100 Jahre Fake – Dortmunder „Hartware MedienKunstVerein“ zeigt berühmte Fotofälschungen der Russischen Revolution

»Sturm auf den Winterpalast«, unretuschierte Variante und vermutetes Original des theatralen Reenactments auf dem Palastplatz, Sankt Petersburg, 1920, von Regisseur Nikolaj Evreinov u.a. (Foto: HMKV/CGAKFFD SPb, Katalognummer Ar 86597)

Die Oktoberrevolution feiert, wie wohl hinlänglich bekannt, in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag, und gerade noch rechtzeitig ist das Thema nun auch im Dortmunder „U“ angekommen – im „Hartware MedienKunstVerein“ (HMKV), der im nämlichen ehemaligen Brauereigebäude residiert und dem man ein gerüttelt Maß an Fleiß nicht absprechen kann, auch wenn Medienkunst, zumal die hier präsentierte, manchmal keinen leichten Zugang gewährt.

Sturm auf den Winterpalast

Nun also, kuratiert von Sylvia Sasse und Inke Arns, der „Sturm auf den Winterpalast“, genauer eine Auseinandersetzung mit dem möglicherweise berühmtesten Fotodokument, das dieses Kernereignis der Oktoberrevolution zum Thema hat. Das Bild ist im „U“ gleich zweimal wandtapetengroß zu sehen, einmal als Original, einmal so retuschiert, daß es den Vorstellungen der Bolschewisten von einer in jeder Hinsicht „richtigen“ Revolution entsprach.

Riesenspektakel

Original und Fälschung? Nun, die Entstehungsgeschichte dieser und etlicher weiterer Fotografien vom Sturm auf den Winterpalast ging im Jubiläumsjahr 2017 kräftig durch die Medien, und so ist wohl relativ bekannt, daß beide Bilder das sind, was wir heute „Fake“ nennen – Fake und retuschierter Fake (ist Fake männlich, grammatisch gesehen?).

Das unretuschierte Bild entstand nämlich keineswegs 1917, sondern erst am 7. November 1920, und es war Bestandteil einer gigantischen Theaterinszenierung anläßlich des dritten Jahrestages der Revolution. Regisseur Nikolaj Evreinov (1879 – 1953) inszenierte das Spektakel vor dem Palast auf drei riesigen Bühnen, und die Zahl der Mitwirkenden schwankt je nach Quelle zwischen 60.000 und 150.000. Ein revolutionärer Film entstand, und die Revolutionäre träumten ihren Traum vom Palaststurm, den es tatsächlich – so oder so ähnlich – nie gegeben hat.

Auch „La liberté raisonnée“ von Christina Lucas  (2009) wird in der Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast gezeigt (Foto: HMKV, Courtesy of Cristina Lucas)

Zuschauer stören

Doch Wirklichkeit läßt sich gestalten; das denkt der amerikanische Präsident, und das sahen auch schon die Bolschewisten so. Deshalb wurde der inszenierte Palaststurm – die Noch-einmal-Inszenierung, das „Reenactment“ – per Retusche passend gemacht und in den folgenden Jahrzehnten als authentisches Bilddokument verbreitet. Man entfernte einen hölzernen Regieturm aus dem Bild sowie eine große Gruppe von Zuschauern, weil eine Revolution keine Zuschauer haben darf, sondern nur entschlossen voranstürmende Kämpfer. Die putzige Bezeichnung für diese Art von Historienbild ist „Als-Ob-Reenactment“, also quasi erfundener Fake, sozusagen doppelt gemoppelt. Und warum soll uns das interessieren? und warum interessiert sich ein Museum dafür?

