Namen über Namen: Michael Krügers „Verabredung mit Dichtern“

Eines gleich vorweg: Der Lebensleistung von Michael Krüger, dem langjährigen Leiter des Münchner Hanser-Verlags und – keinesfalls nur nebenbei – Schriftsteller, gebührt unbedingt großer Respekt, ja Bewunderung. Kaum einer neben und nach dem Suhrkamp-Doyen Siegfried Ungeld hat dermaßen viel für die Literatur seit den mittleren 1960er Jahren bewirkt. Umso mehr Aufschlüsse erwartet man von Krügers Buch „Verabredung mit Dichtern“, das im Untertitel „Erinnerungen und Begegnungen“ verheißt.

Der Band umfasst immerhin 447 Seiten, lässt also eigentlich Raum für Gründlichkeit. Doch, ach! Satt dessen wird man geradezu erdrückt von lauter Namedropping. Wenn Krüger erst einmal in Fahrt geraten ist, vergisst er (obwohl er mehrmals auf sein schwaches Gedächtnis verweist) offenbar gar keine Begegnung mit höchstkarätigen Literaten und sonstigen Künstlern aus Musik, Bildnerei, Film und Theater zu erwähnen. Nur leider erschöpfen sich seine Aufzählungen eben oftmals darin. Häufig driften sie ins bloß Anekdotische oder schlimmstenfalls ins Prätentiöse ab.

Worüber hat er mit Susan Sontag gesprochen?

Nur ein Beispiel von Hunderten: Da lässt uns Krüger wissen, er habe mit der legendären Susan Sonntag (eine von relativ wenigen Frauen als Protagonistinnen im Buch, viele andere haben lediglich Kurzauftritte als kluge Partnerinnen berühmter Schriftsteller) in der ebenso legendären Berliner „Paris Bar“ gesessen. Was sie dort geredet haben, bleibt freilich im Verborgenen. Es hätte sehr interessant sein können – wie so vieles andere. Ist es Diskretion, Notizen-Chaos, Erinnerungsverlust oder Unlust, die uns so manches vorenthält?

Offenbar hat niemand bei Suhrkamp einem wie Michael Krüger dreinzureden gewagt. Seine Einleitung folgt etwa dem Motto „Kinder, wenn ich wollte, könnte ich ungeheuer viel erzählen.“ Doch dafür, so Krüger in majestätischer Bescheidenheit, sei er gar nicht so recht begabt. Dann legt er allerdings los…

Bloß niemanden verprellen!

Nach einem längeren Exkurs zu seiner Berliner Nachkriegsjugend wendet sich der 1943 geborene, schwer an Leukämie erkrankte Krüger (der am 9. Dezember 80 Jahre alt geworden ist) seinen verlegerischen Anfängen zu. Zunächst absolvierte er eine Art Praktikum in London, dann ging’s alsbald zu Hanser in München – in einer enorm spannenden Zeit des politischen und literarischen Aufbruchs, in der freilich die Literatur zu Krügers Leidwesen von vielen Leuten totgesagt und der Politik untergeordnet wurde.

Bis hierhin wird das Geschehen noch ziemlich plastisch wiedergegeben, Krügers Stil wirkt zunächst angenehm entschlackt. Doch dann hat er immer mehr, wenn nicht nahezu alle damaligen und späteren Berühmtheiten des Literaturbetriebs kennen gelernt. Deshalb gerät er nun immer öfter in Versuchung, Namenslisten aufzustellen und abzuarbeiten, ja durchzuhecheln. Bloß niemanden durch Nichtnennung verprellen!

Einer, der zu rühmen weiß

Da könnte man wirklich neidisch werden: Wen er gekannt hat! Bei wem er eingeladen war oder ein und aus ging. Mit wem er nach eigenem Bekunden befreundet war. Wo und bei wem er genächtigt hat und an traumschönen Orten dieser Welt Wochen oder Monate verbringen durfte! Stets in ungemein anregendem, hochgeistigem Ambiente, versteht sich. Überdies in einer Ära, in der das Verlagswesen noch nicht so durchkommerzialisiert war…

