Proust auf dem Boulevard – Dortmund bringt Harold Pinters Drama über die „Suche nach der verlorenen Zeit“ heraus

Von Bernd Berke

Dortmund. Viele nennen ihn mit Ehrfurcht, die allerwenigsten dürften ihn je gänzlich gelesen haben: Marcel Prousts vielbändigen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Am Dortmunder Schauspiel kann man das Epos jetzt in rund zweieinhalb Stunden durchmessen. Wie das?

Nun, der britische Dramatiker Harold Pinter hat anno 1972 auf der Basis seiner Proust-Lektüre ein Script erstellt, das von Joseph Losey verfilmt werden sollte. Dazu kam es nie. Viele Jahre später aber hat die Regisseurin Di Trevis den Text für die Bühne hergerichtet und fürs National Theatre in London inszeniert. Dortmunds Fassung (Regle: Hermann Schmidt-Rahmer) firmiert als deutschsprachige Erstaufführung.

Um die Wahrheit zu sagen: Mit Proust hat das Resultat nur noch von ungefähr zu tun. Schon Pinter sah sich genötigt, ungeheuer viele Feinheiten und Hunderte von Figuren des Ur-Textes zu opfern, er konnte nur Essenzen destillieren und Tupfer setzen. Gleichwohl ist’s ein Werk aus eigenem Recht.

Eine weitere Verlustmeldung betrifft die deutsche Übersetzung von Ingrid Rencher, in der gelegentlich unschöne Anglizismen („Das würdest du nicht“) durchscheinen. Eine schwierige Vorlage also.

Endlich beginnen – mit dem Leben und dem Schreiben

So sehen wir denn Prousts literarische Stellvertreter-Figur Marcel (entschieden gegen Prousts Typus besetzt, weil blond, sportlich und frisch: Manuel Harder) zumeist verhalten durch sein Werk und Leben (Leiden der Kindheit, Pariser Salons usw.) geistern. Oft sinniert er nur still, gelegentlich lacht er auf im Blitz nachträglicher Erkenntnis. Sein Fazit: Etliches hat er versäumt im unmittelbaren Dasein. Erinnerung tut schmerzlich not. Sein letzter Satz lautet, es sei „Zeit zu beginnen“. Mit dem Leben? Mit dem Schreiben?

Vor allem aber driftet Marcel durch einen triebgesteuerten Menschenreigen. Gar manches schnurrt hier letztlich auf boulevardeske Fragen an eine schrille „Szene“ zusammen: Wer trieb’s wann mit wem? Wer war schwul oder lesbisch? Ach, welch ein munterer Tratsch.

Durch sieben Türen müssen sie gehen: Im meist gleißend weißen Halbrund der minimalistischen Szenerie (Bühnenbild: Herbert Neubecker) kommen und verschwinden die Gestalten Proustscher Erinnerung. Ein Effekt, der anfangs überzeugt, sich aber abnutzt. Jedenfalls geht’s in dieser dekadenten Gesellschaft im Vorfeld des Ersten Weltkrieges vorwiegend kaltherzig, gierig und intrigant zu. Was wohlfeil zu beweisen war.

Sieben Türen und keine Erfüllung

Hier gleitet, auf spiegelglattem Boden, die Zeit gespenstisch rasch. Die Jahre überlagern sich, sie flackern mitunter fast simultan auf: Kaum sahen wir Marcel als kleinen Jungen, da erscheint er schon als kranker Mann. Denkwürdige Folge und eine Stärke des Textes, der irgendwie auch die mäandernde Vielfalt des Romans abbildet: Todesnähe folgt direkt auf selbstvergessenes Leben, Eifersucht stellt sich gleich nach erster Liebesblüte ein. Überhaupt findet hier niemand Erfüllung in Zweisamkeit. Da wähnt man sich in Gefilden von Botho Strauß.

Nicht leicht ist’s, sich im Gewimmel der aus Prousts Universum verbliebenen Gestalten zurechtzufinden. Ein pragmatischer Kritiker stellte in London die Frage: „Who is who?“ Auch in Dortmund ließe sich manches Rollenprofil wohl noch etwas schärfen (was freilich nicht im Sinne einer steilen Typisierung geschehen sollte). So aber bleibt es stellenweise bei Türenschlagen, Getrappel und Kostumvorführung.