Lästige Wirklichkeit

Nun, weil es hier, bei diesem Weltereignis, um frühe verfremdende Eingriffe am (Modewort!) revolutionären Narrativ geht, um die Erzählung sozusagen, die sich an Wunschvorstellungen eher orientiert als an der lästigen Wirklichkeit. Die Revolution mußte ja den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Marxismus folgen, und die Bilddokumente hatten dies zu belegen. Und möglicherweise, aber das ist natürlich spekulativ, findet sich in diesem unseriösen Umgang mit der Wirklichkeit schon der Keim des Scheiterns. Bezüge zur Gegenwart, zu „alternativen Fakten“ und unseriösen populistischen Verkürzungen liegen auf der Hand. Doch zurück in die Ausstellung des HMKV.

Noch kein Bildjournalismus

Die Dortmunder Ausstellung reichert die Gegenüberstellung der beiden Großabzüge mit vielen detailhaften Fotografien an, Kämpfer, Barrikaden, Kampffahrzeuge usw. – links welchen von der Inszenierung, rechts welchen von der „richtigen“ Revolution. Das ist gut gemeint, offenbart aber schnell das Dilemma, daß die Fotos jener Jahre zwangsläufig fast immer Inszenierungen waren und sich ästhetisch deshalb eigentlich nicht unterscheiden. Das war der damaligen Fototechnik geschuldet, die mit Plattenkameras und wuchtigen Stativen noch wenig geschmeidig war. Ein Bildjournalismus nach heutigem Verständnis etablierte sich erst 10, 20 Jahre später.

Mit dickem Strich

Ein weiterer, großartiger Teil dieser Präsentation indes ist die Wiedergabe von Teilen des revolutionären Films Evreinovs. Vorrevolutionäre Gesellschaft, mit ganz dickem Strich gezeichnet: hungernde Arbeiter, kämpferische Bauern, Plutokraten, die hastig ihre Geldsäcke beiseite schaffen. Es galt, ein Volk, dem wenig Bildung zuteil geworden war, von einer besseren Zukunft im Kommunismus zu überzeugen; dieser Impetus wirkt redlich und rührt an.

Eine Aktion der Gruppe Chto Delat erinnert an die revolutionären Matrosen: „Palastplatz 100 Jahre danach. Film-Vortrag ,Vier Folgen von Zombie'“ (Foto: HMKV/Courtesy of Chto Delat and KOW Berlin)

Die Matrosen sind fort

Angereichert wird die Auseinandersetzung mit dem Winterpalast-Sturm durch einige aktuelle Arbeiten jüngerer Künstler, von denen zwei prominent präsentierte Videos in besonderer Erinnerung bleiben. Das eine stammt von der russischen Gruppe „Chto Delat“, was übersetzt „Was tun“ heißt.

Natürlich stand Lenins kämpferische Schrift gleichen Titels bei der Namensfindung des Künstlerkollektivs Pate, für das sich die Frage „Was tun“ stellte, als es sich auf dem Platz vor der Eremitage in St. Petersburg den alltäglichen Menschenauftrieb anguckte und sich fragte, wo denn die Matrosen geblieben seien – jene, deren Meuterei auf dem Kriegsschiff „Aurora“ am Anfang der Revolution gestanden hatten. In ihrem Video gaben sie den verschwundenen, vergessenen Kämpfern von damals gleichsam als lebenden Toten Gestalt, langsam und wortlos rückwärts den Platz beschreitend. Dabei tragen sie Transparente, auf denen nichts steht. „Palastplatz 100 Jahre danach. Film-Vortrag ,Vier Folgen von Zombie’“ ist der sperrige Titel dieses 34-Minuten-Videos, das so intensiv historische Aufrichtigkeit einfordert, im „U“ seine Deutschlandpremiere erlebt und die Auseinandersetzung mit dem Sturm auf den Winterpalast ganz hervorragend ergänzt.

