgeist-Oper. Er stellte Figuren auf die Bühne, die tief in menschliche Abgründe blicken lassen. Und die sich der Frage nach dem Bösen stellen müssen. Der Stoff wurde schon in der Entstehungszeit als „widerlich“ und „grausam“ abgelehnt. Doch hinter solchen Urteilen steckt das Zurückschrecken vor der psychologisch zugespitzten Behandlung von Liebe, Tod, Leidenschaft und Grauen.

Beim Label "Opera d'oro" ist die einzige befriedigende Aufnahme von Marschners "Der Vampyr" erhältlich (OPD 7016). Sie ist unter Fritz Rieger beim Bayerischen Rundfunk entstanden und verwendet statt der üblichen Bearbeitung Hans Pfitzner älteres Material. Die autographe Partitur des "Vampyr" ist verschollen.

Beim Label „Opera d’oro“ ist die einzige befriedigende Aufnahme von Marschners „Der Vampyr“ erhältlich (OPD 7016). Sie ist unter Fritz Rieger beim Bayerischen Rundfunk entstanden und verwendet statt der üblichen Bearbeitung Hans Pfitzners älteres Material. Die autographe Partitur des „Vampyr“ ist verschollen.

Während bei Weber, im Kaspar im „Freischütz“ und im Lysiart in der „Euryanthe“, die Mächte des Bösen noch eindeutig bestimmten Figuren zugeordnet sind, ist Marschners Lord Ruthven eine gebrochene Gestalt: Zur Blutgier getrieben, leidet er gleichzeitig an dem Zwang zur mörderischen Tat. Er trägt das Verhängnis in sich selbst, er „muss es tun“, lehnt sich aber innerlich, wenn auch vergeblich, gegen die Verdammnis auf. Marschner hat im Verein mit seinem Librettisten und Schwager Wilhelm August Wohlbrück die romantische Doppelnatur psychologisch und existenziell so scharf erfasst, dass die dämonische Existenz der Vampirgestalt auch gegen komplexe Charaktere wie Wagners „Holländer“ bestehen kann.

Ideal des Musikdramas: Hans Heiling

Als Höhepunkt von Marschners Künstlertum wird jedoch „Hans Heiling“ gesehen. Auf ein Libretto von Philipp Eduard Devrient geschrieben und 1833 uraufgeführt, grenzt das Werk nach einem Urteil Hans Pfitzners „an das Ideal eines Musikdramas“. Mehr als jede andere Oper entspricht „Hans Heiling“ dem romantischen Kernthema E.T.A. Hoffmanns: dem Zusammenhang von Menschen- und Geistersphäre, dem Scheitern des hohen, idealen Anspruchs an der Enge der bürgerlich geordneten Welt und dem Zurückschrecken der Menschen aus Fleisch und Blut an der als dämonisch empfundenen Konsequenz des Transzendenten und Absoluten, das ihnen in einer Gestalt wie der von Marschners Helden entgegentritt.

Hans Heilings Schicksal entzieht sich den Zuordnungen von Gut und Böse. Er ist nicht mehr der Dämon, der an seiner verfluchten Natur zugrunde geht, wie der „Vampyr“; nicht mehr der entfesselt leidenschaftliche Mensch wie Marschners Tempelritter in „Der Templer und die Jüdin“, der an seiner Maßlosigkeit und an unbeantworteter Liebe scheitert. Ausgestattet mit dem Wissen vom Jenseitigen und der Macht des Überirdischen, sehnt sich Heiling nach Menschlichkeit, will das anspruchslose, scheinbar von Liebe durchdrungene Glück der Menschen teilen. Er strebt aus der Geistersphäre in die der Menschen und muss erkennen, dass das eine der Preis des anderen ist.

Heiling ist ein echter tragischer Charakter, ein Wesen schicksalhaften Leidens, dessen Unglück „eine solche Höhe von Teilnahme und Mitleid erregt, wie sie seinem höheren Standpunkt und Fall nur immer gebührt“, schreibt Marschner 1831 an seinen Librettisten Devrient. Seine Erdenfahrt und die Zurückweisung durch das Bauernmädchen Anna bringen Heiling geläutert, aber innerlich gebrochen ins Geisterreich zurück. Jetzt kann er als König über das Reich der Geister herrschen und die Welten der Irdischen und der Überirdischen gegeneinander abgrenzen – freilich um den Preis seines persönlichen Glücks.

