Wenn die Gespenster aus den Grüften der Geschichte steigen – „Der Blick des Odysseus“ von Theo Angelopoulos

Von Bernd Berke

Theo Angelopoulos ist ein Mann der Grenzbezirke. Seine Filme spielen meist im leeren Niemandsland zwischen den Staaten, gleichsam auf äußerstem Vorposten am Saum unserer Zeit. Auch „Der Blick des Odysseus“ scheint sich in unbestimmte Fernen zu richten. Doch er hat ein Ziel.

Der antike Mythenheld tritt hier als griechischer Filmemacher mit dem Kürzelnamen „A“ in Erscheinung. Dieser kehrt aus dem US-Exil heim und begibt sich auf die Suche nach den sagenhaften Filmen der Brüder Manakis vom Beginn des Jahrhunderts. „A“ will auf den uralten Zelluloidstreifen „die Unschuld“ der Bilder wiederfinden.

Klingt etwas anstrengend. Und tatsächlich gibt es ja kaum einen Regisseur, der mit höherem Kunstanspruch daherkommt als Angelopoulos. Doch seine flehentliche Odyssee hat durchaus reale, wenn auch schwer faßbare Hintergründe: die seit dem Zusammenbruch des Kommunismus aus den Grüften der Geschichte aufsteigenden Gespenster.

Zu Beginn gerät der Filmemacher in einen furchterregenden Fackelzug dumpfer religiöser Fundamentalisten. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus, so erfährt man auf der dreistündigen Suchreise durch Europas Südosten, werden solche totgeglaubten Geister wieder schrecklich wach – Jugoslawien ist nur das krasseste Beispiel.

Dorthin, nach Sarajevo, führt die Fahrt am Schluß, und eine nur erahnbare Erschießungsszene im dichten Nebel raubt einem vollends den Atem. Darin stecken mehr Andacht und Mitleiden als in jedem Nachrichtenbild des Krieges. In Sarajevo findet „A“ auch jenen alten Mann, der die ersehnten Filmdosen verwahrt, ihren Inhalt aber mangels richtiger Emulsion immer noch nicht entwickeln kann. Ein Spannungsmoment.

Angelopoulos unternimmt seine Suchreise mit betörend langsamen Bildern. Die meisten Einstellungen dauern just bis zu dem Moment, in dem sich das Auge daran „gesättigt“ hat. Beispiel: Viele, viele Minuten lang wird die mit einem Kran vollbrachte Demontage einer riesigen Lenin-Statue gezeigt, sodann deren Verschiffung. Und siehe da: Man gewinnt der vermeintlich so statischen Szenerie immer wieder neue grandiose Ansichten ab. Es sind Denkbilder. Zudem haben alle Augenblicke – wie ein Zaubergeflecht – ganz innig miteinander zu tun, jeder spiegelt und erweitert den anderen.

Wenn „A“ (ruhige Kraft: Harvey Keitel) auf seiner sonst so einsamen Irrfahrt verschiedenen Frauen begegnet, so ist das wie eine mehrfache Prüfung im Märchen. So, als dürfe er seine Suche erst nach diesen Etappen fortsetzen. Überall ist Exil: Mit der Hauptfigur ziehen wir, ebenso verunsichert wie fasziniert, durch Orte größtmöglicher Verlassenheit und Fremde, an denen nur noch die nationalistischen Dämonen der europäischen Historie zu hausen scheinen. Gegen derlei Phantome aus dem Vorkriegs-Kontinent muß die Reinheit der Bilder wiedergewonnen und gegen die Abstumpfung mobilisiert werden. Eine Rettungstat also, eines Helden würdig.




Rauchzeichen der Seele – Wayne Wangs Film „Smoke“

Von Bernd Berke

Was wiegt eigentlich der Rauch einer Zigarette? Schwer zu sagen. Da könnte man sich ebensogut gut fragen, wie gewichtig eigentlich die menschliche Seele sei.