Pseudo-Parlamentarismus

Das zweite Video stammt von dem Schweizer Milo Rau, der behauptet, der Welt mangle es an demokratischer Repräsentanz, um die wirklich wichtigen Probleme zu behandeln und zu lösen. Deshalb hat er sich ein handverlesenes 60-Personen-Plenum in die Berliner Schaubühne eingeladen und dort Parlament gespielt – stellvertretend für alle, „die von der deutschen Politik betroffen sind, jedoch kein politisches Mitspracherecht haben“. Eine recht autistische Veranstaltung; nur ganz leise und bar jeder Hoffnung auf Verständnis möchte man fragen, wie es denn um die Mandatierung der Abgeordneten steht, ob weltweit agierende NGOs oder die Vereinten Nationen für diesen Künstler nicht existieren. Aber das ist wahrscheinlich sinnlos. Trotzdem paßt diese Arbeit gut in die Ausstellung, weil sie den Pseudo-Parlamentarismus des untergegangenen real existierenden Sozialismus geradezu genial paraphrasiert.

So schon viel zu viel geschrieben. Deshalb muß der Aufsatz über die Winterpalast-Ausstellung jetzt mit dem Hinweis sein Bewenden haben, daß neben dem historischen Komplex insgesamt neun Arbeiten von sechs zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern zu sehen sind.

Ausstellung „Die Grenze“: Taus Makhatcheva (Rußland), „19 a Day“, Photo 2014, Photograph: Shamil Gadzhidadaev (Foto: HMKV/Taus Makhatcheva)

An der Grenze zu Asien

Neben dem Winterpalast gelangt ein Ausstellungsprojekt des Goethe-Instituts zur Präsentation. Es heißt „Die Grenze“ und behandelt, geographisch wie auch kulturell, die Grenze zwischen Europa und Asien. Die ist nach dem Zerfall der Sowjetunion ja wieder deutlicher hervorgetreten, und das veranlaßte Deutschlands nationales Kulturinstitut, junge Künstler der Region zur Auseinandersetzung mit dem Thema aufzufordern.

Es entstand eine Reihe mehr oder minder origineller Arbeiten, etliche Videos zumal, die sich mit den großen und kleinen regionalen Eigenheiten und mit kultureller Identität beschäftigen. Man begegnet einem „interaktiven“ asiatischen Karaoke-Automaten, texanischen Cowboys in Fernost oder auch Sammeltassen aus Samarkand, die die Moskauer sich als Reisesouvenirs mitbrachten, die aber in einem Kombinat 70 Kilometer von Moskau entfernt gefertigt wurden.

Das Ausstellungsdesign wird beherrscht von blauen hölzernen kubischen Transportkisten mit einer Kantenlänge von etwa einem Meter, und das ist so, weil diese Kisten, wie Kurator Thibaut de Ruyter erläutert, auch für den Transport der Schau verwendet werden. An sechs Orten hat das Goethe-Institut „Die Grenze“ in diesem Jahr bereits gezeigt, Moskau, St. Petersburg, Krasnojarsk, Kiew, Tiflis, Minsk. Dortmund ist die Nummer sieben.

Und außerdem:

Noch bis 3. Dezember steht auf dem Platz vor dem „U“ ein 20-Fuß-Container, in dem der englische Künstler Sam Hopkins (Jahrgang 1979) seine Installation „Ministry of Plastic“ aufgebaut hat. Sie präsentiert in edlen Vitrinen Dinge und Scheußlichkeiten des täglichen Bedarfs und spielt mit dem Gedanken, daß der (heute als minderwertig betrachtete) Kunststoff das Gold der Zukunft sein könnte, edel und wertvoll.

Man ahnt, daß es um Recycling, Upcycling, Ressourcenschonung oder Urban Mining gehen könnte, und damit ist diese Arbeit auch schon recht vollständig erklärt. Während des Klimagipfels stand der Container übrigens vor dem Bonner Kunstmuseum; vor das Dortmunder „U“ hat ihn jetzt die „innogy Stiftung“ gestellt, die jüngst im „U“ tagte und deren Stipendiat Sam Hopkins ist.