Doch einige Figuren schleichen sich ins Gedächtnis ein, so besonders der ziemlich originalgetreue Dandy Baron de Charlus (Jens Weisser), die vor Sehnsucht waidwunde Odette (Silvia Fink) oder der linkisch sich aus dem Leben davonstehlende Swann (Bernhard Bauer); womit wir die Leistung der Anderen nicht schlankweg schmälern wollen.

Freundlicher Beifall fürs spürbare, jedoch nur zum Teil fruchtende Bemühen um einen problematischen Text. Ob andere Bühnen ihn nachspielen werden?

Termine: 13., 21., 29. November. 5.. 14, 20. Dezember. Karten: 0231/50 27 222.




Wenn Killer sich die Wartezeit vertreiben müssen – Jürgen Kruse inszeniert in Bochum Pinters „Der stumme Diener“

Von Bernd Berke

Jürgen Kruses rabiate Zeiten sind wohl vorüber. Der Regisseur zerlegt die Stücke nicht mehr zu Kleinholz, sondern dekonstruiert sie sorgsam und sozusagen breit grinsend. So auch Harald Pinters Zweimänner-Drama „Der stumme Diener“ im Bochumer Theater unter Tage.

Der Text stammt von 1957, besitzt aber schon eine coole Anmutung wie Kinofilme à la „Pulp Fiction“. Nebenher: Robert Altman hat Pinters Stück 1987 mit dem nachmaligen „Pulp“-Star John Travolta verfilmt. Kruse jongliert, wie’s pop-kultureller Brauch ist, kundig mit derlei Querbezügen. Fans seiner erlesenen Soundtracks müssen nicht darben: Ein Kofferradio steht auf der Bühne und gibt Songs von Frankie Miller, den Kinks etc. von sich. Yeah!

Bei Pinter geht’s, wie just in „Pulp Fiction“, um zwei Beufskiller. In einer dunklen Absteige, die mit allerlei Gerümpel vollgestopft ist, warten Ben und Gus auf ihren nächsten Auftrag „von oben“. Doch sie warten ins Leere hinein wie Samuel Becketts Wladimir und Estragon auf „Godot“. Selbiges Stück lief, parallel zur Pinter-Premiere, droben im Schauspielhaus. Ein Knüpfpunkt: Kruse pflanzt einen Fetzen aus Becketts „Man weiß nicht wann“-Monolog des Knechts Lucky in seine Pinter-Deutung. Selbst Schillers „Geben Sie Gedankenfreiheit,“ Sire!“ („Don Carlos“, auch auf dem Bochumer Spielplan) taugt als Versatzstück.

Worte sind keine Sinnträger mehr

Doch es bleibt nicht bei Insider-Scherzchen. Die beiden Herren sind hier keine Stadtstreicher-Gestalten, sie tragen Jacketts und Hüte, sie halten sich bereit. Doch wofür? Und wie sollen sie sich die Zeit vertreiben? Gus (Johann von Bülow) knipst Lampen an und aus. Ben (Patrick Heyn) liest immerzu dieselbe Zeitung, die er später in Streifen reißt. Worte sind halt keine Sinnträger mehr, sondern nur noch Material: Minutenlang streitet Ben mit Gus, ob man beim Teekochen den Kessel oder das Gas anzünde. Die Logik bekommt einen Drehwurm, ähnlich wie bei Karl Valentin.

Und noch einen (etwas manirierten) Kunstgriff wendet Kruse an, um Bedeutungen bröseln zu lassen: Die hellwachen Schauspieler betonen beim Pingpong der Sätze immer mal wieder andere Silben, so dass die Worte „falsch“ und fremdartig verstaucht klingen. Sprach-Zerfaserung in einer ausgerenkten Welt. Doch nicht als düsteren Zerfall erlebt man dies, sondern als Comedy. Etwaige Verzweiflung versteckt sich dahinter sehr gut. Man spürt nur eine ganz langsam anwachsende Aggression in den Fugen der absurden Dialoge.

Am Ende räumt Gottvater auf

Das Dominanz-Verhältnis der beider Männer (im Stück ist Ben der Boss, Gus der Zauderer und Zweifler) ist freilich entschärft. Hier sind sie beide Brüder der Beckett-Figuren. Groteske für sich: Per Speiseaufzug (englisch: „dumb waiter“ = stummer Diener) treffen anonym abstruse Anforderungen ein. Die Herren erhalten keine Lebensmittel, sie sollen welche abgeben.