In diesem romantischen Sujet ist das Problem von Macht und Liebe angesprochen, der Gegensatz des romantischen und des begrenzten, bürgerlichen Charakters gezeichnet. Marschners „Hans Heiling“ ist ein gültiges Werk über einen innerlich zerbrochenen Wanderer zwischen den Welten, dessen Schicksal bis heute nichts an Brisanz und Aktualität eingebüßt hat.

Marschners drei Meisterwerke – dazu zählt noch die 1829 uraufgeführte große Oper „Der Templer und die Jüdin“ – waren lange auf den Bühnen zu sehen. In Marschners 150. Todesjahr bleiben sie unbeachtet. Der 1795 in Zittau geborene Komponist ist weitgehend vergessen. Das hat er nicht verdient. Aufführungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Stoffe auch heute noch faszinieren und nachdenklich machen. Und die Musik hält gehobenen Maßstäben stand. Kurz vor der Gründung steht eine Heinrich-Marschner-Gesellschaft, die wieder auf das Werk des Komponisten aufmerksam machen will.

Isoliert und unzeitgemäß

Ausgebildet wurde Marschner unter anderem von Thomaskantor Johann Gottfried Schicht in Leipzig. Seine Karriere führte ihn vom Musiklehrer des Grafen Zichy in Preßburg/Bratislava zum Musikdirektor der Oper in Dresden. Mit seiner ersten Frau war er als reisender Dirigent unterwegs, so in Danzig, wo seine Oper „Lucretia“ uraufgeführt wurde. Als Komponist wie als Dirigent hatte er in Leipzig ab 1828 erfüllende Jahre. Nach seinen sensationellen Opernerfolgen wurde er 1831 Hofkapellmeister in Hannover. Dort wirkte Marschner, geehrt und angefeindet zugleich, bis 1859 und brachte nach übereinstimmenden Berichten das Orchester auf ein nie gehörtes Niveau.

Als Marschner starb, galt er jedoch schon als unzeitgemäß: als Komponist nicht mehr gefragt, als Generalmusikdirektor des Königs von Hannover gegen seinen Willen in die Pension komplimentiert. Seine großen Erfolge lagen hinter ihm, er selbst hatte sich gesellschaftlich wie persönlich zurückgezogen.

Schicksalsschläge hatten sein Leben überschattet: Drei Frauen starben ihm; von seinen zehn Kindern überlebte nur eine Tochter das Jugendalter. Seine Zeit war das Biedermeier, seine musikalische Sprache von Wagner und Meyerbeer überholt.

Noch einmal versuchte Marschner, Anschluss an die Moderne zu erlangen: Mit „Sangeskönig Hiarne und das Tyrfingschwert“ wollte er in Paris einen Erfolg landen. Doch das Empfehlungsschreiben an Napoleon, die Reise in die Welthauptstadt der Musik blieben erfolglos. Marschner kehrte im Juli 1861 krank nach Hannover zurück. Ein Schlaganfall setzte dem Leben des Todkranken am 14. Dezember 1861 um neun Uhr abends ein jähes Ende. „Hiarne“ wurde 1863 in Frankfurt uraufgeführt – ohne nachhaltigen Erfolg.

Als Mensch tritt uns Marschner in unterschiedlichen Facetten entgegen. In seinen Briefen wirkt der Freigeist ehrgeizig und nicht konfliktscheu. Doch war der kleine, rundliche Mann auch ein geselliger, humorvoller Typ: Er schrieb zahllose Lieder für trinkfreudige Vereinigungen wie die „Tunnel-Gesellschaft“ in Leipzig, deren Mitglieder er durch komisches Redetalent erheiterte. In Hannover galt er als gesuchter Gesellschafter; erlesene Speisen adelten seine Tafel. Seine jährliche Weinrechnung war so hoch wie die Gehälter seiner Hausangestellten.

Marschners Bemühen um Anerkennung nahm manchmal sonderbare Züge an: So schrieb er anonym Kritiken über sich selbst, um das Urteil über sein Schaffen zu beeinflussen. Doch als Verfechter einer deutschen Oper, die der Wahrhaftigkeit und Einfachheit verpflichtet sei sollte, genoss er hohes Ansehen: „Wahrheit führt zum Schönen und Bleibenden im Leben wie in der Kunst“, schrieb er 1842 in Dresden in ein Album. Das Lob von Kollegen wie Mendelssohn, Schumann und Pfitzner bestätigen seinen Rang als führender deutscher Komponist um die Mitte des 19. Jahrhunderts.