  • „Sturm auf den Winterpalast“ und „Die Grenze“
  • Hartware MedienKunstVerein im Dortmunder U, Ebene 6, Leonie-Reygers-Terrasse, Dortmund
  • Bis 8. April 2018
  • Geöffnet tägl. 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr, Mo geschl.
  • Eintritt 5 Euro
  • Zur Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast“ gibt es ein Begleitheft
  • www.hmkv.de/



Wo Nanopartikel herrschen: Welten ohne Menschen als Thema im Dortmunder U

Das Plakat zur Ausstellung „Die Welt Ohne Uns. Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure“ © JAC-Gestaltung

Das Plakat zur Ausstellung „Die Welt Ohne Uns. Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure“ © JAC-Gestaltung

Autos fahren selbst, Computer kaufen und verkaufen Aktien, Roboter untersuchen und operieren Menschen, Haushaltsgeräte reagieren intelligent auf Veränderungen. Was heute schon in greifbarer Zukunft liegt, könnte sich bald noch weiter entwickeln: Künstliche Intelligenz ist kein Märchen von übermorgen mehr. Eine Welt, bevölkert von nicht-menschlichen Lebensformen, nicht erst seit Stanislaw Lem ein utopischer (Alp-)Traum, ist immerhin denkbar.

Das beliebte „Was wäre, wenn“-Spiel findet derzeit beim Hartware MedienKunstVerein (HMKV) im Dortmunder U statt: „Die Welt Ohne Uns“ ist eine Ausstellung betitelt, die bis 5. März 2017 in Werken internationaler Künstler „Erzählungen über das Zeitalter der nicht menschlichen Akteure“ präsentiert. Sie entwickeln Visionen radikal anderer Welten, in denen sich nicht-menschliche Lebensformen unter Umständen als anpassungsfähiger erweisen als der Mensch selbst.

Die 18 Künstlerinnen und Künstler aus dem Iran, den USA, der Türkei, Frankreich, Kenia, Litauen, Dänemark, Norwegen, Belgien, Italien und Großbritannien thematisieren eine „Ökologie nach dem Menschen“. In diesem „Post-Anthropozän“ haben andere „Lebens“-Formen die Macht übernommen: Algorithmen, KIs, künstlich erzeugte Nanopartikel, gentechnisch veränderte Mikroorganismen und aus heutiger Sicht monströs erscheinende Pflanzen.

Der letzte Mensch? Videostill aus dem Film "Pumzi" (2009) von Wanuri Kahiu.

Der letzte Mensch? Videostill aus dem Film „Pumzi“ (2009) von Wanuri Kahiu.

Die ausgestellten Arbeiten sind zum größten Teil Videos oder Video-Installationen. So zeigt etwa der norwegische Filmemacher und Designer Timo Arnall in „Robot Readable World“ einen Kurzfilm, in dem Roboter unsere Welt und schließlich uns selbst bevölkern. Wanuri Kahiu, Filmregisseurin aus Kenia, lässt in ihrem Film „Pumzi“ eine Wissenschaftlerin in einer post-apokalyptischen Welt nach Lebensspuren suchen. Pinar Yoldas aus der Türkei thematisiert in „The Kitty AI, Artificial Intelligence for Governance“ die Frage nach der Regierbarkeit einer Welt, in der durch den Klimawandel neue Lebens- und Gesellschaftsformen entstehen.

Timo Arnalls "Internet Machine"  ist ein Triptychon über die verborgene  Infrastruktur des Internets. In langsamen Kamerafahrten  führt es durch eines der größten, am besten gesicherten Datencenter der Welt, das von Telefónica im spanischen Alcalá betrieben wird © Timo Arnall

Timo Arnalls „Internet Machine“ ist ein Triptychon über die verborgene Infrastruktur des Internets. In langsamen Kamerafahrten führt es durch eines der größten, am besten gesicherten Datencenter der Welt, das von Telefónica im spanischen Alcalá betrieben wird © Timo Arnall

Weitere Werke stammen von Morehshin Allahyari & Daniel Rourke, LaTurbo Avedon, Will Benedict, David Claerbout, Laurent Grasso, Sidsel Meineche Hansen, Ignas Krunglevicius, Mark Leckey, Eva & Franco Mattes, Yuri Pattison, Julien Prévieux und Suzanne Treister. Kuratiert wird die Schau von Inke Arns.