Michael Krüger ist einer, der vor allem zu rühmen weiß. Auch scheut er das zwischenzeitlich in der Literaturwissenschaft verpönte, recht weihevolle Wort „Dichter“ nicht. Die allermeisten, die er erwähnt, waren oder sind demnach ungemein polyglott und haben die Inhalte abertausender Bücher in ihren Köpfen. Nie versäumt es Krüger, geradezu unfassbare geistige Kräfte seiner Freunde zu schildern. Wie Koketterie mutet es an, wenn er immer mal wieder betont, wie wenig fähig und berühmt er selbst im Vergleich sei (Zitat, anlässlich einer Tagung: „…außer mir alles berühmte Namen, die zu dem Thema wichtige Gedanken liefern konnten“). Sollte das etwa Fishing for compliments sein?

Warum denn kein Personenregister?

Die lange Liste der Namen füllt sich zunächst mit einem Aufenthalt in der römischen Villa Massimo, der sich als ausschweifender persönlicher Streifzug durch die italienische Gegenwartsliteratur und darüber hinaus erweist. Weitere Kapitel heißen z. B. „Meine schwedischen Freunde“, „Meine israelischen Dichter“, „The Boys und einige andere“ (USA), „Meine holländischen Dichter“ und „Meine polnischen Freunde“. Wohlgemerkt: Meine…

Da gibt es Abschnitte, in denen sich weltweit geschätzte Autoren wie Derek Walcott,  Joseph Brodsky, Seamus Heaney und Philip Roth gleichsam die Klinke in die Hand geben oder gleich mit Krüger beieinander sitzen. Da wohnt er in London beim ruhmreichen Pianisten Alfred Brendel, um Julian Barnes zu treffen, wobei auch… Halt! Wir wollen hier nicht die schier endlosen Namenslisten der Kulturgrößen nachbeten. Es fragt sich jedoch, warum gerade ein solcher Band völlig ohne Personenregister auskommt. Die ganze Herangehensweise ruft doch nach abschließender alphabetischer Sortierung und Überblick. Auch hätte man sich ein paar prägnante Abbildungen mehr gewünscht.

Manches bleibt noch zu tun

Dass Krüger ein Verleger war, der sich für „seine“ Autorinnen und Autoren eingesetzt und sie – bei fachlicher Kritik im Detail – grundsätzlich „beschützt“ hat, ahnt man gleichwohl in vielen Passagen dieses Buches. Dass er außerdem über weitaus subtilere Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, als er sie hier über weite Strecken erkennen lässt, zeigen eingestreute Auszüge aus seinen Gedichten und etliche Zitate aus Nachrufen und Preisreden, die er auf Schriftsteller gehalten hat. Apropos: Im obligatorischen Frack hat er die eine oder andere Nobelpreisverleihung erlebt. Hingegen schreibt er mit einer Regung zwischen Scham und Stolz, über Jahrzehnte keinen kompletten Anzug getragen zu haben.

In einer knappen Nachbemerkung entschuldigt sich Michael Krüger, einige Literatur-Nationalitäten diesmal noch nicht berücksichtigt zu haben. Er nennt mal eben pauschal: Frankreich, Spanien, Portugal, das Baltikum, Russland, die Ukraine, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, die Türkei, Japan, China – und last, but not least: all die „deutschen Dichter, mit denen ich mein Leben verbracht habe (…) Es bleibt also noch etwas zu tun.“

Michael Krüger: „Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen“. Suhrkamp, 447 Seiten, 30 Euro.

 

 




Transfer-Hammer: Botho Strauß von Hanser zu Rowohlt

Das ist ja mal eine bemerkenswerte Meldung aus dem Verlagsbereich: Botho Strauß, der nicht immer unumstrittene Schriftsteller von außerordentlichem Rang, wechselt von München nach Reinbek bei Hamburg. Will heißen: Seine kommenden Bücher werden nicht mehr im Hanser Verlag erscheinen, sondern bei Rowohlt.

Im deutschsprachigen Literaturbetrieb darf diese Nachricht, die uns als Rowohlt-Pressemitteilung um 16:44 Uhr erreichte, als gelinde Sensation gelten. Eine Blitzmeldung sozusagen.