In Wayne Wangs neuem Film ‚ „Smoke“ (Drehbuch vom New Yorker Romancier Paul Auster) gerät das Leben beinahe unmerklich auf die Feinwaage. Zentrum des zunächst ganz zerstreut und episodisch wirkenden Erzähl-Kosmos, der jedoch insgeheim von sinnreich verknüpften Zufällen gelenkt wird, ist ein kleiner Tabakladen in Brooklyn.

Hier trifft man sich, quatscht ein bißchen über dies und das. hier kauft man seinen Rauchbedarf. Der leicht zerknautscht wirkende Auggie (Harvey Keitel), der hinter der Theke steht, ist der gute, wenn auch gelegentlich etwas mürrische Geist: Sozialhelfer, Weltweiser, Philosoph. All dies. Und ein herzhafter Mensch obendrein.

Auggie hegt eine archivarische Leidenschaft: Jeden Morgen, pünktlich um 9 Uhr, geht er zur anderen Straßenseite ‚rüber, baut sein Stativ auf und fotografiert den Laden. Über 4000 Bilder hat er schon in Alben gesammelt.

Was täglich unbemerkt geschieht

Gleichen sich diese Zufalls-Schnappschüsse wie ein Ei dem anderen? Ansichtssache. Auggie findet, es seien Sinnbilder dessen, was tagtäglich überall auf Erden geschieht und was man sonst kaum bemerkt. Unscheinbares menschliches Treiben und vergehende Zeit sind darin eingefangen. Manchmal auch bedeutend mehr: Eines Abends entdeckt der Zigarren-Kunde und Schriftsteller Paul (William Hurt), dem Auggie die Alben zeigt, seine Frau auf einem der Fotos. Paul bekommt einen Weinkrampf, denn sie ist inzwischen bei einem Überfall erschössen worden – mit ihrem Baby im Bauch,

Als schwebe die Handlung auf spiraligen Rauchschwaden hin und her, ist fortan oft von Verlusten und Wiederkehr die Rede. Auggies Ex-Freundin Ruby taucht nach 18 Jahren auf und erbettelt Geld für eine angeblich gemeinsame Tochter, die schwanger und dem Rauschgift Crack verfallen sei. Ein schwarzer Jugendlicher begibt sich auf den Weg zu seinem lang vermißten Vater. Suche nach verlorener Zeit, nach entbehrtem Zusammenhang. Da wird auch schon mal biographisch geflunkert. Wer keinen Halt mehr hat, denkt sich einen aus. Der Film ist gesättigt mit lauter kleinen Geschichten, die daraus entspringen.

Versteht sich, daß durchweg geraucht wird, was die Lunge hält. Schon darin ist’s ein Werk gegen den amerikanischen Trend zur Abstinenz. Vor allem aber zeigt Wayne Wang eine engelhafte Geduld beim Aufspüren von Nuancen, beim Beobachten von Gesichtern und Gesten. Kurz: Bei der Herstellung von Wahrhaftigkeit.

„Smoke“ hüllt den Zuschauer ein wie sanfter Rauch: schwerelos und doch von etlichem Gewicht.




Das Glimmen am Rande der Welt – „Das Piano“ von Jane Campion

Von Bernd Berke

Die meisten Filme kann man sofort miteinander beschwatzen – und dann recht schnell vergessen. Doch es gibt einige wenige, deren Erlebnis man erst einmal wirken lassen muß. bevor man Worte verliert. Zu diesen gehört „Das Piano“ von Jane Campion.

Gleich der Anfang ist gewaltig: Wann hat man einen derart heillos ausgesetzten Menschen gesehen wie jene Ada! Übers Meer ist sie nachNeuseeland gekommen, ans äußerste Ende der Welt. Die Natur spricht dort anders. Diese tosende Brandung. Diese fremden Farben. In solch unwirklicher Ferne kann Magisches geschehen, es kann sich aber auch das Tor zur Hölle öffnen. Und die erste Nacht des Wartens wird kalt sein. Ada (überragend: Holly Hunter) verbringt sie in Umarmung mit ihrer Tochter Flora. Diese Flora ist wie ihr Spiegel, später auch Zerrbild. Spiegel (und anonyme Augen) sind Leitmotive.