Die Ausstellung „Die Welt Ohne Uns. Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure“ ist bis 5. März 2017 im HartwareMedienKunstVerein (HMKV) im Dortmunder U, Ebene 3, zu sehen. Nach der Präsentation im Dortmunder U wird sie vom Aksioma – Center for Contemporary Art in Ljubljana, Slowenien, übernommen, im Juni/Juli 2017 in der Vžigalica Galerie (City Museum) in Ljubljana, Slowenien, und im September 2017 im MMSU/Mali Salon in Rijeka, Kroatien, gezeigt.

Geöffnet ist das „U“ in Dortmund Dienstag, Mittwoch und an Wochenenden und Feiertagen von 11 bis 18 Uhr, am Donnerstag und Freitag von 11 bis 20 Uhr. Der Eintritt kostet 5, ermäßigt 2,50 Euro. Begleitveranstaltungen wie Führungen und Familiensonntage mit freiem Eintritt sowie ein Filmprogramm, beginnend am 10. und 11. November mit dem Science Fiction Film „The Whispering Star“ von Sion Sono, ergänzen die Ausstellung.

Info: www.hmkv.de, www.dortmunder-u.de




„Sounds Like Silence“: Auf den Spuren der Stille, an den Grenzen des Schweigens

Jubiläumshalber ist der Komponist John Cage (100. Geburtstag am 5. September) heuer erst recht eine kulturelle Leitfigur. Nicht nur setzt die Ruhrtriennale vielfach bei seinem Werk an, nicht nur hat die Fluxus-Kunst (derzeit im Fokus des Museums Ostwall) ihm Impulse zu verdanken – auch die gedankenreich unterfütterte Ausstellung „Sounds Like Silence“ kommt (parallel im selben Hause Dortmunder „U“) auf ihn zurück. Für die intellektuelle Durchdringung auf hohem Theorie-Plateau sorgt der ortsansässige Hartware MedienKunstVerein (HMKV), dessen Leiterin Inke Arns den Leipziger Medienwissenschaftler Dieter Daniels als Ko-Kurator gewonnen hat.

Porträt des großen Anregers John Cage (© Henning Lohner & John Cage / Foto Henning Lohner)

Porträt des großen Anregers John Cage (© Henning Lohner & John Cage / Foto Henning Lohner)

„Sounds Like Silence“. Hört sich an wie Stille. Oder: Geräusche wie Stille. Der auf den Welthit „Sounds of Silence“ von Simon & Garfunkel anspielende Titel kann füglich auch auf Cage bezogen werden. Der hat das berühmte Stück 4’33’’ erschaffen, 4 Minuten und 33 Sekunden vermeintlich völliger Stille. Die Uraufführung war am 29. August 1952, also vor 60 Jahren. Eine Inspirationsquelle: Robert Rauschenbergs „White Paintings“ (ab 1951), monochrom weiße Bilder, die ebenfalls nicht pure Abwesenheit bedeuten. Bloß keine Angst vor der Leere! Am Saum des Nichtseins ist in allen Künsten stets ein Etwas gewesen.

Das Cage-Stück zwischen Sein und Nichts kann sich mitsamt allen Weiterungen in die Hirnwindungen fräsen. Und so kreist auch die Dortmunder Ausstellung gebannt (jedoch alles andere als kopflos, wenn nicht gar kopflastig) um diese Ikone der akustischen Kunst. Wer hätte gewusst, dass von diesem epochalen Werk viele verschiedene Notationen/Partituren sowie über 50 Platten-Einspielungen existieren – und dass keine exakt der anderen gleicht. Denn die vollkommene Stille gibt es nicht. Immer sind da noch so geringe Nebengeräusche, Schwingungen an der Wahrnehmungsgrenze. Selbst in der schalldichten Kammer (die man hier – sofern seelisch gefestigt – erproben kann) hört man, neben der Aufnahme vom angeblich weltweit stillsten Wüstenort, noch das Grundrauschen der eigenen Nerven- oder Blutbahnen. Dass wir nach dem Tode gar nichts mehr hören, ist auch noch nicht ausgemacht…