Blick ins Regal: bei Hanser erschienene Bücher von Botho Strauß. (Foto: Bernd Berke)

Blick ins Regal: bei Hanser erschienene Bücher von Botho Strauß. (Foto: Bernd Berke)

Ich will hier nicht weiter darüber spekulieren, was ihn zu diesem Schritt bewogen haben mag. Auch weiß ich nicht, ob man ihn gar dazu überredet hat. In der Buchbranche werden sicherlich entsprechende Gerüchte wabern.

Nein, ich möchte hier nur ein klitzekleines Gegengewicht setzen, indem ich den Wechsel überhaupt vermelde. Denn bekanntlich werden in anderen Bereichen schon die kleinsten Bewegungen zu Breaking News aufgeplustert.

Da firmiert etwa die Tatsache, dass ein 17jähriger Kicker aus Schweden nach Dortmund wechselt, als „Kracher“. Wenn wiederum einer Dortmund verlässt und in Köln anheuert, ist von einem „Transfer-Hammer“ die dumpfbackig übertreibende Rede. Es klingt ziemlich absurd, wenn man eine solche Diktion in literarische Gefilde verpflanzt, nicht wahr? Gerade deshalb lautet die Überschrift dieses Beitrag so, wie sie lautet.

Jedenfalls dürfte Strauß, der sich aus dem Literatur- und Medienbetrieb seit jeher in die Stille zurückgezogen hat, ein jeglicher Wirbel um seine Person unlieb sein. Also lassen wir mal den unseriösen Sektor hinter uns.

Ob mich denn irgend etwas mit Botho Strauß verbinde, fragt ihr? Nun ja. Irgendwie schon. In grauer Vorzeit, als er noch längst nicht so bekannt war, habe ich meine Examensarbeit über ihn verfasst. Damals durfte ich Strauß – gemeinsam mit einer Germanistin aus Heidelberg, die ebenfalls über ihn schrieb – in Berlin besuchen. Es war eine höchst selten gewährte und somit unvergessliche Gelegenheit, ihn persönlich kennen zu lernen. Jetzt aber genug. Sonst werde ich noch feierlich.




Wo alles unentschieden bleibt: Genazinos Roman „Außer uns spricht niemand über uns“

Schon auf Seite 9 wehrt sich der namenlose Mann auf seine Weise gegen allseitige Überforderung durch anbrandende Wirklichkeit: „Ich schloss die Fenster und schaltete aus Ratlosigkeit das Radio ein.“

Doch dort läuft ein läppisches Gewinnspiel. „Es war unglaublich: Solche zerknautschten Hausfrauenspäße machte der Rundfunk immer noch.“

Genazino_25273_MR1.indd

Nirgendwo scheint Rettendes zu wachsen, nicht einmal im Rückzug.

Sehnsucht nach Bedeutsamkeit

Auch in seinem neuem Roman, der den bereits zagend klingenden Titel „Außer uns spricht niemand über uns“ trägt, lässt Wilhelm Genazino wieder (s)einen überaus empfindlichen Menschen durch die Stadt streifen und ratlos im Zimmer sitzen, der den Alltag als ungeheure Summierung und Verdichtung kleinster Vorfälle erlebt, welche sich noch und noch häufen und als vielfach zersplittertes Rätsel vor ihm aufragen. Nur wenige Anblicke bieten Labsal, die meisten Erlebnisse verstören.

Eine tiefere, dauerhafte Bedeutung erschließt sich ihm aus all den winzigen Beobachtungen jedenfalls nicht. Dabei sehnt er sich so sehr nach einem bedeutsamen Leben. Doch wie soll man das anfangen, angesichts all der Unübersichtlichkeit?

Unendliche Fortschreibung

Genazinos Romane muten zuweilen wie eine endlose, freilich immer wieder faszinierend genaue Fortschreibung an: Der Ich-Erzähler, naher Verwandter und Wiedergänger bisheriger Figuren des Autors, ist diesmal ein gescheiterter Schauspieler, welcher sich damit durchhangelt, den einen oder anderen Text für den auch unter Sparzwang stehenden Rundfunk zu sprechen. Wegen Geldknappheit muss er sich daher schon mal herbeilassen, Modenschauen in der Provinz zu moderieren. Eine immerhin noch schuldenfreie Existenz, doch nur knapp oberhalb des Prekariats am Rande des Kulturbetriebs.