Anders als im Original erschießen Ben und Gus einander. Ein weißbärtiger Gottvater-Typ samt Engels-Assistentin, auch durch finale Schüsse der untoten Killer nicht zu verletzen, kommt schließlich zum Aufräumen. Ausfegen, Leichen mit Schildchen versehen. Damit es eine Ordnung hat. Oh, himmlische Ironie.

Termine: 18. April, 6., 7., 22. Mai. Karten 0234/3333-111.




Den Verrat an der Liebe im kühlen Rückblick betrachten – Harold Pinters Stück „Betrogen“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Über die vielfach verwahrlosten Liebesdinge kann man sich aufregen. Man kann sie aber auch erst einmal nüchtern registrieren – wie beispielsweise Harold Pinter 1978 mit seinem Stück „Betrogen“. Heinz Kreidls Dortmunder Inszenierung behält den kühl feststellenden Gestus der Vorlage bei.

Emma betrügt ihren Mann Robert mit dessen bestem Freund Jerry. Der wiederum ahnt jahrelang nicht, dass Robert eingeweiht ist. Und Emma erfährt erst spät, dass ihrem Mann die unverbrüchliche Männer-Freundschaft im Grunde wichtiger ist als die Ehe. So stehen sie am Ende alle als Betrogene da.

Digitale Jahreszahlen

Doch was heißt hier „Ende“? Pinter hat einen simplen aber effektvollen Kunstgriff angewendet: Sein Stück beginnt mit dem Schluss und arbeitet sich – Szene für Szene –  zum Anfang zurück. So weiß man schnell, was aus all den Beteuerungen geworden ist: Lug und Trug. Umso mehr kann man sich auf das „Wie“ konzentrieren.

In Digitalziffern leuchtet die Jahreszahl „1999″ über der von Peter Schulz gestalteten Bühne. Beim gegenwärtigen Ende fängt es an: Emma (Silvia Fink) trifft noch einmal ihren Ex-Liebhaber Jerry (Jürgen Hartmann) am Stehtisch eines kargen Bistros. Doch sie haben sich nichts mehr zu sagen. Sehr genau zeigen die beiden Darsteller die schmerzliche Anspannung der häufigen Gesprächspausen, das Leiden an der leeren Banalität des Geredes. Was von der Liebe übrig blieb, ist außer Unbehagen so gut wie nichts. Selbst die Erinnerung schwindet.

Die Mechanik des Geschehens

Die Drehbühne als Rad der Zeit: Szenische Rücksprünge führen in die Jahre 1997 bis 1990. Man kann dabei ein leichtes Schwindelgefühl bekommen. Kühl, kühler, am kühlsten: Auf dem Schreibtisch vor einer Aluminium-Jalousie spielt Ehemann Robert (Marcus Off) Schach mit sich selbst. Zug um Zug und ziemlich sachlich erörtern er und Jerry den Tatbestand des fortgesetzten erotischen Betruges. Aufwallungen hat man recht rasch wieder im Griff. Das Gespräch kann sich bald den jungen Autoren zuwenden, die der Verleger Robert und der Agent Jerry betreuen. Und überhaupt: Man sollte halt mal wieder zusammen Squash spielen…

Wir sehen Emma und Jerry im gemieteten, gerade mit dem Nötigsten möblierten Liebesnest. Wahre Leidenschaft ist es selbst damals nicht gewesen. Wir erleben Emma und Robert auf Reisen im Hotel. Früher sind sie in Venedig aufgeblüht, jetzt nur noch in ehelicher Routine befangen; erstarrt und aufgewühlt zugleich, verwundbar durch jedes Wort, jeden Blick des anderen.

Die Inszenierung, durchweg sehr solide, betont die widerstandslos ablaufende Mechanik der Vorgänge, sie zeigt das Geschehen von der Oberfläche her, ohne oberflächlich zu geraten. Manchmal gleicht das Leben eben einem Boulevardstück. Die Abgründe kann man sich selbst ausmalen.

Ohne Requisiten kämen diese Figuren wohl gar nicht aus. Seltsam verhaken sich ihre Sätze ineinander. Sie kreisen um sich selbst und kommen nicht recht voran. In dieser Wortnot hält man sich an den Gegenständen fest, als müsse man sich so des Daseins vergewissern: Ein Ball, aus dem die Luft entwichen ist, eine Schachfigur, ein Frauenschuh, eine Melone, ein Buch, ein Weinglas, Zigaretten, ein Stück Stoff. Vielleicht sind ja wenigstens diese Dinge verlässlich.