Erst am nächsten Morgen entwindet sich dem küstennahen Dschungel eine Gruppe von Maori, seltsam tätowierte Ureinwohner: Wesen der archaischen Traumzeit – oder doch nur Helfer des Buschfarmers Stewart? Mit diesem Mann ist Ada von ihrem Vater brieflich von Schottland aus verheiratet worden, hier draußen sieht sie ihn zum ersten Mal. Stewart (Sam Neill) hat ihr Bildnis bei sich. Doch kurz bevor sie sich begegnen, reißt er die Fotografie aus dem Rähmchen, um in den Spiegel darunter zu blicken. Ein erster kleiner Gewaltakt. Er hat ihre Würde verletzt, noch bevor er sie kennt. Jede folgende Geste des Mannes erlebt Ada als Riß. Man liest glühende Abwehr in ihren Augen und Gesten. Sie ist seit ihrer Kindheit stumm.

Am schlimmsten: Stewart will Adas Piano einfach am Strand stehenlassen. Dieses Instrument, das ist sie. Ihre Verbindung zur Welt. Verzweifelt will sie ihm das klarmachen. Doch der Mann bleibt hart. Auf dieser Ehe lastet ein Fluch.

Die Bilder sind wie Atemzüge

Vollkommen ruhig erzählt Jane Campion solche aufwühlenden Szenen. Mit kunstvollem Bedacht zeichnet sie Bilder, die geradezu ein- und ausatmen – ähnlich wie die von Michael Nyman komponierte Klaviermusik, die die Handlung durchweht.

Doch zwischendurch gibt es auch jene Seelenzustands-Bilder, bei denen man sekundenlang nicht weiß, wo oben und unten ist. Unterschwellig wachsen und wuchern die Emotionen. Im viktorianischen 19. Jahrhundert gibt es das: Hier genügt ein gewisser Lichtschein auf dem Haarflaum in der Halslinie einer Frau – und schon glimmt Leidenschaft. Sie erfaßt Stewarts Dschungel-Nachbarn Baines (Harvey Keitel), als er Ada Klavier spielen sieht. Da das Piano (durch einen Handel mit Stewart) in Baines‘ Besitz gerät, kommt es zu einer Vereinbarung: Ada kann es sich – Taste für Taste – zurückerobern, wenn sie Baines zu Willen ist.

Es geht nicht um blanken Sex. Baines will Ada beim Spielen zuschauen, dann ihre bloßen Schultern sehen. Und dann. Und dann. Sie tasten sich vor. Eros wie am unschuldigen Anbeginn, als werde all das soeben erfunden.

Das allmähliche Wachsen der Gier

Doch gerade das Allmähliche, Hauchzarte der Näherung entfacht auch in Ada ganz langsam die Gier. Und nun blickt s i e in den Spiegel…

Die späteren Eifersuchtsszenen erreichen einen Gipfel, auf dem einem schwindlig wird. Doch die stille Sensation des Films sind jene Grenzverwischungen, Durchlässigkeiten und Symbiosen zwischen den Figuren. Eine Leidenschaft spiegelt die andere, entzündet sich an ihr, bis es brennt.

Irgendwann heißt es über Ada, sie könne sprachlos Gedanken in andere Menschen hineinlegen. Sie, die Verstummte, verfügt über eine mächtige Stimme. Und diese innere Stimme trägt Ada, dicht am Rand des Todes vorbei, wieder ins Leben zurück. Grandios ist das gefilmt, wie eine Auferstehung aus den Wassern.

Sowieso ist hier ein Filmzauber am Werk, über den man nichts Überflüssiges sagen mag. Sonst könnte das Gespinst zerreißen.