Zwischendurch hat dieser Mann also viel übrige Zeit zum Grübeln beim eher freudlosen Flanieren (auch Bahnhöfe und Museen sind keine rechten Fluchtorte mehr wie ehedem). Vor allem sinniert er über seine rundum ungeklärte Beziehung zu Carola, deren Tattoo- und Marathonlauf-Anwandlungen ihn irritieren.

Täppische Tröstungen

Ob sie in seine kleine Wohnung zieht, ob sie beide noch Kinder haben wollen, inwiefern sie überhaupt treu sein will – alles bleibt unentschieden in der Schwebe. Es ist eine zuwartende Zuneigung mit täppisch rührenden Momenten, eher unbeholfene Tröstung als Erotik, sozusagen kuschelndes Rest-Sexeln.

Seine Erinnerung schweift zurück zu früheren Begebenheiten mit diversen Frauen, die zumeist einen absurden oder peinlichen Beigeschmack haben. Doch was heißt schon Erinnerung? „Die fehlenden Erlebnisse betätigten sich als Geschichtenfinder und füllten dreist die Erinnerung.“ Auch da gibt es keinen verlässlichen Halt.

Keine Erlösung in Sicht

Die allumfassende Unentschiedenheit mündet in solche Sätze: „Es geschah nichts, es wurde keine neue Schuld sichtbar, aber es trat auch keine Durchsichtigkeit ein und keine Erlösung.“ Große Worte.

In ruhigeren Phasen genießt der Erzähler seine eigene Zerstreuung, er will dann gar nichts anderes mehr. Doch dann naht wieder schleichendes Ungenügen – oder es springt ihn geradezu an.

Zerlumpte Menschen

In sämtlichen Lebens- und Text-Fasern spürbar ist eine soziale Unsicherheit, deren Niederungen sich auch im Stadtbild als öffentliches Elend zeigen: „Ich sah die zunehmende Zerlumptheit der Menschen…“ Es sind nicht nur Übungen in bloßer Empfindsamkeit, dies ist ein sozialer Roman über die Wirklichkeit in unseren Städten, ob sie nun Frankfurt oder sonstwie heißen.

Und wie geht es mit Carola weiter? Katastrophal. Erst erleidet sie eine Fehlgeburt, dann verlässt sie ihn – allerdings auch nicht so ganz richtig. Bald darauf folgt, quasi in einem Nebensatz, die nahezu banale Mitteilung: „Carolas Selbstmord war für alle, die Carola kannten, ein Schock.“ Ja, was denn auch sonst?

Helden der Verschrobenheit

Es reihen sich nun Szenen und Inbilder der hilflosen Trauer, des Stillstands. Überforderung wird vollends zum alles beherrschenden Hauptwort. Gleichzeitig erweisen sich manche Mechanismen der Wahrnehmung als verschlissen. Auch das bislang so heilsame Gehen durch die Stadt hilft wohl nicht mehr. Wo ist die wahre Gegenwart, die nicht gleich wieder vermodert?

Dass ausgerechnet Carolas Mutter die nächste Frau ist, mit der der traurige Held schläft, mag man eigentlich kaum für möglich halten. Und doch hört es sich seltsam glaubhaft an.

Wilhelm Genazino schreibt nach wie vor eine Prosa, der man – auch wenn sie sich im Duktus perpetuiert – mit angehaltenem Atem folgen kann. Man darf möglichst keinen Satz überlesen, keine Regung übersehen. Wer gern aphoristisch zugespitzte Passagen anstreicht, wird ein Genazino-Buch am Ende übersät vorfinden. Und immer wieder liest man staunend von der mal sanften, mal schroffen, immer aber geradezu heldenhaften Verschrobenheit, mit der sich Genazinos Gestalten der zerfaserten Realität stellen.

Übrigens: Gibt es eigentlich schon germanistische Aufsätze über das Motiv der Jacke in Genazinos anschwellendem Oeuvre? Wenn ich mich nicht irre, scheint das Utensil spätestens seit seinem Buch „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ immer wieder an markanten Romanstellen aufzutauchen.

Wilhelm Genazino: „Außer uns spricht niemand über uns“. Roman. Hanser Verlag. 155 Seiten. 18 Euro.