Blick in einen der Ausstellungsräume von "Sounds like Silence" (© Foto HMKV)

Blick in einen der Ausstellungsräume von "Sounds like Silence" (© Foto HMKV)

Man schreitet hier durch lauter dunkle Räume, denn man soll sich ja auf Hören konzentrieren. Überall wollen Kopfhörer ergriffen und aufgesetzt sein, auf dass man lausche und zunehmend differenziere. Nun gut, ein paar Filme sind auch zu betrachten – bis hin zur Jux-Aufführung von 4’33’’ durch Helge Schneider in Harald Schmidts Late Night Show (ARD). Mit dem im Internet forcierten Projekt „Cage Against the Machine“ haben es Popmusiker 2010 geschafft, die Stille auf Platz 21 der britischen Charts zu hieven.

Mit Stille in die Charts: Projekt "Cage against the Machine", 2010 (© Courtesy Dave Hillard / Foto Carina Jirsch)

Mit Stille in die Charts: Projekt "Cage against the Machine", 2010 (© Courtesy Dave Hillard / Foto Carina Jirsch)

Die anspruchsvolle Ausstellung verfolgt etliche Nachwirkungen der in 4’33’’ berufenen Ideen. Merce Cunningham hat eine experimentelle Tanzversion besorgt. Selbst Heinrich Böll gerät mit seiner Hörfunk-Satire „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ (1955) in den Blick, obwohl er sich schwerlich auf Cage bezogen haben dürfte.

Breit ist das Spektrum: Die Formation „Einstürzende Neubauten“ hat mit „Silence is Sexy“ (2000) der Stille gehuldigt. Spezielle Dortmunder Varianten von 4’33’’ gibt es ebenso wie bewusst verfälschende Cage-Aufführungen, die die Frage nach geistigem Eigentum aufwerfen. Als stummer Handy-Klingelton ist das Stück so präsent wie als sukzessive Löschung vormals vorhandener Musik. Studien zur Wahrnehmung der Taubstummen stehen neben einer Videoinstallation von Bruce Nauman, der sein verlassenes Atelier nächtelang filmte. Auch da begab sich noch etwas…

Filmstill aus Name June Paiks Film "A Tribute to John Cage" (1973) (© Nam June Paik)

Filmstill aus Name June Paiks Film "A Tribute to John Cage" (1973) (© Nam June Paik)

Kunsthistorisch interessant ist ein genialisches Gipfeltreffen von Nam June Paik und Cage. Wie der Koreaner 4’33’’ filmisch aufbereitet hat, ist für beide Oeuvres aufschlussreich. Ferner wird ein Interview mit Cage (von Vicki Bennett) ebenso sprachlos gemacht wie eine Tagesthemen-Ausgabe mit Ulrich Wickert (von Hein-Godehart Petschulat) oder eine kriegstreibende Rede des George W. Bush (durch Matt Rogalsky).

Am Horizont solcher Darbietungen erscheint eine Ökologie der Geräusche. Eine leisere Welt wäre wohl keine schlechtere.

„Sounds Like Silence“. Cage / 4’33’’ / Stille. 1912-1952-2012. Bis 6. Januar 2012 im Dortmunder „U“, Leonie-Reygers-Terrasse (Navi Rheinische Straße 1). Eintritt 5 Euro, freier Eintritt bis 18 Jahre. Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 11-18 Uhr. Internet: www.hmkv.de

Helge Schneider (li.) und Harald Schmidt bei der Jux-Aufführung von 4'33'' (© 2010 Courtesy Kogel & Schmidt GmbH, Grünwald / meine Supermaus GmbH, Mülheim)

Helge Schneider (li.) und Harald Schmidt bei der Jux-Aufführung von 4'33'' (© 2010 Courtesy Kogel & Schmidt GmbH, Grünwald / meine Supermaus GmbH, Mülheim)