Termine: 30. September, 2., 26.. und 27. Oktober. Karten: 0231/502 72 22.




Wer die Faust des Würgers küßt – Dimiter Gotscheff inszeniert Pinters „Asche zu Asche“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. „Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt“, hat der von Verweltlichung angewiderte Dostojewski einmal geschrieben. Der britische Dramatiker Harold Pinter sieht die Sache etwas anders: In einer gottlosen Welt, so Pinter in seinem Stück „Asche zu Asche“, sterbe die Fußballkunst aus. Wieso dies?

Dann werde England gegen Brasilien vor völlig leeren Rängen im Wembley-Stadion spielen. In solch gespenstischer Stille werde das Match ewig dauern, es werde immerzu Nachspielzeit geben und trotzdem beim torlosen Unentschieden bleiben. Wahrlich eine schreckliche Vision vom unaufhörlichen Ende der Historie…

Dimiter Gotscheff hat Pinters Zweipersonendrama jetzt in Bochum inszeniert, und irgendwie geht auch diese Partie 0:0 aus. Ein Kern ist die Schilderung jenes sadomasochistischen Erlebnisses durch Rebecca (Henriette Thimig): Ein Mann habe sie einst gezwungen, seine geballte Faust zu küssen, mit der anderen Hand habe er sie gewürgt. Noch wenn Rebecça dies erzählt, mischen sich Todesangst und Geschlechtslust in ihrem Mienenspiel. Ihre Stimme schwankt derweil zwischen Party-Tonfall und dem Herauswürgen eines Traumas.

Der ominöse Mann, so sagt sie weiter, sei eine Art Reise-Führer gewesen, aber auch ein gefürchteter Fabrikdirektor. „Führer“ also, Fabrikant des Todes? So unabweisbar mächtig sei er gewesen, daß auf sein schlimmes Geheiß Tausende wie die Lemminge ins Meer gesprungen seien und Frauen ihm ihre Babys ausgehändigt hätten. Doch wer er wirklich war, wann und warum er die Frau drangsaliert hat, erfahren wir nicht. Auch Devlin (Heiner Stadelmann) bringt es nicht heraus. Ja, man fragt sich sogar, ob er vielleicht selbst jener Mann sei.

Leiden an der Welt in Zeitlupe

Das etwa einstündige Stück über den furchtbaren Sog der Macht spielt möglicherweise auf Handlanger der Diktatur an, vielleicht auf KZ-Kommandanten. Pinter hat es verfaßt, als er die Biographie des Hitler-Architekten Albert Speer gelesen hatte. Doch gewiß ist nichts, und so spürt man denn auch ein eher ort- und zielloses Weh.

Ein Brocken fürs Theater ist es allemal. Gotscheff läßt das umfassende Rätsel bedrohlich aufragen und richtet schmerzlich insistierende Blicke aufs minimale Geschehen. Viele Szenen schnurren wie in Zeitlupe ab. Das wirkt geradezu feierlich. Man könnte sich dieses Stück anders (z. B. leichthin verplappert) vorstellen.

Zu Beginn verdämmert das Licht im Zuschauerraum nur zögerlich, die Musik (Willi Kellers) verzerrt sich ganz allmählich. Es ist, als gleite man auf einer schiefen Bahn ins Stück hinein. Alsbald leuchtet im Hintergrund eine Art Hecken-Labyrinth auf, in dem Gevatter Tod unendlich langsam wandelt. Am Schluß wird dieser heimliche Herr des Verfahrens wiederkehren.

Zwischendurch vollziehen sich surreale Licht-Erscheinungen, in denen sich Rebecca seltsam verfängt. Sie und Devlin stürzen in „Zeitlöcher“, in denen sie verdammt zu sein scheinen, alles zu wiederholen.

Wie Musik, Licht und Darsteller diese irreale Atmosphäre und eine Ahnung des Un-Faßbaren heraufbeschwören, das ist schon faszinierend. Manchmal wirkt dieses Duo, das vielfach durch die verbalen (Un)-Tiefen des Banalen watet, wie die pechschwarze Version eines Loriot-Ehepaares. Komik am Saum des Todes.

Termine: 22. und 31. Okt., 21. Nov. Karten: 0234/3333-111.